inhaltsverzeichnis

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inhaltsverzeichnis
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS
Dank und Widmung
Seite 3
Vorwort
Seite 4
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
Seite 5
Vorwort
Seite 5
Definition „Chaos“
Seite 6
Grundlagen
Seite 7
Philosophische Kurzbetrachtung
Seite 10
Die Mystik um das Chaos
Seite 11
Die Entdeckung des Chaos
Seite 11
Hypothese des Grauens
Seite 13
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
Seite 14
Die geschichtliche Entwicklung der Chaostheorie
Seite 14
Die zwei Giganten
Seite 17
Der Reduktionismus
Seite 20
Der Fall des Reduktionismus
Seite 21
Résumé
Seite 23
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Seite 24
Was ist die KAM-Theorie?
Seite 24
Unser Sonnensystem und dessen Tücken
Seite 24
Jupiter und Saturn – Die Grenzen der Stabilität
Seite 25
Der quasiperiodische Bewegungsablauf
Seite 27
Das Dreikörpermodell von Poincaré
Seite 28
Die homokline Verflechtung
Seite 30
Poincarés Berechnungen
Seite 31
Das KAM-Theorem
Seite 32
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin –
Das Herzkammerflimmern
Chaos in der Medizin
Seite 1
Seite 35
Seite 35
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Inhaltsverzeichnis
Der physikalische und medizinische Chaosbegriff – Ein Vergleich
Seite 35
Das Kammerflimmern – Eine Einführung
Seite 36
Ein möglicher Auslöser
Seite 37
Kleine Herzkunde
Seite 38
Das Kammerflimmern – Ursachenforschung
Seite 39
Die Auswirkung der Singularität
Seite 44
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie – Videofeedback
Eine Einführung
Seite 46
Das Videofeedback – Eine Kurzbeschreibung
Seite 47
Die Tücken des Experiments
Seite 47
Das Experiment – Aufbau
Seite 49
Verwendete Materialien bzw. Geräte
Seite 50
Vorbereitung
Seite 50
Erste Erscheinungen
Seite 50
Zoom und Neigung der Kamera
Seite 51
Rotierende Spirale
Seite 52
Ruhendes Spiralenfraktal
Seite 53
Wirbel-, Schnecken- oder Sternfraktal
Seite 53
Der Einfluss einer zusätzlichen Lichtquelle
Seite 54
Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
Seite 55
Eine Einführung
Seite 55
Eine Kurzbeschreibung
Seite 56
Aufbau
Seite 56
Verwendete Materialien
Seite 57
Positionierung der verwendeten Materialien
Seite 59
Die einzelnen Versuchsdurchgänge und Ergebnisse
Seite 59
1. Versuchsreihe: Regelmäßiges Tropfen
Seite 60
2. Versuchsreihe: Leicht fließendes Wasser
Seite 62
3. Versuchsreihe: Chaotisches Tropfen
Seite 63
4. Hypothesen
Seite 65
Bibliographie
Seite 2
Seite 46
Seite 67
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Dank und Widmung
Widmung:
Meinen Eltern, die mich während meiner gesamten Schullaufbahn immer unterstützen und
mir halfen mein persönliches Chaos in Grenzen zu halten.
Meinen Geschwistern, weil auch sie für die Ordnung in meinem Leben verantwortlich sind.
Besonderer Dank ergeht an:
Mag. Georg Lindner, Betreuungsprofessor
Karin Rieder-Schrattenecker, meine Mutter, ohne deren Hilfe mir viele Ergebnisse meiner
Experimente verborgen geblieben wären
Dipl.-Ing. Mag. arch. Maximilian Rieder, mein Vater, der mir half Klarheit über das Thema
meiner Arbeit zu finden
Frieda und Willhelm Rieder, meine Großeltern, die mir großzügig Raum für meine
Experimente zu Verfügung stellten und mich auch tatkräftig unterstützten
Prim. Univ. Doz. Dr. Christian Datz, der mir den medizinischen Aspekt der Chaostheorie
erklärte
Ao.Univ.-Prof. Dr. Gernot Pottlacher, Institut für Experimentalphysik an der TU Graz
UA Dr. Ronald Meisels, Institut für Physik an der Montanuniversität Leoben
Prof. Mag. Dr. Karl Lahmer, der mich bei der Erklärung und Herleitung von Fremdwörtern
aus dem Altgriechischen und Lateinischen unterstützte
Seite 3
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Vorwort
Grödig, am 19. Februar 2005
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser!
Ich freue mich, dass Sie Interesse an meiner Fachbereichsarbeit mit dem Titel „Die
Chaostheorie – Chaos in unserer Alltagswelt“ gefunden haben. Ich hoffe die im Inhalt dieser
Arbeit formulierten Informationen und Erkenntnisse, die ich mir durch intensive
Beschäftigung mit diesem Thema aneignen konnte, entsprechen ihren Erwartungen und
unterstützen Sie bei weiteren, zukünftigen Nachforschungen oder Lektüren zur Chaostheorie.
Ich habe mich einerseits bemüht einen ansprechenden Ausdruck zu verwenden, der zum
allgemeinen Verständnis sowie zum schlichten Spaß am Studieren dieser Fachbereichsarbeit
beitragen soll. Andererseits ist es natürlich in meinem Interesse und auch im Interesse der
Wissenschaft eine sachliche und neutrale Form der Formulierung zu erreichen, wie sie auch
als Kriterium für eine Fachbereichsarbeit gilt.
Zum eigentlichen Thema „Chaostheorie“ kam ich paradoxerweise über die zu dieser
physikalischen Sicht der Welt gegensätzlichste Wissenschaftsrichtung, die man sich
vorstellen kann. Kurze gelesene Abschnitte des Werkes „Die Kunst vernetzt zu denken –
Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität“1 von Frederic Vester, einem
bemerkenswerten Wissenschaftler, Philosophen und Systemtheoretiker, führten mich von der
Seite der Vernetzung und des Rationalismus auf den dazu oppositionellen Weg der
Wissenschaftsmethodik, zur Chaostheorie.
Diese Arbeit soll einen Überblick zu dieser Theorie geben und durch die ausgewählten,
behandelten Bereiche auf die Präsenz und Brisanz des Chaos in unserem Alltag aufmerksam
machen.
Hiermit erkläre ich, dass die Fachbereichsarbeit „Die Chaostheorie – Chaos in unserer
Alltagswelt“ von mir, Kilian Rieder, eigenständig und nur unter Zuhilfenahme erlaubter
Quellen und Materialien erarbeitet und ausformuliert wurde.
1
erschienen im DTV-Verlag, München 2002
Seite 4
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
„Diese Dinge sind so bizarr, dass ich es nicht länger ertrage länger über sie nachzudenken.“
- Jules Henri Poincaré (1854 – 1912), Mathematiker und Vorreiter der Chaosphysik
Vorwort
Wir leben in einer Zeit in der wir auf die sich immer weiter entwickelnde Forschung in
Geistes- und Naturwissenschaft angewiesen sind. Die Menschheit in ihren grundlegendsten
Bausteinen beruht daher heutzutage auf dem wissenschaftlichen Fortschritt.
Dies äußert sich zum Beispiel an einer sich ständig drehenden Wirtschaftsspirale, die immer
steiler nach oben geht. Ein Negativwachstum ist für ein Land und seine Bewohner nicht mehr
ausgleichbar. Andere Bereiche der Wissenschaft wie die Medizin setzen ihre Hoffnung auf
die immer besser ausgefeilten, technischen Geräte. Um das Ausmaß dieser umgreifenden
Denkweise einzuschätzen, müssen wir uns vor Augen führen, dass diese zwei erwähnten
Beispiele nur ein winziger Teil unserer Umwelt sind.
Gedanklich fortgesetzt führt dies zu folgendem Resumé:
Wir fordern unentwegt neue Erfindungen und Entdeckungen um unser Leben noch risikoloser
(unter anderem sei dies bezogen auf unerforschte Krankheiten, Börsencrashs oder
Flugzeugabstürze) verbringen zu können. Doch nicht nur aus rein philosophisch-logischen
Gründen müssen wir akzeptieren, dass unendlicher Fortschritt unmöglich ist. Unser
Heimatplanet verfügt auch nicht über unendliche Ressourcen.
Wissenschaftliche Limeserscheinungen1 sind nur Wenigen bekannt, zumal die Welt, wie sie
von der Menschheit gesehen wird, unter Berücksichtigung der üblichen Naturgesetze auch
funktioniert. Daher hält sich das Interesse an diesen Phänomenen in Grenzen, obwohl die
Chaostheorie in den verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen2 immer mehr an
Bedeutung gewinnt.
Im Alltagsleben haben so beschaffene Erscheinungen oft keinen Stellenwert, teils weil sie für
den Menschen, der von Natur aus als „Neugierwesen“3 gilt, schwer zu begreifen aber
unüberwindbar sind, teils weil sie einfach nicht oft genug in Erscheinung treten.
Diese Fachbereichsarbeit beschäftigt sich mit einer jener wissenschaftlichen
Erkenntnisgrenzen, die speziell in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung und Akzeptanz sehr
gewonnen hat, sie wird als Chaostheorie bezeichnet.
1
eig.: mathematische Grenzwerte; hier für: Erkenntnisgrenze
z.B.: Astronomie, Medizin; siehe Kapitel III. und IV.
3
vgl.: Konrad LORENZ, Die Rückseite des Spiegels, München: Piper 1975; ARISTOTELES, Metaphysik
2
Seite 5
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
Definition „Chaos“
Im Laufe dieser Arbeit wird das „Chaos“ der bedeutendste Begriff sein, daher muss abgeklärt
werden welche semantische Signifikanz das Wort an sich besitzt, weiters muss klar zwischen
wissenschaftlicher und alltäglicher Verwendung des „Chaosbegriffes“ differenziert werden.
Die griechisch-lateinischen Wurzeln des Nomen „Chaos“ ermöglichen eine kurze und
prägnante Übersetzung (τό χάος und chaos = weiter, leerer, unermesslicher Raum; gestaltlose
Urmasse), die aber für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung weitaus nicht umfassend
genug ist.
Auch Definitionen wie sie im Fremdwörterbuch zu finden sind, stellen sich als ungenügend
heraus, wenn darin „Chaos“ als „totale Verwirrung, völliges Durcheinander4 sowie die
Auflösung aller Ordnungen5“ erklärt wird.
Es liegt nunmehr in unseren Händen „Chaos“ zu definieren, denn wie so mancher nicht weiß
ist Chaos nicht gleich Chaos. Eine kurze Aussage, die die Schwierigkeit der Erklärung und
Definition auf einen Punkt bringt.
Wenn wir unser Alltagsleben als Bezugsystem für diese komplexe Darstellung des Wortes
annehmen, so stoßen wir ohne Zweifel auf die Bedeutungen Durcheinander, Verwirrung und
Zufall. Wir verwenden den Begriff Chaos um etwas in unsere Alltagssprache zu beschreiben,
das die Wissenschaft als „stochastisches Chaos“ kennt. Stochastik6 ist der Ausdruck für den
reinen Zufall wie wir ihn, wenn wir etwas als chaotisch beschreiben, meinen. Das Wort drückt
völlig Überraschendes, Unerwartetes und Unberechenbares aus. Das zufällige
Aufeinandertreffen zweier Freunde in einer Großstadt fernab von der Heimat wäre ein
klassisches Beispiel für stochastisches Chaos.
In der Wissenschaft, vor allem im Bereich der Physik ist der Begriff Chaos auf andere Weise
definiert. Sobald Chaosforschung und Chaostheorie im Mittelpunkt der Konfrontation stehen,
spricht man von „deterministischem Chaos“7. Ein Begriff, der aufgrund seiner scheinbar
paradoxen Bedeutung, als nicht logisch erscheint.
Das „deterministische Chaos“ soll auf die wissenschaftliche Tatsache des bestimmten Weges
ins Chaos, aber auch auf die völlige Unberechenbarkeit des einmal entstandenen Chaos
hinweisen. Konkret kann man also bestimmen wann ein System den unvorhersagbaren
Zustand eintaucht, auf welchen Gesetzen dieses Chaos jedoch basiert ist nicht zu erklären.
4
vgl.: DUDEN, Das Fremdwörterbuch, Zürich: Dudenverlag 1990, Band 5, Seite 138
dtv-Lexikon, München: DTV-Verlag 1980, Band 3 (Buci-Deus), Seite 101
6
vgl.: DUDEN, Das Fremdwörterbuch, Zürich: Dudenverlag 1990, Band 5, Seite 744
7
Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 72
5
Seite 6
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
Zur Veranschaulichung kann als Beispiel ein tropfender Wasserhahn8 herangezogen werden.
Bei richtiger Einstellung des Ventils tropft das Wasser chaotisch herab, die Bedingungen für
eine zeitliche Bestimmung des Eintritts der Unvorhersagbarkeit sind also bekannt.
Andererseits gibt es keine befriedigende Erklärung warum genau die gewählte Ventilöffnung
zum Chaos führt.
Grundlagen
Wer den Beginn der physikalischen Wissenschaft sucht, müsste sich, je nach subjektiver
Definition, mehr oder weniger weit zurück in die Vergangenheit begeben. Um den Begriff
jedoch einzugrenzen wird sich dieser Text, sofern ein Anfangspunkt der klassischen Physik
erwähnt wird, auf das Leben und Wirken des Leonardo da Vinci beziehen, für den als
Einzelnen zum ersten Mal die Bezeichnung Physiker zutrifft.
Die Wissenschaft der Physik gipfelt in ihrer immer abstrakter und unvorstellbar werdenden
Methodik in den, bis zum heutigen Tag drei großen physikalischen Revolutionen unserer Zeit,
drei Theorien, die das Gerüst der klassischen Physik ins Wanken brachten: Albert Einstein’s
Relativitätstheorie, die unser Verständnis von Raum und Zeit auf den Kopf stellt, die
Heisenberg’sche Unschärferelation, die die Unmöglichkeit einer exakten Bestimmung
beziehungsweise Datenerfassung von Vorgängen im Mikrokosmos beschreibt, und schließlich
die unglaublichste von allen, die Chaostheorie, die die dritte und bisher letzte „Kränkung der
klassischen Physik“9 darstellt.
Während alle übrigen physikalischen Theorien auf Verifikation ihrer Hypothesen beruhen,
tritt die Chaosforschung diesen entgegen, indem sie versuchte die eigenen Grundsätze durch
Widerlegung, also durch Falsifikation, der Gesamtheit der anderen Vermutungen zu
beweisen. Was als verachtetes Hirngespinst begann führte zu einer Wende im
wissenschaftlich-theoretischen Sinne und besitzt durchaus die Macht unser momentanes,
immer noch klassisches Weltbild zu sprengen.
Seit jeher dient die Physik als Wissenschaft der Vorhersage10, als Mittel zur Prognose, das der
Menschheit hilft neue technische Fortschritte zu wagen und natürliche Zukunftsangst
bewältigen zu können. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Theorien in der Physik ist die
wesentlichste aller Erkenntnisse die Annahme der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit der Welt.
8
vgl.: Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
vgl.: Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 8 ff.
10
vgl.: Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag 1992, Seite 23
9
Seite 7
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
Zunächst nur im Mikrokosmos von Bedeutung, lässt sich die Chaostheorie auf die
elementarsten Bestandteile unserer Existenz anwenden.
Die Frage der Zukunftsprognose wird somit bereits als erste, bahnbrechende Hypothese
ausgeschlossen.
Die Ziele der Chaosforscher fokusieren sich vielmehr auf das Phänomen Chaos selbst, als
dass bereits von Beginn an die gewonnenen Erkenntnisse auf die existierenden Grundgrößen
der Physik angewendet werden.
Diese moderne Physik beschäftigt sich daher primär mit den ausschlaggebenden Bedingungen
für ein Ausbrechen des Chaos11 und forscht gleichzeitig um einen Weg aus dem Chaos zurück
zur Ordnung zu finden beziehungsweise auch die Ordnung zu stabilisieren12.
Diesen Grundproblemen dient allgemein die Annahme von drei Grundzuständen13 eines jeden
Systems:
1. Zustand der Stabilität, auch „Normalzustand“: Wenn sich ein System in diesem
Zustand befindet kann es nach den Gesetzen der klassischen Physik komplikationslos
auf Einflüsse anderer Systeme reagieren und ist berechenbar.
2. Zustand der Unsicherheit: Das Übergangsstadium eines Systems von Stabilität ins
Chaos wird als vulnerable Phase, die nur eine sehr kurze Zeitspanne in Relation zu den
beiden anderen Systemzuständen (siehe 1. und 3.) umfasst, bezeichnet. Eine Reaktion
eines so beschaffenen Systems löst eine oszillierende Rhythmik aus, die sich durch die
Eigenschaft der Quasiperiodik charakterisieren lässt. Die innere Uhr auf dem Weg
zum Chaos tickt bereits.
3. Zustand der Unberechenbarkeit: Diese Systemmetamorphose ist extrem empfindlich
gegenüber Einflüssen von Außen, seine Reaktionen sind nicht abschätzbar. Das Chaos
hat sich des Systems bemächtigt.
Chaos ergibt sich prinzipiell aus zwei sehr eng miteinander verbundenen Vorgängen. Der
Prozess der Iteration sowie das Prinzip der Rückkopplung beruhen beide auf dem System
einer unendlichen Reihe von Wiederholungen ein und desselben Schrittes, bei der die
„Sensitivität der Anfangsbedingung“ eine tragende Rolle spielt. Gemeint ist, dass winzig
kleine Unterschiede der Anfangsbedingung (Werte, die für Variablen eingesetzt werden) in
11
vgl.: Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag 1992, Seite 65
vgl.: Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag 1992, Seite 72
13
vgl.: Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 10 ff.
12
Seite 8
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
nichtlinearen Gleichungen in der Folge zu extremen Differenzen die Ergebnisse betreffend
führen können. Bei der Iteration (iterare lat. = wiederholen) wird ein Verfahren unendlich oft
auf sich selbst angewendet, praktisch ein Einsetzen eines Ergebnisses eines Terms in den
Term selbst. Dadurch entsteht gewissermaßen als Konsequenz Chaos.
