5. Sinfoniekonzert - Staatskapelle Dresden

Transcrição

5. Sinfoniekonzert - Staatskapelle Dresden
5. Sinfoniekonzert
W W W . G L A E S E R N E M A N U FA K T U R . D E
5. Sinfoniekonzert
KulturE R L E B N I S
Mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, der Sächsischen
Staatsoper und der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen treffen
in Dresden drei herausragende Institutionen auf höchstem Niveau
zusammen. Aus gegenseitiger Wertschätzung ist enge Freundschaft
und eine zukunftsweisende Kooperation geworden.
Freuen Sie sich mit uns auf ein breit gefächertes Angebot in der
Spielzeit 2009 | 2010. Für das heutige Sinfoniekonzert wünschen wir
Ihnen viel Freude und angenehme Unterhaltung.
Generalmusikdirektor Fabio Luisi
Ehrendirigent Sir Colin Davis
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5. Sinfoniekonzert
S o n n tag
D i en s tag
29.11.09 1 1 U h r · M o n tag 30.11.09
1.12.09 2 0 U h r · S e m p ero p er
Programm
20 Uhr
D i r i g e n t u n d K l av i e r
Christoph Eschenbach
Viola
(29. und 30. November)
David Aaron Carpenter
29. und 30. November
1. Dezember
Alfred Schnittke
Wolfgang Amadeus
Mozart
(1934-1998)
Konzert für Viola und Orchester
1. Largo
Konzert für Klavier und Orchester
3. Largo
1. Allegro
2. Allegro molto
Zum 75. Geburtstag des Komponisten
Expressives Meisterwerk
Als Musik «an der Todesschwelle» hat Alfred Schnittke sein Bratschenkonzert
bezeichnet, das er 1985 wenige Tage vor einem schweren Schlaganfall komponierte. Mittlerweile hat sich das Konzert in seiner unmittelbar ansprechenden
Expressivität einen festen Platz im Bratschenrepertoire erobert. Christoph
Eschenbach, der eng mit Schnittke zusammenarbeitete, kombiniert das Werk
mit Anton Bruckners «romantischer» Vierter und ist in einem zweiten Pro-
gramm mit Mozarts lichtem A-Dur-Konzert KV 414 auch als inzwischen selte-
(1756-1791)
A-Dur KV 414
2. Andante
3. Rondeau: Allegretto
pause
pause
Anton Bruckner
Anton Bruckner
(1824-1896)
(1824-1896)
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur «Romantische»
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur «Romantische»
1. Bewegt, nicht zu schnell
1. Bewegt, nicht zu schnell
Originalfassung, Edition: Robert Haas
2. Andante quasi Allegretto
3. Scherzo: Bewegt – Trio: Nicht zu
schnell. Keinesfalls schleppend
4. Finale: Bewegt, doch nicht
zu schnell
Originalfassung, Edition: Robert Haas
2. Andante quasi Allegretto
3. Scherzo: Bewegt – Trio: Nicht zu
schnell. Keinesfalls schleppend
4. Finale: Bewegt, doch nicht
zu schnell
ner Klaviersolist mit der Staatskapelle zu erleben.
Kostenlose Einführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Kellerrestaurant
Das Konzert wird von MDR Figaro aufgezeichnet.
Sendetermin: 21. Dezember 2009, 20.05 Uhr
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Christoph Eschenbach
D i r i g e n t u n d K l av i e r
Christoph Eschenbach ist eine der großen Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit
und leitet derzeit in seiner zehnten und letzten Spielzeit als Directeur musical
das Orchestre de Paris. Im Herbst 2010 übernimmt er in Washington D.C. die
Leitung des National Symphony Orchestra sowie die neu geschaffene Stelle des
Musikdirektors des John F. Kennedy Center for the Performing Arts. Von 1999
bis 2001 war er Intendant und Künstlerischer Leiter des Schleswig-Holstein
Musik Festivals, deren Orchesterakademie er noch immer als Principal Conduc-
tor verbunden ist. In der Saison 2009/10 dirigiert Christoph Eschenbach u.a. die
Wiener Philharmoniker im Rahmen der Salzburger Mozartwoche, das London
Philharmonic Orchestra auf einer China-Tournee und das Philadelphia Orches­
tra, dem er von 2003 bis 2008 als Music Director vorstand. Außerdem gastiert er
bei New York Philharmonic, San Francisco Symphony, den Münchner Philhar-
monikern und dem NDR Sinfonieorchester, das er von 1998 bis 2004 als Chefdirigent leitete. Mit dem Schleswig-Holstein Festival Orchester konzertiert er in
Ungarn, Tschechien und den USA. Außerdem leitet er seine ersten Konzerte am
Pult des National Symphony Orchestra seit seiner Ernennung zum zukünftigen
Music Director. Als ein international führender Pianist setzt er seine Zusammenarbeit mit dem Bariton Matthias Goerne fort, mit dem er die Schubert-
Liederzyklen für Harmonia Mundi einspielt. Mit dem Orchestre de Paris und
dem Philadelphia Orchestra entstanden in den vergangenen Jahren zahlreiche
Aufnahmen für das finnische Label Ondine. Eschenbach wurde früh von George
Szell und Herbert von Karajan gefördert und hatte Chefpositionen u.a. beim
Tonhalle-Orchester Zürich (1982-1986) und beim Houston Symphony Orchestra
(1988-1999) inne. Zu seinen jüngsten Auszeichnungen gehören das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
und die Aufnahme in die französische Ehrenlegion. 1993 wurde er mit dem
Leonard Bernstein Award des Pacific Music Festival ausgezeichnet, das er von
1992 bis 1998 künstlerisch leitete. Bei der Sächsischen Staatskapelle ist Chris-
toph Eschenbach seit 1992 ein regelmäßiger und überaus gern gesehener Gast.
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Alfred Schnittke
* 24. November 1934 in Engels
(Wolgadeutsche Autonome Sowjetrepublik, heute Russland)
Musik an der Todesschwelle
Zu Alfred Schnittkes Bratschenkonzert
† 3. August 1998 in Hamburg
Das Alte neu erscheinen zu lassen ist ein Grundkonzept in der Musik von Alfred
Schnittke. Fast seine ganze Musik scheint so geschrieben zu sein, als ob sich
dahinter andere Musikstile verbergen. Hört man seine Musik, weiß man nie, an
was sie uns als nächstes erinnert: orthodoxe Kirchenmusik, Kabarettlieder,
oder die realistischen Märsche des Sozialismus, die Musik von Bach, Glinka oder
Schönberg.
