die Ausbeutung der Meere Kapital auf Kurs

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die Ausbeutung der Meere Kapital auf Kurs
Kapital auf Kurs –
die Ausbeutung der Meere
iz3w t informationszentrum 3. welt
Außerdem t Machtkämpfe in Libyen
t 10 Jahre nach dem Tsunami
t Revolte in Burkina Faso …
Jan./Feb. 2015
Ausgabe q 346
Einzelheft 6 5,30
Abo 6 31,80
I n d ieser A u sga b e
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Schwerpunkt: Meere
Titelmotiv: IDF
19 Editorial
20
3 Editorial
22
Burkina Faso: 27 lange Jahre sind vorbei
24 Meeresmetaphern
Blaise Compaoré ist gestürzt, die Zukunft des Landes
bleibt ungewiss von Martin Bodenstein
7
Illusionen über unerschöpflichen Reichtum
von Cord Riechelmann
Libyen: Auf Gewalt folgt Gewalt
26
Das zerfallende Land ist weit von Demokratie
und Stabilität entfernt von Sören Scholvin
10
14
Asyl: Humanität statt Komplizenschaft
28
Gefährliches Wettfischen
Wer den Hunger abschaffen will, muss handwerkliche
Kleinfischerei fördern von Francisco Mari
Peru: Gipfeltreffen im Andenland
Wird Peru als Gastgeber des Klimagipfels künftig eigene
klimapolitische Ziele formulieren?
von Karen del Biondo
30
10 Jahre Tsunami I: Land unter
32
Auswerfen der Netze
Europa beutet trotz Kritik weiterhin westafrikanische
Fischgründe aus von Philipp Kilham
Raubbau mit Raubfischen
Die Rechnung mit dem Thunfisch geht für die
pazifischen Inselstaaten nicht auf
von Eberhard Weber
Auf die zerstörerische Flutwelle folgten politische Kämpfe
um die Küsten von Jürgen Weber
16
Land in Sicht ?
Auf hoher See gibt es bisher kaum Arbeitsrechte
für Seeleute von Heike Proske
Marokko möchte neue Wege in der Flüchtlingspolitik
beschreiten von Franziska Dübgen
12
Verklappt, verdünnt, vergessen
Die Weltmeere sind zur Müllkippe geworden
von Martina Backes
Politik und Ökonomie
4
Das vorerst letzte Grenzland
Die nachholende Industrialisierung der Weltmeere
wird intensiviert von Kai Kaschinski
10 Jahre Tsunami II: Wiederaufbau mit Lücken
34
Wie die indonesische Provinz Aceh nach dem Tsunami
politisch umgewälzt wurde von Alex Flor
»Zertifizierte Garnelen sind ein Witz«
Interview mit Khushi Kabir über Shrimpsfarmen
in Bangladesch
35
Schürfen in der Tiefsee
Der Wettlauf um die Lagerstätten am Meeresboden
von Stefan und Andreas Brocza
38
Die Ozeane versauern
Wie der Klimawandel die Weltmeere verändert
von Onno Groß
48 Rezensionen
50 Szene / Tagungen
Impressum
Kultur und Debatte
40
Erinnerungspolitik: Die »Geschichtslücke«
Die Türkei und der Genozid an den ArmenierInnen (Teil 1)
von Corry Guttstadt und Ragıp Zarakolu
43
Film: Bitter enttäuscht
»Miners shot down« fordert Solidarität mit den Opfern
des Marikana-Massakers
von Martina Backes
46
Street Art: Nobles Sprayen
Dakars Street-Art-Szene kämpft für gesundheitliche
Aufklärung von Sarah Böger
iz3w • Januar / Februar 2015 q 346
Editor ia l
Tod im deutschen Gefängnis
In iz3w 343 berichteten wir über einen ungeheuerlichen
Fall: Der Asylsuchende Oury Jalloh war 2005 in einer
Dessauer Polizeizelle bei lebendigem Leibe verbrannt
worden, ohne dass die Täter dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt bis zum
heutigen Tag, obwohl die vorliegenden Beweise und Indizien erdrückend sind. Der rassistische Polizeimord an
Oury Jalloh ist aufgrund seiner grausamen Umstände und
der anhaltenden Vertuschungspolitik besonders skandalös.
Doch Jalloh ist nicht der einzige Afrikaner, der im Gewahrsam deutscher Behörden zu Tode kam.
A
ls der 33-jährige Rasmane K. am Morgen des 9.
August 2014 tot in seiner Zelle der Justizvollzugsanstalt
Bruchsal aufgefunden wurde, wog er noch 57 Kilo. Für
einen 1,85 großen Mann mit kräftiger Statur ist das sehr
wenig. Der Todesfall wäre nicht öffentlich bekannt geworden, hätte die Staatsanwaltschaft nicht nach einer anonymen Anzeige Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung
gegen den Anstaltsleiter und eine Ärztin aufnehmen müssen. Die Rechtsmedizin Heidelberg kam zu dem Schluss,
dass der Mann verhungert war. Wie kann es sein, dass ein
Gefangener im Gewahrsam des Staates verhungert, ohne
dass dies jemand mitbekommen haben will? Ganz zu
schweigen davon, dass er nicht die Hilfe bekam, die er
offensichtlich dringend brauchte?