Während sich der iterative Rechenvorgang auf ein System selbst bezieht, schaukeln sich bei
einem Rückkoppelungsprozess zwei verbundene Systeme ins Chaos.
Die negative Rückkopplung basiert auf der hemmenden Reaktion, die zwei Systeme
gegenseitig auf sich ausüben können. Exemplarisch hierfür dient eine Klimaanlage, die nach
Erreichen einer gewissen Temperatur entweder mit Kühlung oder Erwärmung reagiert.
Positive Rückkoppelung beruht auf dem Prinzip der Verstärkung. Man spricht in der Musik
von positiver Rückkoppelung, sobald ein Mikrofon und eine Lautsprecheranlage in diese,
meist unerwünschte, Wechselwirkung treten.
Um einen chaotischen Wert studieren oder mit ihm forschen zu können muss sein relatives
Ausmaß zu einer komparativen Anwendung bekannt sein, ein Faktum, wie es für sämtliche
Gößen der klassischen Physik auch gilt. Eine Systemcharakterisierung kann in diesem Fall
durch das Maß für die Differenz der Zukunftswerte zweier Teilchen mit nahezu gleicher
Anfangsbedingung (ε = ein Maß für die Intensität des Chaos)14 durchgeführt werden.
Die auf der folgenden Seite abgebildete Grafik zeigt eine Darstellung zweier solcher
divergierenden Werte. Vorgänge oder Phänomene, die sich auf diese Weise beschreiben
lassen, sind unter anderem: die Wettervorhersage15, jeder in unserem Gehirn ablaufende
Kreativ-Prozess und Gedankengang, Wachstumsformen von Pflanzen, das Eintreten bzw. das
Nichteintreten von Herzkammerflimmern16 und sämtliche Vorgänge, die durch die KAMTheorie17 beschrieben werden.
14
Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag 1992, Seite 71
siehe Kapitel I.: Was ist Chaos – Eine Einführung, Seite 11 ff.
16
siehe Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
17
siehe Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
15
Seite 9
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
aus: Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter
Verlag 1992, Seite 71
Philosophische Kurzbetrachtung
Die Chaosforschung an sich lässt sich nicht nach einer quantitativen, sondern einer
qualitativen Wissenschaftsmethodik18 definieren, eine Konzentration auf bestimmte
Teilbereiche ist praktisch nicht vorhanden und trotzdem wird durch die Beobachtung des
gesamten Kosmos eine, in ihren Ergebnissen unendlich varitantenreiche, beziehungsweise in
ihren Anwendungsbereichen sehr vielfältige, neue wissenschaftliche Sicht der Welt eröffnet.
Von diesem Standpunkt aus kann Chaos auch als „maskierte Ordnung“19 der Natur
bezeichnet werden, eine Art natürlicher Selbstschutz, der uns hindert unsere Umwelt in ihrer
Gesamtheit zu verstehen. Kreativität und genetische Vielfalt20 werden durch Chaos
ermöglicht, die Natur kombiniert chaotisch. Eine Tatsache, die beweist, dass Chaos nicht nur
von Außen auf ein System injiziert, sondern von einem System auch mitunter selbst erzeugt
werden kann.21
Der philosophisch-orientierte Gedanke, dass Chaos nur der Weg zu einer neuen Ordnung ist,
gibt Grund zur Annahme, dass wir in einem ständigen Wechsel von Unberechenbarkeit und
Systematik leben. Dieser Prozess gleicht dem der ständigen Anpassung an neue
Gegebenheiten der Natur, woraus sich auf die Notwendigkeit des Ausgleichenden,
Abwechslungsreichen schließen lässt.
18
vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 118
19
Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 12
20
vgl.: Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 74
21
vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 37
Seite 10
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
Der Eingriff des Menschen in die Natur führt zu einer Auflösung des natürlichen Chaos und
somit zu einem künstlich hervorgerufenen Chaos. Dieses ist jedoch im Gegensatz zu seinem
Vorgänger ohne die maskierte Ordnung und hat einen Zusammenbruch des Lebens in einem
Ökosystem, das beispielsweise nach einem einfachen Raubtier-Beute-Schema funktioniert.
Die Mystik um das Chaos
Wie jede, dem menschlichen Wesen (zumindest anfangs) völlig unerklärliche Erkenntnis wird
auch die „Chaostheorie“ in ihren Anfängen in eine Ecke der Verdrängung, der gefürchteten
Probleme verbannt. Aufgrund der daraus in ihm entstandenen Konflikte, erklärt sich der
Mensch seit jeher Unbegreifliches mit der Annahme und Anwendung von höheren mystischen
Kräften. Diese Interpretationen sind allgegenwärtig ob man sie nun auf Gott oder, wie in
unserem Fall, auf den unvorhersagbaren Zufall projiziert.
Die Entdeckung des Chaos
Als der Meteorologe Edward Lorenz am „Institute of Technology“ in Massachusetts eines
Tages im Jahre 1956 seine tägliche Wetterprognose durchführt, entdeckt er eine bis dahin
unbekannte Anomalie in seinen Ergebnissen. Routinemäßig führt er eine zweimalige
Berechnung des zukünftigen Wetters des folgenden Tages durch. Dabei stößt Lorenz auf zwei
voneinander völlig unterschiedliche Werte trotz minimaler Rundung einer Anfangsbedingung
(Naturgesetze für das Wetter). Er veränderte den Ausgangswert durch Rundung. Um eine
Vorstellung über das winzige Detail, das die besagte beachtliche Differenz auslöst, zu haben,
werden hier die genauen verwendeten Daten und mathematischen Formeln kurz
zusammengefasst. 22
Lorenz verwendet drei mathematische Gleichungen23, die für Strömungs- und
Wärmeleitungsprozesse gelten:
•
dx
•
dy
•
dz
/dt = 10 y – 10 x
/dt = 28 x – y – x z
/dt = 8/3 z + xy
Er setzt dabei unter anderem die Temperatur und die Strömungsgeschwindigkeit ein, die für
die jeweilige Wettersituation verantwortlich sein sollten. Diese drei Gleichungen sind
deterministisch, das heißt sie sollten die Möglichkeit bieten exakt voraussagen zu können wie
22
23
vgl.: Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 17
Film: Naturwissenschaftliche Weltbilder, Chaostheorie, Arge PPP / Akad.Gym., Kassette 21
Seite 11
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
die zukünftige Entwicklung des Wetters sein wird. Der Meteorologe Edward Lorenz schafft
mit diesen drei Termen ein einfaches, mit dem PC berechenbares System der Erdatmosphäre.
Während der Wissenschaftler zur Berechnung der ersten Prognose den Zahlwert 0,506127
verwendet, rundet er bei einem zweiten Durchlauf diese Anfangsbedingung auf Tausendstel
genau. Es entsteht die neue, gerundete Zahl 0,506.
Es ergeben sich durch die minimale Differenz von einander sehr deutlich zu unterscheidende
Graphen. Die Auswirkung dieser kleinen Rundung ist sogar so groß, dass zum selben
Zeitpunkt auf der einen Kurve Regen, auf der anderen Sonnenschein prognostiziert wird.
Mit diesem für die klassische Physik nicht zu erwartenden Vorfall, der im Prinzip die
Schlussfolgerung, einer ähnlichen Ursache folge eine ähnliche Wirkung, beschreibt, wird der
klassische Kausalitätsgrundsatz in Frage gestellt.
Das bereits erwähnte Phänomen24 der „Sensitivität der Anfangsbedingung“ tritt ein. Zur
genauen Berechnung des Verhaltens eines Systems in der Zukunft wäre demnach eine
unendliche Genauigkeit der Kenntnis der Anfangsbedingung notwendig, eine Bedingung, die
aufgrund der von Heisenberg begründeten „Unschärferelation“25, wonach Ort und
Geschwindigkeit der kleinsten Teilchen nie gleichzeitig bestimmbar sind, unmöglich zu
erreichen ist.
Diese Erkenntnis hat als Beispiel die moderne Wettervorhersage in ihrer Vorgehensweise
stark beeinflusst und zu klaren Eingeständnissen der Unvorhersagbarkeit gezwungen. Der
Prozess der Bestimmung zukünftiger Wetterdaten wird nunmehr nach folgendem Schema26
durchgeführt:
1. Bestimmen der zukünftigen Daten mit gemessenen aktuellen Werten
2. Bestimmen der zukünftigen Daten mit leicht abgeänderten aktuellen Werten
3. Vergleich der beiden Resultate
4. Bei einem großen Unterschied der zwei Ergebnisse ist die Schlussfolgerung der
Unmöglichkeit einer längerfristigen Vorhersage zu ziehen
24
siehe dieses Kapitel, Seite 8
vgl.: Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 26
26
vgl.: Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag 1992, Seite 44 ff.
25
Seite 12
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung
Hypothese des Grauens
Wenn wir davon ausgehen, dass die „Sensitivität der Anfangsbedingung“ wirklich derart
großen Einfluss auf unsere Existenz besitzt, und diesen hat sie zweifelsohne wie die Vielfalt
der Natur also die Varietät der Arten beweist, ist es leicht möglich, wenn die Situation der
Unvorhersagbarkeit der Zukunft völlig akzeptiert und verstanden wird, dass einem der
Schauer über den Rücken läuft. Wieso?
Wenn die bedeutendsten Wissenschaftler der „Chaostheorie“ uns mit Aussagen wie folgender
konfrontieren, ist eine Erklärung für die Frage nach dem Grund überflüssig.
„Chaos im Sonnensystem beziehungsweise die Apokalypse tritt nicht auf wenn keine Störung,
die in ihrer Auswirkung größer ist als der Flügelschlag eines Schmetterlings in Australien,
auftritt.“27
Diese Aussage wurde in der Wissenschaft als „Schmetterlingseffekt“ bekannt.
Mittels der hier abgebildeten Grafik soll nochmals verdeutlicht werden, wie enorm die
Auswirkungen für eine Änderung der Ausgangsbedingung zu einem System sein können. Die
Grafik zeigt die hypothetische Umlaufbahn unserer Erde, wenn sich in unserem
Sonnensystem eine zweite Sonne befinden würde oder ein beliebiger Komet von einer
bestimmten Mindestgröße in unser bestehendes Sonnensystem eindringt.
aus: Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag
1992, Seite 54
27
nach Aussagen der Entdecker des KAM-Theorems (A. Kolmogorow, W. Arnold, J. Moser) zusammengefasst
und zur Veranschaulichung verdeutlicht
siehe auch: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAMTheorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft)
Seite 13
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
Die geschichtliche Entwicklung der Chaostheorie:
Als die Römer, insbesondere Ovid, von einem goldenen, silbernen, bronzenen und ehernen
Zeitalter sprachen, so meinten sie damit vier verschiedene Abschnitte seit Bestehen des
Reiches. Am Anfang stand das goldene Zeitalter: Charakterisiert durch Reichtum, Höhepunkt
der Staatsform und Blüte der Wirtschaft stellt es die glorreichste aller Zeiten dar, die durch
die nach folgenden Perioden nie mehr erreicht werden kann. Es ist also ein stetiger Verfall der
Sitten, Kenntnisse und Erfolge in der Zukunft zu erwarten.
Im Vergleich zur Geschichte der „Chaostheorie“ stößt man auf eine ähnlich zum Negativum
tendierende Entwicklung, die jedoch nach Erreichen ihres Tiefpunktes, in der Zeit der
Entdeckungen der klassischen Physik, wieder schlagartig nach oben zieht. Zur
Verdeutlichung kann man diese graphisch durch eine ansteigende Kurve darstellen.
Der Begriff Chaos geht zurück auf die Darstellung verschiedener Anfangszustände in der Zeit
der alten Hochkulturen. Der Anfangszustand selbst steht für Vorherrschen von Chaos und
Nichts aus dem der gesamte Kosmos entsteht.
Die altägyptische Kultur beschreibt die Entstehung der Welt aus einem bodenlosen und leeren
Abgrund, der mit Namen „Nut“ bezeichnet wurde1. Aus ihm entsteht nach damaligem
Glauben der Sonnengott Ra, der schließlich Ordnung und hierarchische Struktur in das Chaos
implantiert.
Im Bereich der babylonischen Kultur wird das Anfangschaos durch die Urmutter des Alls
„Tiamat“2 dargestellt. Sie und eine Vielzahl anderer Götter beschreiben bestimmte
Eigenschaften des Chaos, wie die Unvorhersagbarkeit, die Verborgenheit und daraus
resultierende Unberührbarkeit. Diese Auseinandersetzung und genau eingeteilte
Personifizierung verschiedener Unterbegriffe des Chaos stellt zum ersten Mal eine
Strukturierung des Chaos her. Es wird damit der Gedanke einer implizierten Ordnung im
Durcheinander des Kosmos geprägt, der zur Annahme einer Wechselwirkung von Struktur
und Unstruktur, sprich Ordnung und Chaos, führt.
Die chinesische Schöpfungsgeschichte beruht auf der Spaltung des chaotischen Urzustands in
das Licht, Yin, und das Trübe und Schwere aus dem sich unsere Welt bildet, Yang3. Das
1
vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 21
2
vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 22
3
Vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 22
Seite 14
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
weibliche Wesen des Yin steht konträr zum maskulinen Yang, beide ergänzen sich und
können durch Ungleichgewicht, beziehungsweise durch eine Störung der Wechselwirkung
(siehe babylonische Kultur), wieder zurück ins Chaos führen.
Monotheistische Kosmologien, wie auch das Christentum, übernahmen dieses Gedankengut
um schließlich ihre Schöpfungsdefinition auch darauf zu begründen. Auch in weiterer Folge
scheint das Chaosmotiv in der christlichen Religion in der Form der Sintflut und später durch
ein gewaltiges Erdbeben, das sich unmittelbar nach dem Tode Jesu am Kreuz ereignet haben
soll, auf.
Die milesischen Naturphilosophen (benannt nach dem Zentrum der damaligen Philosophie,
der Stadt Milet) Thales und Anaximander unterwerfen das Chaos einer wissenschaftlichen
Sichtweise, die praktisch nichts anderes bedeutet als eine Einimpfung der Ordnung.
Angenommen wird ein Urstoff (η αρχη) wie zum Beispiel das Wasser, der durch chaotischen
Einfluss von Außen die unendliche Vielfalt unserer Natur zum Ergebnis hat. Das entstandene
Leben, das die Ordnung darstellt, kann aufgelöst werden und schließlich wieder im Urstoff
münden um ein neues Universum entstehen zu lassen.
Mit Aristoteles, der den Menschen als ein Wesen das von sich aus nach Wissen strebt
beschreibt, distanzierte sich die Wissenschaft aufgrund dieser Ansicht vom Chaos als
schöpferische Materie. Er vertritt eine rationale Erklärung der Entstehung der Welt, für ihn
steht eine komplexe aber nicht undurchschaubare, sondern hierarchische Ordnung hinter den
„τα οντα“, allen seienden Dingen.
Aus diesem Konzept entwickelte sich während des Mittelalters und der Zeit der Renaissance
die Idee der „Großen Kette des Seins“, eine aufsteigende Skala auf der alle Lebensformen
angeordnet werden.
Das Mittelalter gilt geschichtlich als eine Zeit des Verfalls der kulturellen, wirtschaftlichen
und wissenschaftlichen Werte der Menschheit. Das Mystische, das Dunkle und das
Unerklärbare werden als der Ursprung alles Lebens angesehen. Dennoch fällt das Auftreten
der Alchimisten und Hermetiker, die mit wissenschaftlichen Methoden erfolgreich auf dem
Gebiet der Chemie arbeiteten, in diesen Abschnitt der Weltgeschichte. Das Mittelalter ist auf
diese Weise betrachtet stark von einem Dualismus geprägt, der Ordnung (=Wissenschaft) und
Seite 15
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
Chaos (=Dunkelheit) zum Inhalt hat und schließlich auch die letzte Koexistenz von Chaos
und Ordnung ermöglichte.4
Mit seinem Werk „De revolutionibus orbium coelestium“ versetzt Nikolaus Kopernikus
(1473-1543) dem damals als korrekt angenommenen geozentrischen Weltbild einen
gewaltigen Schlag. Das Mittelalter, das durch den Papst, die Inquisition und die Kirche im
Allgemeinen entscheidend beeinflusst wird, übersteht jene wissenschaftlich Revolution der
Renaissance, die im Grunde auf der Wiederentdeckung antiker Philosophie und deren
Erkenntnisse beruht, nicht.5
Seit dem Auftreten von dem aus Italien stammenden Galileo Galilei (1564-1642) kann man
von klassischer Physik sprechen, da erstmals die Ideologie der errechenbaren Ordnung das
Gedankenschema des Chaos besiegt.6 Daraus resultiert auch der Haupt- und Nebenirrtum der
klassischen Physik:
1. Hauptirrtum: Die Kenntnis der Ausgangsbedingung und der Gesetze für ein System
ergeben dessen zukünftiges Verhalten. Die Begründung für die Adaption in die
Gesetze der Physik dieser, aus der Sicht der Chaostheorie falschen Annahme, liegt im
leicht verständlichen Grundgedanken und den experimentellen Erfolgen jener
2. Nebenirrtum: Von Natur aus führen ähnliche Ursachen immer zu ähnlichen
Wirkungen.7
Galileis Schaffen, das einerseits als Symbol der rationalistischen Revolution gegen
Unwissenheit und unerklärbarer Mystik bekannt ist, andererseits ihn als Erfinder und
Wissenschaftler preisgibt, überschneidet sich mit dem Wirken des deutschen Astronomen
Johannes Kepler (1571-1630), der durch die Entdeckung dreier nach ihm benannter Gesetze
der Astronomie einen unverzichtbaren Beitrag zum Verständnis unserer Welt lieferte.
Die Beschreibung der Planetenbahnen als Ellipsen und die Erkenntnis, dass ein bestimmtes
Zeitintervall ausgehend vom Mittelpunkt auf die zugehörigen momentanen Aufenthaltsorte
eines Planeten gemessen, immer ein flächengleiches Dreieck entstehen lässt, gleichgültig
welcher Punkt der Ellipsenbahn als Anfangspunkt dient, bilden die Basis für das dritte Axiom
4
Absatz vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die ChaosTheorie, Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seiten 23 – 25
5
vgl.: COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 7, New York: Macmillan Educational Company 1992,
Seite 303 ff.