Das Bratschenkonzert ist ein wundervolles Beispiel für Schnittkes polystilis­
tische Kompositionsweise und seine starke Suggestionskraft. Die Eröffnungs-
takte scheinen sich über große Entfernungen von Raum und Zeit zu bewegen.
Wenn die Solobratsche zum ersten Mal über den tief klingenden Streichern
einsetzt (die Partitur enthält keine Geigen), umschreiben die Noten den Na-
Konzert für Viola und Orchester
men von Baschmet: B-A-(E)s-C-H-[M]-E-[T]. Die Streicher treten dann zurück
und lassen den Solisten in einer Leere
allein, in der er ängstlich danach
sucht, sich an etwas festzuhalten.
1. Largo
2. Allegro molto
3. Largo
Etwas von diesem Halt findet er in
4. Juni 1987 die DDR-Erstaufführung
lichen Charakters. Es ist eine Idee, die
Dresdner Kulturpalast. Solist war der
einer neuen Idee ganz unterschied-
an die späten Werke von Mahler oder
e n t s ta n d e n
Besetzung
zwischen 1977 und 1985
Viola solo; 3 Flöten (2. auch Piccolo,
ur aufgeführt
Englischhorn), 3 Klarinetten (2. auch
am 9. Januar 1986 im Amsterdamer
Concertgebouw (Yuri Baschmet,
Viola; Concertgebouw-Orchester,
Dirigent: Lukas Vis)
gewidmet
dem Bratscher Yuri Baschmet
3. auch Altflöte), 3 Oboen (3. auch
Bassklarinette, 3. auch Es-Klarinette),
3 Fagotte (3. auch Kontrafagott),
4 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen,
Tuba, Pauken, Schlagzeug (6 Spieler),
Harfe, Celesta, Cembalo, Klavier,
Streicher (ohne Violinen)
Dauer
Verl ag
Musikverlage Hans Sikorski, Hamburg
6
ca. 35 Minuten
Die Staatskapelle Dresden spielte am
sogar Schostakowitsch erinnert.
von Schnittkes Bratschenkonzert im
Widmungsträger Yuri Baschmet, es
Diese Idee löst sich wiederum in eine
dirigierte Gennadi Roschdestwenski.
dem Altertum auf. An dieser Stelle
der meistgespielten Bratschenkonzerte
Anspielung auf religiöse Gesänge aus
steigt das Orchester plötzlich in
einem furchterregenden Akkord an
(dessen Noten wiederum von Basch-
Inzwischen hat sich das Werk als eines
bzw. zeitgenössischen Werke überhaupt
im Konzertrepertoire etabliert.
mets Namen abgeleitet sind). Dieser
Akkord beschwört intensiv den grauenerregenden Expressionismus von
Schönbergs «Erwartung» und Bergs «Lulu» herauf. Am Ende stellt sich eine
einfache klassische Kadenz ein, eine süße Erinnerung an eine Welt der verlorenen Unschuld.
Es ist eine Anerkennung für die starke Technik sowie die fast mysteriöse
Einbildungskraft Schnittkes, dass er imstande war, uns entgegen gesetzt aller
Regeln und Logik zu überzeugen, dass musikalische Ideen und Bilder solch
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unterschiedlicher Art sinnvoll in einem Werk zusammengefügt werden kön-
nen. Man empfindet nicht (wie T. S. Eliot sagt), dass diese Fragmente nur dazu
dienen «um mich gegen meinen Untergang abzustützen», sondern wir sehen
ein, dass sie alle eine Rolle in einer tieferen Bedeutung spielen. Dieser Komponist hat sich zum Ziel gesetzt, uns mit der Bedeutung musikalischer Ideen zu
beeindrucken, die wir sonst als «unbeachtete Kleinigkeiten» verkannt hatten,
wie Krümel von des Herren Tisch.
Als Ganzes gesehen, hat das Werk die Form eines Bogens. Das Eröffnungs-
Largo skizziert das Material, aus dem der Rest des Stückes besteht und führt zu
einer Art von Toccata oder «moto perpetuo», in dem ein Puls ein wildes Gefühl
von unbestimmter Richtung heraufbeschwört, das so ganz anders ist als das
vorangehende scheinbare Ödland. Das Werk endet wieder mit einem Largo,
das aber diesmal ausgedehnt und so stark weiter entwickelt ist, dass es alle
gegensätzlichen Erfahrungen der beiden vorangehenden Sätze in sich vereint.
G e r a r d M c B u r n e y
( Übersetzung : Gigi St ybr)
Im Jahre 1977 lernte ich bei der Schallplattenaufnahme meines Klavierquintetts mit Gidon Kremer auch den genialen Yuri Baschmet kennen.
Er bat mich um ein Bratschenkonzert, womit ich auch sofort einverstanden war, ohne zu ahnen, dass ich es erst 1985 beenden würde.
In gewisser Hinsicht hat es einen – vorläufig – abschließenden Charakter, denn zehn Tage nach Beendigung der Arbeit brachte mich ein
Schlaganfall in eine fast ausweglose Situation, und ich konnte erst langsam in einen zweiten Lebenskreis eintreten, den ich jetzt durchschreite.
Wie in einer Vorahnung des Kommenden entstand eine Musik mit has­
tigem Durchs-Leben-Jagen (im 2. Satz) und langsamer und trauriger
Lebensüberschau an der Todesschwelle (im 3. Satz).
Abgesehen vom Tonumfang hatte ich an keinerlei technische Begrenzungen des Soloparts zu denken, denn Yuri Baschmet spielte alles. Alles
schien möglich zu sein. Ich widmete ihm das Stück, über dessen Weiter­
leben ich mich freue, auch in Händen anderer. A l f r e d S c h n i t t k e
Alfred Schnittke (1988)
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Begegnungen mit Alfred Schnittke
Eine Würdigung zum 75. Geburtstag des
Komponisten
Ein russischer Komponist mit deutschem Namen – ich war gespannt, wer mir
da gegenübertreten würde. Er empfängt mich als Deutsche wie einen alten
Freund im engen Arbeitszimmer seines Moskauer Beton-Domizils. Sein Erscheinen ist geprägt von der strengen Zurücknahme der eigenen Person. Seine geschliffene deutsche Hochsprache verweist sofort auf den geistigen Komfort,
der ihm zu Gebote steht. Ich blicke in ein Angesicht wie von Chagall erfunden,
Züge, auf denen der arbeitende Intellekt ein sublimes Mienenspiel durchlässt.
