Vera Lutter bei Max Hetzler, Berlin

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Vera Lutter bei Max Hetzler, Berlin
Vera Lutter bei Max Hetzler, Berlin - artnet Magazin
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VERA LUTTER BEI MAX HETZLER, BERLIN
HINTER DEN SPIEGELN UNSERES
BILDERGLAUBENS
ERIC AICHINGER
Vera Lutter
Ca del Duca Sforza, Venice I: January
8, 2008, 2008
s/w-Silbergelatineabzug, Unikat
3 Tafeln, je ca. 250 x 141 cm
(gerahmt je ca. 252 x 144 cm)
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
Vera Lutter
Campo San Moisé, Venice, VI: March
3, 2006, 2006
s/w-Silbergelatineabzug, Unikat
Ca. 142 x 224 cm (gerahmt ca. 143 x
226 cm)
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
Vera Lutter
Campo Santa Sofia, Venice, XXIX:
December 21, 2007, 2007
s/w-Silbergelatineabzug, Unikat
2 Tafeln, je ca. 243 x 140 cm
(gerahmt je ca. 246,5 x 143,5 cm)
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
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11. September 2008
Vera Lutter in der Galerie Max Hetzler, Berlin. Vom 5. September
bis 18. Oktober 2008
Venezia! La Serenissima – Die Allerdurchlauchtigste! Gibt es eine
Stadt mit mehr Wohlklang? Mit ebenso überbordender Schönheit?
Eine Stadt, die mehr besucht, bewundert und besungen, von
Verliebten heißer ersehnt wäre und elegischer im Sterben läge, als
das auf Abermillionen in den brackigen Untergrund gerammten
Pfählen schwebende Venedig in seiner es aufzehrenden Lagune?
So einzigartig Venedig ist, so klischiert sind seine Veduten. Mit
„wohlvorbereiteten, vorweg bezauberten Augen“ und durch seine
„eigenen Träume“ – meinte Guy de Maupassant 1885 in seinen
Irrfahrten – betrachte jeder Besucher Venedig unweigerlich. Kaum
besser geht es heute zu, da sich jeder kamerabewehrte Tourist
beim Anblick der fotogen-morbiden Schönheit als digitaler
Canaletto wähnt.
Vera Lutters Fotografien eines saisonal überfluteten Venedigs
sind nicht nur grundverschieden vom Urlaubsschnappschuss – das
macht schon das Überformat der sieben Schwarzweiß-Arbeiten
deutlich, die die Wände der Berliner Galerie Max Hetzler füllen.
Sie sublimieren die venezianischen Träume und wohl vorbereiteten
Stereotypien mit höchstem Raffinement, denn Venedig dient in
diesem stringenten ästhetischen Programm nicht nur als
motivischer Hintergrund. Lutter macht den atmosphärisch
aufgeladenen Stadtraum zum Untersuchungsgegenstand unserer
Wahrnehmungserwartungen gegenüber der Fotografie schlechthin
– und verkehrt ihn ins Unheimliche. Dabei bedient sich die 1960 in
Kaiserslautern geborene Künstlerin der Urform des fotografischen
Apparats, der Camera obscura.
Nach der fotografischen Durchmessung von Innenräumen und
Orten des Transport- und Industriewesens hat Lutter auch für
dieses Langzeitprojekt eigens wieder eine begehbare Lochkamera
konstruiert, die ganz dem antiken Prototypen entspricht: einen von
allen Seiten geschlossenen Raum, in den an einer Seite ein kleines
Loch gebohrt ist, wodurch das einfallende Licht gebündelt ein
kopfstehendes und seitenverkehrtes Bild auf die
gegenüberliegende, von der Künstlerin mit fotosensiblem
Silbergelatine-Papier bespannte Wand wirft. Das Format der Bilder
entspricht damit genau der Größe der „dunklen Kammer“, in der
sich Lutter während der langen Belichtungszeit von einer Stunde
bis hin zu mehreren Tagen und Wochen aufhält, um den
Entstehungsprozess etwa durch gelegentliches Abdunkeln zu
kontrollieren. Auf jeglichen Eingriff beim späteren Entwickeln und
Fixieren des Papiers verzichtet sie; jedes nuancenreiche, unikate
Bild ist ein direkter Lichtabdruck des fokussierten Objekts
außerhalb.
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Vera Lutter
San Marco, Venice, XXXVII: December
14, 2005, 2005
s/w-Silbergelatineabzug, Unikat
Ca. 141 x 234 cm (gerahmt ca. 143 x
236 cm)
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
Vera Lutter
Campo Santa Sofia, Venice, XVI:
December 12, 2007, 2007
s/w-Silbergelatineabzug, Unikat
Ca. 167 x 140 cm (gerahmt ca. 170 x
143,5 cm)
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
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So entstehen Begegnungen mit Venedig, die Halbschlafbildern
ähneln; in denen die Welt wie auf einem Negativ in Umkehrung
von Licht und Schatten zwischen gleißender Helligkeit und tiefster
Schwärze, luzider Klarheit und obskurer Ungewissheit in einem
ruhigen, stillen Schwebezustand verharrt. Es ist, als seien Raum
und Zeit voneinander durchtränkt, als könne man die vergangene
Zeit – die lange Dauer der Belichtung – im Bildraum förmlich mit
Händen greifen. Das beschwört eine Spannung herauf, die durch
nichts im Bild aufgehoben wird. Dessen Raum wird von einer
substanzlosen Leere dominiert, die dem Betrachter entgegen
seiner Blickrichtung gleichsam entgegenstarrt. Dabei geht es nicht
um einen Effekt der Bildwirkung, sondern um den Kern eines
ganzen ästhetischen Programms.