6
vgl.: COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 10, New York: Macmillan Educational Company 1992,
Seiten 542 – 546
7
Christian NÜRNBERGER, Faszination Chaos, Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1993, Seite 9
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FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
Keplers, wonach die Quadrate der Umlaufzeiten zweier beliebiger Planeten im selben
Verhältnis zueinander stehen wie die Kuben ihrer großen Halbachsen.8
René Descartes (1596-1650), Mathematiker, erklärt durch seine philosophischen
Betrachtungen auch das metaphysische Chaos für irrelevant. Wie Galilei gilt er als
Wegbereiter der modernen Wissenschaft. Gleich seinem Zeitgenossen begründet er die
Abwendung und Differenzierung von mittelalterlichen Forschungsmethoden. 9
Die Lehre des Rationalismus bezieht sich auf die drei Descartes’schen Erkenntnisstufen10:
1. Zweifel: Um korrekte wissenschaftliche Erkenntnis zu gewährleisten und sie von
falschen Hypothesen zu differenzieren, muss zuerst die gesamte Welt bezweifelt
werden.
2. Erkenntnis: Der Mensch, der zweifelt, kann die Materie mit der er zweifelt als Einzige
nicht bezweifeln.
3. Schluss: „Cogito ergo sum“ (=Ich denke also bin ich); Das Denken ist der alleinige
Weg zur Verständnis der Welt.
4. Anwendung:
a) Der Mensch muss folglich sich selbst (res cogitans) von der res extensa (zu
beobachtende Umwelt) unterscheiden.
b) Falls Vollkommenheit, also Gott, angenommen wird, so muss er auch
tatsächlich existieren, da die Eigenschaft der Existenz eine Bedingung für jene
der Vollkommenheit ist.
Die zwei Giganten
Der Physiker, Mathematiker und Naturphilosoph Sir Isaac Newton (1642-1727) wird in
Woolsthorpe, Lincolnshire, England geboren.
Er entwickelt sehr früh großes Interesse für wissenschaftliche Arbeit, da er während seiner
Schulzeit behelfsmäßig als Apothekergehilfe eingestellt mit chemischen Prozessen
8
vgl.: COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 14, New York: Macmillan Educational Company 1992,
Seiten 50 – 51
9
vgl.: COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 8, New York: Macmillan Educational Company 1992,
Seiten 50 – 51
10
vgl.: René DESCARTES, Meditationes de Prima Philosophia, übersetzt von Gerhart Schmidt, Stuttgart:
Reclam 1986, Seite 79
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Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
konfrontiert ist. Sein Bildungsweg beginnt in der „Grantham School of Grammar“ und setzt
sich schließlich bis zu seiner Arbeit am „Trinity College“ beziehungsweise seiner Zeit auf der
„University of Cambridge“ fort.
Seine ersten ernsthaften wissenschaftlichen Forschungen beziehen sich auf den Bereich der
Optik. Durch die Verwendung eines Prismas konnte Newton eine Aufspaltung dieses Lichts
in seine einzelnen Bestandteile erreichen und somit zeigen, dass gewöhnliches, weißes Licht
aus einer Vielzahl verschiedener Farben besteht.
Diese Farbenskala, die Newton korrekt als Resultat der jeweiligen Brechbarkeit eines
Lichtstrahls abhängig von dessen Farbe begründet, nennt man Lichtsprektum.
Der Physiker wird eine Reflektion der damals aktuellen Form eines Teleskops als einzige
Anwendung seiner Erkenntnisse im Bereich der Optik belassen. Seine Experimente mit
weißem Licht (Sonnenlicht) führen zu Ehrungen und Newton wird zu schließlich zu einem
„Master of Arts“ ernannt.
Die darauf folgende Zeit ist primär mathematischen Arbeiten gewidmet. Nicht umsonst wird
der Physiker als ein Schöpfer der „Differentialrechnung“ bezeichnet. In seinem Werk „De
Analysis“ beschreibt Newton seine sämtlichen Aufzeichnungen zum Bereich dieser
neuartigen Rechenmethodik, die es erlaubt Bewegungen und Verlauf eines Systems in mit
unwahrscheinlicher Genauigkeit im Voraus zu bestimmen.
Das Hauptaugenmerk von Newtons wissenschaftlichem Nachlass liegt in seinen
Entdeckungen bezüglich der Gravitation. Er führt erstmals eine Lösung für das Problem der
Planetenlaufbahnen (eig.: deren genauer Berechnungen) ein, das er unter Mithilfe der
Zentripedalkraft, die die Eigenschaft einer Fernwirkung ohne Trägermedium besitzt und der
großen unfassenden Idee der Gravitation löst. Aufgrund seiner Entdeckungen werden auch
Erklärungen für weitere Phänomena, wie den Gezeiten und der Irregularität der
Mondbewegung, erzielt. Zusammengefasst werden diese Beobachtungen in dem Œuvre
„Philosophiae naturalis principia mathematica“ (=mathematische Grundsätze der
Naturphilosophie), wobei Philosophie damals die Bedeutung des heutigen Wortes Physik
einnimmt.
Newton erklärt allgemein das Verhalten eines großen Teils der unbelebten Materie und
vertritt die Meinung, dass sämtliche übrigen Vorgänge (jene, die man sich zu dieser Zeit noch
nicht erklären konnte, darunter fällt auch das Phänomen „Chaos“) nach ähnlichen Prinzipien
geschehen.
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Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
Ab seiner Vorgehensweise der methodischen Schlussfolgerung, die er aus bereits bekannten,
in mathematische Terme miteinbezogenen Fakten zieht, wird die Physik erstmals zu einer
Wissenschaft der Vorhersage.11
Pierre Simon Marquis de Laplace (1749-1827) ist jener Wissenschaftler, der mit seiner
Hypothese der Planbarkeit der Zukunft dem Reduktionismus (eig.: der klassischen Physik)
jenen Nachdruck verliehen hat um dieser Weltanschauung ein Fortbestehen bis in unsere Zeit
zu ermöglichen.
Laplace wird in Beaumont-en-Auge geboren durchschreitet eine Ämterlaufbahn im damaligen
Frankreich. Vorerst Minister des Inneren, wird er Senator und schließlich vorsitzender
Kanzler des Senats.
In seinem ersten Werk „Exposition du système du monde“ beschäftigt er sich hauptsächlich
mit der Entstehung unseres Sonnensystems. Seine Hypothese orientiert sich hierbei an der des
Philosophen Immanuel Kant, der damit dem religiösen Dogma seiner Zeit, wonach der
Zustand des Universums seit seiner göttlichen Erschaffung unverändert und unveränderlich
sei, widersprach. Die Natur bedarf also für ihre Entwicklung keines göttlichen Anstoßes von
außen. Laplace nahm für sein gleichermaßen auch auf den Newtonschen Gesetzen fußendes
Weltmodell eine anfängliche Ursonne an, die aufgrund ihrer schnellen Umdrehung Materie
herausschleuderte, die sich in ihrer Äquatorebene zu den Planeten herausbildete.
Das Hauptwerk des französischen Physikers, Mathematikers und Astronoms trägt den Titel
„Traité de la mécanique céleste“. Es ist eine wissenschaftliche Abhandlung, die das Problem
der Planeten- und Sternbewegung von neuem aufgreift. Laplace bringt darin einen
mathematischen Beweis für die Unveränderlichkeit der mittleren Entfernung von Planeten zur
Sonne ein.
Pierre Simon de Laplace gilt heute als der Gründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung
(„Théorie analytique des probabilités“), jene mathematische Neuentdeckung aus der Charles
Darwins Evolutionstheorie ihre Basis bezieht, nachdem sie von Ludwig Boltzmann auch in
die Physik eingeführt wurde. Darwin gründet sein Werk nämlich auf Laplaces Annahme das
Leben entstehe aus einer Wahrscheinlichkeit.
Durch die Einführung der Wahrscheinlichkeit in die Wissenschaft ist es wiederum möglich
das Chaos als Grundprinzip abzuwenden, der „chaotische“ Anfangszustand wurde im Prinzip
11
zu Newton vgl.: COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 17, New York: Macmillan Educational Company
1992, Seiten 467 – 470
Seite 19
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
durch den „wahrscheinlichen“ Ursprung ersetzt. Der Zufall bringt Komplexität, aber nicht das
Chaos.12
Der Reduktionismus
Der Reduktionismus wird allgemein-wissenschaftlich als eine „isolierte Betrachtung von
Einzelelementen ohne ihre Verflechtung in einem Ganzen oder von einem Ganzen als
einfacher Summe aus Einzelteilen unter einer Überbetonung der Einzelteile, von denen aus
man induktiv vorgeht“13 beschrieben.
Der Reduktionismus vertritt eine klare Gliederung von Veränderung in die zwei
Unterteilungen von einerseits Ursache und andererseits Wirkung.
Populärwissenschaftlich kann man diese Theorie mit der „Naturanschauung eines
Uhrmachers“ vergleichen, der seine „Welt“ (also die Uhr) auseinander nimmt um sie
schließlich wieder, nachdem sie gründlich auf ihre Grundlagen (in Beziehung auf den
Uhrmacher z.B.: ein Fehler im Uhrwerk) zusammenzusetzen.
auseinander nehmen und wieder zusammensetzen. Eine Vorgehensweise, die nach der Lehre
des Reduktionismus genau so für die komplexe Natur, wie für die dagegen einfache Technik
der Uhr gilt.
Da die Welt als riesiges Uhrwerk dargestellt wird, ist ein Momentanzustand eines Systems die
Folge eines vorherigen Zustandes. Für die Wissenschaftler dieser Zeit - vor allem für Pierre
Simon Marquis de Laplace - ist somit eines klar:
Die Verschmelzung aller (Natur-)Gesetze eines Systems führt zu einer absolut korrekten
Vorhersage der Zukunft. Die Zukunft der Welt liegt also theoretisch in folgenden Hypothesen
Laplaces verborgen:
1. Anfang und Ende der Welt sind kausal verbunden
2. Bei Kenntnis aller Naturgesetze und Bestimmungsgrößen läge der Wissenschaft
sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit offen.
Dass jedoch berechenbare Vorgänge in der Natur, also die Voraussetzung für die Erforschung
der Naturgesetze, die Ausnahme sind, und das Chaos die Regel, ist unvorstellbar. Chaos war
der damaligen Ansicht nach nur Komplexität, die irgendwann lösbar werden würde.
zu Laplace vgl.: COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 14, New York: Macmillan Educational Company 1992,
Seite 323; John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die ChaosTheorie, Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 25 ff.
13
DUDEN, Das Fremdwörterbuch, Zürich: Dudenverlag 1990, Band 5, Seite 666
Seite 20
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
Allgemein kann man also eine Gegenüberstellung des alten, mythischen Chaos und dem
reduktionistischen Chaos so beschreiben:
Ersteres ist ein aktives Chaos, das durch die Idee der Schöpfung von den Naturvölkern über
die alten Hochkulturen bis hin zu Antike besteht.
Das Chaos das im Reduktionismus akzeptiert wird ist einerseits nach der Ansicht der
Wissenschaft dieser Zeit nur extreme Komplexität, die sich in naher Zukunft lösen lassen
wird.
Andererseits, und dies ist ein neuer, noch nicht angeführter Aspekt, besteht Chaos im
Reduktionismus nur in Form von Entropie. Entropie ist jenes Chaos, das in der
Thermodynamik dafür sorgt, dass Energie bei mechanischen Prozessen in Form von Wärme
verloren geht. Dieses wird auch im Unterschied zum vorher Erwähnten als passives Chaos
bezeichnet, da es nicht schaffend sondern vernichtend auf Systeme einwirkt. Die Energie wird
also von unbekannten (sprich chaotischen) Einflüssen geprägt.
Der auf dieser Erkenntnis beruhende dritte Hauptsatz der Thermodynamik besagt deshalb,
dass Unordnung nie zu Ordnung führt, nur Ordnung zu Unordnung, sowie geordnete Energie
in Form von potentieller Energie erst chaotisch werden kann, sofern sie in kinetische Energie
übergeht. Dies gilt für isolierte, beinahe stabile Systeme.
Anders ist dies für „offene Systeme“ (zum Beispiel der Prozess des Wasserkochens). Der
Grund dafür ist, dass Hitze als ein chaoserzeugender Faktor von außen kommt, das heißt kein
ursprünglicher Bestandteil des Systems „Wasser und Topf“ ist.
Darauf folgt daher zusammengefasst, dass man bezogen auf den Reduktionismus von einer,
nur auf bestimmte Bereiche anwendbare Wissenschaft sprechen kann, die fälschlicherweise
zu Erklärung aller Systeme herangezogen wird.
Für die Chaostheorie und ihre Verfechter gilt die reduktionistische Wissenschaft als ein
Synonym für die Unterdrückung des Chaos.
Der Fall des Reduktionismus
Im einleitenden Teil dieser Arbeit „Was ist Chaos – Eine Einführung“ werden bereits Edward
Lorenz Beobachtungen zu einem chaotischen Einfluss beschrieben14, der scheinbar die
Wettervorhersage völlig beherrscht. Diese Entdeckung, die schließlich zu einer weltweiten
Akzeptanz der Chaostheorie führt, ist ausschlaggebend für die, im 20. Jahrhundert stark
14
Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung, Seite 11 ff.
Seite 21
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
einsetzende, Bewegung zu einer alternativen Physik, die sich klar von der Weltanschauung
des Reduktionismus distanziert.
Es gibt allerdings während den letzten 200 Jahren noch weitere Kritikpunkte an der
klassischen, reduktionistischen Physik, die wir hier noch kurz zusammenfassen wollen.15
1.) Das Perpetuum mobile:
Wie in der Thermodynamik geht während diesem Prozess Energie im Chaos verloren.
2.) Formveränderung von Körpern:
Ein alltäglicher Prozess der z.B.: bei einer Wallung von Bauplatten zu beobachten ist.
Die Reaktion der klassischen Physik auf schwer zu bestimmenden Bewegungen
(=Veränderungen) ist seinerzeit die Erfindung der Differentialgleichung von Newton.
Durch diese neue mathematische werden Veränderungen, die durch die Eigenschaft
„Kleine Ursache → Kleine Wirkung“ charakterisiert sind. Jene Gleichungen werden als
linear bezeichnet.
Ein mathematisches Problem ergibt sich insofern, als nichtlineare
Differentialgleichungen16 auftreten, die etwa zur Beschreibung von Explosionen,
Materialbruch und Erdbeben herangezogen werden. Die Eigenschaft aller nichtlinearen
Funktionen ist ähnlich: zuerst unterscheidet sie ihr normaler (scheinbar linearer) Verlauf
nicht von anderen Gleichungen, plötzlich jedoch findet durch das Erreichen eines
kritischen Punktes ein Übergang ins Chaos statt.
Diese Art der Differentialgleichung ist zu dieser Zeit rechnerisch unlösbar, aber durch
Näherungsverfahren ist es möglich sämtliche solche Terme ausreichend zu bestimmen.
Dieses Procedere wird verwendet bis der Computer erfunden wird, der den Menschen
erstmals in die Lage versetzt nichtlineare Gleichungen (ergo: winzige Änderung →
unerwartet großes Ausmaß) zu lösen.
15
vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 26 ff.
16
vgl.: John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 29
Seite 22
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick
Résumé
Letztendlich ist neben der Chaostheorie sowohl die Quantentheorie als auch Einsteins
Relativitätstheorie ausschlaggebend dafür, dass wir viele Grundsätze der klassischen Physik
durch die neue, moderne Physik heutzutage aus einer anderen Sicht betrachten müssen.
Ich möchte mich hier jedoch nicht zu sehr in Details bezüglich der zwei weiteren großen
Theorien vertiefen. Denn der Gegenstand der Arbeit, der klar auf den Bereich der
Chaostheorie eingeschränkt ist, soll im weiteren Verlauf auch weiterhin im Fokus stehen.
Seite 23
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Was ist die KAM-Theorie?
Als Autofahrer ist man ständig dazu aufgerufen auch bei Nichtanwesenheit von jeglichen
Kontrolleinrichtungen und Organen, wie Polizisten oder einer Ampel sich gemäß der
Straßenverkehrsordnung zu verhalten.
Wenn wir dieses Paradigma auf das Universum beziehen so kann man feststellen, dass auch
hier gewisse Gesetze herrschen, ohne dass ihre Einhaltung erkennbar erzwungen wäre.
Planeten bleiben unter bestimmten Bedingungen auf stabilen Bahnen, deren Einhaltung nicht
durch einen physikalischen Zwang, sprich also in diesem Fall durch das Energie- oder
Impulserhaltungsgesetz prädestiniert ist. Andere Bedingungen könnten wiederum zur völligen
Ausschöpfung der Bewegungsmöglichkeiten, zu einem chaotischen Herumirren im Weltraum
führen.
Die KAM-Theorie, benannt nach ihren Schöpfern, den Physikern Andrej Kolmogorow,
Wladimir Arnold und Jürgen Moser, beschäftigt sich eben mit diesen erwähnten
Bedingungen, die ausschlaggebend für die Planetenbewegungen sind, und ihrer weiteren
Erforschung. Die KAM-Theorie stellt prinzipiell die Stabilität unseres Sonnensystems in
Frage.
Unser Sonnensystem und dessen Tücken
Sir Isaac Newton (1642-1727)1 stand am Anfang einer langen Reihe von berühmten
Physikern, die sich mit der Stabilität unserer Existenz, unseres Planetensystems beschäftigten.
Newton diente seine Erfindung der Differentialgleichung zur Beschreibung aller
einflussreichen Kräfte in unserem Universum, allen voran die Gravitation. Der
Wissenschaftler beschränkte sich bewusst auf die Erforschung der Kräfte im Weltraum,
anstatt von Vorne herein die Bewegungen der Planeten zu studieren. Er zerlegte also die
Bewegung (=das Ergebnis) in seine einzelnen Faktoren, er umging somit eine unvergleichbare
Komplexität. Diese Vorgehensweise in der Wissenschaft nennt man Reduktion, ihre Blütezeit
den Reduktionismus2.
In weiterer Folge ermöglichte diese Methode Newtons ein theoretisches Vorraussagen aller
Bewegungen aller Körper mittels Differentialgleichungen.