Im Fixierbad intensiver Betrachtung gewinnt sein Persönlichkeitsbild sofort
Kontur: ein kontemplativer Charakter, der nur zögerlich seine Bedeutung begreift – Alfred Schnittke.
Aus der ethnischen Mitgift seiner Eltern – der Vater ein russisch-jüdischer
Journalist und Übersetzer, die Mutter eine katholische deutsche Lehrerin und
Zeitungsmitarbeiterin – entsteht für den 1934 in Engels, der Hauptstadt der
Wolgadeutschen Autonomen Sowjetrepublik geborenen Sohn als Halbrusse,
Halbjude, Halbdeutscher eine permanent fährnisreiche Lebenssituation. Unter
den zeitgenössischen Komponisten einer der Großen und Meistaufgeführten,
definiert er seine künstlerische Identität unmissverständlich: «Der Tradition
nach gehöre ich zur russischen Kultur.»
Hinter diesem simplen Satz steht die steinige Strecke einer Jahrzehnte lan-
Schnittke um 1990
gen massiven menschlichen Kraftprobe. Inmitten des fährnisreichen Span-
nungsfeldes seiner Herkunft standen die Ampeln auf Rot, wenn man sich, wie
Schnittke, zu keiner Zeit den sinistren Prämissen der Parteigewaltigen unter-
aus seinen Filmmusiken zu einem «Concerto grosso» verarbeitet, holt er sich
uraufführen will, erhält der berühmte Geiger das Telegramm: «Schnittke brau-
gehört sofort zu den Großen der Moderne.
warf. Selbst später noch, als Gidon Kremer Schnittkes viertes Violinkonzert
chen wir nicht. Spielen Sie Beethoven.»
«Filmmusiken fürs tägliche Brot waren damals mein Rettungsring», bekennt
Schnittke, «denn alles, was ich nicht für den Film schrieb, wurde abgelehnt.»
Unter den mehr als sechzig Filmen, in denen er in fünfundzwanzig Jahren mitarbeitete, waren glücklicherweise zahlreiche, die Weltgeltung erlangten, wie
etwa Elem Klimows «Agonie» oder Sergej Kolossows «Wir lenken das Feuer auf
uns». «Das zwang mich zu strenger Arbeitsdisziplin, ließ mir aber auch den
Spielraum zum Experimentieren. Ich konnte meine eigene Sprache finden,
mich erproben und ‹Dampf ablassen› …» Als er nicht verwendete Fassungen
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1977 mit dieser Partitur den Ritterschlag der internationalen Musikkritik und
Das Tiefkühlklima jener frühen Schaffensjahre hinterließ tiefe menschliche
Blessuren, die mit drei Herzinfarkten schon an die Schwelle des Todes führten.
Mit ungeheurer Energie hat er dem Leben immer wieder schöpferische, zutiefst
glückliche Jahre abgetrotzt. Sein Lebensgefühl kehrte sich seither ganz nach
innen und nahm eine noch tiefere Gläubigkeit an. Seine Musik ist nicht ertüftelt.
Sie ist erlitten. Die meisten seiner Partituren entstanden im Auftrag berühmter
Orchester oder wurden für genau bestimmte Solisten geschrieben. «Das spielt in
meinem Leben eine große Rolle», bekennt Schnittke. «Denn daraus erwuchs für
die Anlage meiner Arbeiten von vornherein eine emotionale Grundsituation.»
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Seine Lehrer Rischkin und Schaternikow, zu deren Klavierklasse er gehört,
bringen ihn schließlich in der Komponistenklasse des Moskauer Konservatori-
ums unter. Schnittke war aufs Gleis gesetzt. Doch die Weiterfahrt war mit
seiner Herkunft hoffnungslos blockiert.
In den Jahren der Zurücksetzung begibt er sich in die Welt der Musikge-
schichte, um daraus mit beispielloser Freiheit durch Stiladaptionen, Stilkombinationen und Stilverarbeitungen als Meister der Polystilistik hervorzugehen
und aus seinem Bildungskosmos eine autonome Tonsprache zu entwickeln.
Er dreht und wendet klassische Zitate von Beethoven bis Tschaikowsky, Motive
von Orlando di Lasso bis zu Tanz- und Jahrmarktsmusik. Und erreicht durch
den Aufprall widersprüchlicher Zitate Passagen von schockierender Wirkung.
«Vorgriff durch Rückgriff» definiert Schnittke seine Methode, «ein Prinzip, das
schon Händel gern angewandt hat, in straffer Folgerichtigkeit ästhetischer
Umfunktionierung von Tradition.» Seine Freude am Raffinement alter stilis­
tischer Formen ist für Schnittke ständige Inspiration. Und plötzlich war er,
der sich nie Beifall heischend anbiederte, der Moderne.
In seiner ersten Sinfonie aus dem Jahre 1972 fügt er heterogenes Material
zusammen. Unter der Oberfläche, dem «Chaos» des prallen Werkes, entdeckt
man bei genauem Hinhören die streng kalkulierte Tonsprache, die ständig in
Aufruhr versetzt.
«Heute staune ich über jene Verquickung von Leichtsinn und höchstem Ernst,
Schnittke mit Yuri Baschmet (rechts) und Gennadi Roschdestwenski (Mitte)
nach der Moskauer Erstaufführung des Bratschenkonzerts im Mai 1987
Und die erste Berührung mit der Musik? «Sie kam für mich als Zwölfjähriger
über die Tasten einer alten Quetschkommode, die mein Vater im Nachkriegs-
‹Endstation Sehnsucht› choreographierte, I.K.]. Sie beginnt damit, dass die Musiker einer nach dem anderen aus den Kulissen treten und – im Gehen spielend –
auf die Bühne eilen. Die Musik gipfelt in ein unbeschreibliches Chaos …»
Schnittkes fünfte Sinfonie, ein Auftragswerk des Concertgebouw-Orche-
Wien geschenkt bekam, wo er damals als Journalist und Dolmetscher an der
sters Amsterdam, ist beispielsweise der Versuch einer Umsetzung von Lessings
Zeitung› arbeitete.» Er stammte aus Frankfurt am Main und hatte die katho-
sangsintonationen, gregorianischer und lutherischer Choräle aufgreift. Oder
von der sowjetischen Militärverwaltung herausgegebenen ‹Österreichischen
lische Lehrerin Maria Vogler geheiratet. Der Filius erhält Klavierunterricht, lernt
das große Wiener Musikleben kennen und macht sich draufgängerisch ans
Verfertigen eines «Konzertes für Akkordeon und Orchester» nebst einigen
Klavierstückchen; wovon er heute mit Schmunzeln spricht. Wer mochte ahnen,
dass dies das Präludium war für ein exemplarisches Komponistenleben … Später, in Moskau, stellt er sich in der Musikschule «Oktoberrevolution» vor.