Das Unbehagen, das den Betrachter gegenüber Lutters Bildern
beschleicht, entspringt dem Eindruck, selbst in Raum und Zeit
aufgehängt zu sein, und hat seine Ursache in einem genau
kalkulierten Kontrollverlust. Die Camera obscura nämlich steht am
Anfang einer technischen Entwicklung der Fotografie, deren
Konfiguration auch heute noch immer dem Weltbild des 16.
Jahrhunderts entspricht: Noch immer und schwer belehrbar folgen
wir seither der Annahme, dass die Fotografie eine unmittelbare
Erfahrung ersetze. Tiefer als wir denken, sind wir von diesem
Glauben an die Erfahrbarkeit eines Ausschnitts der gottgegebenen
Wirklichkeit geprägt, die uns demnach deshalb verfügbar wäre,
weil wir sie uns – dem Apparat gleich – direkt und unmittelbar,
ohne äußere Beteiligung einprägen wie die fotografische Platte. Wir
fühlen uns gewissermaßen mit der Kamera verwandt. Es ist dieser
erkenntnistheoretische Fehlschluss, der dem
Authentizitätsversprechen der Fotografie zugrunde liegt.
Hier setzt Lutter an. Einerseits stellt sie die Abbildfunktion der
Fotografie in Frage, indem sie die Welt durch die Umkehrung der
Grautonwerte entfremdet darstellt. Darüber hinaus – und das
macht sowohl den einzigartigen Reiz wie auch die Pointe ihrer
Bilder aus – entkoppelt sie die Rolle des Betrachters von dessen
vermeintlich entkörperlichter, objektiver Position, indem sie ihn
selbst ins Bild hineinhebt, weil sie seinen Standpunkt mit dem
Bildraum vergleichbar macht. Da die Zeit hier nicht – wie in der
Fotografie üblich – als spontaner Augenblick erscheint, sondern
sich als unsichtbarer Schleier über den Bildraum legt, werden die
architektonischen Elemente, mittels derer der Betrachter die
abgebildeten Raumstrukturen im Geiste rekonstruiert, so
fragwürdig, wie es seine eigene Rolle schon immer war.
Vera Lutter
Corte Barozzi, Venice, XXXI:
December 10, 2005, 2005
s/w-Silbergelatineabzug, Unikat
Ca. 169 x 106 cm (gerahmt ca. 171 x
108 cm)
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
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In einer von Bildern überfluteten Welt die Rolle des Betrachters
zum Bildgegenstand zu machen, ist kein neuer Ansatz. Genauso
wenig wie die Strategie, die Realität derart entfremdet im Foto
darzustellen, dass die Sollbruchstellen seiner Abbildfunktion offen
zu Tage liegen. So verschiedene Künstler wie Jeff Wall, Richard
Prince oder Cindy Sherman markieren das Feld, auf dem Vera
Lutter eine ganz und gar eigene Spur angelegt hat. Trotz oder
gerade vermöge der elementaren optischen Technik, die Lutter
anwendet, gelingt es ihr, die komplexen Bedingungen von
Fotografien als kulturelle Repräsentationen und die
bedeutungsstiftende Beziehung zwischen Bild und Betrachter zu
thematisieren. Ihre Kunst besteht darin, das Medium Fotografie in
seiner apparativen Urform zu nützen, sein
Wirklichkeitsversprechen als uneinlösbar bloßzustellen und in den
Blick zu heben, was Fotos eigentlich sind: ruhige und stille Folien,
die nur bedingt zur (Re-)Konstruktion von Wirklichkeit taugen. Wie
das bei allen Bildern der Fall ist. Im Übrigen – das ist der
fotografische Taschenspielertrick – bekommt man bei Lutter auch
etwas von Venedig zu sehen.
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Vera Lutter bei Max Hetzler, Berlin - artnet Magazin
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Die Unikate, Silbergelatine-Prints auf archivfesten Karton kaschiert
und hinter Plexiglas gerahmt, kosten zwischen 55.000 und 85.000
US-Dollar.
artnet Questionnaire Where is Vera Lutter?
9 Antworten & 9 Bilder
Vera Lutter
Installationsansicht in der Galerie Max
Hetzler, Berlin, 2008
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
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Vera Lutter
Installationsansicht in der Galerie Max
Hetzler, Berlin, 2008
Courtesy of Galerie Max Hetzler, Berlin
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