1
2
vgl.: Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick, Seite 17 ff.
vgl.: Kapitel lI: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick, Seite 20
Seite 24
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Pierre Simon Marquis de Laplace (1749-1827)3 zog ein ähnliches Résumé. Die Wissenschaft
könnte mithilfe der Kenntnis einer so genannten Weltformel sämtliche Zustände jedes
Systems in der Vergangenheit und in der Zukunft bestimmen (vgl. Chaostheorie – Ein
geschichtlicher Überblick).
Dass Laplace ebenso wie Newton seine Differentialgleichungen mit Lösungen bestätigen
konnten, begründet seine Annahme einer prinzipiellen Vorhersagbarkeit der Wissenschaft.
Was in dieser reduktionistischen Weltanschauung verborgen bleibt ist, dass derartige, lösbare
Differentialgleichungen nur die Ausnahme sind. Normalerweise wird zu vollständigen
Beschreibung eines Systems ein komplexes Gleichungssystem benötigt.
Joseph Louis Lagrange (1736-1813) und Siméon Denis Poisson (1781-1840) scheiterten
ebenfalls bei ihrem Versuch die Stabilität des Sonnensystems zu beweisen. Die beiden
Wissenschafter konnten zwar laut ihren Berechnungen von einer Regelmäßigkeit über
nächsten 300000 Jahre hinweg sprechen, die der Zeit des Reduktionismus eine gewisse
Beruhigung verschaffte und sie vor dem Einsturz bewahrte.4
Die Schwierigkeit in der Prognose von Planetenbewegungen liegt im Langzeitverhalten
dieser, sobald man zur Berechnung die Einflüsse von mehr als zwei Planten zueinander mit
einbezieht. Die Hypothese des Grauens5, die die Instabilität unseres Sonnensystems
beschreibt, zeigt auch wie leicht ein Planet von seiner ursprünglichen Bahn entweder in
Richtung Sonne oder aus unserem Sonnensystem hinaus abdriften könnte.
Die KAM-Theorie beschäftigt sich nun speziell mit diesem „n-Körper-Problem“, das die
Beziehung einer Anzahl von n Körpern (wobei n > 2 ist) zueinander beschreibt.
Jupiter und Saturn – Die Grenzen der Stabilität
Um das „n-Körper-Problem“6 nun etwas genauer zu beschreiben, werden wir es durch die
Schilderung der Beziehung Jupiter und Saturn erklären, wobei die Sonne immer als dritter
Körper angenommen wird.
Das Verhältnis der Umlaufzeiten der Planeten Jupiter und Saturn um die Sonne beträgt 5:2.
Dieses rationale Verhältnis ist der Grund für einen großen Unsicherheitsfaktor in der Stabilität
der zwei Planetenbahnen. Die zwei Planeten nehmen aufgrund dieser Beziehung periodisch
3
vgl.: Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick, Seite 19
vgl.: Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick, Seite 21 ff.
5
vgl.: Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung, Seite 13
4
6
HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAM-Theorie (Artikel,
erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 13
Seite 25
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
selbe Positionen zueinander ein. Man bezeichnet dieses Wandern von Positionen, die in ihren
Distanzen zueinander gleich bleiben, als eine Schwingung, die aus unendlich vielen, kleinen
Frequenzen besteht.
aus: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum:
Die KAM-Theorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 11
Durch die Anziehung der Planeten entstehen kaum messbare Störungen in deren Laufbahnen,
die diese Frequenzen minimal verändern. Bei einer Aufsummierung jedoch kann diese
Entwicklung zu einer „Resonanzkatastrophe“ führen, also zu einer Aufschaukelung der
Bewegungen zueinander.
Man kann das Geschehen anhand eines einfachen Beispiels verdeutlichen. Eine
Kinderschaukel zeigt im Prinzip die ständige Addition von Kräften sehr gut. Wenn die
Summe dieser einen gewissen Punkt übersteigt, kann die Schaukel überschlagen.
Übersetzt auf die Planetenbeziehung von Jupiter und Saturn würde dies bedeuten, dass einer
der zwei Planeten, oder gar alle beide aus ihren Umlaufbahnen geschleudert werden. Noch
fataler: es gibt im freien Weltraum für diese Störung keinen Ausgleich mehr, da keine
Reibung besteht.
In der Wissenschaft löst diese These große Konflikte aus. Jean-Baptiste Biot7 (1774-1862)
sieht aufgrund des rationalen Verhältnis (5:2) auch in kleinsten Störungen große Probleme,
während sein Opponent Karl Weierstraß8 (1815-1897) fälschlicherweise dementiert. Seiner
Meinung nach ist das rationale Verhältnis bedeutungslos, da jeder rationalen Zahl eine
irrationale beliebig nahe ist.
7
8
vgl.: dtv-Lexikon, München: DTV-Verlag 1980, Band 2 (Ban-Buch), Seite 158
vgl.: dtv-Lexikon, München: DTV-Verlag 1980, Band 20 (Walp-Zz), Seite 60
Seite 26
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Die Tatsache, dass die komplexen Gleichungen der Astrophysik einfach nicht mit den
Bewegungsabläufen im Sonnensystem beziehungsweise im Universum in Einklang zu
bringen sind, wird heute als „Problem der kleinen Nenner“9 bezeichnet.
Sobald man Newtons Bewegungsgleichungen mit dem Faktor der Anziehungskraft
(=Gravitationskraft) zweier Planeten erweitert, entsteht ein quasiperiodischer
Bewegungsablauf.
Der quasiperiodische Bewegungsablauf
Grundsätzlich wird bei dem vorher erklärten Prozess die periodische durch eine
quasiperiodische Bewegung ersetzt. Diese ist immer noch eine Überlagerung unendlich vieler
Frequenzen, die auch dieselbe Stabilität als Konsequenz bewirken. Die Bewegung selbst
bleibt immer in bestimmten Grenzen, sie wiederholt sie fast periodisch genau, man kann
jedoch minimale Abweichungen zur periodischen Bewegung feststellen.
Der Wissenschafter Jean-Baptiste Fourier (1768-1830) begründet, dass sich jede periodische
Funktion durch eine Summe von unendlich vielen Sinus- und Cosinuskurven darstellen lässt.
Jede einzelne Kurve wird hierzu auch mit einem Koeffizienten multipliziert.
z.B.: f(x) = sin x + ⅓ sin 3x + ¼ sin 4x ………….¹⁄n sin nx
Diese Summe dieser Kurven nennt man Fourier-Reihe.10
Mit Derive erstellte Grafik: Kilian Rieder, 14.1. 2005
9
vgl.: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAM-Theorie (Artikel,
erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 12
10
zu Fourier: vgl.: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAMTheorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 24
Seite 27
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Die Existenz von stabilen und gleichzeitig aber quasiperiodischen Bahnen könnte man durch
die Konvergenz der dazugehörigen Fourierreihe beweisen. Eine Konvergenz bedeutet in
diesem Fall die Annäherung an einen Limeswert (=Grenzwert). Dieser Grenzwert ist in Fall
dieses Beweisversuchs für uns die periodische Funktion, an die wir unsere quasiperiodische
Funktion annähern.
Es handelt sich in diesem Prozess um nichts anderes als eine Asyptotenbestimmung, da die
Bedingung für das Erreichen des Limeswerts darin besteht, dass die Koeffizienten gegen Null
streben. Zu diesem Zweck muss die Variable n11, also der Nenner, unendlich groß sein.
Im speziellen Fall von Jupiter und Saturn enthält die passende Fourier-Reihe eine unendliche
Anzahl sehr kleiner Nenner (daher auch der Name „Problem der kleinen Nenner“) und lässt
dadurch sehr große Zahlen insgesamt entstehen. Es ergibt sich also ein Problem die
Konvergenz zu beweisen, die die Annahme bestätigen würde, dass periodische und
quasiperiodische Systeme praktisch dieselben Eigenschaften besitzen.
Jules Henri Poincaré (1854-1912) und George Birkhoff (1884-1944) bestätigen diese
Unmöglichkeit der Konvergenz auch mit ihren Untersuchungen. Carl Ludwig Siegel (18961981) konnte die Konvergenz der Quasiperiodik und der Periodik selbst im 20. Jahrhundert
für bestimmte Fälle solcher Fourier-Reihen beweisen, die Beziehung von Jupiter und Saturn
jedoch gilt bis heute als höchst konvergenz-unwahrscheinlich.
Die These des „n-Körper-Problems“ beinhaltet außer den bereits bekannten physikalischen
Gesetzen keine weiteren Richtlinien für die Bewegung der Planeten. Es gibt also in diesem
Sinne nichts, das die trotz allem stabile Bahn der Planetenbewegungen erklären würde.
Jules Henri Poincaré beschreibt dieses als ein Phänomen, das unendlich kompliziertere
analytische Methoden erfordert als die bereits bis zu diesem Zeitpunkt bekannten. Laut dem
Physiker stellt das Problem eine beispiellose Schwierigkeit dar.12
Das Dreikörpermodell von Poincaré
Um die Nichtexistenz von weiteren Erhaltungsgrößen von Planetenbahnen zu beweisen führt
Jules Henri Poincaré ein vereinfachtes Modell dieser Dreikörperproblems ein. Der
Wissenschaftler nimmt hierzu zwei Körper mit gleicher Masse an, die sich auf Ellipsenbahnen
11
12
vgl.: mit dem in diesem Kapitel auf Seite 27 angeführten Beispiel für eine Fourier-Reihe
vgl.: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAM-Theorie (Artikel,
erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 15 ff.
Seite 28
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
um einen gemeinsamen Brennpunkt bewegen. Der gesamte Vorgang findet aufgrund der in
der Folge wesentlich leichteren Berechnungen der Bahnen und ihrer Eigenschaften auf
derselben Raumebene statt. Im Brennpunkt befindet sich eine zu dieser Ebene normal
stehende Gerade, die die Bahn eines dritten Körpers (in Poincarés Beispiel ein Komet)
symbolisiert, der in permanenter Auf- und Abbewegung diese Ellipsenebene durchstößt.
Poincaré beschäftigte sich nun mit der Beschreibung des Gesamtzustandes des Systems zu
gerade jenen Zeitpunkten an denen der dritte Körper die besagte Ebene schneidet
beziehungsweise durchdringt, das heißt alle drei Körper befinden sich zu diesem Zeitpunkt
auf einer Ebene.13
Die hier abgebildete Grafik soll das erklärte System nochmals veranschaulichen:
aus: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die
KAM-Theorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 14, 15
Um dieses Geschehen graphisch festzuhalten bietet sich eine Methode an die heute nach
ihrem Entdecker der Poincaré-Schnitt genannt wird. Mittels dieser Darstellung kann die
Anzahl der Dimensionen, die zur genauen Beschreibung dieses Systems notwendig sind auf
nur zwei reduziert, eine Tatsache, die die Beobachtung eines dynamischen Systems wie
diesem auch entscheidend vereinfacht. Die eine Koordinatenachse bezeichnet die
Kometengeschwindigkeit (die Geschwindigkeit des dritten Körpers) zu exakt diesem
Zeitpunktes des Durchstoßes, während die andere die Jahreszeit (eigentlich den Zeitpunkt des
Durchstoßes in Bezug auf die Aufenthaltsorte der zwei anderen Körper auf ihren
Ellipsenbahnen) im Moment des Durchbruchs.
Man wählt einen Anfangspunkt, einen beliebigen Zustand des Systems, den man in das
Koordinatensystem einträgt um schließlich von diesem aus alle zukünftigen Durchbrüche für
einen gewissen, festgelegten Zeitraum einträgt.
13
zu „Das Dreikörpermodel von Poincaré“: vgl.: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und
Ordnung im Universum: Die KAM-Theorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 16
Seite 29
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Die homokline Verflechtung
Aus diesem Gedankenexperiment ergeben sich für uns zwei voneinander stark differenzierte
Résumés. Zum einen kann man das System als ein streng deterministisches bezeichnen, da ja
zukünftige Durchstoßungszeitpunkte vorhersagbar sind. Es besteht also diese eigentümliche
Ordnung, dass ohne schwerwiegende Beweggründe eine gewisse Struktur herrscht, auch in
diesem, in Bezug zur Realität gesehen, stark simplifiziertem Modell.
Auf der anderen Seite stößt man sobald die Punkte in Graphen übertragen werden (es wird
also nur die Darstellungsform geändert) auf eine erschreckende Komplexität, die Poincaré in
weiterer Folge genauer betrachtet. In seinem Werk „Les méthodes nouvelles de la mécanique
céleste“ bezeichnet Jules Henri Poincaré14 dieses undurchdringliche Gewirr von Graphen, das
bei genügender Vergrößerung noch deutlicher zu sehen ist, als homokline Verflechtung
(griech. οµός = ähnlich, gleich; κλίνω = beugen, biegen;). Nichts sei seiner Meinung nach
besser geeignet der Allgemeinheit eine Vorstellung von Schwierigkeit des
Dreikörperproblems zu geben.
Die homokline Verflechtung besteht in ihren Hauptkomponenten aus zwei Kurven, die sich
aus der vorhin genannten Änderung der Darstellungsform ergeben, wobei jeder Punkt dieser
Graphen eine Bewegung des Kometen (= der dritte Körper) repräsentiert. Eine der Kurven hat
stabile Eigenschaften, während die andere sich durch ihre Instabilität auszeichnet.
aus: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die
KAM-Theorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 14, 15
14
vgl.: COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 19, New York: Macmillan Educational Company 1992,
Seiten 169
Seite 30
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Homokline Verflechtung
Seite 7: als zusammenhängende Kurven
Seite 8: Vergrößerung des
Verflechtungsmittelpunktes
aus: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die
KAM-Theorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 14, 15
Poincarés Berechnungen
Poincaré wendet nun, um seiner eigenen Intention, dem Beweis einer Nichtexistenz weiterer
Richtlinien für das stabile Verhalten der Planetenbahnen weiter nachzugehen, eine bekannte
Methode der Chaosforschung an um zukünftige Eigenentwicklungen eines Systems zu
beschreiben, die Iteration15.
Man wählt einen Punkt der stabilen Kurve und iteriert diesen, das heißt man wartet eine volle
Periode des dritten Körpers ab und beobachtet schließlich wieder das Verhalten zu diesem
Anfangszeitpunkt. Als Ergebnis zeigt sich, dass alle erhaltenen neuen Werte (sprich Punkte)
konstant auch auf der stabilen Kurve liegen und ein asymptotisches Verhalten in Richtung
eines bestimmten periodischen Punktes; der dritte Körper nimmt also ein periodisches
Verhalten an.
Bei der Anwendung des selben Prozesses auf einen Punkt des instabilen Graphen, auch wenn
dieser von seinen Werten her betrachtet beliebig nahe an dem vorhin gewählten Punkt der
stabilen Kurve liegt, führt dies trotzdem zu einem sehr gegensätzlichen Verhalten, es ist also
nicht periodisch. Kehrt man jedoch die Iteration um und wendet auf den instabilen
Anfangspunkt den umgekehrten Prozess an, führt dies gleich dem iterierten stabilen Punkt
überraschender Weise zu einem periodischen und asymptotischen Verhalten.
Poincarés Schlussfolgerung ist konsequent logisch. Beide Kurven schneiden sich gegenseitig
in einer homoklinen Verflechtung unendlich oft, die Schnittpunkte sind die in den
Iterationsprozessen errechneten Punkte, die angenähert werden. Die Kurven in sich schneiden
sich selbst nie, sie sind jedoch extrem feinfasrig strukturiert, da sie ja jeden beliebigen Punkt
im Bewegungsfeld des dritten Körpers annehmen können müssen. Daraus resultiert auch die
homokline Verflechtung. 16
15
16
vgl.: Kapitel I: Was ist Chaos? – Eine Einführung, Seite 8 ff.
vgl.: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum:
Die KAM-Theorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 17
Seite 31
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Dass Poincaré auf seiner Suche nach weiteren Erhaltungsgrößen für das Dreikörpersystem
beziehungsweise das „n-Körper-Problem“ nicht erfolgreich war, begründet sich in seiner
folgenden Erklärung.
Eine Erhaltungsgröße ist nichts anderes als eine trotz der vergangenen Zeit konstante Kurve
des Systems, wobei sich die Entwicklung des gesamten Systemkurve an den Punkten dieser
Erhaltungsgröße (konstante Kurve) orientiert beziehungsweise diese Punkte der graphisch
dargestellten Gesetzmäßigkeit durchläuft, mit denen sie den gleichen Funktionswert teilt.
Graphisch zeichnet sich die Kurve einer Erhaltungsgröße durch besonders glatte Verläufe aus,
das bedeutet es gibt keine Unregelmäßigkeiten.
Poincaré, der folglich in seinem Konzept nach solchen glatten Kurvenverläufen sucht, ist
nicht erfolgreich. Er schließt daraus, dass die Existenz eines weiteren Erhaltungsgesetzes
aufgrund des Gewirrs der homklinen Verflechtung unmöglich ist.
Poincaré beendet seine Arbeit in der Meinung eine Lösung für das Dreikörperproblem gäbe es
nicht.
Das KAM-Theorem
Der russische Mathematiker Andrej Kolmogorow (1903-1987) widerlegt 1954 in Amsterdam
auf einem internationalen Kongress Poincarés Behauptung. Er beweist graphisch, dass stabile
Bahnen (z.B.: Planetenbahnen) auch ohne bestimmte Erhaltungsgrößen ihre Eigenschaft
beibehalten. Seiner These nach ist dieses Verhalten sogar der Regelfall. Das KAM-Theorem
an sich wird schließlich 1962 von Jürgen Moser und Wladimir Arnold mathematisch
bewiesen. Dieser KAM-Satz gilt für jedes reibungsfreie Problem der klassischen Mechanik in
der Physik.17
Die Wissenschaftler erzeugen wie Poincaré seinerzeit ein modellhaftes dynamisches System
anhand einer gestörten Version eines Behelfssystems. In der Natur ist dieses dynamische
System von Grund auf gegeben und übersetzt bedeutet die Gravitation (also die
Anziehungskraft zweier Planeten zueinander) die permanent auftretende Störung.