«Ich stoppelte der Aufnahmekommission etwas vor, mehr schlecht als recht,
«Ringparabel», worin Schnittke Elemente synagogaler und altrussischer Ge-
das 1975 entstandene «Requiem», das dem Andenken seiner Mutter gewidmet
und als Bühnenmusik zu Schillers «Don Carlos» geschrieben ist. Dabei fällt auf,
dass es in Schnittkes Schaffen kaum je Finalsätze gibt, die in apotheotischem
Fortissimo-Schwung enden. Die Schlusssätze verhauchen meist lento pianissimo oder münden in gänzliche Lautlosigkeit. «Die Zeit der Pracht liebenden
Schlusstakte», so Schnittke, «die Ausdruck einer sicheren, wenn auch nicht real
bekannten Zukunft waren, ist vorbei. In unserer Welt der beschädigten Bezie-
bemerkte meine völlige Unkenntnis der Musiktheorie, besaß nicht einmal ein
hungen gibt es keine festen Formeln mehr, keine einheitlichen Antworten auf
Dirigenten- und Chorgruppe, wo meine Mängel am wenigsten auffielen.»
Einfluss zu nehmen. Da wären auftrumpfende Finalklänge eine Lüge.»
absolutes Gehör, nur ein sehr gutes relatives – und so steckte man mich in die
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wozu ich in dieser Sinfonie noch fähig war [und die John Neumeier im Ballett
alles. Heute wird von jedem von uns erwartet, auf den Ausgang der Ereignisse
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In Schnittkes Gesamtwerk kann man ablesen, wie Moden und wohlfeilem
Markt zu widerstehen ist. Man hört auch seine Vorliebe für Streichinstrumente
heraus, «obwohl ich selbst nie ein Streichinstrument auch nur in Händen gehalten habe», gesteht er fast entschuldigend. «Das eigene Spielen hilft nicht
unbedingt.»
Sein Werkkatalog – nicht mitgerechnet die frühen Arbeiten und Filmmu-
siken – umfasst weit über hundert Titel aller Genres, meist aber die der großen
Form, Violinkonzerte, Concerti grossi, Sinfonien, Klaviersonaten und Cellokon-
zerte. Für die Opernbühne schrieb er drei Opern, darunter die «Historia von Dr.
Johann Fausten» (für die er, basierend auf dem «Urfaust», auch das Libretto
verfasste). Das Werk wurde 1995 in Hamburg uraufgeführt. Seine Oper «Das
Leben mit einem Idioten», nach einer Novelle von Viktor Jerofejew, kam bereits
1992 unter Mstislaw Rostropowitsch in Amsterdam heraus und wurde auch zu
den Dresdner Musikfestspielen vorgestellt.
Als ich Jahre später Schnittke in Westberlin wieder finde, empfängt er mich
in einer großzügigen Wohnung des weiträumigen Künstlerhauses. Gezeichnet
von mehreren Herzinfarkten und körperlichen Lähmungen, ist er für ein um-
sorgtes Arbeitsjahr Gast der Kulturverwaltung des Berliner Senats. Seine physische Behinderung überspielt er mit geistigem Temperament und heiteren
Pointen. Beim Mittagsmahl in lockerer Stimmung erzählt er von den kleinen
Spitzbübereien seiner Kinderjahre. Immer an seiner Seite seine Frau Irina, die
Pianistin und Gefährtin von Jugend an. Ihr widmete er bedeutende Partituren,
die von ihr uraufgeführt wurden. Sie war einst seine Schülerin in Musiktheorie
und wurde zu einer modernen Clara Schumann.
Der Beginn des Bratschenkonzertes in Schnittkes Handschrift
Das Berliner Jahr führt zu einem neuen Schaffensschub. Im überfüllten
Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie stellt er sich dem Publikum. Ein-
sam auf dem Podium sitzend, ohne Moderator, ohne Musik, entfacht der heiter
aufgelegte Schnittke mit seinem unabgenutzten, präzisen Deutsch eine geist-
reiche Gesprächsrunde über musikalische (und biografische) Schaffensprozesse
Ingeburg Kretzschmar
vor dem Hintergrund des durchlebten Zeitgeschehens.
Geboren in Leipzig. Ausbildung als Pianistin am damaligen Konserva-
Hamburg beheimatet.
Leipzig, München, Wien. Danach Volkswirtschaftsstudium an der TU
In seinem letzten Lebensabschnitt hatte sich der schwerkranke Mann in
Bei unserer letzten Begegnung verabschiedet er mich mit den tröstenden
Worten: «Gewagtes hat in der Kunst Gelingens-Chancen. Das Sichere ist immer
trügerisch und aussichtslos …»
Er wäre am 24. November 2009 fünfundsiebzig geworden.
torium Dresden. Studium der Musik-, Literatur- und Kunstgeschichte in
Dresden. Langjährige Arbeitsbeziehungen zu Dmitri Schostakowitsch,
Aram Chatschaturjan und Alfred Schnittke. Verleger, Editor. Musikkritikerin der Berliner Zeitung.
I n g e bu r g K r e t z s c h m a r
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David Aaron Carpenter
Viola
David Aaron Carpenter zählt zu den weltweit viel versprechendsten Bratschisten und wurde 1986 in New York geboren. Mit sechs Jahren begann seine Aus-
bildung auf der Geige, mit elf auf der Bratsche. Beide Instrumente praktizierte
er als Jungstudent an der Juilliard School und an der Manhattan School of Music. Darüber hinaus studierte er bei Yuri Baschmet, Roberto Díaz, Nobuko Imai,
Robert Mann und Pinchas Zukerman. 2005 gewann David Aaron Carpenter den
Ersten Preis der Greenfield Young Artists Competition, 2006 den Ersten Preis
der Walter E. Naumburg Viola Competition. Sein Auftritt im Kennedy Center
von Washington brachte ihm die Presidential Gold Medal ein, kurz nachdem
ihm die National Foundation for the Advancement of the Arts (NFAA) ihren
ersten Gold Award verliehen hatte. Im Juni 2007 wurde er der erste amerikanische und zudem jüngste Protégé der Rolex Mentor and Protégé Arts Initiative.
