Weltmeister SPECIAL

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Weltmeister SPECIAL
28 EXTRA Weltmeister SPECIAL
Seiten
14.07.2014
Weltmeister
2014
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INHALT
4
Momente für die Ewigkeit
18 Verzückter alter Meister
8
Besser geht’s nicht
20 Die Großen in aller Kürze
Brasilianische Ballzauberer
entzaubert, Messi-Männer
überspielt: die Triumph-Bilder
von Jogi und seinen Helden
Wie sich Müller, Neuer & Co. cool,
clever und mit großem Können
den Pott holten: ein Rückblick auf
die magische WM 2014
13 Vermessung der Giganten
Wie viel sind die deutschen
Spieler wert? Wie oft traf Klose
pro WM-Spiel? Überraschende
Fakten zum Superteam
14 Eine Klasse für sich
Das Bild für die Geschichtsbücher
und für jeden echten Fan: die
komplette Final-Truppe auf einem
doppelseitigen Centerfold
16 Sieben Stufen zum Pott
Alle Spiele, alle Tore – der Weg
der deutschen Elf zum vierten
WM-Titel. Eine Chronologie mit
Gänsehaut-Faktor
Mit seinem Elfer schoss er die
Deutschen 1990 zum Titel: Andy
Brehme über „Eier“ und andere
Weltmeister-Tugenden
Unsere WM-Helden in Zahlen
und Fakten. Wie oft traf Klose?
Wie weit lief Müller? Wie genau
passte Kroos? Die Steckbriefe
der Sieger von Rio
VON JÖRG QUOOS
23 Gefangen vom Keeper
Eine Hymne auf den StrafraumGott: Schriftsteller Albert
Ostermaier über Manuel Neuer
24 54, 74, 90, 2014
Vom Berner Wunder zur Rio-Gala:
Wie die deutschen Sieger-Teams
Geschichte schrieben
26 Weichei? Weltmeister!
Viele trauten ihm nicht – zu
Unrecht. Eine Hommage auf den
Fußball-Revolutionär Jogi Löw
27 Land im Glück
Sie fieberten, litten, zitterten und
jubelten – die deutschen Fans
Es ist eigentlich unbeschreiblich.
Deutschland holt sich zum vierten
Mal den Weltmeistertitel – ausgerechnet im fußballverrücktesten
Land der Erde. Warum?
Weil wir in Wahrheit noch fußballverrückter sind als die Brasilianer. Aber dazu noch deutsche
Perfektion, Siegeswille und fantastischen Teamgeist draufsetzen.
Ein blutig geschlagener Schweinsteiger humpelt benommen zurück
aufs Feld. Zu seinem Team, das
ihn braucht. Solche Szenen zeigen
echte Weltmeister.
Wer mitgefiebert hat, wird noch
in Jahrzehnten an diese Sonntagnacht denken.
Zur Erinnerung an den historischen Sieg hat die FOCUS-Redaktion direkt nach Abpfiff für Sie
dieses WM-Special gemacht. Ein
Hoch auf unsere Mannschaft und
auf die deutschen Fans – viel Spaß
beim Lesen!
Fotos: Dominik Butzmann für FOCUS-Magazin, REUTERS
Titel: dpa
Herzlich
Gauck, Merkel und die tollkühnen Jungs Das Sieger-Team mit Berliner Fans in der Kabine
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FOCUS Magazin Verlag GmbH, Arabellastraße 23, 81925 München, Postfach 81 03 07, 81903 München, Telefon: 0 89/92 50-0, Fax: 0 89/92 50 - 20 26;
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Herausgeber: Helmut Markwort, Uli Baur
Chefredakteur: Jörg Quoos
Stellvertretende Chefredakteure: Markus Krischer, Gerald Selch
Art Direction: Bardo Fiederling, Markus Rindermann
Textchef: Markus Götting
Geschäftsführende Redakteurin: Pea Schubert
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Redaktion: Markus Bauer, Uli Dönch, Andreas Haslauer, Mareike Hasenbeck,
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FOCUS 29/2014
FOCUS-Dokumentation/-Schlussredaktion
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3
WELTMEISTER-SPECIAL 2014
Das Tor
zum
Glück
Die Weltmeisterschaft als NervenKrimi. Das Team von Jogi Löw
zauberte, kämpfte und überzeugte
am Ende mit eisernem Willen
4
FOCUS 29/2014
Foto: Diego Azubel/epa/dpa
Götze erlöst eine ganze Nation!
