Elisabeth, RC Minden – Porta Westfalica , Ibitinga
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Elisabeth, RC Minden – Porta Westfalica , Ibitinga
Eine neue Welt – Brasilien von Elisabeth Tiemann Oft werde ich gefragt:„Und wie war dein Auslandsjahr so?“. Bei dieser Frage weiß ich nie was ich antworten soll, denn ein kurzes „gut“ oder „schön“ wäre völlig unangebracht. Da passen eher die Wörter: aufregend, traurig, lustig, überraschend, lehrreich, hart, entspannt, interessant, erfüllend, schockierend, fantastisch, atemberaubend... Es ist ein Jahr voller Höhen und Tiefen, Überraschungen, Erfahrungen, Entdeckungen und Erlebnissen. Vor allem war es das intensivste Jahr meines Lebens. Als mir zum ersten Mal der Gedanke kam ein Auslandsjahr zu machen, war es für mich damals selbstverständlich ein englischsprachiges Land als mein Zielland anzugeben. Ich dachte, der eigentliche Nutzen des Auslandsjahres sei es, danach flüssig die Sprache zu können. Englisch kann man in der Schule sowie im Beruf sicher gut gebrauchen, dachte ich. Auf den Vorbereitungstagen für das Auslandsjahr wurde ich allerdings eines Besseren belehrt: es ist zwar auch wichtig die Sprache des jeweiligen Ziellandes zu erlernen, jedoch geht es genauso darum die Kultur, die Traditionen und die Menschen des Landes kennen zu lernen. So ließ ich mich also dazu überreden nach Brasilien zu gehen. Dies war eine gute Entscheidungen Entscheidung – wie sich zeigen sollte. Brasilien ist 24 Mal so groß wie Deutschland (8.500.000 km²) mit 191 Millionen Einwohnern und ist somit der flächenund bevölkerungsmäßig größte Staat Südamerikas. Meine Heimatstadt Ibitinga (ein indianischer Name) liegt im Bundesland Sao Paulo, dessen Hauptstadt ebenfalls Sao Paulo heißt. Ibitinga hat etwa 60.000 Einwohner, wobei es für mich jedoch nur gefühlte 10.000 waren. Es gab sehr wenig kulturelle Angebote und so vermisste ich besonders am Anfang Theater- und Kinobesuche, sowie Jugendtreffpunkte. Die Schere zwischen Armut und Reichtum in Brasilien geht sehr stark auseinander. Es gibt quasi keine Mittelschicht. So trifft man in Supermärkten, Geschäften und Restaurants immer nur die Oberschicht an, die mit der Mittelschicht in Deutschland zu vergleichen ist. Geht man in ein anderes Stadtviertel, gibt es auch Märkte, Geschäfte und Bars, jedoch ist dort alles wesentlich ärmlicher. Genauso ist es mit dem Bildungssystem: nur die Familien der Oberschicht haben das Geld, ihre Kinder in private Schulen zu geben, die etwa dem Niveau der Schulen in Deutschland entsprechen. Alle anderen gehen auf staatliche Schulen, die sehr schlecht sind oder besuchen gar nicht die Schule, da sie vom Kindesalter an arbeiten müssen. Es war also etwas ungewohnt auf eine Schule mit nur einer Klasse pro Jahrgang zu gehen, doch so wenig Auswahl ich auch zur Verfügung hatte, ich fand doch Leute die zu mir passten. Ob man sich versteht oder nicht kann man jedoch noch nicht feststellen, solange man noch nicht die Sprache des anderen sprechen kann. Auch meine ersten Gasteltern, die ich schnell sehr lieb gewonnen habe, konnten kein einziges Wort Englisch. Aber wir verständigten uns trotzdem mit Hilfe meiner Gastschwestern, einem Wörterbuch oder eben mit Händen und Füßen. Ich wurde vom ersten Tag an in das Familienleben integriert. Es bestand aus dem gemeinsamen Abendessen, danach Abspülen und an Sonntagen zum Familientreffen auf der Ranch meines Gastopas. Ansonsten hatte ich viel Freiraum für eine Menge Hobbies. Da ich noch nicht gut sprechen konnte schrieb ich mit meiner Tischnachbarin Zettelchen. Zu dem Zeitpunkt bekam ich schon Portugiesischunterricht und das Schreiben war daher für mich einfacher als das Sprechen. Als ich nach ihren Hobbies fragte, lud sie mich ein, mit zu ihrem Ache-Tanzkurs (typischer brasilianischer Tanz) zu