Carpenter ist darüber hinaus Bachelor der Princeton University im Fach Politi-
sche Wissenschaft. Seit seinem Konzertdebüt mit dem Philadelphia Orchestra
unter Christoph Eschenbach im Jahr 2005 tritt David Aaron Carpenter mit führenden Orchestern und Musikern in den USA und in Europa auf. 2008 sprang
er in letzter Minute für Maxim Vengerov in Benjamin Yusupovs Viola-Tango-
Rock-Konzert mit dem Sinfonieorchester Luzern ein. In den USA ist Carpenter
in vielen großen Sälen aufgetreten, darunter die New Yorker Carnegie Hall.
Als Kammermusiker spielte er mit Künstlern wie Emanuel Ax, Sarah Chang und
Leonidas Kavakos. Hinzu kommen regelmäßige Auftritte beim Verbier Festival
in der Schweiz. 2009 erschien seine Debüt-CD mit dem Violakonzert von Alfred
Schnittke und einer Bearbeitung des Cellokonzertes von Edward Elgar für Bratsche bei Ondine. David Aaron Carpenter spielt eine Camillo Camilli 1739 als
Leihgabe von Roberto Díaz.
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Wolfgang Amadeus Mozart
* 27. Januar 1756 in Salzburg
† 5. Dezember 1791 in Wien
Ein Mittelding zwischen zu schwer,
und zu leicht
Zu Mozarts Klavierkonzert KV 414
Mit Mozarts lang ersehntem Umzug nach Wien im Jahr 1781 tauschte er auch
die feste Anstellung am Salzburger Hof gegen ein Leben als freischaffender
Künstler. Für seine Einnahmen war er nun selbst verantwortlich – kein Wunder
also, dass er nach Möglichkeiten suchte, das Wiener Publikum schnellstmöglich
für sich zu gewinnen. Damit rückte eine Gattung ins Zentrum seines Schaffens,
mit der er sich als Komponist und virtuoser Interpret glanzvoll präsentieren
konnte: das Klavierkonzert. Zwischen 1782 und 1786 komponierte er nicht weniger als 15 Klavierkonzerte, mit denen er die Wiener in sogenannten «Academien» vom Klavier aus begeisterte. Diese Veranstaltungen, die in der Regel im
Wiener Augarten oder im Hoftheater stattfanden, wurden in Mozarts ersten
Wiener Jahren zu seiner wichtigsten finanziellen Einnahmequelle.
Anders als in anderen Gattungen konnte sich Mozart bei der Komposition
der Konzerte nur an wenige Vorbilder anlehnen: Das «Clavier-Concert» war
damals noch relativ jung, die Zahl der Vorgängerwerke (darunter die Cembalokonzerte Bachs, Werke der Bach-Söhne und von Georg Christoph Wagenseil)
Klavierkonzert A-Dur KV 414
überschaubar. Mozart entwickelte nach und nach seine ganz eigene Konzert-
form, erweiterte etwa im fantasievollen Experimentieren die spieltechnischen
Möglichkeiten, hob das Verhältnis zwischen Soloinstrument und Orchester auf
eine neue Stufe und erreichte letztlich eine, auch emotionale, Vielfalt, die bis
1. Allegro
2. Andante
3. Rondeau: Allegretto
dahin nicht denkbar gewesen war. Wenn er also auch nicht als «Erfinder» der
Gattung gelten kann, so ist er doch – wie Joseph Haydn im Bereich des Streich-
quartetts – ihr eigentlicher «Vater» und Urheber. Mit seinen 23 eigenständigen
Klavierkonzerten (einige frühe Bearbeitungen nicht mitgerechnet) legte er den
e n t s ta n d e n
Besetzung
im Herbst 1782 in Wien
Klavier solo; 2 Oboen, Fagott,
Werke der dreisätzigen Konzertform, sie verbinden solistisches Spiel mit sinfo-
Verl ag
zwischen Solist und Orchester, die Mozart als gleichberechtigte «Individuen»
in einer Akademie der Mozart-Schüle-
Bärenreiter-Verlag, Kassel
(Solist und Leitung: Wolfgang Ama-
Dauer
rin Josepha Auernhammer in Wien
deus Mozart)
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Was genau zeichnet Mozarts Klavierkonzerte aus? Äußerlich folgen alle
2 Hörner, Streicher
ur aufgeführt
möglicherweise am 3. November 1782
Grundstein für die spätere Bedeutung der Gattung im 19. Jahrhundert.
ca. 25 Minuten
nischen Strukturen. Besonders und außergewöhnlich aber ist die Beziehung
behandelt, deren Verhältnis er im spielerischen Miteinander vielfältig auslotet.
Häufig erinnert die Konstellation an eine Opernszene: Die «Gefühlsregungen»
des Solisten werden vom Orchester beantwortet, kommentiert, ergänzt. Wichtiger Dialogpartner sind dabei immer wieder die selbständig agierenden Holzbläser. Vermutlich war es dieser «dramatische» Aspekt der Konzerte, der den
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Mozart-Biografen Alfred Einstein veranlasste, in den Werken Mozarts künstle-
risches «Ideal» am deutlichsten verwirklicht zu sehen; er pries Mozarts Klavier-
konzerte als «Krönung und Gipfel seines instrumentalen Schaffens überhaupt».
In seinen frühen Wiener Konzerten kam Mozart aus den genannten Grün-
den dem Wiener «Gusto» besonders entgegen. Die Kompositionen sind in der
Art galanter Unterhaltungsmusik gehalten, Mozart beschrieb sie seinem
Vater Leopold in einem Brief vom 28. Dezember 1782: «… die Concerten sind
eben das Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht – sind sehr Brillant –
angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da –
können auch kenner allein satisfaction erhalten – doch so – daß die nicht­
kenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum.» Ab 1785 aber,
als seine Popularität allmählich nachzulassen begann, nahmen Mozarts Konzerte einen persönlicheren, kompromissloseren Tonfall an. Seine späten Einzelwerke der Gattung haben nur noch wenig mit der «Galanterie» der
früheren Werke zu tun.
