Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink
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Lars Schneider · Xuan Jing (Hg.) Anfänge vom Ende Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn ANFÄNGE herausgegeben von AAGE A. HANSEN-LÖVE INKA MÜLDER-BACH Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn Lars Schneider · Xuan Jing (Hg.) ANFÄNGE VOM ENDE Schreibweisen des Naturalismus in der Romania Wilhelm Fink Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn Diese Publikation ist im Rahmen der Forschergruppe „Anfänge (in) der Moderne“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden und wurde unter Einsatz der ihr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt. Umschlagabbildung: Jules Bastien-Lepage, Jeanne d’Arc, Öl auf Leinwand, 1882, 254x279 cm, New York, Metropolitan Museum of Art Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5678-6 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn Inhalt Danksagung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 EINLEITUNG XUAN JING Anfänge vom Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 LARS SCHNEIDER Schreibweisen des Naturalismus in der Romania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. ZOLAS ÄSTHETIK DES NATURALISMUS RAINER WARNING Zola als Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 HENRI MITTERAND Le naturalisme selon Zola: Discours théorique et genèse romanesque . . . . . . 49 AURÉLIE BARJONET La thèse des deux Zola. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. ZOLA-LEKTÜREN STEPHAN LEOPOLD Anfänge vom Ende der Zeit: Zolas Idyllen und der Chronotopos der Fläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 LISA ZELLER Erinnerungen an die traumatische Gründung der Republik: Zolas Bête humaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 XUAN JING Zola und die narrative Bewältigung des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 8 INHALT III. NATURALISMEN IN FRANKREICH WOLFGANG ASHOLT Eine lebenswissenschaftliche Kritik des Naturalismus? Die Debatte um das naturalistische Programm zwischen Jules Vallès und Emile Zola. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 LARS SCHNEIDER Le livre blanc rêvé: spiritualistischer Naturalismus in Joris-Karl Huysmans’ La cathédrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 GUY DUCREY Le Naturalisme à l’opéra? – Le Chemineau de Jean Richepin et Xavier Leroux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 IV. NATURALISMEN IN SPANIEN UND ITALIEN GERHARD POPPENBERG „quería..., no sabía qué..., a qué tenía derecho...“ Das Gesetz des Begehrens in Claríns La Regenta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 KARIN PETERS El esqueleto de un gigante: Naturalistische Mythopoetik des spanischen Elends (Blasco Ibañez: La barraca, 1898) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 JULIA BRÜHNE „Madame Bovary, c’est Maximiliano Rubín“: Sprache, Nom-du-Père und Rebellion in Madame Bovary und Fortunata y Jacinta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 DIETRICH SCHOLLER Verismus als Diskurskritik. Anmerkungen zu Luigi Capuanas Giacinta . . . . . 285 Beiträgerinnen und Beiträger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn DIETRICH SCHOLLER Verismus als Diskurskritik. Anmerkungen zu Luigi Capuanas Giacinta Der Protagonist des europäischen Naturalismus war ohne jeden Zweifel Émile Zola, dessen anfangs erfolglose Schriften in Rußland zirkulierten, der aber spätestens nach Erscheinen des Skandalromans Thérèse Raquin (1867) gesamteuropäische Bedeutung erlangte. In diesem Roman geht es um die gleichnamige Ehebrecherin, die ihren Ehemann Camille zusammen mit ihrem Liebhaber Laurent aus niedrigen Beweggründen ermordet, um daraufhin mit ihrem Geliebten ihren sexuellen Appetit zu stillen. Die Geschichte wird wie eine pathologische Fallstudie erzählt, die mit geradezu systematischer Gesetzmäßigkeit in die Katastrophe führt, nämlich in einen doppelten Selbstmord der Liebenden, die nach der Ermordung des Ehemannes von Gewissensbissen zernagt werden und deren Beziehung deshalb scheitert. Diese Art des Erzählens war seinerzeit neu und unerhört, und sie sorgte auch südlich der Alpen in Zeiten risorgimentaler Erbauungsliteratur für erhöhte Aufmerksamkeit. Luigi Capuana, neben Giovanni Verga der wichtigste Autor des Verismus, verehrte den italo-französischen Autor Emilio Zola. Er widmete Letzterem mehrere Essays und außerdem jenen Roman, um den es im Folgenden gehen wird: Giacinta, ein typischer Ehebruchsroman, der nicht in der importierten naturalistischen Doktrin aufgeht.1 Aber auch der alternative Königsweg der Phantasie wird nicht eingeschlagen, sondern, so meine These, er bietet einen narratologisch reflektierten Rahmen für Diskurskritik, die aus dem Geist eines skeptischen Essayismus erfolgt und einen spezifisch italienischen – nämlich schwarzen – Naturalismus ins Werk setzt. Man spürt schon aufgrund der Sujetfügung die Verwandtschaft mit Zolas oben erwähntem naturalistischem Roman Thérèse Raquin. Giacinta ist die Tochter von Paolo und Teresa Marulli. Sie wird als Kind von dem Hausdiener und Spielgefährten Beppe vergewaltigt. Das Mädchen wächst zunächst bei einer Amme und dann in einem Internat auf, weil es der exaltierten Rabenmutter lästig ist. Als junge Frau verliebt sich Giacinta in Andrea Gerace, einen bescheidenen Angestellten der Banca provinciale, aber heiraten muß sie auf Geheiß der dominanten und ehrgeizigen Mutter einen Grafen namens Giulio Grappa di San Gelso, den reichlich senilen letzten Sproß einer ortsansässigen Adelsfamilie. Schon in der Hochzeitsnacht wird die Ehe gebrochen. Der Conte bemerkt das Liebesverhältnis zwischen Giacinta und Andrea, läßt Letzteren aber gewähren. Giacintas Mutter dagegen ist als aufstiegsorientierte Provinzgröße besorgt um den guten Ruf der Familie. Durch eine Intrige veranlaßt sie Andreas Versetzung von Kampanien nach Syrakus. Im Gegenzug stiftet Giacinta den abulischen Geliebten dazu an, seinen Beruf aufzugeben 1 Luigi Capuana: Giacinta, Mailand 2002. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 286 DIETRICH SCHOLLER und stattdessen bei ihr als Kostgänger zu leben. Widerwillig stimmt Andrea zu, zumal es ungemütlich wird, weil sich bei Giacinta Anzeichen der Hysterie mehren. Als Andrea sich heimlich davonstehlen möchte, begeht die contessa, wie sie ironisch in der Stadt genannt wird, aus lauter Verzweiflung schließlich Selbstmord. I. Erzähltechnik und experimenteller Rahmen In der Entstehungzeit der Giacinta befaßte sich Luigi Capuana auf intensive Weise mit der zeitgenössischen Erzählliteratur. Seine Essayistik läßt deutlich erkennen, daß er mit den neuesten Erzähltechniken bestens vertraut war und deren Funktionen auf der Ebene der Textvermittlung richtig einzuschätzen vermochte. Das zeigt sich zum Beispiel in seiner luziden Analyse Zolascher Deskriptionen, in seiner kritischen Anverwandlung naturalistischer Fallstudien-Ästhetik, in der zutreffenden Einschätzung Flaubertscher Distanzierungsverfahren und nicht zuletzt in der Erkenntnis, daß sich in der Zyklusstruktur der Rougon-Macquart weniger ein szientistisches als vielmehr ein diegetisches Prinzip manifestiere. Es erstaunt daher nicht, daß Capuana die Bedeutung wissenschaftlicher Rede relativiert und ihr in einem seiner Zola-Essays den angestammten Platz anweist: La legge dell’eredità naturale non è inventata da Zola. Si trova nettamente formulata in moltissimi volumi di solida scienza