Die Beobachtung ihres Modells zeigt, dass alle Bahnen stabil bleiben sofern sie einer
hinreichend kleinen Störung ausgesetzt sind. Das System funktioniert also nach einer
einfachen Regel, nach der das Maß der resultierenden Instabilität von der Stärke eine Störung
abhängt. Allerdings sind die Bewegungen ab der eintretenden Störung (im Fall der Planeten
seit ihrem Entstehen) nicht mehr in periodischer Form sondern in quasiperiodischer Form
17
vgl.: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAM-Theorie (Artikel,
erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 17 ff.
Seite 32
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
anzufinden (vgl. Chaostheoretische Anwendungen - Der quasiperiodische Bewegungsablauf).
Es kristallisieren sich in der Folge drei wesentliche, mögliche Zustände für das „n-KörperProblem“ beziehungsweise für die Bewegungsabläufe dieser Körper heraus.
1.) Es gibt Körper, die sich in ihrem Verhalten offensichtlich an Gesetze halten, die für
uns nicht beweisbar sind.
2.) Es gibt Varianten dieses „n-Körper-Problems“, die völlig chaotische Bewegungen
auslösen und unberechenbar sind.
3.) Es entstehen in diesem Meer von Chaos und Unvorhersagbarkeit so genannte Inseln
der Ordnung, auf denen die in Punkt 1.) beschriebenen Gesetze gelten. Die Planeten
Jupiter und Saturn liegen rein zufällig auf einer solchen, die die Stabilität ihrer Bahnen
trotz ihres gefährlichen rationalen Verhältnisses gewährleistet.18
Die abgebildete Grafik zeigt diese „Inseln der Ordnung“ als weiß umrahmte Flächen.
aus: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAMTheorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 38
Die KAM-Theorie besagt nun, wann sich ein Gesamtsystem, das von einem „n-KörperProblem“ betroffen ist, entweder in einem chaotischen oder einem geordneten Zustand
befindet. Zur Berechnung dieser Zustände (es handelt sich natürlich wieder ein
deterministisches = wissenschaftliches Chaos) wird ein sehr schnelles Eintreten der
Konvergenz19 vorausgesetzt, da nur so das „Problem des kleinen Nenners“ umgangen werden
kann. Um dies zu erreichen wendet man die Methode der rationalen Approximation an. Das
ist eine Vorgehensweise, bei der der Schwerpunkt auf der Frage liegt ob ein System durch
eine irrationale Rotationszahl (das Verhältnis der Umlaufzeiten von n-Körpern)
gekennzeichnet ist. Ist dieser Fall gegeben wird die diophantische Eigenschaft der irrationalen
18
vgl.: mit dem in diesem Kapitel auf Seite 25 beginnenden Artikel „Jupiter und Saturn – Die Grenzen der
Stabilität“
19
vgl.: mit dem in diesem Kapitel auf Seite 27 beginnenden Artikel „Der quasiperiodische Bewegungsablauf“
Seite 33
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel III.: Chaostheoretische Forschung: Astrophysik – Die KAM-Theorie
Zahl untersucht. Eine diophantische, rationale Zahl zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich
schlecht durch rationale Zahlen annähern lässt.
Das KAM-Theorem besagt hierzu, je diophantischer, sprich komplexer eine irrationale Zahl
ist, desto leichter überstehe sie paradoxerweise eine Störung. Das Hauptproblem bei dieser
Berechnung ist der Prozess der rationalen Approximation, da sie mithilfe eines Computers
nicht errechenbar ist. Alle auf dem PC dargestellten irrationalen Zahlen sind in Wirklichkeit
rational, dies ist eine Konsequenz der automatischen Rundung, die ein Computer durchführt.
Zusätzlich zu dem Verhalten einer irrationalen Rotationszahl, existiert das Phänomen des
rationalen Verhältnisses, wie wir es bei Jupiter und Saturn bereits angetroffen haben. Das
KAM-Theorem beschreibt diese Konstellation als ein System, das über einen selbst
korrigierenden Effekt20 verfügt. Durch die quasiperiodische Bewegung werden kleine
Störungen, die durch die Gravitation der beiden Planeten entstehen, ausgeglichen. Denn klar
definierte Punkte innerhalb der periodischen Bahnen verschwimmen durch die Quasiperiodik
zu den bereits erwähnten Inseln der Ordnung, die eine gewisse Toleranzgrenze für
unregelmäßige Bewegungen als Eigenschaft mit sich führen.
Diese besondere Situation der Planetenbahnen von Jupiter und Saturn schließt jedoch nicht
aus, dass bei einer zu großen Störung doch eine chaotische Bahn entsteht und einer der
Planeten in das Weltall abdriftet. Das bedeutet wissenschaftlich gesehen, dass diese Inseln der
Ordnung direkt neben chaotischen Feldern liegen können. Ordnung und Chaos trennt in
diesem speziellen Fall, wie im Allgemeinen, nur eine hauchdünne Grenze.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die KAM-Theorie auf viele Rätsel des „n-KörperProblems“ eine Antwort gefunden hat, größtenteils aufgrund von Abschätzungen und
Approximation irrationaler und rationaler Zahlen und deren Auswirkungen.
Es bleiben jedoch stets Bewegungen (z.B.: bestimmte Planetenbahnen), die aufgrund ihrer
Komplexität nicht erklärbar sind. Anwendungen in der modernen Physik sind dennoch
zahlreich gegeben. Bei dem Prozess einer Teilchenbeschleunigung verhilft die KAM-Theorie
zu einer exakten Konstruktion der Speicherringe, auf denen Protonen mit riesiger
Geschwindigkeit bis zu 1011 Umläufe vollbringen. Die KAM-Theorie beweist, dass Ordnung
nicht immer Gesetzen zu Grunde liegt, sondern auch eine intrinsische Eigenschaft eines
Systems sein kann. 21
20
HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAM-Theorie (Artikel,
erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 21
21
vgl.: HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die KAM-Theorie (Artikel
erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft), Seite 23
Seite 34
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Chaos in der Medizin
Wenn wir uns vorstellen von einem Arzt behandelt zu werden der die neuesten Forschung der
Chaostheorie verwendet um einen Patienten zu heilen, so klingt dies für uns wenig vertrauen
erweckend. Wir wundern uns innerlich wie es möglich ist Organe mittels chaostheoretischen
Entdeckungen zu heilen beziehungsweise ihre Eigenschaften zu erforschen. Weil an dem
Begriff Chaos heute immer noch eine negative Bedeutung haftet, die dieses Wort als
unbezwingbares Durcheinander erscheinen lässt, ist es für uns unvorstellbar ihn als ein in der
Medizin zielführendes Mittel zu akzeptieren.
In diesem Kapitel wird ein bestimmter Anwendungsbereich der chaostheoretischen
Kenntnisse in der Medizin genauer erläutert, der einerseits den größten allgemeinen
Bekanntheitsgrad besitzt und andererseits die bedeutendsten Erkenntnisfortschritte auf
medizinischer Ebene erzielen konnte.
Vorweg will ich zum besseren Verständnis kurz eine Einführung in die medizinische
Definition von Chaos anführen.
Der physikalische und medizinische Chaosbegriff – Ein Vergleich
Durch ein Gespräch mit Prim. Univ. Doz. Dr. Christian Datz, dem Vorstand der internen
Abteilung des allgemein öffentlichen Krankenhauses in Oberndorf, konnte ich mich über die
Richtigkeit meiner Notizen zu dem Thema „Kammerflimmern“, das ich Laufe dieses Kapitel
genauer erläutern werde, erkundigen. Die Diskussion ermöglichte es mir zwischen
verschiedenen Herzkrankheiten differenzieren zu können und somit Missverständnisse zu
vermeiden beziehungsweise eine Konzentration auf ein zentrales Thema zu erzielen.
Es wurde mir auch erstmals wirklich klar, dass es einen sehr deutlichen Unterschied zwischen
Medizin und Physik auf der einen Seite und Philosophie auf der anderen Seite bezüglich der
Sichtweise beziehungsweise der Definition von Chaos gibt. Die Frage, welchen Zustand eines
Systems wir als Chaos bezeichnen muss meiner Meinung nach neu überdacht werden.
Das philosophische Chaos ist jenes wie es in einem vorhergehenden Kapitel1 beschrieben
wird. Danach ist unser Leben vom Chaos bestimmt, jene Dinge, die wir als geordnet kennen
sind nur kleine Inseln der Ordnung in einem Meer von Chaos. Wir leben also so gesehen in
einer chaotischen Welt, die manchmal durch Ordnung unterbrochen wird.
Die Medizin schildert den Einfluss von Chaos in unserer Welt als völlig unterschiedlich. So
wird besagt, dass unser Dasein bis ins kleinste Detail geordnet ist. Bedenkt man dabei zum
1
vgl.: Kapitel I: Was ist Chaos? – Eine Einführung
Seite 35
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Beispiel die miteinander harmonierenden einzelnen Organe des Körpers, so ist es verständlich
war um ein Arzt das Leben nicht dem Zufall überlassen kann. Diese Sichtweise der Welt
schließt jedoch das Chaos nicht aus, denn medizinisch gesehen gibt es sehr wohl chaotische
Einbrüche in unser Leben. Krankheiten, als Zusammenbrüche und Anfälle werden als solche
Einbrüche als interpretiert, die den Normalzustand des menschlichen Körpers ablösen. Die
Medizin, sieht also um es als Veranschaulichung vorweg zu nehmen das Kammerflimmern als
einen chaotischen Zustand des Systems „Körper“ an, der als eine Übergangsphase in einen
neuen Zustand dient. Das Chaos ist also lediglich eine verbindende Überbrückung eines
Normalzustandes zum nächsten. Im Fall eines Herzinfarkts kann die darauf folgende Phase
auch der eintretende Tod sein. Selbst aber in diesem Fall ist das Chaos kein anhaltender
Zustand, denn der Tod wird als eigenständiger, aber ewiger Normalzustand angesehen, da in
dem Prozess der Entwicklung des menschlichen Körpers auch eine fixe Größe darstellt.
Das Kammerflimmern – Eine Einführung
Mithilfe der Topologie, einer mathematischen Lehre über Lage und Ordnung geometrischer
Gebilde im Raum, war es der Wissenschaft erstmals möglich, sich einen Einblick in das
Verhalten des bisher unerklärbaren, chaotischen Kammerflimmern des Herzens verschaffen.
Das Kammerflimmern ist ein plötzliches, ungeordnetes (= chaotisches) Zusammenziehen von
Herzmuskelfasern. Der Herzschlag, der im Regelfall das Herz als Ganzes kontrahieren lässt,
unterteilt sich hierbei in ein Zucken aus unzähligen unkoordinierten Fasern. Jede Faser
kontrahiert dabei in raschem Aufeinanderfolgen mit dem Nachbargewebe.
Das Kammerflimmern löst eine derartig schnell Einzelkontraktion von Fasern aus, dass die
Oberfläche des Herzmuskels durch die sich rasend schnell verändernde Reflexionsoberfläche
für Licht ein Schimmern bei einer Freilegung des Herzens hervorrufen würde.
Sobald das Flimmern länger als einen Zeitraum von fünf Minuten andauert kann es für den
Betroffenen tödliche Folgen haben.
1887 von John A. McWilliam, einem Professor der „University of Aberdeen“, als Ursache für
den Sekundenherztod bezeichnet2, führt dieses „delirium cordis“ (lat.: Verrücktheit des
Herzens) zu einem qualvollen Erstickungstod. Jährlich fordert das Kammerflimmern so eine
erschreckende Anzahl von Opfern weltweit, da es medizinisch praktisch unvorhersagbar ist.
Es tritt ohne jegliche Vorwarnung sowohl bei gesunden wie bereits vorbelasteten Menschen
2
vgl.: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von
der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 94
Seite 36
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
ein. Autopsien lösen das Rätsel des Kammerflimmerns auch nicht, die Suche nach einem
Auslöser für diese Katastrophe verläuft bis jetzt erfolglos.
Ein möglicher Auslöser
1914 konnte der Physiologe George Ralph Mines3 beweisen, dass ein relativ kleiner
elektrischer Reiz ein möglicher Auslöser für Kammerflimmern ist, jedoch wird er Opfer jenes
Experiment, welches diese Gewissheit bringen soll – Er trat er selbst als Versuchsperson ein.
Aus seinen Aufzeichnungen geht eindeutig hervor, dass ein Störimpuls, sofern dessen Stärke
und Zeitfolge exakt einen bestimmten Wert einnehmen, für den chaotischen Sekundenherztod
verantwortlich sein kann. Sobald jedoch der Impuls diese Eigenschaften nicht besitzt, löst er
nur eine Verschiebung des Herzrhythmus aus, da das Herz ein zur rhythmischen, elektrischen
Entladung fähiges System ist.
Ein topologisches Gesetz, das die Existenz von eben jenen gewissen Impulsstärken feststellt,
erklärt, dass keine Verschiebung des Herzschlages stattfindet, wenn dieser Reiz mit
katastrophaler Auswirkung eingesetzt wird. Stattdessen kommt es zu einem Aussetzen des
Herzrhythmus, das aber noch auf einen sehr kleinen Raum, sprich wenige Herzfasern,
beschränkt ist und daher noch nicht als Herzflimmern bezeichnet wird. Es entsteht lediglich
ein so genannter toter Fleck auf der Herzoberfläche, der nicht mehr kontraktionsfähig ist. Um
diesen Punkt beginnt sich eine eigene Welle von elektrischen Impulsen auszubreiten, die sich
schließlich über alle Fasern ausbreitet und stetig zirkuliert. Die hemmende Wirkung, die dabei
für den eigentlichen Herzrhythmus entsteht, ist noch unbedeutend gering.
Beim Kammerflimmern bilden sich weiters eine große Anzahl dieser toten Gewebefasern, die
allesamt mehrere kleine Wellen auslösen, die sich bei einem Aufeinandertreffen gegenseitig
zu einer immer größer werdenden Welle induzieren. Das Chaos beginnt.
Nach diesem in der Medizin wohl gängigsten Erklärungsmodell für einen Ausbruch des
Kammerflimmerns, eskaliert die Situation des Systems schließlich, sobald die Welle der
vielen kleinen elektrischen Impulse das Herzgewebe zu einem chaotischen Zucken angeregt
hat.
3
vgl.: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von
der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 92
Seite 37
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Kleine Herzkunde
Bevor die Frage behandelt wird, wie ein solcher Reiz, der schließlich zu Kammerflimmern
führen kann, entsteht, soll der Leser noch kurz über die wesentlichsten Bestandteile des
menschlichen Herzens informiert werden.
Unser Herz besteht aus vier Kammern, die sich in zwei Ventrikel und zwei Vorhöfen aufteilen
lassen. Während die Ventrikel als Hauptpumpen für das Blut benötigt werden, sind die
Vorhöfe für den regelmäßigen Transport des Blutes in diese organischen Pumpen
verantwortlich.
Ein Herzschlag, auch bezeichnet als Kontraktion des Herzens, beginnt in den Vorhöfen und
setzt sich weiter bis in die Ventrikel fort. Der Sinusknoten, ein so genannter Schrittmacher im
Herzen, ist hierbei der ausschlaggebende Impulssetzer, der durch einen weiteren Knoten, der
sich zwischen den Vorhöfen befindet, unterstützt wird. Die Purkinje-Fasern, ein komplexes
Netz von Nerven die die Kontraktion schließlich über den gesamten Muskel verteilen,
schließen direkt an. Dieser natürliche Herzimpuls durchläuft jede einzelne Herzzelle (=
Faser).Während die Faser, sobald sie in Ruhe ist, negativ gegenüber dem Nachbargewebe
geladen ist, wird sie kurzzeitig durch den Reiz positiv und kontrahiert, bevor sie wieder in den
Ruhezustand fällt. Dass der elektrische Reiz die Möglichkeit hat, sich durch alle Herzfasern
durch zu bewegen, ist in den geringen elektrischen Widerständen der Zellmembranen zu
begründen. Aufgrund der Ladungswechsel wird dieser Vorgang des Impulsdurchlaufes durch
eine Herzzelle als Depolarisation4 bezeichnet. Die Erholungsphase, die wenige
Zehntelsekunden andauert, ist die refraktäre Phase5 des Herzens. Während dieser sehr kurzen
Zeit reagiert die Faser auf keinen Reiz, kann also nicht kontrahieren.
In eine Ruhesituation schlägt unser Herz ungefähr einmal pro Sekunde. In Zeiten des Stresses
und in Angstsituationen kann der Sinusknoten von unserem Gehirn, anderen Organen und
Nervenzentren aus beschleunigt werden. Die perfekte Abstimmung von Beschleunigung und
Verlangsamung des Herzschlages wird als Synchronisation bezeichnet und dient als Merkmal
für einen gesunden Menschen. Bei einem Ausfall dieser Synchronisation, der durch einen
Infarkt, eine zu große Hormonkonzentration im Herz oder eben durch einen, wie bereits
erwähnten, elektrischen Impuls von Außen ausgelöst werden kann, besteht die Möglichkeit
von tödlichen Folgen für den Betroffenen.
4
Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von der
Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 93
5
John BRIGGS und F. David PEAT, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie,
Wien: Carl Hanser Verlag 1990, Seite 89
Seite 38
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Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
aus: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur,
Sekundenherztod: Hilfe von der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-WissenschaftVerlagsgesellschaft 1989, Seite 94
Das Kammerflimmern – Ursachenforschung
Die Erkenntnis der Physiologie, dass Impulse von einzelnen Zellen weitergeleitet werden, ist
zur weiteren Erforschung des Entstehens von chaotischem Kammerflimmern nicht unbedingt
hilfreich. Das Kammerflimmern ist vielmehr eine Störung, die sich auf die gesamte
Koordination des Herzrhythmus bezieht. Es ist dabei sogar anzunehmen, dass jede der
einzelnen Herzfasern für sich sogar in korrekter Weise arbeitet, lediglich aber die
Synchronisation der Kontraktion völlig unterschiedlich ist.