Rasmane K. war zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er
seine Lebensgefährtin im Streit erstochen hatte. Im Prozess
hatte Rasman K. keine Angaben zu seiner Person gemacht.
Er galt als verschlossen und misstrauisch, selbst seine
Anwälte kamen nicht an ihn heran. Im Asylverfahren einige Jahre zuvor hatte er ausgesagt, von einer Miliz als
Kindersoldat rekrutiert worden zu sein. In jener Region
Burkina Fasos, aus der Rasmane K. kommt, ist der Einsatz
von Kindersoldaten nicht selten. Wann immer das Gespräch
auf seine Jugend oder seine Eltern kam, sei sein Mandant
verstummt, berichtet Anwalt Roland Kirpes. Der Mann
galt laut Zeitungsberichten als »hochgradig aggressiv«;
er hatte einen Justizbeamten angegriffen und schwer
verletzt.
Der Umgang mit Rasmane K. mag äußerst schwierig
gewesen sein. Doch auch er hatte ein Recht auf das, was
die JVA Bruchsal in ihrem Leitbild verspricht: »Wir nehmen
die Gefangenen ernst, sind ehrlich und behandeln sie
menschlich und gerecht; sie können sich auf uns verlassen.«
Die JVA betont: »Unser Handeln wird bestimmt durch die
Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde
aller.«
Diese hehren Worte erweisen sich als blanker Hohn.
Denn die JVA Bruchsal steht wegen vielerlei Verstößen seit
längerem in der Kritik. Gefangene wurden dort nach Außenkontakten routinemäßig bis in alle Körperöffnungen
durchsucht, ohne dass es für diese langjährige Praxis eine
rechtliche Grundlage gab. 2009 verwendete der mittlerweile suspendierte Anstaltsleiter Thomas M. in seiner Neujahrsgrußbotschaft ein Zitat der Rechtsrockband »Böhse
Onkelz«. Nachdem dies bekannt wurde, redete er sich
damit heraus, die Urheberschaft der Band sei ihm nicht
bewusst gewesen. 2013 schminkten zwei JVA-Beamte ihr
Gesicht schwarz und verhöhnten afrikanische Gefangene.
Diese rassistische Blackfacing-Aktion hatte ein Diszipli­­-­
narverfahren und je tausend Euro Geldbuße zur Folge.
Es ist mehr als wahrscheinlich, dass angesichts einer
solchen Mentalität in der JVA auch der Hungertod von
Rasmane K. einen rassistischen Hintergrund hat. Doch als
ob dies nicht schon erschreckend genug sei, werden die
dortigen Beamten von erheblichen Teilen der Öffentlichkeit
sogar unterstützt. In der Online-Tageszeitung KA-News
beispielsweise wird der Tod von Rasmane K. in dutzenden
Leser-Kommentaren ausdrücklich begrüßt: »Ist das Müll
und kann weg? Ja, ist es! Kein Erdbewohner braucht solche
und ähnliche Menschen. Hat sich halt selbst entsorgt.«
R
asman K. war über ein Jahr in Einzelhaft. Abgesehen
davon, dass es in seinem Fall illegal war, weil erforderliche
Genehmigungen von der JVA Bruchsal nicht eingeholt
wurden, verweist sein Hungertod auf die zerstörerische
Wirkung von extremen Haftbedingungen. Nicht von
­ungefähr gilt Isolationshaft als »weiße Folter«, die die
Menschen psychisch völlig zerrüttet.
»Im Gefängnis herrscht ein besonderes Gewaltverhältnis, der Gefangene ist nicht frei, er ist dem Staat vollkommen ausgeliefert«, appelliert Anwalt Kirpes zu Recht an die
menschenrechtliche Verantwortung der Justizbehörden.
In besonderem Maße gilt dies für Geflüchtete und Asyl­
suchende, die oftmals erheblich traumatisiert sind. Dieses
Thema in der nächsten iz3w-Ausgabe zu vertiefen, verspricht
die redaktion
iz3w • Januar / Februar 2015 q 346
3
iz3w-Backlist
345: Barrieren & Behinderungen
344: Geschäfte mit Uran
343: Fotografie & Macht
342: Protest in der Türkei
341: Asyl & Politik
340: Eigentor Brasilien
339: Faschimus international
338: Fairer Handel
337: Arabische Frauenbewegungen
336: Armut
335: Wissenschaft global
334: Antiziganismus
333: Krise & Kapitalismus
332: Stadt für alle
331: Restitution geraubter Gebeine
330: Arabischer Frühling 2.0
329: Globales Lernen
328: Drogen
327: Grüner Kapitalismus
326: LGBTI gegen Homophobie
325: Chinas roter Kapitalismus
324: Revolte in der arabischen Welt
323: Islamdebatte
322: Verteilungskämpfe
321: FrauenKörper
320: Was bewegt Zentralamerika?
