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Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Mittwoch, 01.11.2000 Nr.255 67 Vexierspiele Ralf Rothmanns Lyrikband «Gebet in Ruinen» «‹Die Leidhaftigkeit des Daseins›, / stand in einem Buch über Buddha. (. . .) ‹Die Liedhaftigkeit› hatte ich gelesen, / immer wieder ‹Die Liedhaftigkeit des Daseins, / von der Wiege bis zum Grab.» So beginnt bzw. endet ein geglücktes Gedicht aus dem neuen Lyrikband von Ralf Rothmann. Lied und Leid sind nicht eben seltene Leitworte der deutschsprachigen Lyrik. Von erlesener Qualität sind sie dennoch. In diesem Fall sind sie gar erlesen in jedem Wortsinne. Zwei diphthongierende Vokale in einem längeren Wort werden (ver)lesend vertauscht. Und schon sieht das Wort und nicht nur das Wort, sondern mit ihm die Welt und das Dasein ganz anders aus als zuvor. Es sind solche Szenen des plötzlichen Umschlagens von Bedeutungen und des Neusehens vermeintlich bestens vertrauter Sachverhalte, die dem Lyrikband einen besonderen Reiz verleihen. Rothmann reiht szenische Gedichte aneinander, die ohne falsche Verlässlichkeit auf Pointen und Paradoxien hinauslaufen und dabei teilweise das Niveau von Escher-Zeichnungen erreichen: «Das Leben ist schon so lange zu kurz.» Ein schneller Wechsel der Töne sorgt dafür, dass das Leit-, Leid- und Liedmotiv, das den roten Faden des locker-sorgfältig komponierten Bandes durchzieht, nicht allzu aufdringlich wirkt. Ersichtlich ist dieser rote Faden dennoch: Fast alle Gedichte (wie sollte es angesichts des Titels anders sein?) kokettieren damit, dass sie auch Gebete sein könnten. Unter einer Voraussetzung: dass der Adressat von Gebeten sie als solche akzeptiert. Aber auch Gott hat in der Postmoderne Schwierigkeiten mit literarischen Gattungen wie Gebeten, Liedern und Gedichten: «Du müsstest wieder an uns glauben, Herr, / es eilt.» Schwierigkeiten aber hat Gott nicht nur mit den poetischen Gattungen, die lobend seine Existenz beglaubigen, sondern auch mit der menschlichen Gattung, die seine Schöpfung und sich selbst ruiniert hat. «Gebet in Ruinen» ist ein präziser Titel. Die Gebete, die da gedichtet werden, setzen den Ruin der Gattung Gebet selbst voraus. Und sie spielen mit einer Doppeldeutigkeit des Wortes «Gebet». Noch der Titel des Bandes ist von schöner Abgründigkeit. Bietet doch auch er eine lectio difficilior an. Aus dem Gebet in Ruinen wird dann die Aufforderung, noch in Ruinen etwas, womöglich © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Mittwoch, 01.11.2000 Nr.255 67 sein Bestes zu geben: «Gebet in Ruinen!» Wer gibt, der nimmt. Rothmanns Gedichte lassen eine eigentümliche Dialektik anschaulich werden. Sie kontrastieren fast systematisch religiöse mit monetären Motiven: «Alle flehten ‹Gott!›, alle meinten Gold.» Dass man anderes meint, als man sagt, und dass man anderes sagt, als man meint, führt zum Ruin verlässlichen Sprechens. Oder zur Ironie, die ihrerseits aufhört, Ironie zu sein, wenn sie allzu systematisch durchgehalten wird. «Denn Liebe ist gottlos. / Adieu.» Adieu – à Dieu. Verabschiedet wird in Rothmanns Lyrik ein Gestus des Sprechens, dem es mit der Unterscheidung von Ernst und Ironie noch ernst ist. Wer dieser Unterscheidung ihren Ernst nimmt, der gibt, der gibt zu denken auf, der gibt es auf zu denken, wie es mit dem ruinierten Menschen steht, «der sein tiefstes Geheimnis verscherzt / als Kontoauszug in der Bibel». Kurzum: Rothmann hat souverän komponierte, eigentümlich laxe und in ihrer Laxheit tiefsinnige Lyrik vorgelegt. Mitunter will sie scheinen, als ob sie es vorzöge, ernste Erstklassigkeit zu vermeiden und sich fröhlich zur Zweitklassigkeit zu bekennen, die das Geschichtszeichen einer über sich selbst aufgeklärten Postmoderne ist. Das gilt auch in handwerklicher Hinsicht. Auffallend häufig sucht und findet Rothmann unreine Reime. «Hart» reimt sich dann – nicht – auf «Creditcard» und «Krieg» auf «Musik». Zum Tiefsinn solcher Zeilen zählt, dass sie wissen, wie schwierig es ist, heute noch Gedichte vorzulegen, die nicht ruiniert wären. Die Anspielung auf den «Turm von Babel» ist in diesen Kontexten natürlich obligatorisch. Es sind die Trümmer dieses Turms, in denen Ralf Rothmanns Gedichte/Gebete ihren Ort haben. Ab und an geben sie die Hoffnung zu erkennen, es könne möglich sein, den Ruin dichter Sprache zu ruinieren. Jochen Hörisch Ralf Rothmann: Gebet in Ruinen. lag, Frankfurt am Main 2000. 71 S., Fr. 26.–. Gedichte. © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Suhrkamp- Ver- Blatt 2