Voll aggro - bei cooldown®

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Voll aggro - bei cooldown®
Kinder ➲ Voll aggro
Voll aggro
Was tun, wenn Kinder sich aggressiv verhalten?
Von Mona Oellers
Aggressives Verhalten unter Kindern und Jugendlichen zeigt sich nicht erst bei Prügeleien auf dem
Schulhof. Aggressivität kann über sämtliche Kommunikationswege vermittelt werden und sich
auch rein verbal äußern. Wenn Kinder sich respektlos verhalten, häufig gegenseitig beschimpfen
und beleidigen oder wenn sie andere völlig ignorieren, dann muss diese Entwicklung ernst genommen und ihr entgegengesteuert werden. In den letzten 15 Jahren habe ich als Heimleiterin
und Coach viele Erfahrungen mit aggressiven Kindern und Jugendlichen gemacht. Die Skrupel,
andere Menschen zu erniedrigen, sind meiner Ansicht nach jedoch längst nicht mehr ausschließlich in Kreisen von schwererziehbaren Kindern und Jugendlichen gesunken. Gewalt und Aggressivität werden immer subtiler und bedrohlicher. Hier sind einige Tipps für pädagogische Interventionen, wenn Kinder und Jugendliche Grenzen überschreiten.
Oft genügen schon kleine Reaktionen, wie zum Beispiel ein unmissverständliches „Nein! So nicht!“ Oder man zeigt den Kindern
alternative Verhaltensformen auf.
Für den Erfolg der pädagogischen Intervention ist die innere Haltung zum Kind ausschlaggebend. „Du als Mensch bist mir wertvoll und wichtig, aber dieses Verhalten lehne ich strikt ab.“ – Dieser Grundsatz sollte Eltern bei ihrer pädagogischen Intervention
leiten. Entschlossenheit, Zeit und Muße, klare Ansagen und Empathie sind weitere Schlüssel dazu.
Erste Reaktion: Positionieren
Wenn Kinder ihre Eltern beleidigen oder sich rigoros weigern,
Aufträge auszuführen, wie zum Beispiel das Zimmer aufzuräumen oder das Geschirr abzuwaschen, dann geraten Eltern meist
in Stress. Der Grund: Eltern setzen sich in der akuten Situation
mit inneren Sätzen wie „ ich will es richtig machen“ oder „das soll
jetzt sitzen“ unter Erfolgsdruck. Wenn wir gestresst sind, können
wir jedoch nicht optimal denken. Somit sind solche Vorsätze
meist zum Scheitern verurteilt.
Dabei genügt es völlig, sich in solchen Situationen klar zu positionieren. Setzen Sie den Kindern ein unmissverständliches
STOP-Signal. Nutzen Sie dazu, wenn möglich, alle Kommunikationsebenen: Blickkontakt, Nähe, eventuell auch Körperkontakt
LOB Nr.4, Oktober/November/Dezember 2014
durch leichte Berührung des Arms. Reden Sie nicht um den heißen Brei herum und halten Sie keine langen Moralpredigten. Formulieren Sie stattdessen ein oder zwei kurze, unmissverständliche Sätze. Vermitteln Sie klar und deutlich und mit Nachdruck
Ihre Position.
Verlangt die Situation Ihrer Meinung nach eine weitere Reaktion,
sprich Sanktion, dann sagen Sie klar und ohne Aggression: „Wir
werden darüber heute noch sprechen.“ Wie dehnbar „heute“ ist,
hängt vom Alter des Kindes ab.
Der Erfolg dieser Methode hängt davon ab, dass Sie Wort halten
und das Thema tatsächlich noch einmal aufnehmen. Dazu sollten Sie sich mit Ihrem Kind in eine ruhige Ecke zurückziehen und
gemeinsam über die Situation reden. Halten Sie keine Vorträge,
sondern sagen Sie klar, was Sie erwarten und welche Sanktion
nun gegebenenfalls folgt.
Strafen und loben
Dass Menschen durch Lob mehr erlernen als durch Strafe ist keine neue Weisheit. Nur leider wird dieses Wissen nach wie vor viel
zu wenig berücksichtigt.