Der Bayern-Stürmer sieht in der
113. Minute triumphierend seinem
Volleyschuss hinterher.
Romero ist machtlos, Deutschland
gewinnt 1 : 0 gegen Argentinien
5
WELTMEISTER-SPECIAL 2014
Drei gegen einen
Bastian Schweinsteiger führt die Truppe
zum Finalsieg
6
FOCUS 29/2014
Tanz den Pokal
Arm in Arm, das
Glück umzingelt
Fotos: Damir Sagolj/Reuters, Srdjan Suki/epa/dpa, Mike Hewitt/FIFA via Getty Images, Odd Andersen/AFP, Marcus Brandt/dpa, Alexander Hassenstein/FIFA via Getty Images
Vom Glück erdrückt
Alle auf einen:
Irgendwo da unten
in der deutschen
Jubeltraube muss
Torschütze Mario
Götze liegen.
Sein Treffer – die
Erlsöung
Fan-tastisch
Brasilien ist ein
Sommermärchen
Knallhart
Faust voraus:
Kompromisslos
klärt Neuer, offiziell
bester Torwart
des Turniers
Die Hände zum
Himmel Im Stadion,
aus dem Häuschen:
Kanzlerin Angela
Merkel und
Bundespräsident
Joachim Gauck
7
WELTMEISTER-SPECIAL 2014
Leidwolf
Getreten, geschlagen,
Cut unter dem rechten
Auge: Aber Bastian
Schweinsteiger stand
immer wieder auf
8
Sie
sind
Helden
Die goldene Generation des deutschen
Fußballs hat ihr Versprechen wahrgemacht: Deutschland ist Weltmeister.
Und das völlig zu Recht
M
Foto: FIFA via Getty Images
ario Götze
fuchtelt mit
der Hand in
der Luft, als
wolle er lästige Gedanken
vertreiben. Die deutsche Nummer
19 trägt das rote Hemd der Nationalmannschaft, an dessen unterer
Kante die Buchstaben MG aufgedruckt sind, und kurze schwarze
Hosen – in zehn Tagen wird das
Finale in Rio gespielt, doch Götze
scheint nicht so recht dazuzugehören. Die Mücken nerven ihn. Die
Fragen auch. MG schlägt danach.
„Natürlich bin ich nicht mit mir
zufrieden. Jeder einzelne Spieler der
Mannschaft würde gerne alle Spiele
machen“, sagt Götze und zermalmt
die Mücke auf seiner Wade.
Das Pool-Wasser schimmert
unnatürlich blau, mächtige Palmen wachsen in den wolkenlosen
Himmel, und das Meer am Horizont
ruht wie mit dem Lineal gezogen.
Götze sitzt an einem kleinen runden Holztisch im Hotel „Costa BraFOCUS 29/2014
silis“. Dort in Santo André, gleich
neben dem Teamhotel „Campo
Bahia“, ist das Medienzentrum des
Deutschen Fußball-Bunds (DFB)
untergebracht. Götzes Blick ist
traurig, die Stimme dünn. In diesem Moment ist er die Fehlbesetzung in einem Freudenstück.
Es ist die irre Pointe dieser
vierwöchigen Heldenreise, dass
ausgerechnet Götze, der zwischenzeitliche Außenseiter, im Finale zum
Erlöser der Nation werden sollte.
Deutschland ist Weltmeister.