Mozart eröffnete die Reihe seiner Wiener Klavierkonzerte mit einer Trias
von drei Werken (KV 413-415), die schon bald auch – ein Zeichen für den großen
Erfolg – im Druck erschienen. Das chronologisch erste dieser Konzerte ist das
Konzert in A-Dur KV 414, entstanden im Herbst 1782 noch vor (!) dem Konzert
in F-Dur KV 413. Alle drei weisen eine Besonderheit in der Instrumentation auf:
Sie können sowohl «mit ganzem Orchester … wie auch à quatro produciret
werden» – je nach Bedarf können also die Bläserstimmen weggelassen werden,
die Werke auch in solistischer, quasi kammermusikalischer Besetzung als Klavierquintett aufgeführt werden.
Das A-Dur-Konzert ist bis heute das populärste der drei Konzerte, was sicher
auch an seiner heiter gelösten Grundstimmung liegt, die Mozarts Vorsatz, die
Werke sollten – bei allem Anspruch – «angenehm in die ohren» klingen, vielleicht
am konsequentesten umsetzt. Ungewöhnlich reich ist die Orchestereinleitung
zum ersten Satz, die anstelle der üblichen zwei sogar drei verschiedene Themen
vorstellt. Das kurze dritte Thema taucht allerdings erst in der Reprise wieder auf.
Der zweite Satz zitiert nach Ansicht Alfred Einsteins die ersten vier Takte einer
Ouvertüre («La calamità dei cuori») von Johann Christian Bach: Möglicherweise
reagierte Mozart damit auf den Tod des älteren Freundes und Bach-Sohnes am
1. Januar 1782. Der Schlusssatz ist ein brillantes Rondeau, dessen Refrainthema
sich rhythmisch auf den Beginn des Kopfsatzes bezieht. Dies ist nur eines der
vielen subtilen Details dieses Werkes, das der Pianist Alfred Brendel als «das
liebevollste aller Mozartschen Klavierkonzerte» bezeichnete.
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To b i a s N i e d e r s c h l a g
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Anton Bruckner
* 4. September 1824 in Ansfelden (Oberösterreich)
† 11. Oktober 1896 in Wien
Mit Halali gegen die geistige Schwäche
Zu Anton Bruckners «Romantischer»
Ein unwirkliches Raunen der Streicher, darüber der zarte Einsatz eines Solo-
horns, ein Quintsprung abwärts, dann wieder aufwärts … Zum Inbegriff der
Romantik wurde dieser Beginn, die Anfangstakte aus Anton Bruckners Vierter,
der er selber den Beinamen «Romantische» gab. Ein idyllischer Anfang – und
doch ist das Werk zu einer Zeit entstanden, als Bruckner beruflich und finanziell
mehrere Rückschläge hinnehmen musste: Die Urfassung der Sinfonie von 1874
fällt in eine Zeit, als er seine Klavierlehrerstelle an der Wiener Lehrerbildungs-
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur «Romantische»
Originalfassung, Edition: Robert Haas
anstalt verlor und als seine Bewerbung um eine Stelle an der Wiener Universität (nicht zuletzt durch die Intervention Eduard Hanslicks) abgelehnt wurde.
Auch fand sich kein Orchester, das seine soeben abgeschlossene dritte Sinfonie
aufführen wollte. Mit der Komposition der Vierten trat Bruckner die Flucht
nach vorne an: «Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist,
1. Bewegt, nicht zu schnell
2. Andante quasi Allegretto
3. Scherzo: Bewegt – Trio: Nicht zu schnell. Keinesfalls schleppend
4. Finale: Bewegt, doch nicht zu schnell
flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik.»
So «kraftvoll» die Sinfonie auch klingen mag: Bruckner tat sich mit der Kom-
position äußerst schwer. Die im November 1874 abgeschlossene Erstfassung
nahm er vier Jahre später wieder vor und arbeitete sie noch einmal grundle-
gend um. Die Ecksätze bekamen eine neue Gestalt, das Scherzo wurde eliminiert und durch ein völlig neues ersetzt. Auch nach der Uraufführung 1881 in
e n t s ta n d e n
gewidmet
1874; zwischen 1878 und 1880 überar-
«Sr. Durchlaucht, dem Prinzen Cons-
1881 und 1889
lingsfürst in tiefster Ehrerbietung»
beitet; weitere Änderungen zwischen
Fas s u ng e n
Besetzung
1874: Erste Fassung; 1878: Zweite
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten,
drittem Finale (Edition: Robert Haas)
3 Posaunen, Tuba, Pauken, Streicher
Fassung; 1880: Zweite Fassung mit
2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten,
ur aufgeführt
Verl ag
am 20. Februar 1881 in Wien (Zweite
Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien
Dirigent: Hans Richter)
Dauer
Fassung; Wiener Philharmoniker,
22
tantin Fürsten zu Hohenlohe-Schil-
ca. 65 Minuten
Wien arbeitete Bruckner noch einiges um. Dass dann 1889 eine Fassung in
Druck ging, die neben «autorisierten» Retuschen seines Schülers Ferdinand
Löwe auch Eingriffe von fremder Hand aufwies, hat die Situation nicht vereinfacht. Erst in den 1930er Jahren wurde Bruckners überarbeitete Fassung von
1880 im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe seiner Werke durch Robert
Haas von fremden Zusätzen weitgehend befreit. In dieser Version hat sich die
«Romantische» im Konzertsaal etabliert. Erst seit einigen Jahren hört man
gelegentlich auch die 1975 veröffentlichte Urfassung des Werkes.
Der Beiname «Romantische» hat häufig zu Irritationen geführt. Man
glaubte, Bruckner habe damit den programmmusikalischen Charakter des
Werkes zum Ausdruck bringen wollen. Doch welches Programm liegt der Sinfo-
nie zugrunde? «Mittelalterliche Stadt – Morgendämmerung – vor den Stadttür-
men ertönen Weckrufe – die Tore öffnen sich – auf stolzen Rossen sprengen die
Ritter hinaus ins Freie – Waldesrauschen»: So hat Bruckner selbst das Werk
seinem ersten Biografen August Göllerich gegenüber erläutert. Allerdings:
Allzu wörtlich sollte man diese Ausführungen nicht nehmen. Zu wenig findet
23
man sie in der Partitur verankert. Es scheint vielmehr, als ob Bruckner nach
den Misserfolgen der früheren Sinfonien hiermit lediglich versuchte, einen
leichteren Zugang zu seiner Musik zu ermöglichen. Als er einmal nach dem
programmatischen Hintergrund des Finalsatzes gefragt wurde, antwortete
er schlicht: «Ja, da woaß i selber nimmer, was i mir dabei denkt hab’.»
