Nina Petrick Tagebuch Lesereise Oktober 2009 in Thüringen: Erfurt

Transcrição

Nina Petrick Tagebuch Lesereise Oktober 2009 in Thüringen: Erfurt
Nina Petrick Tagebuch Lesereise Oktober 2009 in Thüringen: Erfurt Gotha
Sonntagabend bei recht mildem Herbstwetter sitze ich im ICE und fahre von Berlin
nach Erfurt.
Die Fahrt vergeht rasch. Während sich draußen, neben den Gleisen Rapsfelder und
Nadelwälder abwechseln und die rotgelb gefärbten Blätter an den Laubbäumen an
das Sommerende erinnern, zeigen sich zwei Rehe. Drei Kinder durch den Gang von
mir getrennt spielen Stadt Land Fluss. Ihnen fällt kein Fluss mit „G“ ein. Dabei fließt
doch die Gera durch Erfurt.
In Erfurt angekommen, geht es dann direkt in die Altstadt. Für mich ist ein Zimmer
in der Begegnungsstätte Kleine Synagoge an der Stadtmünze reserviert. Da dort eine
Veranstaltung stattfindet, bekomme ich von einem freundlichen Mitarbeiter der
Kleinen Synagoge gleich den Schlüssel für das Gästezimmer im obersten Stock des
Hauses ausgehändigt. Es ist eine kleine Wohnung mit zwei Schlafräumen und einer
Teeküche. Ich entscheide mich schnell für das kleinere Zimmer und unternehme
noch einen Spaziergang durch Erfurt.
Da die Kleine Synagoge mitten in der Altstadt liegt bin ich schon nach wenigen
Schritten an der Krämerbrücke angelangt. Sie soll das älteste und profanste Bauwerk
Erfurts sein und ist wohl auch das bekannteste Wahrzeichen der Stadt. Ich finde die
beidseitig, geschlossene Brückenbebauung mit Fachwerkhäusern wunderschön.
Danach geht es zum Fischplatz. Ich bewundere das beeindruckende Rathaus, ein
neugotisches Gebäude. Leider hat es bereits geschlossen, so dass ich über die üppigen Wandbilder, die die Geschichte Erfurts thematisieren nicht anschauen kann.
In einer der kleinen Gassen esse ich eine Kartoffelsuppe und gehe in meine Wohnung zurück. Ich lese über die Geschichte der Kleinen Synagoge, die 1840 erbaut
wurde und nur 44 Jahre als Synagoge genutzt wurde. Anschließend diente sie als
Lager – und Wohnhaus und jetzt als Begegnungsstätte.
Es ist ein sonderbares Gefühl, als einziger Gast (!) in diesem geschichtsträchtigen
Haus zu schlafen ... Ehrlich gesagt ein wenig unheimlich.
Am Morgen fahre ich mit meinem gesamten Gepäck gleich zur ersten Lesung in die
Rieth-Grundschule. Ich werde dort sehr nett von Herrn Stietz und den anderen Lehrern empfangen.
Da es sich bei den Lesungen jeweils um eine erste und eine zweite Klasse handelt,
lese ich aus meinen Radiogeschichten, die ich seit Jahren für OHRENBÄR
(Berlin 88,8, WDR 5, NDR 3) schreibe und aus meinem Buch „Die unglaubliche Fledermaustante“.
In dem Buch behauptet ein Mädchen, Suza, ihre Tante würde sich nachts in eine Fledermaus verwandeln. Sie sei eine verwunschene Person. Anton, der neu in das Haus
gezogen hat, glaubt Suza zwar eigentlich nicht, dennoch begleitet er sie nachts auf
den Dachboden, um sich das Ganze mal aus der Nähe anzuschauen...
Die Kinder hatten jede Menge Fragen. Obwohl ich nie das Ende eines Buches verrate, gab es nicht nur rings um das Buch einiges über das Schreiben und Fledermäuse
zu besprechen ... Wie wird ein Buch überhaupt ein Buch? Wie bekommt man als
Schriftstellerin seine Ideen? Wie reich man wohl mit dem Schreiben wird? Ob meine
Tochter auch gerne liest? Ob ich Haustiere habe? Ob ich auch nachts schreibe? Ob ich
noch mit der Hand schreibe? Wie gut ich früher im Aufsatzschreiben war ...