319: Afrika postkolonial
318: Alte und neue Grenzregimes
317: US-Außenpolitik
316: Südafrika abseits der WM
315: Digitale Welten
314: Zentralasien post-sowjetisch
313:Gender & Krieg
312:Nazi-Kollaboration
311: Iran
310: Politik des Hungers
309: Arbeit macht das Leben schwer
308: Literatur in der Türkei
307: 60 Jahre Menschenrechte
306: Panafrikanismus oder Nationalstaat
305: Die Misere der Klimapolitik
304: Kriege in Afrika
303: Die Politik der Indigenität
302: Internationaler Dokumentarfilm
301: Kunst, Politik & Subversion
300: Namibia / Jubiläumsausgabe
Einzelheft: € 5,30
Heft 322 bis 333: € 4,– / ältere Hefte: € 3,–
ratte: banksy
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Editor ial
Ausbeutung der Meere
Es war nicht rechtens, befand der in Hamburg ansässige
Internationale Seegerichtshof im April 2014, dass die Behörden von Guinea-Bissau das Tankschiff M/V Virginia G
beschlagnahmten. Es hatte auf offener See innerhalb der
Ausschließlichen Wirtschaftszone (EEZ) des westafrikanischen
Landes ausländische Hochseefischerboote mit Öl betankt.
Und das, obwohl der Öltransporter keine Erlaubnis zum
Betanken hatte. Das sei allerdings, so der richterliche Beschluss, Ergebnis eines Missverständnisses gewesen. Damit
sei die Beschlagnahme des Schiffes und seiner Fracht ein
Verstoß gegen die Seerechtskonvention.
D
er in Hamburg entschiedene Fall ist einer von über
20 laufenden Streitfällen des Internationalen Seegerichtshofs
(ISGH). Seine Urteile spricht er auf Grundlage des Internationalen Seerechtsübereinkommens (SRÜ). Für die handwerkliche Fischerei entlang der westafrikanischen Küste
fühlt sich der Schiedsspruch gegen Guinea-Bissau an wie
ein Auflaufen auf Grund. Nicht nur, dass die lokale Fischerei mit abnehmenden Fangquoten zu tun hat, unter anderem weil schwimmende Fischfabriken vor den Küsten
die Gewässer überfischen. Es steht auch dafür, wie schwer
diejenigen zu kontrollieren sind, die aufgrund technischer
Übermacht die Nutzung der marinen Naturgüter für sich
beanspruchen. Und das, obwohl sich mit dem Seerechtsübereinkommen 166 Länder darauf verständigt haben, die
Weltmeere als Gemeingut allen gleichermaßen zugänglich
zu machen und für ihren Schutz zu sorgen.
Ein Blick in die laufenden Streitfälle am ISGH zeigt, wie
umstritten dies in der Praxis ist: Wenngleich die Weltmeere und der Meeresgrund nicht als Teile staatlicher Territorien, sondern als Gemeingut definiert sind, spitzt sich der
Kampf um Nutzungsrechte an marinen Ressourcen zu. Die
ökonomischen und territorialen Begehrlichkeiten von Staaten und Konzernen setzen sich inzwichen bis in die Tiefen
der pazifischen Gräben fort.
2012 brach ein Streit um die Grenze der Ausschließlichen
Wirtschaftszone im Golf von Bengalen aus: Myanmar und
Bangladesch wetteiferten um die hier liegenden Öl- und
Gasressourcen (Bangladesch gewann den Fall vor dem
ISGH). Derweil werden entlang der Küsten Bangladeschs
Mangrovenwälder und fruchtbare Äcker in Garnelenfarmen
für die Exportwirtschaft umgewandelt (siehe S.34). Während die KonsumentInnen der Importländer von Seafood
über die Herkunft der Ware oder die Bedingungen des
Fangs meist nicht informiert sind, schwindet die wichtigste Ernährungsgrundlage von einer Milliarde Menschen
(siehe S. 28). Doch es geht nicht nur um Fisch. Die Welt-
meere – und damit rund 60 Prozent der Erdoberfläche – sind
für die Energie- und Rohstoffgewinnung sowie den globalen Transport von Gütern zentral. Ein Viertel der weltweiten
Ölfördermenge stammt aus der Offshore-Gewinnung, und
90 Prozent des grenzüberschreitenden Warenhandels (Rohöl inbegriffen) wird über See abgewickelt. Entlang der
Seerouten mit den Häfen als Knotenpunkten ist die ungleiche internationale Arbeitsteilung der globalisierten Ökonomie ziemlich gut abgebildet. Das bekommen nicht zuletzt
die Seeleute zu spüren (siehe S.26).
Wer die Schätze der Tiefsee in die industrielle Wertschöpfungskette einschleusen kann, darüber entscheidet nicht nur
die Internationale Meeresbodenbehörde auf Jamaica (siehe
S.20), sondern auch das Vermögen eines Staates, in Forschung und Technik investieren zu können (S.5). In diesem
Konkurrenzkampf ziehen ärmere Länder den Kürzeren.
Das Energiepotenzial der Weltmeere ist gigantisch,
schreibt der Energiekonzern RWE, die Energie aus dem Meer
könne eines Tages die Energiegewinnung aus Wind- und
Wasserkraft an Land weit übertreffen. Diese Aussage zeigt
nicht nur das Interesse des Energiesektors an den Meeren.