Aber auch ohne Programm ist diese Musik ungeheuer faszinierend. Der
Kopfsatz hebt mit dem beschriebenen Hornmotiv an, das der Sinfonie quasi als
«Motto» vorangestellt ist. Aus dieser Keimzelle entwickelt sich schon bald ein
weiteres Motiv, das im strahlenden Tutti auf- und absteigt. Auffallend ist hier
der Rhythmus von zwei Vierteln und einer Vierteltriole, der sogenannte
«Bruckner-Rhythmus». Als Gegenthema stimmen die Bratschen eine lyrische
Melodie an, die von «hüpfenden» Vogelimitationen der Streicher begleitet
wird. Eine kurze Fanfare der Blechbläser führt die Exposition auf einen letzten
Höhepunkt, bevor sich in zarten Pianissimo-Passagen die Durchführung ankündigt. Hier stehen vor allem Hornruf und «Bruckner-Rhythmus» im Vorder-
grund; auf dem Höhepunkt erstrahlt ein feierlicher Blechbläserchoral. In der
Reprise wird das Hornmotiv von einer Flöte umrankt, die Coda schließlich steigert es ins Monumentale.
An zweiter Stelle steht ein Trauermarsch, der möglicherweise Rückschlüsse
auf die schwierigen Entstehungsumstände zulässt. Zwei verschiedene Themen
liegen diesem «Andante quasi Allegretto» zugrunde: Zu Beginn stimmen die
Celli über einer pulsierenden Begleitung das Trauermarschthema an, das mit
seiner fallenden und wieder steigenden Quinte vom Hornmotiv des Kopfsatzes
abgeleitet ist. Ein choralartiger Streichergesang leitet zum zweiten Gedanken
über, einer – im Sinne Wagners – «unendlichen Melodie», die von Pizzicati der
übrigen Streicher gestützt wird. Im weiteren Verlauf des Satzes sind die The-
men einer ständigen «Metamorphose» unterworfen; das Trauermarschthema
klingt gegen Ende, nach Dur gewandelt, im rauschhaften Orchestertutti auf.
Die deutlichsten Assoziationen lässt das nachkomponierte «Jagdscherzo»
zu: Wieder ein Tremolo der Streicher, darüber allmählich näher rückendes Hörnergeschmetter, ein dahinbrausendes «Halali», dem man sich nicht entziehen
kann! Zwischen den energischen Hauptteilen bildet das folkloristische Trio, mit
seinen Leierkasten-Anklängen, einen idyllischen Ruhepunkt. Bruckner selber
sprach von einem Satz, der «die Jagd vorstellt, während das Trio eine Tanzweise
bildet, welche den Jägern während der Mahlzeit aufgespielt wird» …
Schwer tat sich Bruckner mit dem Finale, gleich zweimal hat er diesen Satz
überarbeitet. Dabei verfolgte er die Absicht, dem ganzen Werk eine zyklische
Abrundung zu geben: Der Satz beginnt mit einer geheimnisvollen Einleitung, die
24
Anton Bruckner
Fotografie von Othmar von Türk, Wien um 1880
25
pochenden Bassrepetitionen verheißen nichts Gutes. In der permanenten Stei­
gerung blitzen noch einmal die Halali-Rufe aus dem Scherzo auf, bis auf dem
Höhepunkt das neue Hauptthema einsetzt: ein mächtiger Oktavsprung abwärts,
fortgeführt durch «brucknerartige» Zweier- und Dreierbildungen. Doch auch
damit scheint das Ziel nicht erreicht: Erst in der triumphalen Wiederkehr des
Hornmotivs aus dem ersten Satz kann sich die Spannung entladen. Das Seiten-
thema in Streichern und Holzbläsern bringt die nötige Beruhigung, die Schluss-
Gastkonzerte
in Deutschland und Abu Dhabi
2. – 6. 12.09
gruppe fährt schließlich mit Bläserentladungen dazwischen. In der Durchführung
erscheinen die Themen in ihrer Umkehrung, das Seitenmotiv steigert sich zwi-
schen Blech und Streichern zum grandiosen Choral. Der dramatisch gesteigerte
D i r i g e n t u n d K l av i e r
6 . D e z e mb er 2 0 0 9
Oktavsprung leitet in die Reprise über und prägt auch die spätere Coda, auf de-
Christoph Eschenbach
zitiert wird: zyklische Erfüllung und Schlussapotheose gehen hier Hand in Hand.