kommen. Ich freute mich riesig. Die Brasilianer sind zwar ein sehr offenes Volk, aber man muss trotzdem selber auf sie zugehen, schon deshalb, weil man dadurch besser ihre Sprache erlernt. Als ich später flüssig Portugiesisch sprach, lernte ich noch mal andere Leute kennen als vorher. Die Sprache ist wirklich der Schlüssel zu den Menschen. Das verstehen und sagen zu können was ich wollte, klappte erst nach ca. 4 Monaten. Vorher war es für mich eine Zeit mit vielen Hoch-und Tiefpunkten, da ich manchmal verstand worüber die Leute in der Schule sich unterhielten und mir in manchen Momenten der Weg zum Ziel so lange vorkam. Meine Gastfamilie hat mir in dieser Zeit sehr geholfen und vor allem meine gleichaltrige Gastschwester hat mich immer wieder ermutigt. Wir beide haben uns sehr gut angefreundet und fuhren in der ersten Woche unserer Sommerferien zusammen nach Belo Horizonte, also die drittgrößte Stadt Brasiliens, um dort die Familie des brasilianischen Mädchens zu besuchen, das zu der Zeit in meiner Familie in Deutschland wohnte. (Da meine Familie so gut mit ihr auskam, telefonierten wir oft miteinander und stellten fest dass wir trotz des Länderunterschiedes die gleichen Erfahrungen machten und ähnliche Probleme und Entdeckungen hatten. Und so freundeten wir uns über den Äquator hinaus an.) Die Woche bei Anas Familie war sehr schön, denn die Brasilianer sind sehr gastfreundlich und offen. Da ich bisher hier noch nicht viel gereist war, bemerkte ich, wie vielseitig Brasilien ist. Nicht nur die Landschaft war viel hügeliger, sondern auch das Essen war anders, sowie die Redensart und Lebensart der Menschen. In meiner kleinen Stadt treffen sich die Leute viel zu Barbecues und zum Sport. Ansonsten ist das Leben sehr ruhig und jeder ist sehr beschäftigt mit seinem Alltag. In dieser Großstadt gibt es ein Gedränge und Gehetze, überfüllte Bars und Musik auf jeder Straße und es gibt riesige Einkaufszentren neben gigantischen Slums. Wie verschieden die Orte in Brasilien sein können, erfuhr ich auf meiner anschließenden Tour durch den Nord-Osten. Mit 48 Austauschschülern fuhren wir einmal die ganze Ost- Küste mit dem Bus ab. Das war wirklich eine der schönsten Fahrten meines Lebens. Sie war zwar sehr touristisch organisiert, aber ich habe noch nie so schöne Wasserfälle, Strände, Städte und Menschen mit so viel Musik im Blut gesehen. Von dem außergewöhnlichem Essen das ich probieren durfte, war ich besonders beeindruckt. Nach dieser atemberaubenden Reise war es für mich so weit, die Familie zu wechseln, genauso wie meine Klasse, da nämlich das Schuljahr in Brasilien im Januar beginnt. Ich hatte - offen gestanden - sehr wenig Lust noch einmal bei allem neu anzufangen: mich an eine neue Familie gewöhnen, neue Freunde finden...doch das sind Dinge mit denen man in einem Auslandsjahr oft konfrontiert wird - sich in einer neuen Situation schnell zurechtzufinden. Ich hoffe, dass ich später von diesen Erfahrungen zehren kann. Nach ein paar Tagen traf ich mich schon mit zwei Mädchen aus meiner Klasse zum Eisessen. Eine Woche später war Karneval in Brasilien. Ich hatte das Glück, dass ich bei den Proben der Sambaschulen, die durch Rio de Janeiro zogen, ein paar Wochen zuschauen durfte. Am Tag selber nun sah ich mit der ganzen Familie das Spektakel im Fernsehen an, während wir „Churrasco“ (brasilianisches Barbecue), Reis und Bohnen verzehrten, das typische brasilianische Gericht. Egal ob zum Mittag- oder zum Abendessen, ohne Reis, Bohnen und ein Stück Fleisch schmeckt es den Brasilianern nicht. Das ist am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig, jedoch vermisse ich es jetzt, genauso wie die Gewürze. Die letzten Monate rauschten nur so an mir vorbei und ich fühlte mich schon fast wie eine richtige Brasilianerin, wären da nicht diese Ausrufe gewesen wie:“ Hast du tolle blonde Haare und blaue Augen, du siehst aus wie eine typische Deutsche!