Wer sich für Rennmotorräder aus den ver

Transcrição

Wer sich für Rennmotorräder aus den ver
KLASSIK
NCR
DUCATI TT2
Wer sich für Rennmotorräder aus den vergangenen Jahrzehnten interessiert, kommt
nicht an Ducatis TT-Rennern vorbei. Sie waren
schnell und erfolgreich, brachten Ducati
Anfang der 1980er Jahre zurück ins Rennsportgeschehen. Da unzählige Nach- und
Eigenbauten im Umlauf sind, ist ein Blick auf
eine originale NCR-WERKSMASCHINE selten
56
Jörg Laibacher
und seine TT2
bei der Retromotor in Tübingen.
Und die noch
frische Unterschrift
Marco Lucchinellis
57
KLASSIK
Großer Service:
Die Maschine
war einige
Jahre stillgelegt,
weswegen
die 38-MillimeterMarzocchiFedergabel neue
Simmerringe
bekommt und ein
neues Lenkkopflager eingebaut wird
58
U
nverhofft, wie es im Leben angeblich oft vorkommt,
ist Jörg Laibacher aus dem schwäbischen Steinheim
an seine neueste Ducati gekommen. Eigentlich
hatten ihn ein paar seiner Kunden gebeten, bei der
Beschaffung verschiedener vierrädriger Oldtimer
behilflich zu sein. Doch wie es der Zufall wollte, stieß er bei seinen
Recherchen auf den Händler Fausto Marino, der in Turin und
Monaco lebt und in Cuneo, Norditalien, die Firma Autoieri betreibt.
Dieser gab nämlich zur Auskunft, neben einer stattlichen Sammlung
von 25 Werks-Lancias und anderen äußerst gesuchten Raritäten zwei
TT2 des Ducati Veredlers NCR zum Verkauf anzubieten. Da
wurden die schwäbischen Ohren natürlich hellhörig.
Ducati feierte mit der TT2 Anfang der 1980er Jahre eine Art Rennsport-Comeback, nachdem sich das Werk seit 1975 nicht mehr offiziell an Wettbewerben beteiligt hatte. Einer idealen Kombination
aus Motorleistung und Gewicht war es zu verdanken, dass Fahrer
wie Tony Rutter die Maschinen so erfolgreich steuern konnten und
Die TT2 war ein Segen für
Ducati. Sie und Tony Rutter brachten
Ducati Rennerfolge zurück
Das Gehäuse eines 350-ccmMotors und die Trockenkupplung
von NCR mit den typischen
Gewichtsersparnissen
Die breite Alu-Schwinge
von Verlicchi für 180er-Bereifung
auf 17-Zoll-Magnesium-Felge
von Marchesini
das Motorrad darüber hinaus auch für Privatfahrer interessant
wurde. In den folgenden Jahren gab es eine handvoll kleiner Firmen
wie zum Beispiel Harris, Thersby oder Maltry, die EigenbauGitterrohrrahmen und sogar Komplett-Bausätze – auch für Straßenversionen (zum Beispiel Sports Motorcycles, Moto Thomé oder
BKM) – anboten. Dieser Trend ist ungebrochen, da auch ein
Privatmann mit einem günstigen Basis-Fahrzeug, wie beispielsweise einer Ducati Pantah oder Cagiva Alazurra, kostengünstig einen
Hobby-Renner aufbauen kann.
Wie Kenner der Szene erstens wissen, baute NCR von den TT2Rennern lediglich etwa 25 Maschinen, und zweitens, dass sich eine
originale NCR TT einfach von einer Kopie unterscheiden lässt.
Mythen besagen nämlich, NCR habe von Ducati damals gerne auch
mal Prototypen-Teile oder Spezialanfertigungen erhalten, was die
Maschinen noch exklusiver machte. Bei der Laibacher-TT2 ist dies
zum einen das 350er-Motorgehäuse, das vermutlich aus Gewichtsgründen anstelle eines F1-Gehäuses verwendet wurde und dann von
NCR auf Trockenkupplung mit den typischen NCR-Deckelausfräsungen umgebaut wurde. Oder der eigenwillige Tank, den es nie
als Zubehör zu kaufen gab und wohl nur 15 Mal bei der zweiten
Serie der TT F2-Maschinen und bei einer Werks-TT F1 verwendet
wurde. Ein Anruf bei Herrn Caracchi, einem der Gründer der
Firma NCR, verschaffte dann obendrein zusätzliche Gewissheit,
nachdem er diese und weitere Details auf Fotos bestätigte.
Im Entstehungsjahr 1985 betrug der Hubraum dieser TT2 600
Kubikzentimeter. Zwei Jahre später wurde er auf 750 Kubikzentimeter vergrößert. Außerdem wurde die Schwungmasse erleichtert,
der Primärantrieb auf gerade Verzahnung verbessert, NCR-Nockenwellen, große Ventile und 41er-Dell’Ortos verbaut – womit eine
Leistung von etwa 85 Pferdestärken erreicht wird. Da die Maschine
in der italienischen Meisterschaft gefahren wurde, in der damals ein
Elektrostarter vorgeschrieben war, müsste das Gewicht des Renners
bei Verwendung einer 38-Millimeter-Marzocchi-Magnesium-Gabel
sowie Magnesium-Räder von Campagnolo oder der aktuell verbauten Marchesini, bei etwa 128 Kilogramm liegen. Der nur sieben
Kilogramm schwere Stahlrahmen sowie die breite Alu-Schwinge
wurden von Verlicchi geliefert. Goldene 08er-Brembo-Sättel bremsen
59
KLASSIK
Schönes
Detail: der
Verlicchi-Rahmen
mit gebogener
Strebe für
eine erleichterte
VergaserMontage
60
die 280er-Scheiben vorne, hinten 260er-Scheiben bei CampagnoloFelgen oder 230-Millimeter-Durchmesser-Scheiben bei Verwendung der Marchesini-Felgen.