che il dottor Lucas ha riassunto nel suo famoso libro sull’Hérédité naturelle.2 In anderen Worten: Es gibt seinerzeit zahllose Gebrauchstexte zum Thema der natürlichen Vererbungslehre, aber nur einen Schriftsteller, der den Rougon-MacquartZyklus ersonnen hat. Im Wissen von der unabweisbaren „superiorità dell’arte“3, also um den trans- oder a-diskursiven Charakter literarischer Texte, in diesem Wissen, so darf man schlußfolgern, ging es Capuana zunächst einmal darum, die Erfordernisse positivistischer Erzählkunst auf der Ebene der Textvermittlung einzulösen. Daher verleiht er seinem Roman den Charakter eines Erzählexperiments, ohne daß es sich bereits, wie später in der Hochmoderne, um einen experimentellen Text handeln sollte. Im Rahmen dieser Experimentanordnung werden ganz unterschiedliche Diskurse im Sinne einer Kopräsenz des Differenten vorgeführt und gegeneinander ausgespielt. Bevor ich auf die vorgeführten Diskurse zu sprechen komme, möchte ich Capuanas Experimentanordnung in einigen Punkten erläutern. An erster Stelle zu nennen ist die Einbettung in Raum und Zeit. Beide Kategorien bleiben in auffälliger Weise unterbestimmt. Wir erfahren zunächst nicht, in welcher Region der Roman spielt. Erst im VII. Kapitel wird nachträglich und auf recht verklausulierte Weise angedeutet, daß sich die Geschichte vermutlich im 2 Luigi Capuana: „Emilio Zola“, in: Walter Mauro: Capuana. Antologia dagli scritti critic, Bologna 1971, S. 26–41, hier: S. 38. 3 Ebd., S. 39. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 287 Hinterland von Neapel ereignet: „Splendeva nella terra e nel cielo un lontano riflesso di Napoli.“4 Im Zentrum des Geschehens steht eine Provinzstadt, die von Bergen umgeben ist, in stetigem Wachstum begriffen zu sein scheint, immerhin über ein Stadttheater verfügt, deren Straßen, Plätze und Häuser jedoch vollkommen unspezifisch bleiben, mit Ausnahme der Protagonistenbehausungen. Ort der Handlung ist von Anfang bis Ende des Romans ebendiese kulissenartige Laborstadt. Bis auf einen nächtlichen Spaziergang am Meer werden keine topologischen Grenzen überschritten, das heißt, die räumlichen Versuchsbedingungen werden durchgehend konstant gehalten. Gleiches gilt für die zeitliche Strukturierung. Die erzählte Zeit deckt sich exakt mit dem Leben der Protagonistin. Nur vereinzelt werden erzählerische Rückgriffe auf das Leben früherer Generationen eingestreut. Dabei bleibt die historische Zeit vollkommen ausgeblendet. Der gesamte Roman ist bar jeder absoluten Chronologie, es findet sich darin kein einziges objektives Datum. Stattdessen wird das Voranschreiten der Zeit auf der Ebene der Textvermittlung lediglich mittels relativer Termini markiert. Durch diese ‚Nicht-Semantisierung‘ von Raum und Zeit in Gestalt einer gesichts- und scheinbar geschichtslosen Provinzstadt schafft Capuana eine pseudo-reine apriorische Laborsituation, in welcher zeitgenössische Diskurse von einschlägiger Relevanz aufgeführt und mit einer Logik der erzählten Welt kontaminiert werden. Angesichts dieser mangelnden expliziten Einbettung in Raum und Zeit erstaunt es nicht, daß der Roman medias in res einsetzt, womit wir bei einem zweiten Verfahren positivistischer Erzählkunst angelangt sind, welches Capuana für seine Experimentanordnung heranzieht: die unvermittelte Darstellung der Geschichte, wofür sich der Typus des dynamischen Romananfangs am besten eignet, insofern wir es mit einer unmittelbaren Dramatisierung bei gleichzeitigem Ausfall der informierenden Funktion zu tun haben. An dieser Stelle sei kurz auf das Incipit-Modell von Andrea Del Lungo hingewiesen5, wonach vier Idealtypen von Romananfängen anzusetzen sind, die sich aus der Kombination von informierender und dramatischer Funktion ergeben: Die Romangeschichte ist auch als Wandel unterschiedlicher Incipittypen beschreibbar: Besteht im klassischen realistischen Roman eine Affinität zum statischen Incipit, so tendiert das 20. Jahrhundert zum aufschiebenden oder dynamischen Typ.6 4 Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 127. 5 Vgl. Andrea del Lungo: L’incipit romanesque, Paris 2003. 6 Die im realistisch-naturalistischen Roman festzustellende Affinität zum statischen Incipit kann auf die neue Bedeutung der soziologischen Milieus und ihrer Dingkultur zurückgeführt werden: Romanfiguren werden durch die Orte charakterisiert, in denen sie sich aufhalten und – darauf hat Rainer Warning hingewiesen – umgekehrt. Im Falle von Balzacs Roman Le père Goriot etwa läßt sich erkennen, daß die ausufernden Beschreibungsobjekte und deren metonymische Zergliederung auf ein charakterologisches Grundmerkmal im Sinne der Physiognomik zurückgehen: Orte und Dingwelten werden in Analogie zu ihren Bewohnern moralisiert. Vgl. Rainer Warning: „Physiognomik und Serialität. Beschreibungsverfahren bei Balzac und bei Robbe-Grillet“, in: Ders.: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 77–88. Im Gegensatz dazu steht das dynamische Incipit. Da es bei diesem Einstieg in medias res naturgemäß um den Effekt der unmittel- Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 288 DIETRICH SCHOLLER Incipittypen verzögerte Dramatisierung unmittelbare Dramatisierung Informationssättigung statisches Incipit (Manzoni: I promessi sposi) progressives Incipit (Voltaire: Candide) Informationsarmut suspensives Incipit (Calvino: Se una notte d’inverno) dynamisches Incipit (Verga: Il marito di Elena) Abb. 1: Incipit Bei der Analyse eines Romananfangs muß außerdem die Personenerwähnung berücksichtigt werden.7 Sie läuft nach bestimmten textlinguistischen Mustern ab, die sich im nachstehendem Beispiel aus Balzacs Roman Le cousin Pons schon rein graphisch mehr als deutlich abzeichnen: Stufe 1 […] un homme âgé d’une soixantaine d’années, mais […] 2 ce vieillard, passant, bonhomme etc. 3 le passant, le bonhomme 4 Sylvain Pons 5 il Abb. 2: Personenerwähnung Im funktional ausbalancierten Incipit des realistischen Romans erfolgt die Personenerwähnung idealiter nach oben genanntem Schema: unbestimmter Artikel (un), gezielter Artikel + Kennzeichnung (ce), bestimmter Artikel + Kennzeichnung (le), [Benennungshandlung], Eigennamen (Pons), Pronomen. Mit dieser Abfolge vom unbestimmten Artikel über die Kennzeichnung bis zur Proform kann der Autor ein Maximum an Textkohärenz erzielen, weil die Bezüge jeweils überdeutlich sind, ein Verfahren, das insbesondere im Märchen Verbreitung gefunden hat, vermutlich deshalb, weil so im Hinblick auf das kindliche Lesepublikum optimale Durchsichtigkeit gewährleistet werden kann. Wenn wir unter diesen Prämissen den Blick auf den Romananfang der Giacinta richten, kommen wir zu einem differenten Ergebnis: baren Dramatisierung geht, spielt der erzählerische Hintergrund zunächst eine untergeordnete Rolle. 7 Zur Personenerwähnung als Kriterium für die Analyse von Romananfängen vgl. ausführlich Dietrich Scholler: „Der Romananfang als Ort der Leserverführung“, in: Frank Wanning/Anke Wortmann (Hg.): Gefährliche Verbindungen. Verführung und Literatur, Berlin 2001, S. 271–283. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 289 „Colonnello!“ disse la Giacinta, attaccandoglisi familiarmente al braccio e trascinandolo un po’ verso la vetrata della terrazza con vivacità fanciullesca. „È vero“ continuò, parlandogli sottovoce“ che il capitano Brogini ha un’amante brutta e vecchia la quale, per giunta, lo batte?“ „Perdoni, signorina...“ rispose il colonnello che a quella domanda aveva cessato di sorridere e si era fatto serio serio. „Al solito, gli scrupoli!