Ein Weltmeister, der tatsächlich
die beste Fußballmannschaft des
Planeten stellt. Die deutsche Elf
hat im Turnier die meisten Tore
erzielt und besitzt das beste
Gefüge aus hochbegabten Einzelspielern inklusive eines herausragenden Torstehers. Auf der
Top-Ten-Liste für den „Goldenen
Ball“, den der wertvollste WMFußballer erhält, stehen gleich vier
Deutsche. Und eigentlich hätte der
famose Bastian Schweinsteiger,
der Feldherr in einem epischen
10
tenlinie und dirigiert die Mannschaft. Das Individuum hat sich
dem Ziel unterzuordnen. Innenverteidiger Per Mertesacker –
als Bollwerk gegen die hochgewachsenen Amerikaner noch
gut genug – muss gegen das
kombinationsstarke Frankreich
aus der Elf weichen. Lahm, der
immer wieder betont, wie gern
er zentral vor der Abwehr agiert,
stutzt Löw auf seine Uralt-Rolle
als Verteidiger auf der rechten
Außenbahn zurück. Offensivspieler Müller muss nach hinten rücken, damit der seniorige
Miroslav Klose als echter Mittelstürmer in die Startaufstellung
passt. Ja, und Götze sitzt eben
auf der Bank, weil er den Ball
zu lange am Fuß hält und das
Umschalten behindert. Das Murren in der Truppe bleibt jedoch
aus. Erfolg hat immer Recht.
Das 7 : 1 gegen Gastgeber
Brasilien verschlägt Löws Kritikern endgültig die Sprache.
Mit diesem Halbfinal-Triumph,
der schlimmsten Niederlage, die
eine brasilianische Mannschaft
jemals hat einstecken müssen,
ist Bundes-Jogi unantastbar
– nach außen wie nach innen.
Eigentlich wollte die Seleção in
diesem Halbfinale die historische Pleite aus dem Jahr 1950
vergessen machen, als Brasilien
ebenfalls bei einer Heim-WM
2 : 1 gegen Uruguay verlor – eine
traumatische Schmach.
Nun aber ist es das Jahrhundert-Spiel der Deutschen und ein
Stück Zeitgeschichte, das den
Blick auf Joachim Löw für immer
Her mit dem
vierten
WM-Stern!
Zuversicht sieht so
aus: Auf Twitter und
Facebook zeigen
die deutschen Stars
vor dem Finale, was
jetzt zählt: die Vier.
Den vierten WMStern wollen sie
sich auf das Nationaltrikot nähen.
Nach 1954, 74 und
90. Und es hat geklappt. Vier Sterne
für Deutschland
zum Positiven wendet. Auf dem
Plakat eines wohl rheinischen
Stadionbesuchers war vor dem
Anpfiff zu lesen: „Keine Angst
– et LÖW’t.“ Wie wahr.
„Sprecht ihr Deutsch?“, ruft
Verteidiger Mats Hummels nach
den 90 Minuten von Belo Horizonte, in denen Brasilien ein
Stück seiner Identität verlor,
den Journalisten in den Katakomben im Stadion entgegen.
Der Dortmunder will das WMWunder nicht in einer Sprache
erklären, für das ihm selbst in
der Muttersprache die Worte
fehlen. „Ich habe auf dem Feld
immer gedacht, hoffentlich ist
das hier nicht nur ein schöner
Traum“, sagt er. „Ich habe aber
auch Mitgefühl mit dem Gegner
– so ein Spiel wünscht man keiner Mannschaft. Wir wollten auf
keinen Fall die Brasilianer noch
vorführen mit irgendwelchen
Zaubertricks, sondern das seriös zu Ende spielen.“ Wenn Fußballer mit dem Gegner Mitleid
haben, ist etwas Außergewöhnliches passiert. Am Tag nach dem
Debakel twitterte Mesut Özil:
„Ihr habt ein wundervolles Land,
wundervolle Menschen und tolle Fußballer. Dieses Spiel darf
euren Stolz nicht zerstören!“
Um die Fallhöhe dieses 1 : 7 zu
begreifen, braucht es einen Blick
in die brasilianische Seele.
Der Fußball besitzt für die
200 Millionen Brasilianer einen
existenziellen Stellenwert. Dieser Sport ist die große Chance,
aus den untersten Schichten bis
ganz nach oben aufzusteigen.