Nach diesem sehr anregenden Austausch bringe ich meinen Koffer im Schließfach
am Bahnhof unter, später wird es noch nach Gotha weitergehen.
Aber vorher habe ich noch eine weitere Lesung in der Stadtbibliothek Erfurt am Juri
Gagarin Ring.
Ich stärke mich mit einem Baguette und nutze die Pause, um den Dom zu besichtigen, der mich schon bei meinem ersten Besuch in Erfurt – kurz nach der Wende –
sehr beeindruckt hat. Leider ist diesmal der Blick auf den Dom und die Severikirche
durch ein Riesenrad „etwas“ verstellt. Im Inneren des Doms verzaubern die spätmit-
telalterlichen Glasfenster im Hochchor. Es bleibt keine Zeit mehr, um den „Turmbau
zu Babel“ -auf den Fenstern dargestellt – weiter zu betrachten.
Ich laufe durch die Altstadt und fahre mit der Straßenbahn zur Ringstraße.
Nachdem ich zuerst in die falsche Richtung gegangen bin, finde ich schließlich beim
zweiten Anlauf die Bibliothek am Juri Gagarin Ring. Im obersten Stock, am gläsernen Eingang zur Bibliothek sehe ich ein kleines Plakat, dass auf die Veranstaltung
mit mir hinweist.
Frau Klauke, die Bibliothekarin empfängt mich sehr herzlich. Wir bereiten gemeinsam den Tisch für die Lesung vor, aber schnell wird uns klar, dass der Schule etwas
dazwischengekommen sein muss. Krankheitsbedingt gibt es an diesem Tag nicht
genug Erzieher, bzw. Lehrer, um die Kinder zu dieser nachmittäglichen Lesung zu
begleiten. Nach einem kurzen Telefongespräch gelingt es Frau Klauke aber erfreulicherweise die Lesung umzuorganisieren, bzw. zu verlegen. Gemeinsam gehen wir in
die Schule, die sich ganz in der Nähe befindet. Ich lese dort vor einer sehr altersgemischten Gruppe von überwiegend Mädchen.
Es herrscht natürlich eine andere Stimmung als am frühen Morgen in der Grundschule Rieth, nicht so konzentriert, was aber nicht weiter erstaunlich ist, wenn man
bedenkt, dass die Kinder bereits einen Schultag hinter sich gebracht haben. Auch hier
kommen die Kinder und ich anschließend noch ins Gespräch.
Ich wäre gerne noch eine Nacht länger in Erfurt geblieben, muss nun aber zum
Bahnhof fahren und den Zug nach Gotha nehmen.
In Gotha angekommen, geht es zum Augustiner Kloster. Ich soll dort in der „gemeinnützigen Herberge“ des Klosters übernachten.
Eine sehr spannende Situation, die ich so bisher nur aus Erzählungen kannte: Ich
muss eine Telefonummer anrufen, die mir vorher gemailt wurde und erhalte dann
erst den Code für den Gästetrakt im Kloster. Ich bin fast erstaunt wie reibungslos es
funktioniert. Während ich vor der gläsernen Tür des alten Klosters stehe – es hat eine
750-jährige Geschichte – Martin Luther hat dort gepredigt! – und den Code in eine
allerdings sehr moderne Edelstahl-Tastatur eintippe, bewegt sich plötzlich wie von
Geisterhand eine der Schubladen neben der Tür an der Wand befestigt, die ebenfalls
aus Edelstahl besteht. Darin liegt mein Schlüssel, der Schlüssel, der für die Haustür
und das Zimmer passt.
Das Haus ist wie ausgestorben als ich es betrete. Eine gewisse Gänsehautstimmung
macht sich breit, als ich vorsichtig – wem könnte ich gleich begegnen?- die Holztreppe mit meinem Koffer hochsteige. Ich sehe anhand der Zimmernummer, die mit einer Eins beginnt und auf dem Schlüssel steht, dass ich wohl im ersten Stock untergebracht sein muss. Während ich meinen Koffer hinter mir herziehe, betrachte ich
die geschlossenen Türen in dem Gang. Das Kloster ist sehr alt, aber dieser Trakt
ist liebevoll modernisiert worden. Auch das Zimmer ist angenehm, wie angekündigt
ohne TV, dafür bietet es einen schönen Blick auf den Kreuzgang.