“ esclamò la Giacinta con una mossa di dispetto che fu sul punto di compromettere la serietà dell’uffiziale. „È una scommessa; me lo dica, mi faccia questo piacere: mi sgriderà poi, se ne avrà voglia...“ „Io non la sgrido; non ne ho il diritto né l’autorità„rispose il colonnello un po’ rabbonito. „Ho molta stima per lei e le voglio…“ „Tanto bene!“ interruppe ridendo la Giacinta. „Che non posso vederle commettere senza dispiacermene anche una leggerezza da nulla.“ E il colonnello si aricciava i baffi per darsi un contegno più grave.8 Bei dem vorliegenden Romananfang werden die klassischen Fragen „Wer? Wie? Wo? Was? Wann?“ von Seiten des Erzählers nicht beantwortet. In Bezug auf den Raum erfahren wir lediglich, daß die Handlung auf einer Terrasse spielt. Die Personen werden nicht auf klassische Weise eingeführt, sondern entweder direkt mit dem Vor- oder Nachnamen (Giacinta, Brogini) oder mit der Berufsbezeichnung (colonello, capitano). Das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren wird nicht bestimmt. Das heißt, der erzählerische Hintergrund bleibt unterdeterminiert. Da wir nichts weiter über den Ort der Handlung und seine Dingkultur erfahren, handelt es sich um einen informationsarmen Romaneinstieg. Auffällig ist dagegen der hier vorliegende, im Vergleich zu Zolas Romanen beinahe kühne Grad der Dramatisierung: Der Roman startet mit dem Ausruf einer unbekannten Person und geht über in einen Dialog, der um das heikle Thema des Ehebruchs kreist, nämlich um die häßliche Geliebte des Colonello Brogini, die Letzterem zu allem Übel (oder Wohlbefinden) bei Gelegenheit eine Tracht Prügel verabreichen soll. Das Verhältnis Erzählzeit und erzählte Zeit ist also in etwa identisch, ein typisches Merkmal renovierten naturalistischen Erzählens, weil durch den Dialog ein Maximum an mimetischer Veranschaulichung möglich ist. Nicht zuletzt läßt sich die Unmittelbarkeit der Dramatisierung an der Tempusdistribution ablesen: Es dominiert das Vordergrundtempus passato remoto. Im Rückblick auf die oben genannten Grundfunktionen haben wir es also mit einem pikanten Fall unmittelbarer Dramatisierung zu tun, was in Kombination mit der festgestellten Informationsverknappung auf den Typus des dynamischen Incipits schließen läßt: Der Erzähler fällt gewissermaßen mit der Tür ins Haus. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß dieser Einstieg in Capuanas Roman eine Art mise en abyme darstellt, insofern das Hauptthema des Erzählten – nämlich sexuelle Gewalt und Ehebruch – auf naive und spielerische Art wie in einer Miniatur in sich selbst gespiegelt wird.9 Das gilt auch für das Erzählen selbst, also für die Textvermittlungsebene, auf der im späteren Romanverlauf in ostinater 8 Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 3. 9 Zum Verfahren der mise en abyme vgl. im Detail Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris 1977. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 290 DIETRICH SCHOLLER Weise sprachliche Gemeinplätze mittels Kursivdruck ausgestellt werden. Hier in der Eingangsszene ist es die Vorwitzigkeit der Giacinta, ihre schon frühzeitig ausgeprägte Sprachintelligenz, dank derer sie die fixen Ideen der Erwachsenen durchschaut und auseinandernimmt, welche in den Fokus gerückt wird: Sie beendet den stereotypen Konversationssatz des Colonello und verlacht damit dessen konventionellen Sprachgebrauch. Kurz, die Technik der mise en abyme und die deutlich markierte Sensibilität für stereotype Rede deuten bereits in der Ouvertüre an, daß wir es nicht nur mit einem realistischen, sondern darüber hinaus auch mit einem metanarrativen bzw. metadiskursiven Roman zu tun haben. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, daß neben dem Dialog in medias res ein weiteres bekanntes Verfahren zur Herstellung narrativer Unmittelbarkeit zum Einsatz kommt: die erlebte Rede, und zwar mit wechselnder Fokalisierung. Auch wenn die Perspektive der Giacinta dominant sein mag, so erfahren wir doch immer wieder einiges aus der Sicht Andreas, Teresa Marullis oder auch aus der des Cavaliere Mochi. Die solchermaßen ins Werk gesetzte polyperspektivische Vermittlung eignet sich nicht nur zur Herstellung von Unmittelbarkeit, sondern sie steht darüber hinaus auch im Dienste einer um experimentelle Objektivität bemühte Darstellung, die auf Zolas Programm des Roman experimental verweist. Die durch die geschilderten Verfahren auf der Textvermittlungsebene erzeugte Laborsituation wird vervollständigt durch entsprechende Figurenmodelle. II. Die physiologische Modellierung der Romanfiguren Spätestens im Erscheinungsjahr der Giacinta (1879) hatte sich die naturalistische Doktrin in Frankreich durchgesetzt. Die einschlägigen szientistischen Vorwörter zur zweiten Auflage der Thérèse Raquin und zu dem Romanzyklus Les RougonMacquart (1871) lagen vor und wurden in ganz Europa diskutiert: L’hérédité a ses lois, comme la pesanteur. Je tâcherai de trouver et de suivre, en résolvant la double question des tempéraments et des milieux, le fil qui conduit mathématiquement d’un homme à un autre homme. […] Physiologiquement, ils [les RougonMacquart] sont la lente succession des accidents nerveux et sanguins qui se déclarent dans une race, à la suite d’une première lésion organique, et qui déterminent, selon les milieux, chez chacun des individus de cette race, les sentiments, les désirs, les passions, toutes les manifestations humaines, naturelles et instinctives, dont les produits prennent les noms convenus de vertus et de vices.10 Seit diesem, in der préface zu dem Rougon-Macquart-Zyklus formulierten Anspruch hat die Prosa der Verhältnisse endgültig Einzug gehalten in die Herzenspoesie der Unterhaltungsgattung Roman. Romanfiguren werden mit zwingender Logik („mathématiquement“), auf der Basis physiologischer Fakten („physiologiquement“) und 10 Émile Zola: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille, hg. v. Armand Lanoux, Bd I, Paris 1960, S. 3. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 291 der objektiven Determinationskraft des jeweiligen Milieus entworfen. Die Bezeichnungen „vertu“ und „vice“ waren nichts als ethisch-religiöse Bezeichnungskonventionen und gehören zu einem Vokabular, das zugunsten exakter empirischer Begriffe abgedankt hat. Ähnliche Ideen sind bereits im Italien der 60er Jahre im Schwange, zum Beispiel in der auch von Luigi Capuana gelesenen Zeitschrift Nuova Antologia, in der der Neurologe Paolo Mantegazza den Darwinismus sowie die Schriften François Magendies und Claude Bernards erläuterte, auf die Capuana nicht zuletzt über seine gründlichen Zola-Lektüren stieß. Damit war der Boden bereitet für die Einführung des romanzo fisiologico im postunitarischen Italien. Dementsprechend werden die Hauptfiguren in Giacinta auf physiologischer Basis modelliert, und zwar nach dem Muster einer Fallstudie oder, wie es in Bezug auf die Protagonistin Giacinta heißt, dem eines „caso di patologia stranissimo“.11 Das von Zola im Vorwort zu den Rougon-Macquart referierte naturalistische Diskursschema läßt sich scheinbar eins zu eins auf die natürliche und soziale Geschichte der Familie Marulli anwenden: Giacinta ist das Produkt eines vorgealterten Vaters „di una fisionima un po’ stupida, quasi intorpidita“12, der – mehr schlecht als recht – das Kind hütet, während sich seine Ehefrau mit der stereotypen Figur des „cugino“13 in den umliegenden Feldern vergnügt. Halb so alt