Sie steht primär für eine Irreführung. Denn auf dem Industrie­
standort Meer werden nicht nur Rohstoffe und Energie
gewonnen, sondern auch verbraucht. Die 15 größten ­Schiffe
weltweit emittieren in einem Jahr so viele Stickstoffoxide
und Schwefeldioxid wie etwa 760 Millionen Pkw. Zudem
sind Öl- und Gasförderung ebenso wie Transport und Rohstoffförderung mit enormer Umweltbelastung verbunden
(S. 22): Veröltes Federvieh, tote Robben und vermüllte
Küsten sind nur die sichtbaren Folgen. Plastikberge auf dem
Meeresgrund, bröckelnde Riffe sowie sich verschiebende
Meeresströme sind weitere gefährliche Folgen.
D
as Problem beginnt an Land und macht vor der
Küste nicht halt: Die rücksichtslose kapitale Verwertung der
Ressourcen. Die Grenzen zwischen Land und Meer verschwimmen dabei immer mehr, wie der Zusammenhang
von Klimawandel und Versauerung der Meere verdeutlicht
(S. 38). Vor allem im Hinblick auf die Verschmutzung der
Meere, die Zerstörung der Riffe und die Ausbeutung der
marinen Nahrungsressourcen dürften die sozialen Folgen
für die Ärmeren dramatisch sein. Dabei übernehmen in
aller Regel die Macht- und Mittellosen die schlecht bezahlten Jobs: beim Zerschneiden von Schiffswracks, an den
Fließbändern der Fischfabriken, beim Ausbringen chemischer
Zusatzstoffe in den Garnelenfarmen. Immer schon war das
Meer nicht nur Gegenstand von Naturausbeutung, sondern
auch Ort der Ausbeutung von Menschen.
die redaktion
Wir danken der Deutschen Stiftung Meeresschutz
und Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst
für die Förderung des Themenschwerpunktes.
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Containerschiff RENA, das 2012 in
Tauranga vor der Küste Neuseelands zerbrach
Foto: Maritime New Zealand/AAP
Das vorerst letzte Grenzland
Die nachholende Industrialisierung der Weltmeere wird intensiviert
Bedeutend für die Globalisierung waren die Meere immer
schon, sei es als Handelsweg oder als Fanggebiet. Der ökonomische Zugriff auf die Ozeane hat sich aber beschleunigt. Mehr
denn je begehrt die Industrie die Ozeane als Produktionsstandort und Ressourcenlager. Die Nord-Süd-Politik hinkt
diesem Megatrend hinterher.
von Kai Kaschinski
Im Jahr 1886 eröffnete die Reederei Norddeutsche Lloyd die
Reichspostdampfer-Linien. Mit dem aggressiven Streben nach dem
eigenen »Platz an der Sonne« hatte Deutschland unter anderem
im Pazifik Kolonien in Besitz genommen. Unterstützt mit staatlichen
Subventionen, stellten die Schifffahrtslinien der Bremer Reederei
den Post- und Personenverkehr zwischen dem Kaiserreich und
vielen seiner Kolonien sicher. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der
Norddeutsche Lloyd zur zweitgrößten Reederei der Welt – allerdings
vor allem mit der Verschiffung von Auswandernden in die USA.
Zur gleichen Zeit wurde die Hamburg-Amerika Linie, die Konkurrenz
aus der Nachbarstadt, unter dem Motto »Mein Feld ist die Welt!«
zur Nummer Eins unter den Reedereien.
Heute besitzen deutsche Reeder etwa 3.000 Handelsschiffe und
stehen damit im internationalen Ranking auf Platz 3. Ein Umstand,
der in Deutschland genauso wenig Beachtung findet wie viele
andere Aspekte der Meerespolitik und den damit verbundenen
maritimen Interessenslagen. Dementsprechend wurde der erhebtt
20
liche Bedeutungszuwachs, den dieser Politikzweig in den letzten
zehn bis fünfzehn Jahren erfahren hat, in der Öffentlichkeit kaum
wahrgenommen. Dies gilt auch für die entwicklungspolitische
Szene, die aufgrund des globalen Charakters der Meerespolitik an
sich Grund genug hätte, sich eingehender mit dem Themenfeld
auseinanderzusetzen.
Fragen zur Ernährungssicherheit, zur Ressourcenkrise, zum Welthandel, zum Umweltschutz, zu Migration und Militärpolitik sind
heute nur unter Berücksichtigung der Lage auf den Ozeanen
umfassend zu diskutieren. Die Meere sind schon lange mehr als
nur Handelsweg und Fanggebiet. Sie verändern sich grundlegend.
Sie sind zum Produktionsstandort und Ressourcenlager geworden.
Fisch wird nicht nur gefangen, sondern gezüchtet und genetisch
verändert. Fast die Hälfte der Fische und Meeresfrüchte, die verzehrt
werden, werden heute in der Aquakultur hergestellt. Moderne
Containerschiffe, ihre uniformen Boxen und eine intelligente Logistik machen die Schifffahrtswege zum festen Bestandteil der
­internationalen Produktionsprozesse. Globalisierung ist ohne den
Containerverkehr nicht denkbar, er bewegt rund 90 Prozent der
internationalen Güter (gemessen an ihrem Gewicht).