Wieder wirft sich die Frage nach der Ursache für die Störung der natürlichen Synchronisation
auf. Wie bereits beschrieben, führt eine elektrische Wellenbildung, die durch einen Reiz
zwischen zwei Kontraktionen ausgelöst wird, zum Kammerflimmern. Durch Experimente
wird genau ein Punkt zwischen diesen Kontraktionen gefunden, der schließlich zur
Seite 39
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Katastrophe führt. Diesen Punkt nennt man die vulnerable Phase des Herzens6. In dieser
Phase ist es möglich, dass Chaos in der Herzkontraktion entsteht.
Der menschliche Körper besitzt neben dem Herz noch eine Vielzahl weiterer circadianen
Rhythmen, das heißt es gibt mehrere Abläufe im Körper die von einer so genannten inneren
Uhr gesteuert werden. Alle diese Mechanismen (z.B.: Nervus vagus) sind zur elektrischen
Entladung fähig. Die folgenden Überlegungen sind deshalb nicht ausschließlich für den
Herzrhythmus gültig, sie zeigen generell wie ein sich rhythmisch bewegendes, bioelektrisches
System auf bestimmte elektrische Reize reagiert, ob nun mittels einer kurzen Störung oder
mittels einer einfachen Verschiebung des Rhythmus.
Für eine intensivere Beschäftigung mit dem Herzrhythmus ist es notwendig zwei Begriffe
näher kennen zu lernen, die zur exakteren Beschreibung behilflich sind.
Die Bezeichnung Kopplungsintervall7 beschreibt das Intervall zwischen einem Herzschlag
und dem darauf einsetzenden Reiz. Die Länge dieses Zeitabschnittes spielt eine wichtige
Rolle wenn es um die Verarbeitungsweise einer Störung geht, die sich nach diesem Zeitraum
richtet. Der zweite Parameter wird als Latenzzeit8 bezeichnet. Die Latenzzeit ist jenes
Intervall zwischen dem Reiz und dem ersten darauf folgenden Herzschlag, sie drückt also
indirekt durch ihre Länge die Art der Störung aus.
Nun kann man aufgrund von Beobachtungen einige Folgerungen schließen. Abhängig vom
Kopplungsintervall und der Stärke des elektronischen Reizes kann die Latenzzeit in ihrer
Dauer entweder beschleunigt oder verzögert werden. Man spricht daher von zwei
wesentlichen Beziehungen zwischen Latenzzeit und Kopplungsintervall, sie werden als
weiche und harte Wiederanpassung9 bezeichnet (weak and strong rescheduling). Die weiche
Wiederanpassung geht davon aus, dass der zugeführte Reiz zu gering ist um den nächsten
Herzschlag in irgendeiner Form zu beeinflussen während die harte Wiederanpassung durch
eine Nettozu- oder Abnahme der Latenzzeit charakterisiert wird. Dennoch kehrt der
Herzschlag wieder zum Ausgangswert zurück, sobald eine volle Schlagperiode verstrichen ist.
es handelt sich also auch dabei nur um eine zeitlich beschränkte Störung des Rhythmus.
6
Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von der
Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 95
7
vgl.: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von
der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 96
8
vgl.: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von
der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 96
9
Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von der
Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 96
Seite 40
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Es handelt sich bei der Beziehung zwischen Kopplungsintervall und Latenzzeit um ein
instabiles aber dennoch proportionales Verhältnis. Dies bedeutet, dass das Prinzip „je
größer das Kopplungsintervall, desto kleiner die Latenzzeit“, für sehr wenige, bestimmte
Punkte nicht korrekt ist.
Da es zu jedem Reiz unendlich viele Latenzzeiten gibt, die jeweils vom Reizzeitpunkt bis zu
einem beliebigen, nachfolgenden Schlag andauern, bezeichnet man jene als die Basislatenz,
die aus der Differenz einer beliebigen Latenzzeit und den dazugehörigen verstrichenen
Schlagperioden resultiert.
Der dritte Graph
von oben zeigt
die Entwicklung
eines
Herzschlages bei
dem genauen
Treffen eines
singulären
Reizes. Die
Bewegung wird
chaotisch.
aus: Spektrum der
Wissenschaft:
Verständliche Forschung,
WINFREE T. Arthur,
Sekundenherztod: Hilfe von
der Topologie, Heidelberg:
Spektrum-derWissenschaftVerlagsgesellschaft 1989,
Seite 41
aus: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche
Forschung, WINFREE T. Arthur,
Sekundenherztod: Hilfe von der Topologie,
Heidelberg: Spektrum-der-WissenschaftVerlagsgesellschaft 1989, Seite 102
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Gemäß diesem Wechselwirkungsprinzip erwartet man sich als Konsequenz, dass jede
erdenkliche Kombination von Reizstärke und Kopplungsintervall eine eigene Basislatenz
ergibt und damit einen individuellen Wert einnimmt. Weiters würde es als logisch erscheinen,
wenn die Latenzzeit sich stetig ändert, sobald ein auch nur eine minimale Veränderung der
Anfangsbedingung eintritt. Es tritt jedoch ein überraschendes Phänomen ein. Nicht jeder
Punkt, der beim Auftragen von Reizstärke zu Kopplungsintervall in einem 2DKoordinatensystem entsteht, trägt diese Eigenschaft eines fließenden Übergangs zu seinem
Nachfolgewert mit sich. Das heißt, es gibt für bestimmte solche Punkte keine Basislatenz.
Diese Spezialfälle werden aufgrund des sie auslösenden singulären Reizes als singuläre
Punkte von rhythmischen Systemen bezeichnet. Es gibt also eine so genannte mathematische
Singularität, ein Loch im Muster der zeitlichen Abfolge, das zum Chaos führt.
Die Topologie dieser Bewegung zeigt, dass ein solcher singulärer Reiz nicht sehr stark sein
kann, vielmehr befindet er sich im Bereich der Durchschnittsstärke für einen solchen
Experiment-Reiz. Er wäre auf einer Tabelle so zwischen den Werten für eine harte
Wiederanpassung als obere Grenze und einer weichen Wiederanpassung als unteres Limit zu
lokalisieren.
Während alle anderen Reize entweder ohne Folgen (weiche Wiederanpassung) oder nur
zeitlich begrenzte Folgen (harte Wiederanpassung) mit sich bringen, fordert dieser speziell
Impuls eine permanente Störung des Schrittmachers eines Systems (im Falle unseres Herzens
wäre dies der bereits erwähnte Sinusknoten).
Dieser topologische Lehrsatz, der die Existenz eines singulären Punktes in einem
rhythmischen System vorhersagt, lässt allerdings die möglichen Folgen einer auf diese Weise
entstandenen Störung ungeklärt. Im Prinzip aber sind zwei Möglichkeiten gegeben. Zum
einen kann eine chaotische Abfolge von Schlägen entstehen zum anderen kann auch ein
völliger Stillstand des Systems ausgelöst werden.
Seite 42
aus: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod:
Hilfe von der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 105
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Der experimentelle Beweis für diese Erscheinung in der Wissenschaft wird mittels einer auf
dem Computer nachkonstruierten Simulation der Tätigkeit einer Nervenzelle eines
Tintenfisches aufgezeigt (die Wahl einer Tintenfischzelle ist lediglich ein Mittel zum Zweck,
sie ist besonders groß und ermöglicht ein leichteres Experimentieren). Diese Nervenzelle
schlägt gleich dem Herzen in periodischer Abfolge.
Diagramme, die aus diesem Versuch hervorgehen, zeigen so genannte Isochrone (griech.:
Gleichzeitigkeiten), die durch die Verbindung der einzelnen Latenzzeiten zu bestimmten
Reizen erstellt werden. Diese Isochrone lassen ein „schwarzes Loch“10 in ihrem Verlauf
erkennen, das einen verhältnismäßig großen Bereich einnimmt. Die unerwartete Größe dieses
Lochs bestätigt, dass die Möglichkeit einen singulären Reiz auszulösen doch erschreckend
groß ist.
aus: Spektrum der
Wissenschaft:
Verständliche
Forschung,
WINFREE T.
Arthur,
Sekundenherztod:
Hilfe von der
Topologie,
Heidelberg:
Spektrum-derWissenschaftVerlagsgesellschaft
1989, Seite 99
Grafik:
Der weiße, ovale
Bereich
symbolisiert das
erwähnte
schwarze Loch.
Mittlerweile ist diese Hypothese auch für biologische Systeme wie unser Herz bewiesen.
Zusammenfassend bedeutet dies, dass die rhythmische Aktivität eines jeden
Herzschrittmachers prinzipiell ausschaltbar, sprich ins Chaos überführbar, ist, sobald er zur
weichen und harten Wiederanpassung fähig ist. Denn dies ist die Voraussetzung für das
Erreichen eines solchen singulären Reizes, da eine obere und untere Grenze (siehe oben) für
diesen existieren muss.
10
vgl.: Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von
der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 102
Seite 43
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Die Auswirkung der Singularität
Singularitäten lösen wie im vorhergehenden Punkt erklärt Arrhythmie aus. Im Falle des
menschlichen Herzens äußert sich diese arrhythmische, chaotische Bewegung nicht durch
eine gestörte Kontraktion selbst, sondern durch die räumliche Desorganisation einer
bestimmten vorherrschenden, natürlichen Welle, die schließlich die Kontraktion auslöst. Im
Normalzustand zirkuliert die Welle so, dass sie immer auf erholte Zellen trifft und sich
faktisch unendlich oft über den Muskel fortpflanzt.
Wenn bei einer Tintenfischzelle die Singularität möglich ist, dann könnte auch das
Kammerflimmern des menschlichen Herzen so entstehen. Die Eigenwelle trifft demnach auf
einen singulären Punkt, dieser jedoch kann von sich aus diese Welle nicht fortsetzen. Er
beginnt eigene elektrische Impulse auszusenden und es entsteht somit eine von diesem
schwarzen Punkt ausgehende, individuelle Kreiswelle. Sobald sie sich von ihrem Ursprung
wegbewegt gibt es die Möglichkeit, dass sie sich durch Unregelmäßigkeiten auf der
Herzoberfläche zerteilt. Somit tritt eine hemmende Störung für die Eigenwelle des Herzens
ein, die die Arrhythmie auslöst.
Diese Unebenheiten auf dem Muskelgewebe des Herzens erhöhen zusammen mit einem
dadurch entstandenen, minimalen Fehler bei der Kontraktion maßgeblich das Risiko für ein
Eintreten des Kammerflimmerns.
Die Medizin kennt aufgrund dieser erläuterten Forschungen heute drei wichtige Eigenschaften
des Kammerflimmerns:11
1.) Das Kammerflimmern wird durch einen elektrischen Impuls, der während der
vulnerablen Phase des Herzens einsetzen muss, ausgelöst.
2.) Das Kammerflimmern tritt aufgrund der erwähnten Wellenbildung immer sofort nach
einer Kontraktion ein.
3.) Das Kammerflimmern wird stark durch Unebenheiten auf dem Herzgewebe
begünstigt. Jedes menschliche Herz kann kein ideales Gewebe sein, da es aus einer
biologischen Entwicklung heraus entstanden ist. Unter einem idealen Gewebe versteht
man ein von jeglicher Unregelmäßigkeit freies Gebilde.
11
Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe von der Topologie,
Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 105
Seite 44
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel IV.: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern
Aktuell sind keine weiteren Fortschritte in der Erforschung von Kammerflimmern zu
verzeichnen. Das Kammerflimmern hat sich aber durch die beschriebenen Erkenntnisse
immer mehr zu einem Aufgabenbereich der Präventivmedizin entwickelt. Es gilt demnach die
schwarzen Löcher auf dem Herzgewebe möglichst gering zu halten um ein Erkrankungsrisiko
zu minimieren und chaotische Kontraktionen zu verhindern.
Dieses Kapitel (Kapitel 4: Chaostheoretische Forschung: Biophysik / Medizin – Das Herzkammerflimmern)
wurde durch Informationen aus auf folgenden Quellen verfasst:
• Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung, WINFREE T. Arthur, Sekundenherztod: Hilfe
von der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft 1989, Seite 105
• Gespräch und Interview mit Prim. Univ. Doz. Dr. Christian Datz
Ausdrücke mit besonderer Bedeutung wurden bereits im Text herausgehoben und mittels Fußnote erklärt.
Seite 45
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
Eine Einführung
Wie bereits in Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung1 erwähnt, gilt der Prozess der
Rückkopplung als ein wesentlicher Auslöser für das Eintreten von chaotischem Verhalten von
Systemen. Während die Iteration rein mathematisch passiert, sprich die Folgen mathematisch
berechnet und folglich durch die Fraktalgeometrie dargestellt werden können, entsteht der
Rückkopplungsprozess nicht auf dem Papier, sondern durch objektbezogene, mechanische
Anwendung. Man kann also die Rückkopplung als eine Übersetzung der Iteration in unsere
Alltagswelt bezeichnen.
Es ist an sich sehr leicht eine Rückkopplung zwischen zwei Systemen (die Grundbedingung
für Rückkopplung ist das Vorhandensein von mindestens zwei Systemen) zu erreichen. Um
dieses Phänomen auszulösen, gibt es zahlreiche, aus der Sicht der Wissenschaft
erfolgbringende Methoden, prinzipiell unterscheidet man aber zwischen analoger und
digitaler Rückkopplung.
Ersteres benötigt keine elektronischen Medien um erzeugt zu werden, die Übertragung und
schließlich auch die Überlagerung der Information, die schließlich durch die Rückkopplung
ausgelöst wird, basiert auf Wellenphänomenen wie zum Beispiel Schall. Jeder kennt den
Prozess der Rückkopplung und deren Auswirkung, die bei Konzerten häufig auftritt. Das
Mikrofon und eine Lautsprecherbox schaukeln sich durch sich unendlich wiederholte
Aufnahme und Wiedergabe von akustischen Reizen gegenseitig ins Chaos auf, das
auftretende schrille Pfeifen ist uns allen ein Begriff.
Digitale Rückkoppelung ist ein Prozess bei dem die Übergabe der Information mit
elektronischen Medien (diverse Verbindungskabel) erfolgt. Das anschließend erläuterte und
durchgeführte Experiment wird als „Videofeedback“ bezeichnet und zeigt auf eindrucksvolle
Weise wie digitale Rückkopplung funktioniert und welche erstaunlichen Ergebnisse bei einem
solchen Prozess entstehen können.
aus: John BRIGGS und F. David PEAT,
Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise
durch die Chaos-Theorie, Wien: Carl
Hanser Verlag 1990, Seite 33
1
vgl.: Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung; Seite 8
Seite 46
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
Das Videofeedback – Eine Kurzbeschreibung
Das Experiment „Videofeedback“ funktioniert eigentlich nach einem simplen
Rückkopplungsschema. Man positioniert eine Videokamera zu einem Monitor so, dass dessen
Bildfläche gefilmt wird und verbindet schließlich diese zwei Systeme (Videokamera und
Monitor) mit einem gewöhnlichen A/V-Kabel. Somit zeigt der Monitor ab dem Zeitpunkt der
Verbindung das Bild, das das Videogerät aufnimmt. Es entsteht eine Rückkopplung, da das
angezeigte Bild am Monitor wiederum gefilmt wird. In unvorstellbar kurzer Zeit durchlaufen
beide Systeme eine unendliche Schleife an Anzeigen (am Monitor) und
Aufnahmen (Videokamera). Dabei entstehen, wenn man das Aufnahmegerät in bestimmten
Winkeln zum Monitor neigt, so genannte Fraktalbilder, wie sie in der Fraktalgeometrie der
Chaostheorie sonst nur rechnerisch erzeugt und mit Hilfe von Computern gezeichnet werden
können.
Die Tücken des Experiments
Die formulierte Kurzbeschreibung des Experiments ist eine Zusammenfassung dessen, was
ich persönlich aus zahlreichen Erklärungen in Fachbüchern zu diesem Thema finden konnte.
Es zeigte sich sehr schnell, dass eine Information dieser Art nicht ausreichend ist um ein
befriedigendes Ergebnis erreichen zu können. Man muss akzeptieren, dass zum Zwecke
dieses Experimentes keine in ihrer Beschreibungsmethode ausreichende Fachliteratur zur
Verfügung steht. Es scheint als wäre das Videofeedback an sich eine sehr beliebte Methode
chaotische Vorgänge anschaulich darzustellen, die jedoch aufgrund ihrer scheinbar leichten
Durchführung kein allzu großes wissenschaftliches Interesse auf sich zieht.
Aus meinen persönlichen Erfahrungen kann ich diese nun Hypothese klar widerlegen. Ich
befinde es vielmehr als ein Experiment, das einen unendlichen Variantenreichtum
hervorbringt und auf Veränderungen an der Konstellation der Geräte (auch zueinander) sehr
empfindlich reagiert. Eine genaue Beschäftigung mit diesem Thema ist also, so glaube ich
nach einer erfolgreichen Durchführung des Videofeedbacks urteilen zu können, sehr
spannend.
Um also trotz der geringen Information diesen Multimedia-Versuch erarbeiten zu können,
wand ich mich mit folgendem Schreiben2 an mehrere Universitäten Österreichs
beziehungsweise an deren Physik-Institute:
2
das Schreiben wurde am 1.12.2004 an folgende Adressen per Email verschickt:
[email protected], [email protected], [email protected]
Seite 47
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich bin ein Schüler des diesjährigen Maturajahrgangs des Akademischen Gymnasiums Salzburg und
beschäftige mich im Moment intensiv mit meiner Fachbereichsarbeit über das Thema "Chaostheorie"
im Lehrgegenstand Physik.
Zur Vervollständigung und praktischen Anwendung meiner Arbeit ist es mir ein Anliegen mehrere
Experimente zu diesem Thema durchzuführen. Besonderes Interesse habe ich an einem Versuch, der
unter Verwendung zweier technischer Geräte Chaos durch das Prinzip der Rückkopplung erzeugt.
Dabei wird eine Videokamera an einen Fernsehbildschirm angeschlossen und so aufgestellt, dass sie
genau die Bildfläche des TV-Gerätes aufnimmt. Als logische Konsequenz zeigt der Fernseher dieses
Bild, das wiederum vom Videogerät gefilmt wird - eine Abfolge die also bis ins Unendliche
weitergeht. Wenn man nun das Objektiv der Kamera so einstellt, dass nur mehr ein kleiner Teil der
Bildfläche des TV-Gerätes aufgenommen wird, entsteht laut einer Versuchsbeschreibung ein Chaos
aus Farben und Strukturen auf dem Bildschirm.