FOCUS 29/2014
F otos: facebook, Sharifulin Valery/ITAR-TASS/Corbis, Markus Gilliar/REUTERS
Schlachtengemälde, zwingend
dazugehört. Zugleich hat der
nunmehr viermalige Weltmeister einen Bundestrainer,
der flexibel genug war, auf
klimatische wie auch taktische
Anforderungen angemessen
und erfolgreich zu reagieren.
Joachim Löw hatte nicht
nur einen Plan – er hatte für
alles einen Plan. „Ein guter
Anfang braucht Begeisterung,
ein gutes Ende Disziplin“, lautete der Wahlspruch, den der
Bundestrainer dem Team für
die Titelmission auf den Wimpel geschrieben hatte – und so
hat es die Mannschaft gehalten.
Damit die Gedanken des Personals nicht abschweiften, hängte Löw sogar ein Trikot mit den
Unterschriften aller noch lebenden deutschen Weltmeister vor
jedem Anpfiff in die Umkleidekabine. Selten nahm eine Gruppe Menschen die Worte „konzentriert“ und „fokussiert“ öfter
in den Mund als die nationale
Elite deutscher Fußballer.
„Jogi war immer unbeeindruckt von der Kritik von
außen“, erklärt Löws Assistenztrainer Hansi Flick seinen Chef.
„Wir haben unsere Vision umgesetzt und sind einen klaren Weg
gegangen.“ Und Kapitän Philipp
Lahm bestätigt: „Er war immer
sehr ruhig und hat eine klare
Linie verfolgt.“
Für die Öffentlichkeit war Joachim Löw in etwa so schwer zu
greifen wie die in ihre Sandlöcher entschwindenden Krebse
am brasilianischen Strand. Er
tauchte im Campo Bahia ab
und erschien lediglich zu den
verpflichtenden Pressekonferenzen der Fifa. Dort lächelte
Jogi wie eine Sphinx und ließ
sich nicht in die Karten schauen.
„Jogi hat sich morgens am Meer
beim Laufen abreagiert“, meint
Lahm. „Der ist früh am Morgen
schon so viel gelaufen wie ich in
den ersten sechs Spielen“, witzelt Thomas Müller. Das wären
knapp 70 Kilometer.
Joachim Löw nahm bei seinem
WM-Plan ebenso wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten
der Spieler wie auf seine eigenen. Wenn es sein muss, steht er
mit durchweichtem Hemd und
pitschnassem Haar im RegenSpiel gegen die USA an der Sei-
WELTMEISTER-SPECIAL 2014
Vom Schusterlehrling wie Pelé
zum gefragten Millionär.Wenn
hiesige Metropolen ihre legendären Persönlichkeiten preisen,
sind unter den Stadtgrößen nicht
selten zwei Dichter und drei Fußballer. Nach dem verlorenen
Halbfinale und dem anschließenden 0 : 3 im Spiel um Platz 3
gegen die Niederlande glauben
brasilianische Medien nun sogar
ernsthaft, dass selbst die Präsidentin des Landes nicht mehr
zu halten ist.
Angesichts dieses sozialen
Drucks erscheint es fast zwangsläufig, dass die Spieler unten
auf dem Platz im Turnierverlauf
kollabieren mussten. Fußballer,
die Tore im Staatsauftrag schießen sollen, können nur verlieren. Heraus kam das, was Psychologen kollektives Versagen
nennen, und eine Höchststrafe
obendrauf: Zum Ende der zweiten Halbzeit klatschten 55 000
Brasilianer in Belo Horizonte den
Deutschen bei jedem gelungenen Kurzpass Beifall.
Im Fußball ist es immer die
Erwartungshaltung des Betrachters, die Siegen ihre historische
Größe verleiht und Pleiten niederträchtige Häme beschert. Als
sich die deutsche Auswahl gegen
den Weltranglisten-22. Algerien
in einem hart umkämpften Achtelfinale zu einem 2 : 1 grätscht,
schwappt die Welle der Empörung aus Deutschland bis an die
Küste des beschaulichen Dörfchen Santo André. Das Volk hätte ein leicht herauskombiniertes
4 : 0 erwartet. Sogar von Schande
ist in den Blättern die Rede. Doch
die Mannschaft wählt einen
anderen Weg als das implodierte
brasilianische Team. Dieser Weg
ist die direkte Route ins Finale
von Rio und zugleich der deutsche Schlüsselmoment der WM.