Energiehunger auf See
Das auf dem Weltmarkt verfügbare Erdöl und -gas stammt inzwischen zu gut einem Viertel aus dem Meer. Insgesamt über zwei
Millionen Menschen arbeiten auf tausenden von Offshore-Plattformen, die sich vor den Küsten mit ihren Förderanlagen zu den
tt
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Meere
marinen Lagerstätten vorgraben. Zu den Erdölplattformen kommen
Trawler orten die Fischschwärme heute mit Hilfe modernster Echozahlreiche Windkraftwerke hinzu, mit denen die Energieproduktion
lote und werfen ihre Netze in immer größere Tiefen aus. 600
in erheblichem Umfang auf See verlagert werden soll. Kabel und
Tonnen Fisch können die Supertrawler täglich an Bord holen.
Pipelines durchziehen den Meeresboden. 100 Milliarden Euro sind
Tausende von Tonnen werden dort während einer Fahrt direkt
in den kommenden Jahren allein für den Bau von Windenergieanverarbeitet und gefrostet. Während die industriellen Fischfangflotlagen in der Nordsee eingeplant.
ten so in etwa die Hälfte der Weltfangmenge einbringen, wird die
Die Küstengebiete werden großflächig in Schachbrettmuster
andere Hälfte von der Kleinfischerei gefangen, in der sowohl mounterteilt. Für die einzelnen Felder werden Lizenzen erworben.
torisierte Krabbenkutter als auch Einbäume zusammengefasst
Entlang der Westküste Afrikas haben die Staaten ihre Wirtschaftswerden. Angesichts der Überfischung der Bestände steigt der
notwendige Aufwand, um die Netze zu füllen, beständig.
zonen in eine Unzahl von einzelnen Claims aufgeteilt. Die brasiliVor diesem Hintergrund ist die Fischerei global gekennzeichnet
anische HRT Oil & Gas hält seit 2011 vor Namibia die Rechte für
durch eine Konkurrenz zwischen Kleinfischerei und industrieller
zwölf Claims mit einer Fläche von insgesamt 68.800 QuadratkiloFischerei. 2012 bei der Vorstellung
metern. Die multinationale Tullow Oil plc hat mit
Mauretanien zwischen 2001 und 2012 neun Liseines Berichts »Fisheries and the
Die
Gewässer
an
der
Westküste
zenzverträge für rund 42.000 Quadratkilometer
Right to Food« verglich der UN-­
große Fördergebiete abgeschlossen. Von der über
Sonderberichterstatter für das Recht
Afrikas haben die Staaten in
drei Millionen Quadratkilometer großen Wirtauf Nahrung, Olivier de Schutter, die
einzelne Claims aufgeteilt
schaftszone Indiens waren bereits 2012 über ein
Art und Weise, wie sich die Reeder­
Drittel für die Erdöl- und Erdgasförderung vergeben.
eien großer Industrieschiffe die maDie Küsten sind der Ausgangspunkt für den Industrialisierungsrinen Nahrungsressourcen aneignen, mit dem Land-Grabbing und
prägte den Begriff des Ocean-Grabbings. Zum Schutz der Meere
prozess auf den Weltmeeren. Sie stellen das neue Grenzland dar.
empfahl de Schutter unter anderem die Einrichtung exklusiver
Von hier geht der Vorstoß ins Meer aus. Die Erdölförderung mit all
Zonen für die Kleinfischerei, ein hartes Durchgreifen gegen das
ihren Konsequenzen hat die Tiefsee bereits erreicht. Das tragische
Eindringen von industriellen Trawlern in diese Zonen, die UnterParadebeispiel für die damit einhergehenden Umweltrisiken und
stützung von Kooperativen der Kleinfischer und der Verbesserung
die sozialen Bedrohungsszenarien ist die Explosion der Deepwater
ihrer Wertschöpfungsketten sowie das Unterbinden von GroßproHorizon mit anschließender Rekordölpest im Golf von Mexiko.
jekten, die ihre Existenzgrundlagen gefährden.
Brasilien ist der Schrittmacher dieser Entwicklung. Im Oktober
versteigerte Brasilien medienwirksam das Feld Libra 170 Kilometer
vor seiner Atlantikküste, dessen Ölvorkommen auf zwölf Milliarden
Ocean Grabbing mittels Tiefseeschürfen
Barrel geschätzt wird, an ein internationales Konsortium. 40 Prozent
dieses Konsortiums hält der halbstaatliche brasilianische Konzern
tt Der nächste bevorstehende Schritt in der Industrialisierung der
Petrobras, je ein Fünftel Shell und Total sowie je ein Zehntel CNOOC
Meere ist die Erweiterung des Abbaus mariner mineralischer Resund CNPC aus China. Im Laufe der 35jährigen Konzession werden
sourcen. Entsprechend der Entwicklung im Erdölsektor wird die
staatlicherseits allein für dieses Feld Einnahmen durch LizenzgeErschließung der Lagerstätten von Manganknollen, Massivsulfiden
bühren, Steuern und Anteile an der Ölförderung in Höhe von etwa
und Erzkrusten in der Tiefsee geplant. Mittlerweile ist es keine
336 Milliarden Euro erwartet. Das Ölvorkommen liegt rund 6.000
Frage mehr des Ob, sondern nur noch eine Frage des Wann. Was
Meter unter der Meeresoberfläche. Gut 2.000 Meter hoch ist die
vor zehn Jahren noch wie Zukunftsmusik klang, rückt in greifbare
Wassersäule, danach folgen Gesteins- und Salzschichten, die durchNähe: Förderanlagen in mehreren tausend Metern Tiefe unter der
brochen werden müssen.