2 . D e ze mb er 2 0 0 9
Ansätzen in der Dritten) auch in seinen späteren Sinfonien wieder aufgreifen
Konzerthaus
Dirigent
Vierten (in ihrer Zweiten Fassung) am 20. Februar 1881 mit den Wiener Philhar-
3. D e ze mb er 2 0 0 9
Sprecher
en Erfolg als Sinfoniker. «Bruckner ist der Schubert unserer Zeit», hieß es da-
Festspielhaus
Emirates Palace
ren Höhepunkt noch einmal das «romantische» Hauptthema des Kopfsatzes
Ein «starkes», ein «kraftvolles» Ende, dessen formale Idee Bruckner (nach
sollte. Schließlich hatte sich die Konzeption bewährt: Die Uraufführung der
monikern unter Hans Richter bescherte dem Komponisten seinen ersten groß-
nach in einer viel zitierten Kritik aus dem «Vaterland». «Es ist ein solcher Strom
Dortmund
Baden-Baden
von Empfindungen in seinem Werke, und eine Idee drängt so die andere, daß
5 . D e ze mb er 2 0 0 9
blieb dem Werk treu: Bis heute ist die «Romantische» neben der Siebten
Emirates Palace
man den Reichtum seines Geistes wahrhaft bewundern muß …» Der Erfolg
Bruckners populärste Sinfonie geblieben. To b i a s N i e d e r s c h l a g
Am 15. November 1895 musizierte die damalige Hofkapelle unter Adolf
Hagen in der Semperoper die Dresdner Erstaufführung von Bruckners
«Romantischer» Sinfonie. Der Rezensent der Dresdner Neuesten Nachrichten reagierte mit Unverständnis: «… Dabei kann es der Komponist
Abu Dhabi
Abu Dhabi
Programm:
Wolfgang Amadeus Mozart
Klavierkonzert A-Dur KV 414
Familien-Konzert
Christoph Eschenbach
Ben Kingsley
Programm:
Wolfgang Amadeus Mozart
Ouvertüre zu «Le nozze di Figaro»
Leopold Mozart
«Kindersinfonie»
Sergej Prokofjew
«Peter und der Wolf» op. 67
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur «Romantische»
nicht unterlassen, jeden Augenblick zu den stärksten Orchestermitteln
zu greifen. Kaum hat er uns in poetische Stimmung gesetzt, so packt
er auch schon Hörner, Trompeten, Posaunen und Pauken zu förmlichen
Accordbündeln zusammen, um damit ein Blitzfunkeln und Donnerkrachen herauszuschlagen, daß einem Hören und Sehen vergeht …»
26
27
5. Sinfoniekonzert
Orchesterbesetzung
1. Violinen
Roland Straumer
Bratschen
1. Konzertmeister
Michael Eckoldt
Flöten
Gerd Grötzschel*
Andreas Schreiber
Thomas Meining
Stephan Pätzold
Michael Frenzel
Jürgen Knauer
Volker Dietzsch
Johanna Mittag
Barbara Meining
Birgit Jahn
Henrik Woll
Zsuzsanna Schmidt-Antal
Andreas Lorenz
Sebastian Bell***
Volker Hanemann
Isang Enders
Franz Schubert
Frank van Nooy
Claudia Briesenick
Violoncelli
Sae Shimabara
Daniel Tomann*
Céline Moinet Solo
Matthias Neubert*
Anselm Telle
Jürgen Umbreit
Ralf Dietze
Eckbert Reuter*
Roland Knauth
Uwe Voigt Solo
Bernhard Kury
Oboen
Juliane Böcking
Annika Thiel
Rozália Szabó
Posaunen
Solo
Michael Schöne
Susanne Neuhaus
Anja Krauß
Konzertmeister
Klarinetten
Wolfram Große
Jan Seifert
Jürgen May
Daniel Raabe*
Andreas Börtitz
Annette Thiem
Stephan Drechsel
Jens Metzner
Ulrike Scobel
Olaf-Torsten Spies
Beate Prasse
Elisabeta Florea
Uwe Kroggel
Bernward Gruner
Anke Heyn
Manfred Riedl
Andreas Wylezol
Solo
Martin Knauer
Kay Mitzscherling
Christoph Bechstein
Martin Fraustadt
Johanna Fuchs
Harald Heim
David Harloff*
Kontrabässe
Trompeten
Tobias Willner Solo
Bernd Haubold*
Peter Lohse
Fred Weiche
Gerd Graner
Johannes Nalepa
Konrad Fichtner
Annett Will**
Dirk Reinhold
Stefan Seidl
Harfe
Solo
Klaus Gayer
David Hausdorf*
Frank Behsing
Alexey Brösel*
Hörner
Robert Langbein
Emanuel Held
Holger Grohs
Hannes Schirlitz
Johann-Christoph Schulze
Jakob Andert
Schlagzeug
Fagotte
2. Violinen
Heinz-Dieter Richter
Pauken
Christian Langer
Thomas Eberhardt Solo
Konzertmeister
Jens-Peter Erbe Solo
Christian Dollfuß
Simon Kalbhenn
Tom Höhnerbach
Tuba
Thomas Käppler Solo
Solo
Renate Hecker
Frank Other
28
Solo
Siegfried Schneider
Astrid von Brück Solo
Celesta
Clemens Posselt
Cembalo
Michael Lüdicke
Klavier
Johannes Wulff-Woesten
* als Gast ** als Akademist *** als Praktikant
29
Vorschau
6. Sinfoniekonzert
20.12.09 1 1 U h r
21.12.09 2 0 U h r
D i en s tag 22.12.09 2 0 U h r
S o n n tag
M o n tag
S e m p er o p er
David Aaron
Carpenter
Johannes Brahms
Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83
Peter Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 1 g-Moll op. 13
«Winterträume»
“Ein neuer Stern
am Bratschen-Himmel”
Dirigent
Die Welt
Vladimir Jurowski
K l av i e r
Arcadi Volodos
Debütalbum
Kostenlose Einführungen jeweils
45 Minuten vor Beginn im
Kellerrestaurant der Semperoper
Elgar & Schnittke
Impressum
Viola Concertos
Bilder
Sächsische Staatsoper Dresden
Intendant Prof. Gerd Uecker
Generalmusikdirektor Fabio Luisi
Spielzeit 2009|2010
Herausgegeben von der Intendanz
© November 2009
Redak tion
Tobias Niederschlag
Christoph Eschenbach: Eric Brissaud; Alfred Schnittke (S. 9): Mara Eggert; Schnittke (S. 11): co broerse /
f. concréte; übrige Abbildungen zu Schnittke: Musikverlage Hans Sikorski, Hamburg; David Aaron Carpenter: Akos Simon; Anton Bruckner: Nationalarchiv der
Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth
Philharmonia Orchestra
Christoph Eschenbach
Texte
Gerard McBurney schrieb seinen Text über Schnittkes
Bratschenkonzert für das Beiheft der CD-Aufnahme
des Werkes mit Yuri Baschmet aus dem Jahr 1990
(BMG Music). Die übrigen Texte sind Originalbeiträge für die Programmhefte der Sächsischen Staats­
kapelle Dresden.
G e s ta lt u n g u n d L ay o u t
Scans
Janine Schütz
Druck
Union Druckerei Dresden GmbH
Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden
konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
ODE 1153-2
schech.net | www.schech.net
Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.
“Es ist viele Jahre her, dass ich ein solch
phänomenales Talent gehört habe.”
Anzeigenvertrieb
Keck & Krellmann Werbeagentur GmbH
i.A. der Moderne Zeiten Medien GmbH
Telefon: 0351/25 00 670
e-Mail: [email protected]
www.kulturwerbung-dresden.de
Christoph Eschenbach
w w w . s ta at s k a p e l l e - d r e s d e n . d e
www.ondine.net
30
David Aaron Carpenter signiert
in der Pause im Unteren Rundfoyer