Ohne ihn ist das Spiel gegen
Brasilien kaum zu erklären.
Per Mertesacker ist nach dem
mühsamen K.-o.-Match gegen
Algerien noch rot im Gesicht,
da hält ihm ein ZDF-Reporter
kurz nach Abpfiff das Mikro
unter die Nase. Dieser will wissen, was die Elf im Viertelfinale
besser machen müsse, um dort
nicht gnadenlos unterzugehen.
Dazu muss man wissen, dass der
wortkarge Per Mertesacker in
Gesprächen bereits nach weniFOCUS 29/2014
gen Minuten nervös mit dem
Bein wippt und Blickkontakt
gern meidet. Der Mann aus dem
kargen Pattensen in Niedersachsen spielt und schweigt. Mertesacker also, von der Erwartungshaltung, die in der Frage
steckt, sichtlich angefressen,
blafft: „Wat woll’n Se jetzt von
mir? Im Achtelfinale gibt es keine Karnevalstruppe mehr!“ Pers
Patzigkeit trifft den Nerv seiner
Kollegen. Für den Teamgeist ist
es die Stunde null.
Wieder daheim im eigens für
die deutschen Kicker gebauten
„Campo Bahia“, das im Misserfolgsfall zu einem Symbol deutschen Größenwahns geworden
wäre, lädt der DFB kurz nach
dem Mini-Eklat zur Presserunde unter das Sonnendach im
duftenden Hotelgarten. Offensivgeist Müller, das rechte Auge
Besiegt
Welch eine Schmach
für Brasilien!
7 : 1 gewinnen die
Deutschen – und
trösten mehr, als
sie feiern:
Özil und Schweinsteiger umarmen
Júlio César
Beliebt
Freundschaft statt
Fremdeln: Podolski
und Özil mit einheimischen Kindern im
Trainingscamp. Die
Nationalelf gewinnt
auch Sympathien
vom Duell gegen Ghana noch
geschwollen, legt die schlaksigen Beine übereinander und
sagt: „Grundsätzlich kann ich
mit sportlicher Kritik gut umgehen. Aber was ich nicht haben
kann, ist die Art, wie extrem
wir dargestellt werden. Ich will
mich nicht dafür entschuldigen
müssen, dass wir ins Viertelfinale gekommen sind. Eine Schande sieht anders aus! Das Spiel
gegen Algerien war nicht der
Untergang des Weltfußballs.“
Der Leitgedanke ist gesetzt: Wir
da drinnen – ihr da draußen.
Fortan zieht sich die DFB-Auswahl noch ein wenig mehr ins
Camp zurück, das die Spieler
„unser kleines Dorf“ nennen.
Dabei erschweren eine klapprige Fähre und bewaffnete Militärpolizisten ohnehin den Zugang
zum Quartier. Nicht mal die
Einheimischen gelangen ohne
Passierschein in ihre benachbarten Häuser. Man will unter sich
sein: Die Fußballer spielen Tischtennis oder auf der Playstation,
machen Yoga und schwimmen
im großzügigen Pool. Während
etwa die Schweizer Spieler in
ihrem beengten Hotel im Örtchen nebenan unter Hüttenkoller leiden, spricht nicht nur Lahm
von der „optimalen Lösung“.
„Die Gruppe ist immer zusammen, wir können uns überall
und immer unter freiem Himmel treffen. Kein Spieler wird
ausgeschlossen“, erzählt Teammanager Oliver Bierhoff. „Es ist
richtig, sich abzuschotten, weil
neben Journalisten auch jeder
Mitarbeiter und jeder Sponsor
in den Kreis der Nationalspieler drängt.“ Verteidiger Benedikt Höwedes sagt: „Dort ist
der Teamgeist entstanden, der
uns durch das Turnier getragen
hat.“ Plötzlich ist es da: das große Wir-Gefühl! „Ich kann mir
vorstellen, dass wir in 20 Jahren wiederkommen und die
Zimmer genauso belegen wie
jetzt“, träumt Lahm bereits von
der Jubiläumsreise.