Meeresoberfläche.
Deutschland besitzt Lizenzen bei der Internationalen Meeresbodenbehörde (IMB) in Kingston auf Jamaika für Gebiete im PaziVon Einbäumen zu schwimmenden Fischfabriken
fik und im Indischen Ozean. Allein das deutsche Gebiet im Pazifik
tt Nach Erdöl sind Fisch und Meeresfrüchte das zweitwichtigste
umfasst mit 75.000 Quadratkilometern eine Fläche, die in etwa der
Exportgut der Länder des Globalen Südens. Sie bestreiten mehr als
Größe Niedersachsens und Schleswig-Holsteins entspricht. Auf
60 Prozent der Weltexporte, wobei gut zwei Drittel der Exporte in
Basis der UN-Seerechtskonvention von 1982 vergibt die IMB dort
Industrieländer gehen. Ihre Gewinne in diesem Sektor lagen 2010
die Lizenzen für die Förderung mineralischer Ressourcen auf und
bei 27,7 Milliarden US Dollar. Die gesamte europäische Fischwirtim Meeresboden in dem als Area bezeichneten Gebiet jenseits der
schaft ist vom Angebot auf dem Weltmarkt abhängig: Kein anderer
Ausschließlichen Wirtschaftszonen, die den Küstenstaaten zur
Wirtschaftsraum importiert mehr Fisch als die EU.
Nutzung überlassen und in der Regel 200 Seemeilen weit reichen
Von den weltweit rund 38 Millionen Fischern sind zirka 90
(s. S. 35). Zugleich reglementiert die IMB die dortigen NutzungsProzent Kleinfischer. Mindestens 200 Millionen Menschen waren
bedingungen im Rahmen des UN-Seerechtsübereinkommens (SRÜ).
es nach Datenlage der Welternährungsorganisation (FAO), die 2010
Es ist eine nachholende Industrialisierung, eine qualitativ neue
im Fischfang, in der Fischzucht, im Handel mit Fisch und MeeresEntwicklung; eine Kultivierung der See, die mit dem Tiefseeschürfrüchten oder in deren Weiterverarbeitung beschäftigt gewesen
fen eingeleitet wird. Nicht neu ist die Motivation, hier einen neuen
sind. Werden die Familienangehörigen in die Rechnung mit einbeWirtschaftsraum schaffen zu wollen, dessen Ressourcen verwertbar
zogen, so waren laut dem FAO-Bericht zu Fischerei und Aquakultur
gemacht und den Produktionsprozessen zugeführt werden, um
von 2014 zehn bis zwölf Prozent der Weltbevölkerung ökonomisch
Wachstum zu erzeugen. Die Vorgehensweise bei dieser Integration
von der Fischerei und Fischzucht abhängig. (s. S. 34).
der Meere in die globalisierte Ökonomie ähnelt indes mehr neoliAls eine der ältesten menschlichen Nutzungen der Meere war
beralen Strategien als der Utopie von einem unbekannten Land,
die Fischerei als erstes von Industrialisierungsvorhaben betroffen.
dessen Entdeckung allen Menschen zugute kommt. Die auf den
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21
Meere
Meeren mit dem SRÜ verankerte Idee vom Meer als Gemeingut
der Menschheit, ihrem letzten Erbe, wird in diesem Prozess denn
auch von vielen Seiten her in Frage gestellt. Stattdessen werden
Nationalisierungs- und Privatisierungsbestreben verfolgt und verbreiten sich. Die sich auf See entfaltende Dynamik ist in dieser
Hinsicht in erster Linie eine Reaktion auf die Ressourcenkrise an
Land und lässt sich mit dem weltweit intensivierten Zugriff auf
Natur erklären. Mit der Industrialisierung der Meere sollen wie mit
der Green Economy noch einmal die planetaren Grenzen für Rohstoffe und die Belastung der Ökosysteme verschoben werden. Es
wird Platz geschaffen, um die alten Fehler noch einmal wiederholen zu können und sich nicht mit ihren Konsequenzen auseinandersetzen zu müssen.
Zu dieser Einschätzung passt das 2012 von der EU verabschiedete Blue-Growth-Programm, das an die im Blauen Buch von 2007
formulierte maritime Strategie der Union anschließt. Blaue Energie,
Aquakultur, Meeres-, Küsten- und Kreuzfahrttourismus, Meeres­
bodenschätze und Blaue Biotechnologie sollen zu den Kernbereichen
einer blauen europäischen Wachstumspolitik werden. Blue Growth
soll laut EU zu einer »Initiative zur Erschließung des ungenutzten
Potenzials der europäischen Ozeane, Meere und Küsten für Beschäftigung und Wachstum« ausgebaut werden. Innovationen in
diesen Bereichen sollen der maritimen Wirtschaft, der EU-weit 5,4
Millionen Arbeitsplätze und eine Bruttowertschöpfung von fast 500
Milliarden pro Jahr zugerechnet werden, und damit der Wettbewerbsfähigkeit der EU einen Schub geben.
Es gibt viele gute Ansatzpunkte, um sich mit Nord-Süd-Fragen
zu beschäftigen. Die Meerespolitik dabei auszublenden oder auf ein
Umweltproblem zu reduzieren, ist allerdings wenig sinnvoll. Denn
das bedeutet, über zwei Drittel des Planeten unbeachtet zu lassen.