wie ihr Ehemann spürt sie schon bald, wie ihre Illusionen zerstieben, und in ihrem hyperventilierenden, verdorbenen Organismus („lentamente depravato“) kochen nicht wenige negative Leidenschaften („tutti i bassi vizii del lusso, della gola, dell’avidità e del denaro“), wenn nicht sogar die übelsten animalischen Instinkte („peggiori istinti animali“) gepaart mit einer übersteuerten Sensualität („folle sensualità“). Angesichts dieser erblichen Voraussetzungen wundert es nicht, daß Giacinta als Kind vernachlässigt und schließlich Opfer fortgesetzten Mißbrauchs wird, Traumatisierungen, die ihren Charakter determinieren und allem Anschein nach eine genaue Prognose erlauben – umso mehr, als der moralpathologische Kasus „Giacinta“ von einem wissenschaftlich informierten Erzähler mit adäquatem Vokabular begleitet wird, das der Mainzer Romanist Kurt Ringger listenartig zusammengestellt hat14: Graf Giulio ist ein „prodotto degenerato di una magnifica razza“, der die „legge dell’eredità naturale“ bestätigt. Die Figurenkonstellation wird als „organismo“ konzeptualisiert, seelische Phänome einzelner Figuren – insbesondere der Giacinta – in Begriffen wie „nervi“, „sistema nervoso“ oder „malattie nervose“, „fibri“, „sostanza cerebrale“, „apatia morale“, „rigidità quasi catalettica“ bis hin zur Vorstellung der Nervenreizleitung als „corrente elettrico“: Wie man sieht, regiert in Capuanas Roman der Diskurs der Physiologie, auf dessen Grundlage sämtliche Figuren und ihre Beziehungen scheinbar eineindeutig lesbar werden. 11 12 13 14 Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 157. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Vgl. Kurt Ringger: „Aspetti del discorso ‚fisiologico‘ nella Giacinta di Luigi Capuana“, in: Brigitte Winklehner (Hg.): Literatur und Wissenschaft. Begegnung und Integration, Festschrift für Rudolph Baer, Tübingen 1987, S. 355–361. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 292 DIETRICH SCHOLLER III. Die Kindheitsidylle als Gegenort zur Stadtgesellschaft Capuanas Giacinta enthält eine ganze Reihe idyllischer Kindheitsszenen, die als Gegenorte zur Gerüchteküche der Stadt und zum Salon der Marullis angelegt sind. Die Idylle ist zwar kein Diskurs, aber als literarische Gattung bzw. Schreibweise steht sie seit den Zeiten Salomon Geßners metonymisch für den epochenspezifischen Diskurs der europäischen Empfindsamkeit und der Romantik, der im 19. Jahrhundert als Mythos versatzstückartig weiterlebt und auf einer relativ stabilen Basis invarianter Elemente und Strukturen um moderne Adstrate erweitert und auch in naturalistischer Erzählkunst häufig zitiert wird. Um nur zwei prominente Beispiele zu nennen: die Seine-Insel in der Maupassant-Erzählung Une partie de campagne und der Landausflug in Zolas Roman Le ventre de Paris. In beiden Fällen bildet die Idylle einen Gegenort zur Großstadt Paris, der sich durch sujetträchtige Grenzüberschreitungen und einschlägige Landschaftsschilderungen konstituiert: im Falle Maupassants durch die zweifache Überquerung der Seine bzw. durch die Einschiffung auf eine einsame Insel, im Falle Zolas durch das Heraustreten aus dem statischen Handlungsort der Markthallen, eine temporäre Abkehr, welche die beiden Freunde Claude Lantier und Florent über die Stadtgrenzen hinaus zum natürlichen Produktionsort der Lebensmittel führt, nämlich zum Garten der einfachen und redlichen Gemüsebäuerin Madame François. In der Giacinta ist der Fall anders gelagert. Da der Roman in der Provinz spielt, stehen idyllische Orte in einer Kontiguitätsrelation zum kleinstädtischen Raum. Mutter und Tochter, die beiden sexuell aktiven Hauptfiguren des Romans, können ihre Schäferstündchen unweit von Haus und Hof abhalten, genauso wie der vierzehnjährige Beppe, als er die kindliche Giacinta im zugekauften Garten verführt: Era venuta la seconda primavera da che Beppe stava alloggiato in casa Marulli. Le aiuole del giardino sfoggiavano il lusso dei loro mille colori e imbalsamavano l’aria di profumi. Gli alberi del viale facevano un’ombra deliziosa. Nel ricinto le piante rampichine avevano preso una più vivace tinta di verde. I convolvoli lanciavano una pioggia di viticci attorcigliati e di ciocche di fiori. Per la galleria correva un’aura fresca, odorosa, che ristorava quando il sole, dardeggiante dal meriggio, infuocava la sabbia dei viali.15 Die Szene weist sämtliche Anzeichen der Idylle auf: Es ist Frühling, die Blumenbeete prunken im Blütenschmuck, die Luft ist erfüllt von erquickenden Düften, Bäume und Grotte bieten in der Mittagshitze angenehme Schattenplätze, Rankpflanzen und Blumenbüschel muten wie Regenfälle an und wiegen sich sanft im Wind. Wir haben es mit einer dezidiert kleinräumigen Natur zu tun, alles ist überschaubar und wird im schlichten Stil mit dezentem Ornatus vorgestellt. Capuana läßt hier am naturalistischen Jahrhundertende noch einmal Geßners sentimentalische Miniaturen auferstehen. Darüber hinaus schreibt er jenen romantischen Kindheitsmythos fort, der seit den autobiographischen Kindheitsdarstellungen 15 Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 29. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 293 Jean-Jacques Rousseaus im Europa des 19. Jahrhunderts eine gut belegte Konjunktur hat. Diese reicht von der Idylle in Bernardin de St. Pierres Roman Paul et Virginie über die Darstellung unentfremdeten Lebens in George Sands Landromanen bis zu den kindlichen Erlöserfiguren in Victor Hugos Les misérables und findet in den Spielgefährten Beppe und Giacinta scheinbar ihre natürliche Fortsetzung.16 Und in der Tat ist der neue Hausdiener Beppe eine willkommene Bereicherung für das Einzelkind Giacinta, wenn man dem auktorialen Erzähler glauben darf: Per la povera bimba Beppe divenne un tesoro. Giocava a palla con lei lungo i viali, le faceva delle barchette di carta da lanciare a fior di acqua nel canale, le raccontava delle fiabe che ella talvolta non capiva […].17 Die Beziehung zwischen den beiden Spielkameraden wird als vollkommen unschuldig beschrieben, und sie wird begleitet von einem sympathetischen Erzähler, dessen Wertschätzung zu gleichen Teilen an Giacinta („povera bimba“) und Beppe („tesoro“) vergeben wird. Ballspiel, Papierschiffchen und Märchenerzählungen erzeugen Niedlichkeitseffekte und addieren sich zu einer postgeßnerschen Biedermeier-Idylle. Aber so wie Giacinta die Märchen, die ihr Beppe erzählt, nicht immer versteht, so versteht sie die harmlosen Spielchen, die er mit ihr treibt, nicht immer, weil sie fließend übergehen in sexuellen Mißbrauch, was im literarischen Text nicht direkt thematisiert, sondern über ein Netz von Allusionen bloß suggeriert wird. Schon in der zweiten bukolischen Deskription, in der zunächst noch die Spatzen zwitschern und mit ihren kleinen Schnäbeln untereinander raufen, taucht plötzlich eine Schlange auf („una serpicina si sdraiava al sole“18), die durch einen goldenen Sonnenstrahl hell erleuchtet wird, sich langsam durch das frische Grün windet und dabei in den vom Rankwerk ausgesparten Löchern verschwindet: Genauso wenig wie der angedeutete regelmäßige sexuelle Mißbrauch gehören Schlangen in die neuzeitliche Welt Arkadiens, worauf noch zurückzukommen ist. Eine noch deutlichere Gegensemantisierung erfährt der im zweiten Kapitel aufgerufene bukolische Kindheitsmythos durch die Charakterisierung Beppes, bei dem viele Anzeichen auf eine ‚ungünstige Sozialprognose‘ deuten, weil er als prototypischer naturalistischer Verbrecher sine spe eingeführt wird, nämlich als „ragazzaccio, […], con la testa grossa, i capelli folti e arruffati, gli occhi pieni di malizia e di voglie animali che si tradivano pure nel taglio delle labbra“19. Wie David Nelting nachgewiesen hat, orientiert sich Capuana in seinem Porträt des Beppe bis in kleinste Details an der zeitgenössischen Kriminalanthropologie, nachgerade an Cesare Lombrosos berühmter Studie L’uomo delinquente.20 Auch wenn Capuana 16 Zum Wandel des literarischen Kindheitsmythos in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts vgl. Tatjana Michaelis: Der romantische Kindheitsmythos. Kindheitsdarstellungen der französischen Literatur von Rousseau bis zum Ende der Romantik, Frankfurt/M. 1986. 