Hatten Schweinsteiger und
Lahm bei vorherigen Weltmeisterschaften bemängelt, dass die
Atmosphäre im Team zu wünschen übrig lässt, zeigt sich bei
diesem Turnier ein völlig anderes (Stimmungs-)Bild. Das Team,
dessen Spieler die Brasilianer
11
nicht ohne Charme „Swainstaiga“, „Mihlah“ oder „Schuhrl“
nennen, ist eine geschlossene
Einheit. „Jeder geht respektvoll
mit dem anderen um“, berichtet Klose, der in Brasilien an
seiner vierten WM teilnahm.
Die Spieler haben sich richtig
lieb. Ersatztorhüter Roman Weidenfeller, sonst kein Verächter verbaler Attacken, bejubelt
von der Bank aus mit geballter
Faust die Weltklasse-Paraden
eines gesetzten Manuel Neuer
– und bleibt stumm. Neulinge
wie Christoph Kramer oder Erik
Durm betonen, egal, welche Frage ihnen gestellt wurde, dass sie
„total froh sind, überhaupt dabei
zu sein“, und wollen „jeden Eindruck aufsaugen, den ich aufsaugen kann“. Lukas Podolski,
der mit mehr als hundert Länderspieleinsätzen angereist ist und
nun lediglich zu Kurzeinsätzen
kommt, gibt den Klassenclown,
als befände er sich auf der Saisonabschluss-Fahrt eines Kreisligisten nach Spiekeroog. Wenn er
mal ausnahmsweise nicht lacht,
ist ihm beim Training einer auf
den Fuß gestiegen. Versehentlich natürlich.
Als Per Mertesacker beim
1 : 0-Spiel gegen die Franzosen
90 Minuten auf der Bank sitzt,
erklärt er hernach frei von Ironie: „Ich hatte heute eine neue
Perspektive und bin überrascht,
wie toll die Unterstützung von
der Bank ist – Spiele gewinnt
ein Team von der Bank aus.“ Er
selbst reicht den Kollegen von
der Seitenlinie so viele Wasserflaschen aufs Feld, dass man
meinen könnte, er betreibe ein
Zusatzgeschäft. Der 1,98-MeterMann hatte erst am Abend vor
dem Spiel von seiner Demission erfahren und anschließend
nach eigener Aussage vor Enttäuschung kaum ein Auge zugemacht. Statt zu mosern, sagt er:
„Das Team ist im Laufe der WM
zusammengewachsen.“
Löws Mantra „Schon allein
bei den klimatischen Bedingungen brauchen wir den ganzen Kader“ zeigt offenbar Wirkung. Alle Fußballer fühlen sich
gebraucht und am Titel-Erfolg
beteiligt – auch wenn der JogiSpruch faktisch nicht stimmt.
Feldspieler wie Kevin Großkreutz, Matthias Ginter, Chris12
toph Kramer oder Julian Draxler
spielen in Löws Überlegungen in
Wahrheit keine Rolle. Löw fand
spätestens im fünften WM-Spiel
gegen die Franzosen seine G14,
eine Stamm-Elf inklusive fester
Einwechselspieler. Es bleibt sein
persönliches Kunststück, dass er
den Frieden in der Truppe trotzdem sicherstellte. Einzig Klose
sprach unmissverständlich von
einer A- und einer B-Mannschaft. Ex-Nationalspieler Jens
Nowotny, der als WM-Dritter
von 2006 in Brasilien für einen
chinesischen Sender analysierte, meint: „Wenn Bankdrücker
sagen, ihnen sei nur der Erfolg
der Mannschaft wichtig, ist das
natürlich Unsinn. Wer nicht
spielt, ist unzufrieden – basta!“
Für die Frage, warum der
Burgfriede im „Campo Bahia“
hielt, ist Hans-Dieter Hermann
der passende Adressat. Hermann ist seit Ende 2004 festes
Mitglied im Team und soll Konflikte und mentale Blockaden
lösen. Der Mann ist Psychologe,
besitzt ein sanftes Wesen und
tritt immer dann in Erscheinung,
wenn es im Team brodelt. Hermann sagt, Löw habe die Spieler schon so ausgesucht, dass es
über die knapp zwei Monate des
Zusammenlebens auf engstem
Raum keine – auf gut Deutsch
– Stinkstiefel gibt. Immerhin
sind die Nationalspieler erbitterte Konkurrenten. Alle Positionen sind doppelt besetzt, und
Konkurrenzkampf verbessert
bekanntermaßen die Leistungen
jedes Einzelnen.
Nach drei Wochen im „Campo Bahia“ findet der Psychologe, dass „es eigentlich nichts
zu tun gibt – die Jungs regeln
All(e) im
Ballfieber
Nicht nur der ganze
Erdball schaut bei
dieser WM zu auch das Weltall:
Der deutsche Astronaut Alexander
Gerst hat sich an
Bord der Raumstation ISS den vierten
Stern aufs Trikot
geklebt. „Als Experte
in Sachen Sterne . . .“
FOCUS im
Stadion
Bei der deutschen
Mannschaft für
FOCUS am Ball:
Reporter Axel Wolfsgruber begleitete
das Team in Brasilien
bis zum Titel
alles untereinander.“ Wäre bei
der WM 1990 ein Hermann in
Italien dabei gewesen, er hätte
bei Lothar Matthäus und seinen
robusten Kollegen wohl Überstunden machen müssen.
Es ist eine Binse, dass ein
funktionierendes Kollektiv mehr
Kräfte freisetzt als ein zerrütteter Haufen. Einfach, aber wahr.
„Die Mannschaft“, sagt Assistenztrainer Flick, der nach der
WM auf den Posten des DFBSportdirektors wechselt, „hat seit
dem Trainingslager in Südtirol
eine unglaubliche Entwicklung
gemacht.“ Spätestens im Viertelfinale gegen die Franzosen
rackert das Team bis zum Wadenkrampf, im Halbfinale gegen die
Brasilianer kommt schließlich
Kreativität zum Kampf hinzu,
und im Finale gegen Argentinien
ist die deutsche Elf zur gestählten Einheit gereift. Kroos und
Co. helfen sich gegenseitig auf
dem Feld und vermitteln einander so jene Sicherheit, die nach
Meinung von Verteidiger Mertesacker so viel wichtiger ist als
das reine technische Können des
Individuums.
Nummer 19 hatte sich eine
gewichtigere Rolle in Löws
Weltmeisterkader vorgestellt.
Wie sollte er ahnen, was das
Schicksal mit ihm anstellen
würde. Mario Götze, der mit seinem smarten Lächeln und sportlichem Style in jede Boygroup
passen würde, wirkt verloren,
wie er da im idyllischen „Costa
Brasilis“ sitzt, vor dieser Fototapete der 80er-Jahre. An seinem
Kinn sprießen dünne schwarze
Härchen, und dort, wo sonst
schwarze Stecker blinken, klaffen Löcher in den Ohrläppchen.
MG hat abgeschminkt.
Als die Angestellten im „Costa
Brasilis“ an Götzes Tisch drängen, um sich mit ihm zu fotografieren, mault er: „Quick, quick!“
Macht voran, das nervt, soll das
wohl heißen. Manche halten ihn
für arrogant. Aber das ist er nicht.
Er will sich nur selbst schützen.
Er ist 22 Jahre alt. Auf dem Foto
lächelt dann nur das Personal. Da
sind es aber noch ein paar Tage
hin bis zum Sieg im WM-Finale.
Bis das Strahlen zurückkehrt in
Götzes Gesicht.
■
AXEL WOLFSGRUBER
FOCUS 29/2014
Foto: NASA/Twitter
WELTMEISTER-SPECIAL 2014
FAKTEN
Marktwerte der Nationalspieler
Marktwert
der Nationalspieler (in Millionen Euro)
13
41
18
50
1
42
7
40
35
Mio. Euro
Mio. Euro
Toni
Kroos
Manuel
Neuer
Bastian
Schweinsteiger
35
30
Mio. Euro
Mio. Euro
Mats
Hummels
Philipp
Lahm
6
9
22 Mio. Euro 20 Mio. Euro
Sami
Khedira
André
Schürrle
Quelle: Transfermarkt
Mio. Euro
Thomas
Müller
16
MIROSLAV KLOSE: „DER BOMBER“
WM-Rekordtorjäger Klose
entscheidet in den nächsten
Wochen über seine weitere DFBKarriere. Bei Lazio Rom steht der
„Killer“ – wie er in Rom genannt wird
– noch bis 2015 unter Vertrag.
16
WM-Tore hat der
36-Jährige aus
Opole (Polen)
geschossen.
2002 erzielte er
alle fünf Treffer
mit dem Kopf!
Fotos: Eddie Keogh/REUTERS, FIFA via Getty Images
137
Länderspiele hat Klose
bestritten. Damit liegt er
auf Platz 2 der ewigen DFBRekordspieler-Liste. Nur
Lothar Matthäus (150) hat
(noch) mehr. Sein Debüt gab
Klose am 24. März 2001
gegen Albanien – und schoss
kurz vor Schluss das
entscheidende Tor zum 2 : 1.
Quelle: Emnid-Umfrage für N24
5
Manuel
Neuer
Thomas
Müller
5
5
4
Miroslav
Bastian
Mats
Klose Schweinsteiger Hummels
4
Toni
Kroos
ZITATE
FairplayAuszeichnungen
hat Klose
bekommen.
71
Länderspieltore
hat der Stürmer
geschossen. Das
bedeutet Platz 1
vor Bomber Gerd
Müller (68 Tore).
24
WM-Einsätze hat
Klose absolviert –
zwei weniger als
Rekordspieler
Lothar Matthäus.
0,7
Tore schießt der Vize-Europameister von 2008
und Vize-Weltmeister von 2002 pro WM-Spiel.
Seine DFB-Quote beträgt insgesamt 0,52.
Wussten Sie, dass Gottfried Fuchs die meisten Tore in
der 114-jährigen DFB-Geschichte schoss? Er traf am
1. Juli 1912 im Olympiastadion von Stockholm zehnmal
beim Länderspiel gegen Russland. Endstand: 16 : 0.
FOCUS 29/2014
Sympathikus Neuer
Torwart Manuel Neuer ist der
beliebteste deutsche Spieler.
Das ergab die neueste Umfrage
des Marktforschers Emnid.
28
Mio. Euro
5
Deutschlands Liebling: Manu, der Libero
Das Lächeln des Siegers
Jogi Löw, Trainer der deutschen
Nationalmannschaft, erringt den
ersten Weltmeisterschafts-Titel
für Deutschland seit 1990.
„Niemand hat es so
verdient wir wir.
Die Spieler haben
so viel gegeben wie
nie, um zu haben,
was sie nie
hatten: den Pokal“
„Es ist unglaublich ganz Deutschland
ist Weltmeister.
Die Mannschaft
hat es super gemacht.
Wir feiern jetzt mindestens fünf Wochen!“
Manuel Neuer,
als bester Torhüter
der Weltmeisterschaft 2014
in Brasilien ausgezeichnet
13
Deutschland
Weltmeister 2014
14
Foto: JUAN MABROMATA/AFP
Lukas Podolski
Mario Götze
Roman Weidenfeller
Jérôme Boateng
Shkodran Mustafi
Mats Hummels
Kevin Großkreutz
FOCUS 29/2014
Toni Kroos
Per Mertesacker
Sami Khedira
Miroslav Klose
Philipp Lahm
Manuel Neuer
Erik Durm
Bastian Schweinsteiger
Ron-Robert Zieler
André Schürrle
Julian Draxler
Thomas Müller
Matthias Ginter
Christoph Kramer
Hans-Dieter Flick
Benedikt Höwedes
Joachim Löw
Mesut Özil
Andreas Köpke
Oliver Bierhoff
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