Nach mehreren Versuchen ist mir bis jetzt noch nicht gelungen dieses Experiment nachzustellen. Ich
wollte, da im Arbeitsbereich ihres Institutes auch die Unterteilung "Chaos und Systemforschung"
angeführt wird anfragen, ob sie mit derartigen Erscheinungen schon Erfahrung gemacht haben
beziehungsweise ob sie mir vielleicht mit Tipps weiterhelfen können. Speziell interessiert mich wie ich
die Einstellung der Kamera (Objektiv) wählen muss, damit der gewünschte Effekt eintritt.
Diesbezüglich konnte ich bis jetzt keine ausreichende Auskunft finden.
Ich würde mich sehr über eine Antwort freuen, und danke ihnen im Voraus für ihre Mühen.
Hochachtungsvoll,
Kilian Rieder
Schüler der 12. Schulstufe im Europazweig des Akademischen Gymnasiums Salzburg
Durch die beiden Antwortschreiben3 der Universität Graz und Leoben konnte ich meine
Arbeit fortsetzen und mittels gezielter Internetrecherche4 erfolgreich beenden. Ich möchte
mich hiermit daher noch einmal herzlich für die Hilfe bei Ao.Univ.-Prof. Dr. Gernot
Pottlacher (Institut für Experimentalphysik an der TU Graz) und UA Dr. Ronald Meisels
(Institut für Physik an der Montanuniversität Leoben) bedanken.
3
4
Die beiden Schreiben sind auf der beiliegenden Multimedia-CD nachzulesen.
vgl.: www.videofeedback.dk
Seite 48
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
Das Experiment – Aufbau
Skizze: Kilian RIEDER, 10.1.2005
Foto: Kilian RIEDER, 27.1.2005
Aus den diversen Beschreibungen des Experiments wurde die oben eingefügte Skizze erstellt,
aus der sich schließlich das Modell für die Umsetzung in die Realität (unteres Bild) ergibt.
Seite 49
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
Der im Foto noch zusätzlich aufscheinende Laptop diente lediglich um den Monitor während
der einzelnen Versuchsreihen gemäß den optimalen Betriebsbedingungen zu verwenden.
Verwendete Materialien bzw. Geräte:
•
Monitor: Hyundai, ImageQuest L19T
•
Videokamera: Canon Digital Video Camera und passendes Stativ
•
A/V-Verbindungskabel
•
gewöhnliche Taschenlampe
Vorbereitung:
Die Videokamera wird mittel Stativ gegenüber dem Monitor in einem Abstand (d) von cirka
einem Meter aufgestellt. Dabei ist zu beachten, dass die Kamera ungefähr mit der Mitte des
Bildschirms in einer Höhenlinie steht (es reicht eine annähernd genaue Position). Die Linse
der Kamera ist zunächst genau auf den Monitor gerichtet.
Um ein Gelingen des Experiments zu gewährleisten muss zuerst der Öffnungswinkel der
Videokamera (=der Bereich der aufgenommen wird) so eingestellt werden, dass der Monitor
genau in seiner gesamten Größe in das Bild der Videokamera passt. Es ist daher sehr hilfreich
eine Videokamera zu verwenden, die über ein zusätzliches Display verfügt, da so die genaue
Einstellung wesentlich leichter fällt. Weiters muss die Kamera über Zoom-Funktionen
verfügen (zoom in und zoom out).
Ich habe diese Einstellung während meiner gesamten Arbeit als so genannte „1 : 1 –
Einstellung“ bezeichnet, da der Monitor mit seinem gesamten Umfang auf dem Display
erscheinen muss.
Sobald diese Vorbereitungen getroffen wurden, kann mit der Experimentarbeit begonnen
werden. Es stellte sich während meiner Versuchsreihen heraus, dass es nicht von Belangen ist
welches der beiden Geräte als erstes in Betrieb genommen wird.
Erste Erscheinungen:
Sofort nach der Inbetriebnahme der beiden Geräte beginnt sich ein Prozess am Monitor zu
entwickeln, der aus einer Reihe von Bildern und Bewegungen zusammengesetzt wird. Dieser
Prozess, der sich ab dem ersten Durchlauf scheinbar unendlich oft wiederholt, setzt sich wie
folgt zusammen:
Der Monitor zeigt zu Beginn ein tiefschwarzes Bild, das sich schnell zu einem dunkelblauen
Wolkenfleck am rechten unteren Rand zusammenzieht (der Rest des Bildschirms wird weiß).
Der Wolkenfleck wird immer kleiner und schließlich resultiert die Entwicklung in einen rein
Seite 50
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
weißen Bildschirm, der sich darauf türkis, hellblau und dunkelblau verfärbt, bevor er wieder
in das schwarze Anfangsbild zeigt.5
Es zeigte sich, dass kleine Unterschiede auftreten, wenn der Versuch in einem dunklen Raum
beziehungsweise in einem beleuchteten Raum gestartet wird. Für die helle Ausgangsposition
trifft die Beschreibung auf Seite 5 zu. Wenn man den Versuch in einem von Anfang an
dunklen Zimmer durchführt, entsteht die blaue Wolke nicht am rechten, unteren
Bildschirmrand sondern in der Mitte des unteren Randes, wandert aber schließlich
interessanterweise immer mehr nach rechts.
Der genaue Grund dafür ist mir persönlich nicht einsichtig. Möglicherweise spielen die
Kontrolllampen der Videokamera im Dunklen eine wichtigere Rolle, so dass diese über die
Videokamera selbst aufgenommen werden und die Abweichung vom Normalzustand6
auslösen.
Bei einem Ausschalten des Lichts (Ausgangsbedingung: helles Zimmer) sowie bei einem
Einschalten der Lichtquelle (Ausgangsbedingung: dunkler Raum) während des Versuchs
treten keine sichtbaren Veränderungen auf.
Dass dieses Rückkoppelungssystem sehr empfindlich ist beweisen gewisse Unterbrechungen,
die immer wieder während der Versuche auftreten, jedoch nach ihrem Erscheinen sofort
wieder in den Regelfall übergehen. Am häufigsten tritt ein Bild auf, das eine große schwarze
Fläche zeigt, die, begrenzt durch eine dünne giftgrüne Linie, in eine weiße, kleinere Fläche
überläuft. Die Fachliteratur erklärt diese Erscheinungen als Ungenauigkeiten in der
Elektronik7 der Videokamera, die sich durch die unendliche Rückkoppelung auswirken.
Zoom und Neigung der Videokamera
Die bis jetzt in dieser Arbeit beschriebenen Bilder und Prozesse dieses
Rückkoppelungsversuchs sind zwar in ihrer Art auch schon außergewöhnlich, doch stellen sie
nicht das eigentlich Ziel des Experiments dar. Dieses ist als das Erzeugen von chaotischen,
geometrischen Strukturen, so genannten Fraktalen definiert.
Um diese entstehen lassen zu können, muss die Zoom-Funktion der Kamera betätigt werden.
In der Folge ist es auch notwendig die Kamera in alle möglichen Richtungen neigen zu
5
Der beschriebene Prozess ist in einem kurzen Videodokument (blauer Wolkenfleck) auf der beiliegenden
Multimedia-CD zu sehen.
6
Normalzustand = Ausgangsbedingung heller Raum; Definition erfolgte aufgrund der Notwendigkeit eines
Bezugsystems
7
vgl.: Joachim BUBLATH, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag 1992, Seite 78
Seite 51
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Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
können. Man benötigt also im Idealfall ein Stativ mit einem fixierbaren Drehkopf, der einen
die Kamera in alle möglichen Richtungen verdrehen lässt.
Die folgenden Figuren sind während meinen Versuchen entstanden und zeigen genau jene
gewünschten Fraktalgebilde. Sie sind nur ein kleiner Ausschnitt des riesigen
Variantenreichtums, das Videofeedback erzeugen kann. Praktisch wirkt sich jede minimale
Veränderung im Bild aus.
Anmerkung des Autors: Auf der beigelegten Multmedia-CD befinden sich noch mehr als die
hier genauer erläuterten Beispiele.
Rotierende Spirale
Um eine rotierende Spirale zu erreichen, die immer wieder zu einen annähernd runden Fläche
konvergiert, sind folgende Einstellungen nötig: Man vergrößert zuerst den auf dem Display
anzeigten Bildausschnitt der Videokamera, so dass eine unendlich lange Reihe von Monitoren
hintereinander sichtbar wird. Darauf neigt man die Videokamera 15 – 20° nach rechts (das
Objektiv ist immer noch gerade auf den Monitor gerichtet).
In einem dunklen Raum wird das Weiß der Spirale lediglich weniger intensiv wirken.
Überraschend bei diesem Prozess ist, dass obwohl sowohl Kamera und Monitor völlig
bewegungslos sind, die Spirale rotiert.8
Durch gleichmäßige Handbewegungen vor der Kameralinse ist es möglich diese Spirale zu
beruhigen. Erstaunlicherweise schlägt sich diese stabilisierende Wirkung auf die Rotation der
Spirale so nieder, dass sie sich zu einem runden, leicht pulsierenden Flächenstück verändert.9
Foto: Kilian RIEDER, 27.1.2005
8
Der beschriebene Prozess ist in einem kurzen Videodokument (rotierende Spirale) auf der beiliegenden
Multimedia-CD zu sehen.
9
Der beschriebene Prozess ist in einem kurzen Videodokument (blaue, pulsierende Fläche) auf der beiliegenden
Multimedia-CD zu sehen.
Seite 52
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
Wenn eine Hand schalenförmig vor die Videokamera gehalten wird, wird die warme, rötliche
Farbe der Handfläche in den Rückkopplungsprozess eingebunden. Es entstehen Fraktale mit
Rot-Tönen.
Foto: Kilian RIEDER, 27.1.2005
Ruhendes Spiralenfraktal
Wenn die Zoomeinstellung des vorherigen Versuchs beibehalten wird, jedoch man die
Kamera um weitere 50° nach rechts neigt, entsteht eine ruhende Spirale.
Foto: Kilian RIEDER, 27.1.2005
Interessant bei diesem Bild ist, dass erstmals die von der Videokamera im Pausenzustand
(also wenn keine Aufnahmeaktiviät vorherrscht) angezeigte Schrift im rechten oberen Eck des
Bildschirms in den Rückkopplungsprozess eingebunden wird.
Wirbel-, Schnecken- oder Sternfraktal
Fotos: Kilian RIEDER, 27.1.2005
Seite 53
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel V.: Versuche zur Chaostheorie - Videofeedback
Fotos: Kilian RIEDER, 27.1.2005
Um diese spezielle Gruppe von Formen am Bildschirm entstehen zu lassen, muss der
aufgenommene Bildausschnitt der Videokamera im Gegensatz zu den vorhergehenden
Versuchsreihen verkleinert werden. Je nach Neigung entstehen schließlich Stern-, Wirbeloder Schneckenfraktale.10 Genaue Angaben sind hier nicht mehr von Belangen, da die
Unterschiede zwischen verschiedenen Videogeräten zu groß sind um eine allgemeine Aussage
zu Neigungswinkel und Bildausschnitt zu machen. Doch an diesem Punkt angelangt ist es aus
persönlicher Erfahrung ohnehin schon interessanter selbst experimentieren zu können und
atemberaubende Formen am Monitor zu erzeugen, als gewissen Vorgaben zu folgen.
Der Einfluss einer zusätzlichen Lichtquelle
Durch den Einsatz einer zusätzlichen Lichtquelle (diese kann auch buntes Licht ausstrahlen)
wie zum Beispiel einer Taschenlampe, ist es möglich gezielt dem Fraktal andere Farben zu
geben. Es reicht allerdings nicht aus eine allgemeine Lichtquelle in einem Raum hierzu
einzuschalten. Man kann nur durch gezieltes Einsetzen von Lichteinstrahlung direkt auf den
Monitor oder die Kameralinse Farbveränderungen bewirken. Die Ergebnisse sind
bewundernswert.
Fotos: Kilian RIEDER, 27.1.2005
10
Der beschriebene Prozess ist in einem kurzen Videodokument (Entstehung eines Wirbelfraktals) auf der
beiliegenden Multimedia-CD zu sehen.
Seite 54
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
Eine Einführung
Dass Chaos nicht nur durch vernichtende und zerstörerische Fähigkeiten auf Systeme
einwirkt, sondern auch schöpferische Prozesse und Verwandlungen auslösen kann, wird in
dieser Arbeit bereits in Kapitel I.: Was ist Chaos? – Eine Einführung1 erwähnt. Unsere
Umwelt, ja die gesamte Natur beruht größtenteils auf chaotischen Vorgängen, die
paradoxerweise unser ökonomisches Gleichgewicht auf der Erde sichern.
Kleine Pflanzen sind ebenso fraktal2 organisiert wie ganze Küstenlandschaften, deren Länge
in der klassischen Physik klar definiert, aber chaostheoretisch gesehen, wie es die
Fraktalgeometrie beweist, nicht messbar beziehungsweise eine unendlich große Zahl ist.
Einfach zu begründen ist dies folgendermaßen:
Eine Küstenlinie (z.B.: die gesamte Küste Großbritanniens) setzt sich aus einer unendlich
großen Anzahl von winzigen Ecken, Kanten und Verformungen zusammen. Um nun die
Länge dieser bestimmen zu können, müsste man jede dieser mikroskopischen Formen
abmessen und addieren. Doch selbst wenn die scheinbar kleinste Unregelmäßigkeit bestimmt
wird, gibt es immer noch kleinere Strukturen, die jedoch für uns, auch wissenschaftlich, nicht
mehr erfassbar sind. Eine Addition aller dieser Zahlen, und wären sie auch noch so klein,
führt schlussendlich zur absurden Erkenntnis, jede beliebige Küste sei unendlich lang.
Dieser kleine Exkurs in die chaostheoretische Sichtweise unseres Kosmos zeigt wie
allgegenwärtig eigentlich Chaos ist und wie alltäglich uns es eigentlich erscheinen müsste.
Dennoch setzen sich Gedankenexperimente wie diese nicht in unserem Leben durch, sie
erscheinen uns nicht realistisch genug3.
Das in diesem Abschnitt beschriebene Experiment „Chaotische Wassertropfen“ soll die
Präsenz des Chaos hervorheben, auf deren Wichtigkeit aufmerksam machen und vielleicht
den einen oder anderen dazu anregen unsere Natur einmal mit anderen Augen zu erforschen.
1
vgl.: Kapitel I: Was ist Chaos? – Eine Einführung; Seite 10
fraktal, Fraktale, Fraktalgeometrie: mathematisch-geometrische Methode zur Darstellung der Verhaltensweisen
eines chaotischen Systems
3
vgl.: Kapitel II.: Chaostheorie – Ein geschichtlicher Überblick; Seite 14 ff.
2
Seite 55
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
Eine Kurzbeschreibung
Das Experiment „Chaotische Wassertropfen“ beschäftigt sich prinzipiell mit einem der
zahlreichen chaotischen Phänomene in unserer Natur. Es zeigt wie einfach es sein kann im
alltäglichen Leben auf Chaos zu stoßen. Wie sich zeigt, ist nicht einmal das essentiellste aller
auf unsere Erde existierenden Elemente frei von chaotischen Unregelmäßigkeiten.
Dem Wasser, der Basis zur Entstehung des Lebens, können neben der Eigenschaft Wirbel und
Sogströmungen bilden zu können, denen ebenfalls chaotische Verhaltensweisen zu Grunde
liegen, auch, wie in diesem Experiment behandelt, mit Hilfe eines gut regulierbaren
Wasserhahns chaotische Bewegungen nachgewiesen werden. Mit einem richtig eingestellten
Wasserhahn lassen sich nämlich neben der normalen linearen auch chaotische Tropffolgen
beobachten.
Ich habe das Experiment dahingehend erweitert, als dass ich mich damit beschäftigt habe,
mittels Trichterformen, durch die die jeweiligen Tropffolgen hindurch geleitet werden, aus
der gegebenen Ordnung Chaos beziehungsweise aus dem gegebenen Chaos wieder Ordnung
zu schaffen. Die Trichter werden dabei als Regulatoren eingesetzt und sind die
entscheidenden Faktoren für dieses Experiment.
Aufbau
Computerskizze, Adobe Photoshop: Kilian Rieder, 25.1. 2005
Seite 56
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
Fotos: Kilian Rieder, 12.1.2005
Verwendete Materialien
1 großer Wasserbehälter (Volumen 50 Liter), mit integriertem Zapfhahn (gut regulierbar)
1 Metallhalterung bestehend aus Stange und Sockel
4 Halterungsklötze
4 regulierbare Klemmen aus Metall (mit Filzaufsatz zur schonenden Verwendung der
Glastrichter)
1 Auffangbehälter
7 von einander unterschiedliche Glasformen beziehungsweise Trichter:
Skizze: Kilian Rieder, 27.1. 2005
1. Form: Sanduhr-Form mit starker Verengung zur Mitte
2. Form: Sanduhrform mit schwacher Verengung zu Mitte
3. Form: Doppelsanduhr
4. Form: eng zusammenlaufender, kurzer Trichter
Seite 57
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
5. Form: sehr eng zusammenlaufender, langer Trichter
6. Form: schwach zusammenlaufender Trichter mit regelmäßiger Öffnung unten
7. Form: schwach zusammenlaufender Trichter mit unregelmäßiger Öffnung unten
Form 1
Form 2
Form 3
Form 4
Form 5
Form 6
Form 7
Fotos: Kilian Rieder, 12.1.2005
Zu diesen Formen ist grundsätzlich folgendes zu sagen:
Die Trichter wurden ausschließlich aus zwei verschiedenen Typen von Glasröhren mit den
Durchmessern 1,5 cm und 0,7 cm eigenhändig durch Erwärmung bei einer Hitze von cirka
1300° Celsius (Bunsenbrenner) geformt. Sie sind aufgrund von Vorexperimenten mit
ähnlichen Formen ausgewählt worden, da sie empirisch gesehen die größten Effekte auf die
Tropffolgen insgesamt haben. Die ursprünglichen Formen sind beliebig gewählt. Manche
Formen mögen öfters auftreten beziehungsweise es gibt bestimmte Teile von diesen so
genannten Trichtern, die häufiger verwendet werden. Dies ist dahingehend zu begründen, als
dass während des Experiments eine Konzentration auf bestimmte Formen geschehen soll, um
zumindest deren Charakter genauer zu bestimmen.