“. Das war wohl als Kompliment gemeint, ich wäre allerdings für dieses eine Jahr gerne klein, braunhaarig und braunäugig gewesen. Auf der anderen Seite war es auch schmeichelhaft als etwas „Besonderes“ betrachtet zu werden. Gerade in so einer kleinen Stadt in der ich war, war das sehr extrem. Ich muss an dieser Stelle erklären, dass für die Leute hier Personen aus dem Ausland eine absolute Sensation sind. Für die meisten Menschen hier ist die Welt, in der sie leben sehr klein und das Wissen über andere Nationen sehr gering. Unsere Haushälterin „Suelli“- in der brasilianischen Oberschicht ist es sehr normal eine Gehilfe im Haus zu haben - heiratete schon mit 15, sah niemals eine Schule von innen und wird ihr Leben lang vorraussichlich von morgens bis abends arbeiten müssen. Das gleiche gilt für ihre 18jaehrige Tochter, die nicht genug Geld aufbringen kann, um in der nächsten großen Stadt einen Kurs in einer Universität belegen zu können. Ich denke, Suelli wäre, hätte sie eine richtige Ausbildung genossen, eine intelligente Frau mit einem guten Beruf geworden. So ist der Lebensablauf der brasilianischen Arbeiterklasse, welche noch längst nicht auf der niedrigsten Stufe der Klassengesellschaft Brasiliens ist. Dieser Schüleraustausch macht mich auf viele verschiedene Schicksale, verschiedene Denkweisen und Lebensweisen aufmerksam. Auch wenn Brasilien in vielen Bereichen noch erschreckende Probleme hat, liebe ich dieses Land sehr und möchte unbedingt etwas von der brasilianischen Kultur beibehalten! Zum Beispiel die Musik auf den Strassen, die Spontaneität der Leute, das gute brasilianische Essen, den Samba und die eleganten Brasilianer, die ihn zu tanzen wissen, die Offenheit und die Herzlichkeit der Menschen, die Einstellung, den Moment genießen zu können und sich keine Gedanken über Morgen zu machen und natürlich die tropische Hitze und den stetigen Sonnenschein. All das habe ich in meinen verbleibenden Tagen dort noch genossen. An einem der letzten Abende verabschiedete ich mich mit einem Abendessen von meinen beiden Gastfamilien, die Rotary nicht besser für mich hätte auswählen können. Wie verblüffend ist doch die Tatsache dass mir all die Menschen vor ein paar Monaten noch so fremd waren, ich sie noch nicht einmal verstehen konnte und jetzt sind sie mir so vertraut geworden. Allerdings freute ich mich auch schon sehr auf meine deutsche Familie und so fiel ich ihnen glücklich aber erschöpft nach 14 Stunden Flug in die Arme. Die vielen Gedanken die ich mir darüber gemacht hatte, ob sich wohl viel verändert habe und ob die Freundschaften bestehen bleiben würden, waren völlig überflüssig. Das einzige was sich verändert hatte war ich. Ich bin selbstbewusster geworden und habe mich selbst besser kennen gelernt. Kaum war ich in Deutschland gelandet, war ich auch schon wieder auf Entzug nach Brasilien. Mein Ziel ist es jetzt für einen Flug nach Brasilien zu sparen, um nach dem Abitur meine Familien und Freunde zu besuchen. Ist es sinnvoll als Schüler/in im G8 Jahrgang auch ein Auslandsjahr zu machen? Ich denke, es lohnt sich auf jeden Fall gerade im G8 Jahrgang ein Auslandsjahr zu machen und danach ein Jahr zu wiederholen, denn dieses Jahr ist etwas ganz besonderes. Die Chance ein anderes Land zu bereisen und in dieser Form als Schüler und als Gastkind in einer Familie zu leben, wird es später nicht mehr geben. Ich habe durch dieses Jahr einen anderen Blickwinkel kennen gelernt: auf die Welt, auf Deutschland, auf die Schule und die Erziehung der eigenen Eltern. Ich lernte mehr über mich selbst und möchte alle ermutigen diese Möglichkeit zu nutzen. Ihr werdet sehen, es wird das beste Jahr eures Lebens! Elisabeth Tiemann