Nachdem die Maschine in einer Nacht-und-Nebel-Überführungsaktion einen Tag vor Weihnachten das Schwabenland erblicken
durfte, wurde sie in den kommenden Monaten behutsam auf Vordermann gebracht. Peter Stein in Erlenbach hatte die Ehre, das
exklusive Stück fahrtauglich zu machen. Die beiden Ducati-Archäologen gruben dabei nicht nur ein paar weitere interessante Details
des Motortunings aus, sondern auch eine kleine versteckte Botschaft
zum Stammbaum der Maschine: Unter dem alten Slick trat auf dem
Felgenbett der Marchesini-Hinterradfelge ein etwa fingergroßer
Aufkleber mit der Aufschrift „Leale“ hervor. Fausto Marino, der
Händler, hatte zwar versichert, die Maschine, beziehungsweise den
Verkäufer zu kennen, für den er diese nun aus Altersgründen verkaufen soll. Sie sei immer in dessen Besitz gewesen, von 1985 bis
2011, einen Namen soll er aber nicht nennen. Technikaffine Spürnasen geben sich damit naturgemäß nicht zufrieden: Gibt man ver-
Der Held vergangener
TT-Tage: Marco
Lucchinelli beim Signieren
der Laibacher-TT2
Ein Fest für Motoren-Archäologen.
Bei jeder Schraube geht wieder ein
interessantes Türchen auf
Zwei Ducati-Archäologen
bei den Ausgrabungsarbeiten: Jörg
Laibacher (links) und Peter Stein
schiedene Wortkombinationen mit „Leale“ in Suchmaschinen ein,
so könnte es sein, dass ein gewisser „Antonio Leale“ diese TT2
damals in der italienischen Meisterschaft steuerte.
Zur Retromotor 2012 in Tübingen kam dann der große Tag, an
dem das Fahrzeug erstmals unter rennähnlichen Bedingungen gefahren werden konnte. Der erste Trainingslauf war noch ernüchternd,
da die verwendeten Zündkerzen einen stotternden Motorlauf
bescherten. In den beiden „Rennläufen“ konnte die TT2 dann allerdings den Erwartungen mehr als entsprechen und bescherte dem
neuen Eigner ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht. Als dann in der
Rennpause auch noch Marco Lucchinelli, das Idol der Szene, vorbei kam und die TT-Verkleidung mit seiner Unterschrift aufwertete,
war der Tag perfekt.
Im August 2013 wird voraussichtlich der nächste Einsatz der
NCR TT2 sein, wenn Jörg Laibacher zum ersten europäischen
TT2-Symposium in Donington Park (England) anreisen wird. Pat
Slinn, der ehemalige Mechaniker von Mike Hailwood und Tony
Rutter (Sports Motorcycles Manchester), organisiert dieses Treffen,
bei dem sicher eine Menge TT2-Hochkaräter am Start sein werden,
über die gefachsimpelt werden kann. Und wer weiß, vielleicht
kommen noch mehr unverhoffte Botschaften zur Historie der
NCR TT2 zutage.
쏔
TECHNISCHE DATEN: DUCATI NCR TT2 750
Baujahr: 1985
Preis: Höchstes Liebhaber-Niveau, Tendenz stark steigend. Insgesamt jedoch sehr von Zustand,
Originalität und Historie abhängig. Etliche Replikas sind im Umlauf. Originale NCR-TT2 sind auch
für Kenner nicht einfach zu identifizieren
Leistung: zirka 85 PS (62 kW) bei 10 500/min. Der Ducati TT F1-Werksrenner wurde 1985 mit
einer Maximalleistung von 106 PS bei 10 000/min deklariert
Motor: Viertakt-V-Zweizylindermotor, Zylinderwinkel 90 Grad, luftgekühlt. Zwei Ventile pro Zylinder,
über zahnriemengetriebene Nockenwellen mit Öffner- und Schließerhebel (Desmodromik) betätigt.
Bohrung x Hub 88 x 61,5 Millimeter, Hubraum 748 ccm, Verdichtung 10,5.Zwei Dell’Orto-Rundschieber-Vergaser, 쏗 41 mm, offen ansaugend, Zwei-in-eins-Auspuffanlage mit konischem Endrohr. Per Seilzug betätigte Mehrscheiben-Trockenkupplung, Fünfganggetriebe, Endantrieb über
Rollenkette, Elektrostarter
Fahrwerk: Verlicchi-Brückenrahmen aus Chromoly-Stahlrohr geschweißt, Motor mittragend. Vorn
Telegabel Typ Marzocchi, 쏗 38 mm, hinten Verlicchi-Leichtmetallschwinge mit Mono-Federbein,
Marchesini-Magnesiumfelgen, vorn und hinten in 17 Zoll. Doppelscheiben-Bremse, 쏗 280 mm
vorn, mit Brembo d’Oro P08-Bremszangen. Scheibenbremse hinten, 쏗 230 mm. Radstand 1370
mm, Gewicht ohne Benzin zirka 128 kg
Kontakt: Jörg Laibacher, Steinheim, www.ducatilaibacher.de
61