Dennoch, um den Versuchsvorgang für den neutralen Leser besser zu veranschaulichen, sind
hier die genauen Abmessungen dieser Regulatoren, angegeben.
Form
Durchmesser Ende 1
Durchmesser Ende 2
Durchmesser Mitte
Länge insgesamt
Form 1
1, 4 cm
1,4 cm
0,3 – 0,44 cm
11,5 cm
Form 2
1,4 cm
1,4 cm
0,5 cm
11,7 cm
Form 3
1,5 cm
0, 8 cm
0,5 cm
14,9 cm
Form 4
1, 05 cm
0,2 cm
0,7 cm
9,5 cm
4
0,3 – 0,4 cm: Durchmesser ist deshalb in einem Intervall angeben, weil die Querschnitte nicht kreisrund sind
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Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
Form 5
0,9 cm
0,1 cm
0,7 cm
14,6 cm
Form 6
1,5 cm
0,2 – 0,3 cm
1,5 cm
8 cm
Form 7
1,3 - 0,9 cm
0,5 cm
1,5 cm
4,9 cm
Besonderer Dank ergeht an Univ.-Prof. Dr. Josef Thalhammer (Institut für Biochemie und
Molekularbiologie an der Naturwissenschaftlichen Fakultät Salzburg) der meine Arbeit
großzügig mit Laborbedarf unterstützt hat.
Positionierung der verwendeten Materialien
Die folgenden Daten sind nicht allgemein notwendig um diesen Versuch erfolgreich
durchzuführen, sie sind lediglich angeführt um eine genaue Dokumentation meiner
Versuchsreiher zu ermöglichen.
Der große Wasserbehälter (konstanter Füllstand durch stetiges Auffüllen; 17 cm Wasserstand)
befindet sich in der Höhe h = 76 cm über dem Boden. Der Abstand zwischen dem
Ausflusspunktes des Wasserhahns und der ersten Klammer (beziehungsweise der
eingeklemmten Form) beträgt 3,7 cm. Die einzelnen Klammern sind in einem regelmäßigen
Abstand von 14,5 cm angeordnet.
Die einzelnen Versuchsdurchgänge und Ergebnisse
Das Experiment ist in vier Phasen (=Durchgänge) aufgeteilt:
Die erste Phase untersucht das Tropfverhalten des Wassers bei einem linearen regelmäßigen
Tropfen aus dem Hahn. Die Auswirkung der einzelnen Trichter auf jeder Stufe (=Klammer)
auf das Tropfverhalten wird dokumentiert.
Der zweite Durchgang wird in gleicher Vorgangsweise wie der erste durchgeführt, doch der
Hahn wird nun so eingestellt, dass die Tropfen chaotisch fallen.
Ebenfalls in gleicher Art wird die dritte Versuchsreihe durchgeführt. Ausgangspunkt ist
jedoch kein Tropfen sondern ein dünner Strom aus dem Hahn.
In der vierten Phase des Experiments werden einige aus den Ergebnissen der vorherigen
Versuchsreihen abgeleitete Hypothesen aufgestellt. Durch weiteres Experimentieren soll ein
Beweis für diese Hypothesen gefunden werden.
Seite 59
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
1.Versuchreihe: Regelmäßiges Tropfen
Die erste Versuchsreihe testet die Auswirkung der jeweiligen Trichterformen (F1 – F7) auf
eine geordnete Tropffolge. Die Formen werden dabei in vier verschiedenen Positionen (S1 –
S4) angebracht, um auch etwaige Besonderheiten, die durch den Tropfweg (Weg vom
Ausfluss bis zur Form) entstehen könnten, erkennen zu können.
Anschließend sind nun die Versuchsergebnisse dokumentiert, beschrieben wird jeweils die
Eigenschaft der Tropffolge nach dem Durchlauf der Form.
1. Form 1:
•
bei Position 1: unregelmäßiges Tropfen; Aufspaltung des einzelnen Tropfen
beim Durchlauf der Verengung in mehrere Tropfen (2 – 4 Tropfstellen)
•
bei Position 2: zuerst regelmäßiges Tropfen (der einzelne Tropfen kommt mit
großer Wucht in den Trichter – durchquert die Verengung ohne Verformung),
das in unregelmäßiges übergeht; mehrere Tropfstellen bilden sich
•
bei Position 3: unregelmäßiges Tropfen; Aufspaltung des einzelnen Tropfen in
mehrere Tropfstellen; es entstehen durch die hohe Geschwindigkeit mit der der
Tropfen durch die Form dringt sogar „Plop“-Töne;
•
bei Position 4: regelmäßiges Tropfen; der einzelne Tropfen schießt durch die
Form hindurch;
Skizze: Kilian Rieder, 27.1. 2005
2. Form 2:
•
bei Position 1: regelmäßiges Tropfen; der einzelne Tropfen wird durch die
Form praktisch nicht am freien Fall gehindert
Seite 60
FBA Physik: Chaos – Chaostheoretische Anwendungen in Physik und Alltag
Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
•
bei Position 2: regelmäßiges Tropfen; es tritt durch die größere Distanz eine
kurze Bremsphase der Flüssigkeit an den Außenwänden bei der
Verengungsstelle der Sanduhr ein
•
bei Position 3: regelmäßiges Tropfen; die einzelnen Tropfen sammeln sich an
der unteren Öffnung zu einer Aufstauung an
•
Position 4: regelmäßiges Tropfen von zwei Tropfstellen; die Verengung führt
hier zu einer Aufspaltung des einzelnen Tropfen
3. Form 3:
•
bei Position 1: regelmäßig; Aufstauung an der unteren Öffnung; drei Tropfen
die durch den Trichter fließen lösen jeweils einen aus der schließlich aus der
Form austritt
•
bei Position 2: unregelmäßig; Aufstauung an der unteren Öffnung; kein
regelmäßiges Auslösen eines Tropfen;
•
bei Position 3: regelmäßig; Aufspaltung des Tropfen durch Innenbauch dieser
Form
•
bei Position 4: unregelmäßig, mit Unterbrechungen; manchmal lösen mehrere
Tropfen hintereinander genau den Austritt eines Tropfen in gleichen
Zeitabständen aus der Form aus
4. Form 4:
•
bei Position 1: regelmäßiges Tropfen, ein kommender Tropfen löst an der
unteren Öffnung einen Tropfen;
•
bei Position 2: wie bei Position 1
•
bei Position 3: regelmäßig mit Unterbrechung; es treten manchmal zwei
Tropfen hintereinander in kürzerem Zeitabstand zu einander auf;
•
bei Position 4: wie bei Position 3; ein „Plop“-Ton tritt auf
5. Form 5:
•
bei Position 1: unregelmäßiges Tropfen; starker Rückstau
•
bei Position 2: nicht zu erkennen ob unregelmäßig oder regelmäßiges Tropfen,
es fließt ein Strahl aus der unteren Öffnung;
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Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
•
bei Position 3: unregelmäßiges Tropfen; ein einfallender Tropfen löst aber mit
Sicherheit einen Tropfenaustritt am unteren Ende aus, jedoch in keinem
stabilen Zeitintervall
•
bei Position 4: wie bei Position 3
6. Form 6:
•
bei Position 1: unregelmäßiges Tropfen; Entstehung eines Rückstaus; ungefähr
4 Tropfen lösen einen Tropfen am unteren Ende aus;
•
bei Position 2: regelmäßiges Tropfen; ein einzelner Tropfen löst einen Tropfen
am unteren Ende aus;
•
bei Position 3: wie bei Position 2; jedoch wuchtigerer Austritt des Tropfen
•
bei Position 4: regelmäßiges Tropfen; Spaltung des Tropfen beim Austritt
7. Form 7:
•
bei Position 1: Spaltung in zwei regelmäßige Tropffolgen
•
bei Position 2: die Tropffolge fließt praktisch ungestört durch; regelmäßiges
Tropfen
•
bei Position 3: wie bei Position 2
•
bei Position 4: wie bei Position 2
2. Versuchsreihe: Leicht fließendes Wasser
Die erste Versuchsreihe testet die Auswirkung der jeweiligen Trichterformen (F1 – F7) auf
einen leicht fließenden Wasserstrahl. Die Formen werden dabei in vier verschiedenen
Positionen (S1 – S4) angebracht, um auch etwaige Besonderheiten, die durch den Tropfweg
(Weg vom Ausfluss bis zur Form) entstehen könnten, erkennen zu können.
Anschließend sind nun die Versuchsergebnisse dokumentiert, beschrieben wird jeweils die
Eigenschaft des leicht fließenden Wasserstrahls nach dem Durchlauf der Form.
1. Formen 1 – 3:
•
Es ergibt sich keine chaotische Tropffolge. Diese drei Formen ergeben alle in
etwa dasselbe Ausflussbild, es ist dabei auch nicht von Bedeutung auf welcher
Position die Formen angebracht sind. Es ist ein leicht gestauter Ausfluss zu
bemerken.
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2. Formen 4 und 5:
•
Es ergibt sich dasselbe Ausflussschema nach der Form wie es bereits beim
Ausfluss aus dem Hahn entstehen würde, wenn die Form nicht vorhanden
wäre.
3. Form 6:
•
Es entsteht beim Ausfluss ein Wasserstrahl, der nach wenigen Zentimeter in
eine Tropffolge übergeht. Diese ist aber nicht chaotisch.
4. Form 7:
•
Es erfolgt eine Zerlegung des Wasserstrahls in eine sehr schnelle Tropffolge.
Dies resultiert aus der starken Verengung des Trichters. Es ist nicht
anzunehmen, dass es sich dabei um eine chaotische Tropffolge handelt.
3. Versuchsreihe: Chaotisches Tropfen
Die erste Versuchsreihe testet die Auswirkung der jeweiligen Trichterformen (F1 – F7) auf
eine chaotische Tropffolge. Die Formen werden dabei in vier verschiedenen Positionen (S1 –
S4) angebracht, um auch etwaige Besonderheiten, die durch den Tropfweg (Weg vom
Ausfluss bis zur Form) entstehen könnten, erkennen zu können.
Anschließend sind nun die Versuchsergebnisse dokumentiert, beschrieben wird jeweils die
Eigenschaft der Tropffolge nach dem Durchlauf der Form.
1. Form 1:
•
Das chaotische Tropfen bleibt in seinem Schema, auch nach Durchlaufen der
Form. Die Verengung in der Mitte der Form führt zu einer Aufspaltung der
Tropfen, stört aber nicht die chaotische Bewegung. Prinzipiell ist die
Verhaltensweise für alle vier Positionen (S1 – S4) gleich, teilweise treten aber
für die Positionen S3 und S4 mehr Tropfstellen als für S1 und S2 auf.
2. Form 2:
•
Das chaotische Tropfen bleibt in seinem Schema, auch nach Durchlaufen der
Form. Dies gilt für alle vier Positionen (S1 – S4). Es kommt allerdings nach
einiger Zeit immer wieder zu einem zusätzlichen Tropfen, der gleichzeitig mit
einem anderen aus der Form austritt. Bei Position S1 tritt dieser Fehler am
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wenigsten in Erscheinung, und steigt in seiner Häufigkeit mit den jeweiligen
Positionen an.
3. Form 3:
•
Überraschenderweise tritt hier ein völlig regelmäßiges Tropfen auf. Die
Positionen S1 bis S4 unterscheiden sich nur dahingehend, als dass mit
steigender Positionsordnungszahl die Tropfen in größeren Abständen
zueinander ausgelöst werden.
4. Form 4:
•
Es kommt zu einer starken Aufstauung, durch die eine regelmäßige Tropffolge
ausgelöst wird. Ab der Position S3 scheint eine Veränderung der regelmäßigen
Tropffolge in eine chaotische Tropffolge zu entstehen. Jedoch konnte leider
trotz mehrerer Durchgänge nicht festgestellt werden, ob dies korrekt ist oder
lediglich eine Erscheinung der steigenden Distanz zum Ausflusshahn.
5. Form 5:
•
Es gibt eine Aufstauung, die die Entstehung einer sehr schnellen, regelmäßigen
Tropffolge bewirkt, die nach wenigen Zentimetern sich zu einem dünnen
Rinnsal zusammenschließt.
6. Form 6:
•
Es entsteht eine Aufstauung, die eine regelmäßige Tropffolge auslöst. Diese
wird in regelmäßigen Abständen durch sehr kurze Fließphasen unterbrochen.
Ab der Position S2 spaltet sich der Tropfen durch die Öffnung hindurch. Es
zeigt sich, dass je tiefer die Position gelegen ist, desto schwieriger wird es die
Tropfen genau zu beobachten, da sie sich in einzelne Spritzer durch die Wucht
des Einfallens in die Form zersplittern.
7. Form 7:
•
Durch diese Form entsteht bei ihrem Ausfluss eine unnachvollziehbare
Bewegung. Der Trichterausgang, der unregelmäßig ist spaltet den einzelnen
Tropfen ab der Position S2. Die Tropfen werden zu kurzen Strahlen.
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4. Hypothesen
Zur linearen Tropffolge:
•
Der „Anstoß-Mechanismus“: Bei mehreren Formen konnte ich beobachten wie
Tropfen erst in der Form aufgestaut wurden und schließlich, nachdem dieses
Reservoir von einem nachfolgenden Tropfen getroffen worden war, aus der
Öffnung der Form traten.5
•
Die Verengung: Mehrere Beobachtungen (speziell die Form 2 bei S4) lassen
mich vermuten, dass Verengungen bei linearen Tropfbewegungen prinzipiell
zu einer Aufspaltung des einzelnen Tropfen in zwei oder mehrere Tropfen
auslösen.
•
Stehende Tropfen: Speziell bei Form 5 fiel eine Erscheinung auf, die zeigte wie
mehrere Tropfen hintereinander immer dieselben Positionen im dünnen Hals
des Trichters einnehmen. Sie lösen sich durch den „Anstoß-Mechanismus“ ab.
Skizze: Kilian Rieder, 27.1. 2005
•
Die Hypothese, dass unregelmäßige Formen prinzipiell regelmäßige
Tropffolgen bei einer linearen Tropffolge als Ausgangssituation bewirken,
konnte ich leider nicht genauer beweisen.
Zum leicht fließenden Wasser:
•
Verzögerung/Aufstauung: Es zeigt sich, dass bei den Formen, die nach unten
hin eng zusammenlaufen verzögert wird, dass der dünne Wasserstrahl aus dem
Hahn in eine schnelle Tropffolge übergeht.
5
Der beschriebene Prozess ist in einem kurzen Videodokument (Anstoß-Mechanismus) auf der beiliegenden
Multimedia-CD zu sehen.
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Kapitel VI.: Versuche zur Chaostheorie – Chaotische Wassertropfen
Skizze: Kilian Rieder, 27.1.2005
•
Bei einem leicht fließenden Wasser spielt die Position der Formen keine Rolle.
Das einzige Problem dabei könnte sein, dass der Strahl bevor er in eine Form
trifft in eine Tropffolge zerfällt.
Zur chaotischen Tropffolge:
•
Der „Ausfallstropfen“: Bei Form 2 treten bei chaotischen Tropffolgen immer
kleine Fehler auf, so genannte „Ausfallstropfen“. Dieser löst sich in eine völlig
andere Richtung wie die übrigen Tropfen. Er entsteht vermutlich durch ein
Aufschaukeln der Kräfte im Trichter (mehrere Tropfenstöße fallen zusammen).
•
Bei Form 5 kann man in der Trichterform durch das Glas hindurch erkennen,
dass die Aufstauung nie dieselbe Höhe hat. Ein möglicher Beweis dafür, dass
die Tropffolge, die aus dem Hahn kommt tatsächlich chaotisch ist.
•
Aufstauung: Es kristallisiert sich heraus, dass eine Aufstauung prinzipiell eine
chaotische Tropffolge in eine regelmäßige umwandelt. Im Fall der
„Doppelsanduhr“ (Form 3) wird die Tropffolge in der Mitte also regelmäßig
sein (nicht nachgewiesen), und schließlich wieder umgekehrt.
•
„Ausfluss-Katastrophe“: Speziell bei Form 4 lässt sich dieses Phänomen
beobachten. Es gibt einen regelmäßig wiederkehrenden Zeitpunkt, an dem der
gesamte Trichterfüllstand plötzlich abgelassen wird. Eine mögliche Ursache
könnte ein plötzlicher Verlust der Oberflächenspannung an der Öffnung der
Form sein.
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Bibliographie
Folgende Literatur wurde als Quelle für diese Fachbereichsarbeit genutzt:
VESTER Frederic, Die Kunst vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen
Umgang mit Komplexität, München: DTV-Verlag 2002
NÜRNBERGER Christian, Faszination Chaos – Wie zufällig Chaos entsteht, Stuttgart: Georg
Thieme Verlag 1993
BRIGGS John und PEAT F. David, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die ChaosTheorie, München-Wien: Carl Hanser Verlag 1990
WINFREE T. Arthur, Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung –
Sekundenherztod: Hilfe von der Topologie, Heidelberg: Spektrum-der-WissenschaftVerlagsgesellschaft 1989
HUBBARD Burke Barbara und HUBBARD John, Gesetz und Ordnung im Universum: Die
KAM-Theorie (Artikel, erschienen 1994 im Spektrum der Wissenschaft)
BUBLATH Joachim, Das neue Bild der Welt, Wien : Ueberreuter Verlag 1992
LAHMER Karl, Kernbereiche der Philosophie, Wien: E. Dorner Verlag 2002
DTV-LEXIKON – Ein Konversationslexikon in 20 Bänden, München: DTV-Verlag 1980
COLLIER’S ENCYCLOPEDIA, COLLIER`S ENCYCLOPEDIA, Band 1-24, New York:
Macmillan Educational Company 1992
DUDEN, Das Fremdwörterbuch, Zürich: Dudenverlag 1990, Band 5
Sonstige Quellen:
Film: Naturwissenschaftliche Weltbilder, Chaostheorie, Arge PPP / Akad.Gym., Kassette 21
Internet: www.videofeedback.dk
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