17 Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 27. 18 Ebd., S. 32. 19 Ebd., S. 25. 20 Vgl. David Nelting: „Positivismus und Poetik. Überlegungen zur doppelten Wirklichkeitsmodellierung in Germinie Lacerteux und Giacinta“, in: Romanistisches Jahrbuch 59 (2008), S. 238–261. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 294 DIETRICH SCHOLLER Lombrosos Differenzierungen nicht immer exakt umsetzt, so schafft er doch eine Romanfigur, die in der Summe mehr als deutlich auf der Basis positivistischer Standards beruht. Vorläufig ist also festzuhalten, daß Capuana im zweiten Kapitel des Romans zwei Diskurse aufeinanderprallen läßt: den des romantischen Kindheitsmythos und den des Positivismus. Dabei ergeben sich zunächst Parallelen zwischen szientistischem und literarischem Diskurs. So wie die empirischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert die alte Welt entzaubern, so entzaubert die physiologische Figurenzeichnung die überlieferten Bestände literarischer Kindheitsidyllen, die in Capuanas Roman nicht nur anzitiert, sondern regelrecht ausinszeniert werden. Aber die idyllische Fassade fällt – wie gezeigt – schon binnen Kurzem in sich zusammen, indem der amöne Garten und seine possierlichen Tierchen mit den harten kriminalanthropologischen Fakten positiver Evidenzkulturen konfrontiert werden. So gesehen wäre Capuanas Giacinta in die illustre Reihe großer europäischer Desillusionsromane einzuordnen, deren Entzauberungsprogramm jedoch noch weitertreibend, und zwar bis an die Grenzen zynischer observation, zumal dann, wenn man eine weitere Bezugnahme auf das Personal bukolischen Dichtens in Rechnung stellt. Neben Beppe gibt es nämlich eine zweite Figur, die der kindlichen Giacinta zu nahe getreten war und sie als erwachsene Frau später gerne im Tausch gegen sexuelle Dienstleistungen bei sich aufnehmen möchte: Signor Mochi, seines Zeichens Hausfreund der Familie Marulli. Mochi wird vom auktorialen Erzähler als „vecchio satiro“21 bezeichnet. Im Unterschied zur Schlange gehört die Figur des triebhaften Satyrs sehr wohl zur überlieferten Welt bukolischer Darstellungen in Literatur und Malerei. Freilich waren die Nymphen als Objekte seiner Begierde dem Satyr ebenbürtig, wenn nicht überlegen. In der asymmetrischen Konstellation zwischen Mochi und Giacinta ist das nicht der Fall. Vielmehr verkörpert dieser naturalistische Wiedergänger des Satyrs jene Ästhetik des Häßlichen22, die bereits ein Spezifikum der literarischen Moderne darstellt und dabei nicht länger – wie etwa bei Victor Hugo – durch eine romantische harmonie des contraires ausbalanciert werden kann: ein kräftiger Hieb der Desillusionierung, der dazu geführt haben mochte, daß die erste Auflage der Giacinta einen Skandal hervorrief und von Capuana in der zweiten Auflage entschärft werden sollte. IV. Die Ironisierung des szientistischen Diskurses Wie wir gesehen haben, richtet sich Capuana bei seiner Figurenmodellierung zu Beginn des Romans an den positiven Wissenschaften vom Menschen aus, insbesondere an Physiologie und Kriminalanthropologie. Die Grundannahmen szientis21 Ebd., S. 76. 22 Über die Geburt der Ästhetik des Häßlichen nach dem Niedergang des Guten, Wahren und Schönen in der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. grundlegend Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, Leipzig 1990. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 295 tischer Diskurse werden bestätigt, indem sich Beppe aufgrund seiner Prädisposition in der fiktionalen Romanwelt tatsächlich als Vergewaltiger entpuppt, dem in Gestalt der Giacinta ein gleichermaßen erblich prädeterminiertes Opfer als Komplement an die Seite gestellt wird. Eine wichtige Funktion des szientistischen Diskurses bestand darin, das Erzählschema der romantischen Kindheitsidylle im Lichte positiven Wissens für obsolet zu erklären. Die erzählte Welt mit ihren tradierten Erzählschemata hat im Naturalismus abgedankt und funktioniert ab sofort analog zu den objektiven Gesetzen der empirischen Welt – könnte man meinen. Denn bei näherem Hinsehen ergeben sich im weiteren Romanverlauf manche Zweifel im Hinblick auf die positivistische Stimmigkeit des gezeichneten Bildes. Es enthält nämlich feine Risse, häufig in Form sekundär semantisierter Gegenstrebigkeiten, die nicht so recht zum affichierten szientistischen Dispositiv passen wollen. Da wäre zunächst die meines Wissens bislang überlesene Schicht ironischen Erzählens, die so gänzlich unzolianisch anmutet und die – ähnlich wie bei Gustave Flaubert als dem Autor der idée reçue – zum Teil graphisch mittels Kursivdruck markiert wird und eine korrosive Wirkung auf unterschiedlichste Darstellungsbereiche entfalten kann. Zum Beispiel wird die vorgestanzte Sprache provinzieller Doppelmoral in den kursiv gesetzten Ausdrücken „rispetto per le forme“ und „cugino“23, auf Deutsch etwa Hausfreund, kenntlich gemacht. Über die sozial herausgehobene geschäftstüchtige Mutter Teresa Marulli heißt es: „era una potenza“.24 Als Giacinta in einem letzten Anflug existentieller Verzweiflung die femme fatale geben möchte, hat sie zu diesem Zweck den Karneval des Stadttheaters auserkoren, der als Inbegriff provinzieller Verruchtheit mit den Kursivausdrücken „foulard“, „pierrot“ und „debardeuse“ [sic!] à la française metonymisiert wird, weil bekanntlich alle Franzosen frivol und insbesondere die notorischen Pariser Maskenbälle durch und durch lasterhaft sind.25 Der Roman ist also reichlich gespickt mit Ironiesignalen, und es erstaunt daher nicht, daß auch der physiologische Diskurs des Dottor Follini in diese Schicht ironischen Erzählens eingebettet ist. Follini taucht am Ende des Romans auf. In 23 Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 18. 24 Ebd., S. 149. 25 Die Kostümbezeichnungen pierrot und débardeur/euse stehen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bereits für eine zum französischen Klischee erstarrte Welt des Maskenballs. Sowohl der Pierrot als auch die Débardeuse gehörten zum Typeninventar des zeitgenössischen Pariser Karnevals, der über die tonangebende französische Malerei, insbesondere aber über Modezeichnungen und Karikaturen in Illustrierten wie z.B. La Mode oder Le Charivari weite Verbreitung in Europa fand. Bei der Débardeuse handelte es sich um eine Frau, die eine eng anliegende Hose namens débardeur trug, ein Akt der Travestie, der außerhalb der Karnevalsaison bei Strafe verboten war, weil der Schnitt des männlichen Kleidungsstücks weibliche Rundungen akzentuierte und daher Sitte und Anstand bedrohte. Zum Typeninventar im Pariser Karneval vgl. das instruktive Brevier von Yves Gagneux: Le carnaval à Paris, Paris 2011. Auf dem Buchcover findet man die zeitgenössische Darstellung einer Débardeuse, die zwei maskierte Pierrots mit verschränkten Armen, herausgestelltem Po und kessen Blicken mustert. Sie stammt von Honoré Daumier, von dem zahlreiche Szenen ähnlicher Machart überliefert sind und der im Verbund mit dem Modezeichner Paul Gavarni das europäische Bild des Pariser Karnevals maßgeblich geprägt hat. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 296 DIETRICH SCHOLLER seiner Eigenschaft als Arzt ist er ein professioneller Vertreter des positiven Wissens, das heißt, durch ihn wird das zeitgenössische psycho-physiologische Wissen anschaulich und dadurch nicht zuletzt selbst zum Thema des Romans. Der physiologische Diskurs wird also kategorial umgepolt: Diente er im zweiten Kapitel des Romans als autoritativer Referenzdiskurs, der die erzählte Welt über einschlägige Interferenzen durchdringen und erklären sollte, so rückt er nun selbst als Sujet in den Mittelpunkt. Dabei wird Follini als weit über den angestammten Provinzfiguren stehende intellektuelle Kapazität eingeführt, als Arzt aus Amerika, der „Claudio Bernard, Wirchoff [sic] e Moleschot con Hegel e Spencer“26 zu kombinieren weiß und der damit eine enzyklopädische Breite des Wissens verkörpert, die jedoch im anbrechenden Zeitalter des Expertentums verdächtig anmuten sollte. Da diese Breite des Wissens in der Erzähldiegese als reine Namensliste in Erscheinung tritt und der Name des Begründers der modernen Pathologie, Rudolf Virchow, zudem falsch geschrieben ist, deutet einiges auf ironische Vorbehalte gegenüber der Figur des Dottor Follini. Dieser Verdacht bestätigt sich schon bald: Follini verkörpert nämlich evidentermaßen nicht die erwartbare wissenschaftliche Autorität, die im Romanausgang zur rechten Zeit mit der rechten Therapie aufwarten könnte, denn er hat kein wissenschaftliches, sondern ein erotisches Interesse an Giacinta. Damit aber nicht genug, denn er hält sein erotisches Interesse um eines noch lustvolleren Zweckes willen in Schach, um es wie folgt zu sublimieren: „[…] s’interessava alla evoluzione lenta e misteriosa con cui quel bel caso procedeva verso uno scioglimento certamente terribile […].“27 Die Syntax deutet auf Erzählerrede, aber modale Abtönung („certamente“) und Kursivausdruck („bel caso“) lassen eher auf den pervertierten Psychohaushalt des Mediziners schließen, für den die nach heutigen Begriffen psychisch kranke Giacinta vor allem eines bietet: ein Melodrama mit schauderhaftem Ausgang, einen Schiffbruch mit Zuschauer, dessen ästhetischer Kitzel von Seiten Follinis noch stärker gewichtet wird als der mögliche sexuelle Verkehr mit der attraktivsten Frau der Stadt. Da die Figur des Arztes weder ein therapeutisches noch ein sexuelles Interesse an Giacinta bekundet, sondern auf reichlich intrikate Weise seine eigene narzißtische Hemmung in Form ästhetischer Lust genießt, wirft Capuana abschließend zumindest indirekt die Frage auf, ob wir es womöglich mit einem weiteren pathologischen bel caso zu tun haben. Das Theatersujet verdankt sich einer zweiten gegenläufigen, prononciert a-diskursiven Textstrategie: dem Rekurs auf literarische Intertextualität, und zwar im doppelten Sinne. Denn ausgerechnet die Auflösung des caso patologico ist stark literarisiert und nicht länger umzäunt von physiologischer Rede, zumal der Vertreter der wissenschaftlichen Beobachtung, Dottor Follini, nicht zuletzt angesichts der rätselhaften Fallgeschichte längst das Feld geräumt hat, sich auf dem Schiffsweg Richtung Boston befindet und damit ausfällt für eine wissenschaftliche Lösung des pathologischen Falles. Die Literarisierung des caso wird metanarrativ indiziert und dabei in der Begrifflichkeit des Theaters konzeptualisiert, denn im letzten Kapitel 26 Ebd., S. 160–161. 27 Ebd., S. 161. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 297 ist von der „ultima scena del dramma di lei“28 die Rede. Ausgelöst wird diese ultima scena durch eine Spielorgel, deren Töne von Ferne in das Zimmer der melancholisch gestimmten Giacinta dringen und eine lange Reihe von Reminiszenzen auslösen. Die Melodie stammt aus einem Volkslied aus dem romantischen Theaterstück Ruy Blas von Victor Hugo, in dem die romantische Doktrin von der Mischung der Genres idealtypisch umgesetzt wurde. So wie der einfache Diener in Hugos drame romantique aufgrund seiner sozialen Lage zum Melodrama, aber aufgrund seines Seelenadels zur Tragödie gehört, so kann sich Giacinta als einfache Provinzdame zumindest am Lebensende ein erhabenes Schicksal erspielen, wobei die Anordnung der durchweg exklamativen finalen Redezüge – aufgrund ihrer Emotionalität und Frequenz – sehr deutlich an das italienische melodramma im Stile Giuseppe Verdis erinnert, der ja gerne auf Stoffe Victor Hugos zurückgriff. Giacintas Rede stockt in typischen parole scénique, die um des besseren Verständnisses willen wie im Operntext redupliziert und mehrfach wiederholt werden. So heißt es bei der Suche nach dem schwarzen Fläschchen mit dem tödlichen Gift „Dev’ esser qui! Dev’ esser qui!“29 Das Auffinden des Fläschchens wird mit den Worten „Morire! Morire!“ kommentiert und nonverbal durch eine stereotype theatralische Geste der Operngängerin Giacinta verdoppelt: „stringendo nel pugno la boccetta.“30 Wie man sieht, wird die vom Autor auf der Basis Zolascher Vorgaben intendierte physiologische Modellierung der Figuren im weiteren Romanverlauf – insbesondere aber im Excipit – durch originär a-diskursive Verfahren wie die offensiv ausgestellte klischierte Rede bzw. literarische Intertextualität konterkariert und ausgehöhlt. Im Unterschied zum zweiten Kapitel des Romans, in welchem der positivistische Diskurs bestätigt wurde und deshalb den romantischen Kindheitsmythos entzaubern konnte, wird er im Kontext des Romanfinales mittels klischierter Literarisierung seinerseits desavouiert. V. Der religiöse Diskurs Neben dem romantischen Kindheitsmythos, der durch den physiologischen Diskurs konterkariert wird, der dann seinerseits auf dem Richtstuhl der Erzählerironie landet, spielt schon im zweiten Romankapitel der religiöse Diskurs als alternatives Sinnsystem eine nicht zu übersehende Rolle. Wie schon festgestellt, taucht in der kindlichen Gartenidylle unvermittelt eine Schlange mit einer „vispa testolina“31 auf. Bestandteil dieser Szene ist ein weiteres Porträt des Beppe: Accese la sua pipa [Beppe] e rimase lungamente in quella positura a decifrare, a rimuginare un monte di cattive idee e di perversi sentimenti che gli si erano svegliati nel petto come un groviglio di vipere calpestato per caso. Si sentiva mordere il cuore 28 29 30 31 Ebd., S. 197. Ebd., S. 198. Ebd. Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 32. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 298 DIETRICH SCHOLLER e avvelenare la immaginazione; si sentiva inquinare il sangue da una idrofobia morale che gli rimesoclava nell’organismo quanto di più corrotto vi aveva inoculato la miserabile vita da lui condotta sin da piccino.32 Auf der einen Seite wird Beppe wie gehabt über naturalistische Daten charakterisiert, insofern sein von Tollwut („idrofibia“) befallener Organismus sich mit einer milieubedingten „miserabilie vita“ kreuzt, woraus eine negative Wechselwirkung entsteht. Diese erzeugt interessanterweise eine „idrofobia morale“, das heißt, der physiologische Diskurs wird an dieser Stelle überblendet von angestammten moralisch-religiösen Ideen. Denn das Bild von der Schlange im Garten Eden wird hier zu einem regelrechten kognitiven Modell ausgebaut, bestehend aus einem Schlangennest („groviglio di vipere“), von dem eine dreiteilige metaphorische Aktivität ausgeht. Die Schlangen beißen in sein Herz, vergiften seine Vorstellungskraft und verseuchen sein Blut. Das verwickelte Ineinander von physiologischem und ethisch-religiösem Diskurs – symbolisiert im Bild des groviglio – erklärt sich wohl dadurch, daß mit dem Aufkommen der positiven Wissenschaften der religiöse Diskurs nicht von heute auf morgen ausgeschaltet war, zumal im rückständigen katholischen Italien zur Zeit des Risorgimento. Ganz im Gegenteil, wie man aus der kognitiven Metapherntheorie weiß, werden neue Phänomene zum Zwecke der Plausibilisierung zunächst einmal durch traditionelle Metaphern konzeptualisiert.33 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war die in dieser Passage als Bildspender erwähnte idrofobia eine mythenumwobene Krankheit, die seit Augustinus auch als Werk des Teufels galt. Erst Louis Pasteur, ein Zeitgenosse Capuanas, verschaffte sich in den 80er Jahren tiefere Einblicke in die Wirkweise von Viruserkrankungen, und im Jahre 1885, also ein Jahr vor der zweiten Auflage der Giacinta, gelang ihm die erstmalige humanmedizinische Anwendung des Impfprinzips, indem er einen an Tollwut erkrankten jungen Mann impfte. Dieses spektakuläre Ereignis wurde in Europas Illustriertenlandschaften vielfach bebildert34, und nur wenige Monate nach Pasteurs Entdeckung wurden auf Betreiben des Turiner Bürgermeisters Graf Ernesto Bertone di Sambuy im Verbund mit eminenten piemontesischen Wissenschaftlern die ersten Tollwutimpfungen im noch jungen Italien vorgenommen, was nicht zuletzt zur Gründung des Istituto antirabbico führte.35 Das Impfprinzip hat ohne jeden Zweifel zu einer Revolution der Denkart geführt, ein medizinischer Komplex, zu dessen figural-narrativer Plausibilisierung Capuana auf Erklärungsschemata des religiösen Diskurses zurückgreift, weil sie als lexikalisierte Metaphern – gleichermaßen binnenfiktional wie textpragmatisch – traditionell bekannte Erklärungshilfen darstellen. Durch die religiöse Moralisierung und Allegorisierung 32 Ebd. 33 Vgl. hierzu grundlegend George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live by, Chicago 1980. 34 Vgl. u.a. den Stahlstich „An Inoculation for Hydrophobia“ in: Harper’s Weekly (19.12.1885), S. 836, auf dem die erste Tollwutimpfung an dem Patienten Joseph Meister dargestellt wird. 35 Vgl. hierzu die einschlägigen Dokumente auf den Webseiten des Archivio storico della città di Torino unter: http://www.comune.torino.it/archiviostorico/mostre/animali_2005/pannello4. html [6.1.14]. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 299 der nackten wissenschaftlichen Tatsachen werden Letztere in eine vertraute plausible Geschichte eingebettet, ein Sinnangebot, auf das auch die enttäuschte Giacinta zurückgreifen wird. Als jung erblühte Frau übt Giacinta eine geradezu magische Anziehungskraft auf die jungen Herren der namenlosen Provinzstadt aus. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen im Salon der Signora Marulli. Giacinta wird umweht von dem halboffenen Geheimnis ihrer Vergewaltigung, von der niemand nichts Genaues weiß, das aber gerade aufgrund der Unschärfe ständiger Gesprächsstoff in der Gerüchteküche der Provinzstadt ist und ihr kontrafaktisch den Ruf erotischer Verfügbarkeit einträgt. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Giacinta kann sich potentiellen gleichaltrigen Liebhabern nicht öffnen, weil sie das Kindheitstrauma in einen Schuldkomplex umwandelt und sich daher befleckt fühlt. Allein dem fürsorglichen Hausfreund und angejahrten Junggesellen Mochi vermag sie sich anzuvertrauen. Als sie aber von ihrem Dienstmädchen erfahren muß, daß dieser sich ihr Vertrauen erschlichen hat, um sie als erotische Gespielin und nicht – wie von Giacinta erhofft – als Ehefrau in seinen Haushalt aufzunehmen, gerät sie in eine Krise. In dieser Krisensituation öffnet sich eine Pforte der Hoffnung: das Mysterium der katholischen Religion. Als im Prinzip leidenschaftslose Gelegenheitskirchgängerin bleibt Giacintas Blick zufällig an einem kleinen Kruzifix hängen, das notdürftig mit einem Bändel an ihrem Eisenbett befestigt ist und auf das gerade ein Lichtstrahl fällt, was eine prompte Reaktion bei ihr auslöst: „Dio mio! Gesù mio! Perché farmi soffrir tanto?“36 Eine nie gekannte Süße überkommt sie, der spontane Ausruf, der Klang ihrer eigenen Stimme kommt ihr vor wie eine Offenbarung, so daß sie den Ausruf mehrmals wiederholt und darauf hin alle Dämme brechen: Il po’ di sentimento religioso della prima età rimasto inerte in fondo al suo cuore, si dilatò tutto ad un tratto come se una mano benefica avesse tolto via l’impaccio che lo teneva compresso. Le lagrime che seguirono i singhiozzi furono dolci, dolcissime, più di qualunque lieta espansione del cuore.37 Giacintas religiöse Initiation beruht also in erster Linie auf einer Verzückung, die sich in der Rückkoppelung des Selbstgenusses potenziert, so daß süße Seufzer ihrerseits noch süßere Seufzer hervorbringen. Mag man bereits an der Unparteilichkeit dieser Erzählerrede zweifeln, so finden etwaige Zweifel mit Sicherheit Nahrung in folgenden Abschnitt, dessen korrosive Wirkung die soeben erlebte Bekehrungsszene mit deutlichen Anführungszeichen versieht: E siccome la sua conversione così fresca non resisteva alla cattiva impressione di quella figura del Cristo goffamente contorta, fusa da una mano inesperta, distolse gli occhi da essa per richiamarsene all’imaginazione una più bella, il Cristo in croce, grande al naturale […]. Ma la imaginazione era restia. Girò gli occhi per la stanza. Le era di 36 Ebd., S. 80. 37 Ebd., S. 81. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 300 DIETRICH SCHOLLER uopo qualcosa di esteriore per rafforzare quel sentimento spuntato allora dentro di lei; e non scorgendo nulla di sacro, tornò rinfrancata al crocifisso di rame.38 Giacintas taufrische Konversion und die damit einhergehenden Wonnen religiöser Entrückung finden demnach kein Korrelat in der Anschauung. Das Kruzifix mit dem grotesk entstellten Christus, Devotionalienkitsch aus manufaktorieller Serienproduktion, „fusa da una mano inesperta“, bietet in Verbindung mit der notdürftigen Befestigung an einer Stange des Eisenbettes einen erbärmlichen Anblick. Es erinnert an die zahlreichen banalisierenden Darstellungen religiöser Kunst in Flauberts Romanen: an den Gipspastor im Garten der Bovarys, an ein Jesusbild aus der Éducation, das den Gottessohn als Lokomotivführer zeigt, evtl. auch an die Statue des stupsnasigen heiligen Petrus im Museum der Herren Pécuchet und Bouvard. Deshalb versucht Giacinta auf dem Weg der Imagination ein angemessenes Bild des Gottessohns vor ihr geistiges Auge zu rücken. Da ihr das aber nicht gelingt und ihr Blick beim Durchwandern der prosaischen Stube keinen einzigen Gegenstand zu erhaschen vermag, der ihren ekstatischen Zustand verstärken oder wenigstens konservieren könnte, richtet sie ihn gezwungenermaßen erneut auf das lamentable Kruzifix: Wie ernüchternd muß dieser Anblick sein! Aber Giacinta läßt sich nicht irritieren. Im Gegenteil, mit einem Schlag wird sie von der Idee übermannt, im Angesicht des Kruzifix einen erhabenen Tod zu sterben, und deshalb fällt sie auf die Knie, inbrünstige Worte an den Herrn im Himmel richtend: Signore! […] Fatemi morire! Fatemi morire! […] E appogiò la fronte alle materasse aspettando fiduciosa, rassegnata, contando i battiti del cuore che si sentivano nel silenzio come il tic-tac di un orologio. La morte non arrivava. La figura del Cristo continuava goffamente a contorcersi sulla croce e non mostrava di darle retta.39 Wie man sieht, drückt die Prosa der Verhältnisse in Gestalt der lakonischen Feststellung „La morte non arrivava“ schwer auf die Poesie in Giacintas pochendem Herzen, das vom Erzähler über einen metaphorischen Vergleich mit dem biedermeierlichen Uhrschlag in der häuslichen Stube korreliert wird, und auch die Jesusfigur weigert sich Haltung anzunehmen. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß das katholische Erweckungserlebnis schon bald in religiöse Praxis überführt wird. In einem relativ kurzen Zeitraum, der sich im Umfang von viereinhalb Seiten Erzählzeit materialisiert, schreitet Giacinta zu Taten: Sie erwägt erstens den Klostereintritt, legt zweitens die Beichte ab und widmet sich drittens der aktiven Marienverehrung. Wie man vielleicht merken wird, werden die Paradigmen erzkatholischer Praktiken in kurzer Folge durchlaufen, so daß beim Leser der Eindruck komisierender Verdinglichung entsteht, zumal die Sequenz eine frustrierte Giacinta zurückläßt und mit dem intern fokalisierten Satz schließt: „Le era parso di sentirsi ributtare indietro anche Dio!“40 38 Ebd., S. 81. 39 Ebd., S. 82. 40 Ebd., S. 84. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn VERISMUS ALS DISKURSKRITIK 301 Epilog: Giacinta als Nationalallegorie? Was einem beim Durchgang durch die kritisierten Diskurse auf der Seite der Textvermittlung aufgefallen sein könnte, das ist das Prinzip der Aussparung. Ausgespart werden, wie gezeigt, präzise Raum- und Zeitangaben. Die bewegte Zeitgeschichte des aktualiter vereinten Italien spielt überhaupt keine Rolle in Capuanas Roman. Allein aufgrund eines sehr entlegenen Hinweises erfahren wir, daß sich die Geschichte in den 60er Jahren ereignen muß. Als nämlich Andrea der Giacinta überdrüssig wird, erwägt er möglichst weit zu fliehen. Dabei faßt er die Idee, einen Klischee-Tod im Feld des aktuell ausgebrochenen französisch-preußischen Krieges zu suchen. Es fügt sich in dieses Bild, daß auch die zentrale traumatisierende kindliche Läsion der Giacinta ausgespart wird, und zwar nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch dessen Fortleben in der Erinnerung und Erzählung hinter vorgehaltenen Provinzhänden. Da nun sowohl die risorgimentale Realgeschichte als auch die Intimgeschichte der Giacinta in ostinater Weise ausgespart werden und da zudem schon aus euphonischen Gründen aus dem Eigennamen Giacinta ohne größere Interpretationsanstrengungen eine homovokalische Italia hervorgeht, könnte man die Frage aufwerfen, ob Capuanas Aussparungen womöglich nationalallegorisch gelesen werden müßten, ob also die zeitgenössische Nationwerdung und damit allegorice abschließend auch der nationalistische Diskurs zur Disposition stünde. Dann wäre Giacinta die versehrte und vielfach beweinte Nation, die im Verlauf eines halben Säkulums unter den denkbar größten Schmerzen in eben diesen Jahren der fiktionalen Zeit des Romans nicht zuletzt dank des im Roman sporadisch erwähnten preußisch-deutschen Krieges geboren wird. Die Männer, die Giacinta umkreisen und ihren Körper durchdringen, wären dann Verkörperungen des Ancien Régime, der liberal-konservativen piemontesischen Elite, der Garibaldianer, der päpstlichen römischen Nomenklatura oder – in Gestalt Andreas – der von Giuseppe Mazzini gegründeten republikanischen Giovine Italia. Zur Vereinigung mit der Unterschicht kommt es allerdings nicht. Als nämlich die maskierten Damen Giacinta und Marietta eine Kutsche besteigen, um zum Stadtkarneval zu fahren, erkennt Giacinta nach Jahren des Vergessens an der Stimme des Kutschers einen alten Bekannten wieder: Beppe, der nach 13 Jahren unverhofft auftaucht und aus der Figurensicht Giacintas als fescher und muskulöser Uniformträger erscheint.41 Wäre Giacinta allein, hätte sie – darin einem paradoxalen Impuls folgend – umgehend schmutzigen Kutschensex mit Beppe, wie wir ihrem Gedankenmonolog entnehmen können: „Prendimi, insozzami dei tuoi baci fetidi di tabacco ed acquavite! Lasciami il tuo schifoso marchio sulle guancie e sulle labbra!“42 Da sich Giacinta in Begleitung Mariettas befindet, die die bürgerliche Aufsichtsnorm verkörpert, muß sie ihre Hingabebereitschaft im Zaum halten und auf sexuell erfüllende Lustfahrten 41 „Era proprio il Beppe. In tredici anni aveva cambiato poco o nulla nell’aspetto. Solamente era più muscoloso e più aitante e la sua divisa di cocchiere gli stava bene.“ Capuana: Giacinta (Anm.1), S. 192. 42 Ebd., S. 191. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn 302 DIETRICH SCHOLLER nach Bovary-Art verzichten.43 Aber das Schicksal des freien Todes teilt sie mit ihrer normannischen Schwester im Geiste. Daß Giacinta dabei einen Tod sucht und findet, der in einem schwarzen Flakon enthalten ist, nämlich in Gestalt des von Dottor Follini beschafften Pfeilgifts Curare, würde bedeuten, daß mit der Nationwerdung Italiens kein einziges Problem gelöst wurde, was Capuana zu einem deutlich markierten Geschichtspessimismus veranlaßte und folgerichtig jenen schwarzen Naturalismus hervorgetrieben hat, der sich als Geist, der stets verneint, entpuppt, und der eingangs als spezifische nationalliterarische Differenzqualität postuliert wurde. 43 Liest man diese Episode von der späten Wiederbegegnung zwischen Beppe und Giacinta im Licht der jüngsten Giacinta-Lektüre Gerhard Regns, dann muß die aus heutiger Sicht scheinbar naheliegende Ursache-Wirkungskette zwischen Peiniger und neurotisiertem Opfer modifiziert werden. Denn das in der Gartenidylle bei der frühreifen Giacinta vorzeitig geweckte sexuelle Interesse entsprach durchaus den Normen, die im medizinanthropologischen Diskurs der Zeit im Hinblick auf die forcierte Sinnlichkeit der Frau aufgestellt wurden, ein Nexus, den Regn unter Hinweis auf Paolo Mantegazzas Fisiologia della donna erläutert. So gesehen wird „die Vergewaltigung erst nachträglich durch die gesellschaftlichen Sanktionen, denen das Vergewaltigungsopfer sich ausgesetzt sieht“ zum „psychosomatischen Trauma“ (vgl. Gerhard Regn: „Genealogie der Dekadenz: Moralpathologie und Mythos in Capuanas Giacinta“, in: Romanistisches Jahrbuch 62 (2011), S. 215–239, hier: S. 233). Vor diesem Hintergrund stellt sich für mich die Frage nach dem tieferen Grund der auffälligen und von Regn zu Recht geltend gemachten gesellschaftlichen Sanktionierung des erlittenen stupro als eigentlichem Auslöser für Giacintas Neurotisierung. Die Antwort könnte lauten: Giacintas Verbindung mit Beppe ist aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft gefährlich und muß sanktioniert werden, weil sie – allegorisch gesprochen – den zeitgenössischen postrisorgimentalen Ordnungsprozeß in doppelter Weise gefährden könnte, und zwar deshalb, weil Beppe aus der per se gefährlichen, nämlich brigantistisch gefärbten Unterschicht stammt, die ein Widerlager im Risorgimento der liberalen Eliten bildet, und weil Beppe zudem atavistische Merkmale aufweist (vgl. ebd., S. 229), deren archaische Sprengkraft von dem allegorischen Zivilkörper der in statu nascendi befindlichen Italia-Giacinta um jeden Preis fernzuhalten ist. Andernfalls stünde nicht nur die politische sondern – tiefenepistemologisch betrachtet – jegliche Ordnung und damit der Prozeß der Zivilisation an und für sich zur Disposition. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn