Faltblatt zur Becher-Ausstellung

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Faltblatt zur Becher-Ausstellung
Ausstellung vom 25. Juni
bis 6. November 2016
Dieter Tucholke. Verfall. 1981, Collage
JENA 1917 SOMMER
Züge laufen durch das Meer der Bäume.
Wolken flammen in der Luft.
Häuser strahlen rote Säume ...
Heiliger Berg wölbt ewige Gruft.
Sonne schmölz den Schnee der Räume.
Strahlen lenken in die Bucht
Ekstatisch süßester Heimat-Träume.
Weite Brust trägt Stern und Frucht.
Stimmen heben sich vereinigt.
Liebe dröhnt der Menschheit Chor.
Flüsse stehen klar gereinigt
Gleich Girlanden um ein Tor.
Deine Schwanen-Engel knistern.
Wellen schlug ein Größter Ton.
Quell-Sturz träuft aus Sternen-Lüstern.
Leib strömt magischen Ozon.
Bernhard Heisig. Porträt Becher, 1979, Lithografie
Konzeption und Texte:
Jens-Fietje Dwars und
Klaus Schwarz.
Das museumspädagogische
Begleitprogramm entnehmen
Sie bitte unserer Homepage.
Führungen nach Voranmeldung an:
[email protected]
Aus dem Band: „Gedichte für ein Volk“, 1918
LITERATURMUSEUM
ROMANTIKERHAUS
Unterm Markt 12a · 07743 Jena
Telefon 03641 – 49 82 49
www.romantikerhaus.jena.de
Dienstag – Sonntag 10 – 17 Uhr
JOHANNES R.
BECHER IN JENA
Eine Ausstellung zum
125. Geburtstag des Dichters
Die Becher-Stele vor dem Wohnheim Schlegelstraße: 1982, 2001 von
Büschen überwuchert und heute Denkmal eines entsorgten Ehrenbürgers.
Die Krankenakte Bechers in der Jenaer Psychiatrie zeigt den Dichter als
Möchtergern-Doktor der Philosophie und exzessiven Morphinisten.
Gedichtband von Becher, 1920, mit einer Zeichnung von Ludwig Meidner.
Frans Masereel, Größe und Elend, Holzschnitt zu einem Becher-Gedicht.
Er war der Staatsdichter der DDR. Im Osten gerühmt
als Dichter des Friedens und des Sozialismus, im Westen
verdammt als Verräter am Geiste. Johannes R. Becher –
geboren am 22. Mai 1891.
Würde der Staat noch existieren, der vor 26 Jahren unterging, gäbe es an seinem 125. Geburtstag Fahnenappelle
an mehr als 30 Becher-Schulen, an der Berliner Akademie
der Künste eine Ausstellung und in Jena würde der
„Zentrale Arbeitskreis JRB“ des Kulturbundes tagen.
Denn in Jena hat es einmal arg gebechert: 1951 wurde
der Dichter zum Ehrenbürger der Stadt ernannt und
1958 zum Ehrensenator der Universität. Seit 1964 fanden
„Becher-Festspiele“ an der FSU statt, seit 1967 „BecherFestwochen“ an der Erweiterten Oberschule, die 1961
seinen Namen erhielt. Und seit 1969 gab es gar eine
„Johannes-R.-Becher-Kaserne“ auf dem Jägerberg.
Becher galt als der berühmteste Student der Jenaer Universität und tatsächlich hat er Gedichte auf die Saalestadt geschrieben. Das mochte manchen Stadtverordneten bewogen haben, ihn 1991 als Ehrenbürger zu bestätigen.
Doch geehrt wird er seitdem nicht mehr. Die BecherSchule heißt jetzt Gymnasium Am Anger. Das BecherDenkmal – eine Bronzebüste auf steinerner Stele –, das
seit 1966 am Fürstengraben stand, wurde bereits 1982
vor ein neues „Becher-Wohnheim“ der Uni in der heutigen Schlegelstraße verlegt. Dort ließ man es nach 1990
mit Buschwerk überwuchern, bis 2004 ein Passant die
Äste zur Seite bog.
Und siehe da: der Ehrenbürger war verschwunden. Es
lebe der Dieb, der als einziger den Wert der Büste erkannt hatte: ein Kunstwerk von Fritz Cremer, in dem
die Kultur-Verantwortlichen der Stadt und Universität
nur eine ideologische Altlast sahen. Statt die Plastik zu
ersetzen, ließen sie auch noch die Stele abbauen und im
Müll entsorgen.
Die Ausstellung im Jenaer Romantikerhaus nimmt sich
dieser merkwürdigen Geschichte an: Sie sichtet die
Spuren Bechers in Jena. In einem ersten Ausstellungsschwerpunkt erfahren Sie, wie man einen Ehrenbürger
macht, mit welchen Legenden die Jenenser gelebt
haben und welch unbequeme Wahrheiten sich dahinter
verbargen. Denn Becher kam 1917 als Morphinist nach
Jena, wo er sich in der Psychiatrie mehrfachen Entziehungskuren unterzog. Als er dann 1918/19 wirklich
studieren wollte, wurde ihm die Immatrikulation
verweigert, weil er kein Führungszeugnis vorweisen
konnte. Der verhinderte Student tritt der KPD bei,
träumt von der „Weltrevolution“, steht auf Hitlers
Todeslisten und lernt bei Stalin das Fürchten, organisiert in Paris 1935 einen Kongress zur Verteidigung der
Kultur und schreibt im Exil berührende Gedichte auf
deutsche Städte, darunter auch auf Jena. Er versucht
nach 1945 mit dem „Kulturbund zur demokratischen
Erneuerung Deutschlands“ einen Neubeginn, steigt als
Kulturminister zur Macht auf und wird ohnmächtig
zerrieben, als sich in seinem Rücken die Opposition
formiert.
So lädt die Ausstellung ein, über Glanz und Elend eines
zerrissenen Dichters in zerreißender Zeit nachzudenken und Legenden in Frage zu stellen, mit denen
jede Zeit sich verklärt.
In einem zweiten Abschnitt erleben Sie, wie man
produktiv mit dem Erbe Bechers umgehen kann, indem sich Künstler, Lieder- und Filmemacher seinem
Leben und Werk nähern. Zu sehen sind u.a. Grafiken
von Ludwig Meidner über Carlfriedrich Claus,
Joachim John und Karl-Georg Hirsch bis zu Wolfgang
Mattheuer und Bernhard Heisig.
Ludwig Meidner, Johannes R.Becher, 1916, Öl/Leinwand,
Akademie der Künste Berlin© Ludwig Meidner-Archiv,
Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt/M.