Suchen Sie nach kleinen, lobenswerten Fortschritten und benennen Sie sie, wie zum Beispiel allein die Schnürsenkel zu binden,
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Kinder ➲ Voll aggro
den Tisch abzuräumen oder ein schönes Bild zu malen. Wenn es
zu Aggressionsausbrüchen kommt und Ihr Kind anstatt gegen
die Tür zu treten ins Kissen boxt – ist das ein Fortschritt! Loben
Sie Ihr Kind dafür und denken Sie daran, dass Lob sich so gut anfühlt. Davon möchten wir
alle mehr, auch die Kinder.
Und: Lob spornt an. Zeigen Sie Ihrem Kind, dass
es Ihnen Ernst ist, aber
übertreiben Sie es nicht.
Auch hier gilt: Halten Sie
keine Vorträge. Loben Sie
Ihr Kind nur, wenn Sie es
ernst und ehrlich meinen.
Zu häufiges und beiläufiges Lob nutzt sich ab. Es
verliert an Wert und büßt
seine Glaubwürdigkeit ein.
waren. Wenn Kinder das Gefühl haben, ein Totalversager zu sein,
dann müssen sie sich auch nicht mehr anstrengen.
An einem gewissen Punkt wird ihnen einfach alles egal. Wenn
kein Licht mehr in Sicht ist, dann macht es auch nichts, wenn
man ständig über die Stränge
schlägt. Kinder reagieren dann
auf keine Sanktion mehr, egal,
wer sie ausspricht. Aus solch
einem negativen Muster auszubrechen, ist schwer. Man muss
seinen eigenen Fokus radikal
ändern. Das wird vor allem
dann schwierig, wenn man ein
Kind als Dauerproblemfall erlebt, wenn es laufend Schulprobleme hat oder sich Ihnen komplett verweigert. Oftmals hilft
dann eine externe Begleitung,
wie das kostenlose Elterntelefon, Erziehungsberatungsstellen der Wohlfahrtsgesellschaften
oder Kommunen und gegen Honorar auch Coaches.
Ich bin davon überzeugt,
dass wir stabile und
standhafte Menschen
nicht im Schnellverfahren erziehen können.
Kinder zu loben, heißt natürlich nicht, über Grenzverletzungen
hinweg zu schauen. Wenn Ihr Kind soziale Grenzen verletzt,
wenn es wiederholt frech ist und nicht auf Sie hört, dann sollten
sie diese Grenzverletzung so kurz und klar wie möglich benennen und gegebenenfalls bestrafen. Danach ist wieder Raum für
Positives.
Schon oft habe ich in meiner Praxis Kinder und Jugendliche erlebt, die sich in einer Sackgasse befanden, da sie „überstraft“
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Zeit nehmen
Ich bin davon überzeugt, dass wir stabile und standhafte Menschen nicht im Schnellverfahren erziehen können. Schnell essen, schnell vorlesen, schnell kuscheln, schnell noch reden… dies
ist leider derzeit der Trend. Halten Sie dagegen. Schenken Sie Ihrem Kind Zeit, sie ist das kostbarste Gut, das Sie haben und das
Sie Ihren Kindern schenken können.
LOB Nr. 4, Oktober/November/Dezember 2014
Kinder ➲ Voll aggro
Sind Sie als Eltern
hilfsbereit, wenn anderen ein Missgeschick
geschieht, haben Sie
große Chancen, dass Ihr
Kind ein empathischer,
mitfühlender Mensch
wird.
Ich erlebe in vielen Einrichtungen den Trend, dass Kinder
immer früher fremdbetreut
werden. Mit acht Wochen
kommen sie in eine Gruppe,
in der sich zwei junge, manchmal sehr unerfahrene Erzieherinnen so gut wie möglich um
zwölf Säuglinge kümmern.
Mir ist absolut bewusst, dass
es Fälle gibt, in denen Eltern
dieser Schritt schwer fällt, er
jedoch notwendig ist. Überlegen Sie trotzdem, wie Sie
Ihrem Kind möglichst viel Zeit,
Aufmerksamkeit, Zuspruch,
Liebe und Zuwendung geben
können. Erzieher/-innen können Ihr Kind bestimmt sehr gut betreuen und versorgen, jedoch Sie als Eltern niemals ersetzen. Die nötige „Basisarbeit“
für spätere Zeit, wie z.B. die Pubertät, kann nur von Ihnen geschaffen werden.
der im Kindergartenalter ab.
Steuern Sie aktiv dagegen,
indem Sie bewusst ein gutes
Vorbild sind.
Meine Begegnungen mit
Kindern, Jugendlichen, Eltern und Lehrern haben mir
zum Teil auf brutale Art und
Weise deutlich gemacht, wie
wichtig unser positives Vorleben im Umgang mit anderen
Menschen und unser Verhalten in Konflikten ist.
Sie als Eltern haben die Chance, Ihr Kind stark zu machen
und es doch mit dem nötigen
Herzschlag für andere Menschen zu prägen. Nutzen Sie Ihren Einfluss. Die wichtigsten Zutaten liegen bei Ihnen zu Hause.
Über Mona Oellers
Die Stabilität der Eltern-Kind-Beziehung erfordert gemeinsam
verbrachte Zeit. Die Beziehung ist alles, und eine Beziehung
muss gestaltet werden.
Wechseln Sie daher lieber einen Satz mit Blickkontakt als einen
Vortrag zu halten, während Sie die Spülmaschine ausräumen.
In dem hektischen Alltag zwischen Beruf und Familie erfordert
das viel Selbstdisziplin. Aber es lohnt sich.
Mitgefühl fördern
Immer wieder sehe ich Eltern, die beim klassischen Sandkasten-Schaufelhauen ihr Kleinkind ermahnen: „ Was meinst du,
wie er/sie sich jetzt fühlt…das tut doch weh!“ Das ist gut gemeint. Aber für Empathie benötigen die Kinder eine gewisse
Reife. Empathie, das Einfühlen in andere Menschen, bildet sich
erst ab dem Grundschulalter.
Das Kind lernt Empathie vor allem durch Beobachtung. Sind
Sie als Eltern hilfsbereit, wenn anderen ein Missgeschick geschieht, verhalten Sie sich offen gegenüber Minderheiten,
gehen Sie fürsorglich mit Schwächeren oder Hilfebedürftigen
um wie zum Beispiel den Großeltern , begegnen Sie offen Menschen mit Behinderung usw., dann haben Sie große Chancen,
dass Ihr Kind ein empathischer, mitfühlender Mensch wird, der
auf seine Mitmenschen eingeht.
Wen unsere Kinder sich zum Vorbild nehmen, können wir nur
schwerlich beeinflussen. Mag Ihr Teenager Dieter Bohlen und
Konsorten, so ist dies nicht verwerflich. Aber thematisieren Sie
die Masche, mit der in solchen Sendungen Geld gemacht wird.
Hier wird signalisiert: Empathie ist uncool. Hauen wir immer
drauf auf die hässlichen, dicken und doofen Menschen. Wir
entscheiden, wer dazugehören darf und wer raus ist. Leider
färbt solch ein Umgang mit den Mitmenschen schon auf Kin-
LOB Nr.4, Oktober/November/Dezember 2014
Mona Oellers leitete als Heim- und Jugenderzieherin sechs Jahre lang ein Kinder- und Jugendfreizeitzentrum. Als Anti-Aggressions-Trainerin entwickelte sie ihr eigenes Cooldown-Konzept
und arbeitet mit Schulen, Lehrern, Eltern, Kindergärten und
Unternehmen zusammen. Heute ist die Mutter einer 9-jährigen Tochter als Referentin, Coach und Autorin bundesweit gefragt.
Infos unter www.cooldown-training.de
Buch: Mona Oellers: Voll aggro! Weshalb Kinder immer aggressiver werden und was wir dagegen tun können. PIPER Verlag,
2014.
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H I N WEIS
Service
Nummer gegen Kummer, kostenloses Elterntelefon: 0800/1110550
Familienberatung der Diakonie, genaue
Adressen unter: www.diakonie.de
Kostenlose Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung:
www.bke-elternberatung.de
Suchmaschine für Erziehungs- und Familienberatungsstellen in Deutschland:
www.bke.de
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