Kai Kaschinski ist Projektleiter von Fair Oceans in Bremen
(www.fair-oceans.info).
tt
Verklappt, verdünnt, vergessen
Die Weltmeere sind zur Müllkippe geworden
Die Explosion der Deepwater Horizon, einer vom Ölmulti BP
betriebenen Förderplattform im Golf von Mexiko, erinnerte im Jahr
2010 schmerzlich daran: Ölbohrinseln sind eine Risikotechnologie.
Der giftige Ölteppich kostete viele Fischer ihre Jobs, und der Tourismus so mancher Karibikinsel war seiner Hauptattraktion beraubt.
Mangroven verölten und Tiere verendeten. Ein Jahr nach der Katastrophe wurde im Golf bereits wieder nach Öl gebohrt.
Allein in den letzten 25 Jahren wurden 6.800 Ölunfälle auf See
registriert. Großkatastrophen wie Deepwater Horizon schaffen es
meist bis in die Schlagzeilen, das alltägliche Ablassen von öligen
Schlämmen und Sanden aus dem täglichen Bohrbetrieb hingegen
nicht. Meist sind es spektakuläre »Unfälle«, die daran erinnern, dass
das Meer nicht nur als Industriestandort, sondern auch als Deponie
zur Entsorgung diverser Giftmüllarten genutzt wird. Zwar wurde
mit der Londoner Konvention 1993 ein weltweites Verklappungsverbot für Industrie- und Atommüll sowie ein Ende der Verbrennung
von Giftmüll auf See beschlossen. Doch sind Unfälle nie unvermeidbar – wenn sie nicht direkte Folge von absichtlichen Vertragsbrüchen
sind. Noch gar nicht abschätzbar sind laut dem Wissenschaftlichen
Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)
derzeit die Risiken des Abbaus von Metallen aus der Tiefsee. Laut
dem Kieler BIOLAB Forschungsinstitut werden zum Beispiel beim
Verhüttungsprozess von Mangan jede Menge Chemikalien eingesetzt.
tt
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Auf dem Meer ist es billiger
Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Energie- und Rohstoffgewinnung auf und aus dem Meer sowie der globale Transport von
Stoffen und Gütern über Pipelines und Frachtschiffe produzieren
enorme Mengen Abfall. Eine Entsorgung an Land ist für die Schiffsbetreiber meist teuer und aufwändig. Müll einfach ungesehen über
Bord zu werfen, ist verlockend. Sind Abfälle und Giftstoffe erst
tt
einmal verdünnt, so die Hoffnung, ist ihre Herkunft nicht mehr
nachweisbar. Ihre toxische Wirkung hingegen ist nicht zwangsweise vermindert. Die Anreicherung von krebserregenden Weichmachern in der Nahrungskette im Meer gilt als Umweltthema der
1970er Jahre – ein virulentes Problem ist sie bis heute.
Derzeit steht die Anreicherungsgefahr von Mikroteilchen aus
Plastik im Fokus von Umweltverbänden: Kleinste Partikel gelangen
über Planktonfresser in den Fisch, der auf dem Teller landet. Die
Folgen für die menschliche Gesundheit sind noch nicht umfassend
erforscht, doch ist klar, dass sie besonders diejenigen treffen, die
auf Fisch für eine ausreichende Ernährung angewiesen sind.
Drei Viertel des festen Mülls in den Ozeanen besteht aus Plastik.
Im Durchschnitt schwimmen laut WWF auf jedem Quadratkilometer 46.000 Plastikteile. Viele enthalten giftige Stoffe wie Flammschutzmittel. Durch Meeresströmungen wird das Plastik zu Müllteppichen zusammen getrieben. Der bekannteste Müllstrudel, der
Great Pacific Garbage Patch im Nordpazifik, bedeckt inzwischen
eine Fläche so groß wie Zentraleuropa.
2006 wurden an der ivorischen Küste 500 Tonnen Giftmüll
angeschwemmt, verklappt vom Frachter Probo Koala, der vom
internationalen Handelsunternehmen Trafigura gechartert worden
war. In Abidjan starben 15 Menschen, 69 Personen erkrankten
schwer. Über 100.000 Personen wurde nach dem Einatmen von
Giftgasdämpfen übel, Tausende mussten ärztlich behandelt werden.
Probo Koala ist insofern eine Ausnahme, als dass der Fall bekannt
wurde und vor Gericht landete. Entschädigungen wurden zwar
versprochen, die Auszahlung dann aber nicht dokumentiert. Letztlich ungeklärt blieb, warum 2008 vor der somalischen Küste drei
Tonnen toter Fisch angeschwemmt wurden: Zwar hat eine Untersuchung durch das italienische Parlament illegale Verklappungen
von Sondermüll vor der somalischen Küste bestätigt, Nuklearabfall
inklusive. Doch trotz der vermuteten Zusammenhänge zum Fischsterben wurde niemand haftbar gemacht.