Obwohl es draußen regnet, beschließe ich noch einen Spaziergang durch Gotha zu
machen. Auch hier muss ich nicht weit gehen und bin rasch „im Herzen“ der Altstadt, die mit ihren historischen Häusern sehr sehr schön ist. Dafür, dass es regnet
können die Bauten, die teilweise noch aus der Renaissance-Zeit stammen ja nichts.
Da ich nicht gerne alleine essen gehe, kaufe ich mir ein Baguette und beschließe es im
Zimmer des Klosters zu essen.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Es ist so still, nicht das leiseste Geräusch ist zu
hören. Ich weiß nicht, ob ich wieder der einzige Logiergast bin ... Gut besuchte Hotels mit einer besetzten Rezeption haben ja durchaus etwas für sich, denke ich und
versuche nicht an alle möglichen Grusel- und Horror-Geschichten zu denken, die
sich mir in dem Moment aufdrängen ...
Am Morgen werde ich in dem Café mit einem schönen gut ausgestatteten
Frühstücksbuffet entschädigt. Auch hier hat man durch die großen Glasscheiben
einen schönen Blick auf den Kreuzgang.
Außer mir hat noch ein Ehepaar, dass sich gerade auf Klostertour durch Deutschland
befindet, die Nacht in der Herberge des Klosters verbracht. Es hätte mich beruhigt
das gewusst zu haben.
Mit meinem Koffer verlasse ich das Gebäude und werde draußen sogleich von der
freundlichen Bibliothekarin Frau Faust in Empfang genommen. Nach ein paar Metern haben wir bereits die Bibliothek erreicht, die sich genau gegenüber des Klosters
befindet.
Ich werde aus meinem neuen Buch „Zweimal Marie“, ein Wenderoman, lesen und
bin gespannt wie die Kinder reagieren werden.
Das Buch spielt 1989, ein paar Wochen vor dem Fall der Mauer. Zwei Mädchen ,
Zwillinge wachsen unterschiedlich auf. Die Eine bei dem Vater in Ost-Berlin, dem es
dort als Schauspieler gut geht. Die Andere lebt bei ihrer Mutter, die 1980 nach
dem sie Berufsverbot in der DDR erhalten hat nach Hamburg, mit eben nur einer
Tochter geflohen ist. Als sich die Mädchen zufällig auf einer Klassenfahrt in Ungarn
treffen kommt es zum „Mädchentausch“ ...
Ich habe zwei Lesungen, die beide sehr viel Spaß machen.
Die Kinder aus der fünften und später auch die Schüler aus der sechsten Klasse sind
wunderbare Zuhörer. Sie lachen an den „richtigen“ Stellen und schweigen an anderen. Anschließend kommt es zu interessanten Gesprächen und vielen vielen Fragen.
Ich bin in West-Berlin aufgewachsen, habe aber durch meine Großmutter, die aus
Wurzbach, einem kleinen Dorf in Thüringen kommt einen Bezug zur DDR. Wir waren zu DDR Zeiten ein paar Mal in Thüringen und sind auch regelmäßig nach OstBerlin gefahren. Für das Buch habe ich darüber hinaus natürlich recherchiert.
Nach den anregenden Gesprächen mit den Kindern und Lehrern trinke ich mit Frau
Faust einen Kaffee. Wir freuen uns über die gelungenen Lesungen und sprechen
über die Wende und Wurzbach, dem Ort aus dem meine Oma kommt und Frau
Faust zufälligerweise auch Familie hat.
Randvoll mit Eindrücken steige ich schließlich in die Straßenbahn die mich gemütlich zum Bahnhof bringt. Ganz nebenbei kann ich noch einen Blick auf zahlreiche
historische Gebäude, das schöne Naturkundemuseum und das Schloss – war es
Schloss Friedenstein?- erhaschen. Leider habe ich keine Zeit mehr für Besichtigungen. Aber ich bin bestimmt nicht das letzte Mal in Gotha gewesen!