iz3w • Januar / Februar 2015 q 346
Filmstill aus »Eisenfresser« über die Schiffsabwrack­
industrie in Bangladesch
Foto: Shaheen Dill-Riaz
Die vermutlich größte Menge an Sonder- und Giftmüll auf und in
den Meeren verkörpern die Frachtschiffe selbst: Insbesondere Kabel
und Isoliermaterial, Dichtungen, Elektronikteile und Schmierstoffe
enthalten große Mengen giftiger Substanzen. Sondermüll in Entwicklungsländern zu entsorgen ist laut der Basler Konvention von
1992 illegal, dennoch werden ausrangierte Schiffe aus aller Welt
an den Stränden von Geddani in Pakistan, Chittagong in Bangladesch oder Alang in Indien auseinander genommen. Der gängige
Verkauf der Schrottfrachter an neue Eigner, die dann die Verschrottung in Auftrag geben, erschwert die Kontrolle. Das Zerlegen von
Schiffsrümpfen ist offensichtlich dort wirtschaftlich attraktiv, wo
Schweißer unter schwersten Bedingungen für Billiglöhne unwürdige Arbeit verrichten und ihr Leben riskieren. Filme wie »Eisenfresser« von Shaheen Dill-Riaz und »Working Man’s Death« von
Michael Glawogger haben das eindrücklich dokumentiert.
Als billige Verschrottung auf See kritisierten UmweltschützerInnen auch die Ship Sinking Exercises der US-Marine, genannt SINEX.
Über einhundert ausrangierte Kriegsschiffe, Schlepper und sogar
ein Flugzeugträger wurden, so berichtete der SPIEGEL 2012, vor
den Küsten von Hawaii, Florida, Kalifornien und anderen US-Bundesstaaten versenkt, während im gleichen Zeitraum nur 64 Schiffe
auf herkömmliche Art verschrottet worden seien. Während die
US-Marine von einer notwendigen Übung spricht, um Waffensysteme testen und Seeleute ausbilden zu können, vermuten MeeresbiologInnen, dass mit der Explosion der Schiffe nicht nur Stahl,
sondern auch Waffen in den Tiefen der See versenkt wurden.
Plutonium aus Atommüllfässern
Es ist bekannt, dass die Meere für die Vernichtung von Waffen
aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg als billige Entsorgungsdeponie galten. Eine besondere Gefahrenkategorie stellt
verklappter Atommüll dar: In den 1960er bis 70er Jahren wurden
– weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt – erhebliche Mengen radioaktiven Mülls über Bord gekippt, in Behältnissen, die nach
DIN- und VOB-Normen angeblich für die Ewigkeit konstruiert
wurden. Verzeichnissen der Nuclear Energy Agency (NEA) und der
International Atomic Energy Agency (IAEA) zufolge versenkten neun
tt
Staaten bis 1982 an fünfzehn Stellen im Nordostatlantik 114.726
Tonnen Atommüll in 222.732 Fässern. Diese enthalten zusammen
rund zehnmal mehr Radioaktivität als alle Abfälle, die in den Schacht
Asse eingebracht wurden. Bereits 2000 entdeckte Greenpeace
lecke Fässer im Ärmelkanal. Inzwischen wurde in den Versenkungsgebieten hochgradig giftiges Plutonium 238 in Wasserproben, im
Sediment und in Fischen nachgewiesen.
Das Meer wird keineswegs nur durch legales und illegales Verklappen zum Mülldepot. Stark belastet wird es auch von Land her
durch Abwässer und Chemikalien – insbesondere solcher, die
wegen ihrer Giftigkeit an Land für gesellschaftlichen Widerstand
sorgen, weil sie die Risiken und Kosten der Industrieproduktion
sichtbar und spürbar machen. Ein kaum kontrollierbarer Eintrag
von Schwermetallen, Pestiziden und Dünger, den die Agrokonzerne auf Feldern ausbringen lassen, belasten über den Regen und
die Flüsse küstennahe Gewässer. Als Folge der Überdüngung können Algenblüten den Sauerstoff verringern und so andere Pflanzen
sowie Meerestiere ersticken. Dieses Phänomen der toten Zonen ist
im Golf von Mexiko und in der Ostsee mehrfach belegt worden.
Der WBGU plädierte 2013 in seinem Gutachten »Menschheitserbe Meer« für den Ausbau einer internationalen Meeresstrukturpolitik. Er empfiehlt, Sanktionsmechanismen zu verankern und den
Internationalen Seegerichtshof (ITLOS) in Hamburg zu stärken.
Das könne von den Staaten als Anreiz verstanden werden, international vereinbarte Verträge in nationales Recht zu überführen.
Bislang kann ein Verfahren vor dem ITLOS nur zustande kommen,
wenn beide Streitparteien eine Streitbeilegung wünschen.
Hochrisikotechnologien, Unfälle und Verklappungspraxis besser
zu kontrollieren ist zweifelsfrei wünschenswert. Die derzeit unter
dem Schlagwort Blue Growth geförderte maritime Raumplanung
wird die Risiken für die AnrainerInnen der Küsten aber kaum minimieren können. Denn damit einher geht die Verdichtung der
ohnehin schon engmaschigen Frachtrouten durch steigende Transportbedürfnisse der Wirtschaft an Land, der Ausbau mariner Gasund Erdölfördergebiete und die Aufnahme des Tiefseebergbaus.
tt
Martina Backes ist Mitarbeiterin im iz3w.
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ISSN 1614-0095
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