Weltmeister SPECIAL
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Weltmeister SPECIAL
28 EXTRA Weltmeister SPECIAL Seiten 14.07.2014 Weltmeister 2014 Entdecken Sie jetzt FOCUS digital! amazon.de Magazin-App + E-Paper: Testen Sie 4 Ausgaben für nur € 9,99! App für iPad, Android und Kindle-Fire. Plus: erste Aus ga GR Ihre Vorteile: be Gleich telefonisch bestellen: Schneller geht‘s unter: 0180 6 480 1000* www.focus-abo.de/digital *€ 0,20/Anruf aus dem dt. Festnetz, aus dem Mobilnetz max. € 0,60/Anruf 637549M01 ATIS! ✓ Zugang zum FOCUS E-Paper und zur FOCUS Magazin App ✓ Sie sparen über 24% gegenüber dem Einzelkauf ✓ Früher informiert: bereits sonntags ab 08.00 Uhr verfügbar ✓ Persönliche Bibliothek zur Archivierung Ihrer Ausgaben ✓ App mit zahlreichen Charts, Infografiken, Videos zur Titelgeschichte u. v. m. INHALT 4 Momente für die Ewigkeit 18 Verzückter alter Meister 8 Besser geht’s nicht 20 Die Großen in aller Kürze Brasilianische Ballzauberer entzaubert, Messi-Männer überspielt: die Triumph-Bilder von Jogi und seinen Helden Wie sich Müller, Neuer & Co. cool, clever und mit großem Können den Pott holten: ein Rückblick auf die magische WM 2014 13 Vermessung der Giganten Wie viel sind die deutschen Spieler wert? Wie oft traf Klose pro WM-Spiel? Überraschende Fakten zum Superteam 14 Eine Klasse für sich Das Bild für die Geschichtsbücher und für jeden echten Fan: die komplette Final-Truppe auf einem doppelseitigen Centerfold 16 Sieben Stufen zum Pott Alle Spiele, alle Tore – der Weg der deutschen Elf zum vierten WM-Titel. Eine Chronologie mit Gänsehaut-Faktor Mit seinem Elfer schoss er die Deutschen 1990 zum Titel: Andy Brehme über „Eier“ und andere Weltmeister-Tugenden Unsere WM-Helden in Zahlen und Fakten. Wie oft traf Klose? Wie weit lief Müller? Wie genau passte Kroos? Die Steckbriefe der Sieger von Rio VON JÖRG QUOOS 23 Gefangen vom Keeper Eine Hymne auf den StrafraumGott: Schriftsteller Albert Ostermaier über Manuel Neuer 24 54, 74, 90, 2014 Vom Berner Wunder zur Rio-Gala: Wie die deutschen Sieger-Teams Geschichte schrieben 26 Weichei? Weltmeister! Viele trauten ihm nicht – zu Unrecht. Eine Hommage auf den Fußball-Revolutionär Jogi Löw 27 Land im Glück Sie fieberten, litten, zitterten und jubelten – die deutschen Fans Es ist eigentlich unbeschreiblich. Deutschland holt sich zum vierten Mal den Weltmeistertitel – ausgerechnet im fußballverrücktesten Land der Erde. Warum? Weil wir in Wahrheit noch fußballverrückter sind als die Brasilianer. Aber dazu noch deutsche Perfektion, Siegeswille und fantastischen Teamgeist draufsetzen. Ein blutig geschlagener Schweinsteiger humpelt benommen zurück aufs Feld. Zu seinem Team, das ihn braucht. Solche Szenen zeigen echte Weltmeister. Wer mitgefiebert hat, wird noch in Jahrzehnten an diese Sonntagnacht denken. Zur Erinnerung an den historischen Sieg hat die FOCUS-Redaktion direkt nach Abpfiff für Sie dieses WM-Special gemacht. Ein Hoch auf unsere Mannschaft und auf die deutschen Fans – viel Spaß beim Lesen! Fotos: Dominik Butzmann für FOCUS-Magazin, REUTERS Titel: dpa Herzlich Gauck, Merkel und die tollkühnen Jungs Das Sieger-Team mit Berliner Fans in der Kabine [email protected] Folgen Sie mir auch auf twitter.com/Joerg_Quoos FOCUS Magazin Verlag GmbH, Arabellastraße 23, 81925 München, Postfach 81 03 07, 81903 München, Telefon: 0 89/92 50-0, Fax: 0 89/92 50 - 20 26; Potsdamer Straße 7, 10785 Berlin, Telefon: 0 30/75 44 30-0, Fax: 0 30/75 44 30-28 60 Herausgeber: Helmut Markwort, Uli Baur Chefredakteur: Jörg Quoos Stellvertretende Chefredakteure: Markus Krischer, Gerald Selch Art Direction: Bardo Fiederling, Markus Rindermann Textchef: Markus Götting Geschäftsführende Redakteurin: Pea Schubert Chefin vom Dienst: Sonja Wiggermann Redaktion: Markus Bauer, Uli Dönch, Andreas Haslauer, Mareike Hasenbeck, Markus Hurek, Michael Klonovsky, Axel Wolfsgruber Grafik: Eva Dahme (Stv. Art Directorin); Mareile Gieser, Heike Noffke, Petra Rehder, Moritz Röder, David Schier, Petra Vogt Composing: Karin von Zakarias (Cover) Bildredaktion: Arne Deepen, Sirka Henning, Thomas Huber FOCUS 29/2014 FOCUS-Dokumentation/-Schlussredaktion Technischer Redaktionskoordinator: Peter Gaberle Bildbearbeitung: Joachim Gigacher, Crescencio Sarabia Redaktionstechnik: Ingo Bettendorf, Thomas Bettendorf, Claudia Erdei, Harald Neumann FOCUS-Special „Weltmeisterschaft 2014“ erscheint in der FOCUS Magazin Verlag GmbH. Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt: Jörg Quoos. Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Nachdruck ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Dieses gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen auf CD-ROM. Sofern Sie Artikel aus dem FOCUS-Special in Ihren internen elektronischen Pressespiegel übernehmen wollen, erhalten Sie die erforderlichen Rechte unter www.presse-monitor.de oder unter Telefon: 0 30/28 49 30, PMG Presse-Monitor GmbH. Anzeigenverkauf für FOCUS -Special „Weltmeisterschaft 2014“ : Franziska Köhler, Telefon 0 30/75 44 30-28 85, [email protected] Verantwortlich für den Anzeigenteil: Kai Sahlfeld, Arabellastraße 23, 81925 München, Tel.: 0 89/92 50-29 50, Fax: 0 89/92 50-29 52. Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 25, gültig seit 1. Januar 2014. Leiter Direkt Marketing: Michael Zgolik, Senior Brand Manager: Jochen Lutz, Director Marketing: Stefan Hensel, Verlagsleiter: Stefan Kossack, Director Finance and Operations: Gunnar Scheuer Geschäftsführer: Burkhard Graßmann, Andreas Mayer Verleger: Dr. Hubert Burda 3 WELTMEISTER-SPECIAL 2014 Das Tor zum Glück Die Weltmeisterschaft als NervenKrimi. Das Team von Jogi Löw zauberte, kämpfte und überzeugte am Ende mit eisernem Willen 4 FOCUS 29/2014 Foto: Diego Azubel/epa/dpa Götze erlöst eine ganze Nation! Der Bayern-Stürmer sieht in der 113. Minute triumphierend seinem Volleyschuss hinterher. Romero ist machtlos, Deutschland gewinnt 1 : 0 gegen Argentinien 5 WELTMEISTER-SPECIAL 2014 Drei gegen einen Bastian Schweinsteiger führt die Truppe zum Finalsieg 6 FOCUS 29/2014 Tanz den Pokal Arm in Arm, das Glück umzingelt Fotos: Damir Sagolj/Reuters, Srdjan Suki/epa/dpa, Mike Hewitt/FIFA via Getty Images, Odd Andersen/AFP, Marcus Brandt/dpa, Alexander Hassenstein/FIFA via Getty Images Vom Glück erdrückt Alle auf einen: Irgendwo da unten in der deutschen Jubeltraube muss Torschütze Mario Götze liegen. Sein Treffer – die Erlsöung Fan-tastisch Brasilien ist ein Sommermärchen Knallhart Faust voraus: Kompromisslos klärt Neuer, offiziell bester Torwart des Turniers Die Hände zum Himmel Im Stadion, aus dem Häuschen: Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck 7 WELTMEISTER-SPECIAL 2014 Leidwolf Getreten, geschlagen, Cut unter dem rechten Auge: Aber Bastian Schweinsteiger stand immer wieder auf 8 Sie sind Helden Die goldene Generation des deutschen Fußballs hat ihr Versprechen wahrgemacht: Deutschland ist Weltmeister. Und das völlig zu Recht M Foto: FIFA via Getty Images ario Götze fuchtelt mit der Hand in der Luft, als wolle er lästige Gedanken vertreiben. Die deutsche Nummer 19 trägt das rote Hemd der Nationalmannschaft, an dessen unterer Kante die Buchstaben MG aufgedruckt sind, und kurze schwarze Hosen – in zehn Tagen wird das Finale in Rio gespielt, doch Götze scheint nicht so recht dazuzugehören. Die Mücken nerven ihn. Die Fragen auch. MG schlägt danach. „Natürlich bin ich nicht mit mir zufrieden. Jeder einzelne Spieler der Mannschaft würde gerne alle Spiele machen“, sagt Götze und zermalmt die Mücke auf seiner Wade. Das Pool-Wasser schimmert unnatürlich blau, mächtige Palmen wachsen in den wolkenlosen Himmel, und das Meer am Horizont ruht wie mit dem Lineal gezogen. Götze sitzt an einem kleinen runden Holztisch im Hotel „Costa BraFOCUS 29/2014 silis“. Dort in Santo André, gleich neben dem Teamhotel „Campo Bahia“, ist das Medienzentrum des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) untergebracht. Götzes Blick ist traurig, die Stimme dünn. In diesem Moment ist er die Fehlbesetzung in einem Freudenstück. Es ist die irre Pointe dieser vierwöchigen Heldenreise, dass ausgerechnet Götze, der zwischenzeitliche Außenseiter, im Finale zum Erlöser der Nation werden sollte. Deutschland ist Weltmeister. Ein Weltmeister, der tatsächlich die beste Fußballmannschaft des Planeten stellt. Die deutsche Elf hat im Turnier die meisten Tore erzielt und besitzt das beste Gefüge aus hochbegabten Einzelspielern inklusive eines herausragenden Torstehers. Auf der Top-Ten-Liste für den „Goldenen Ball“, den der wertvollste WMFußballer erhält, stehen gleich vier Deutsche. Und eigentlich hätte der famose Bastian Schweinsteiger, der Feldherr in einem epischen 10 tenlinie und dirigiert die Mannschaft. Das Individuum hat sich dem Ziel unterzuordnen. Innenverteidiger Per Mertesacker – als Bollwerk gegen die hochgewachsenen Amerikaner noch gut genug – muss gegen das kombinationsstarke Frankreich aus der Elf weichen. Lahm, der immer wieder betont, wie gern er zentral vor der Abwehr agiert, stutzt Löw auf seine Uralt-Rolle als Verteidiger auf der rechten Außenbahn zurück. Offensivspieler Müller muss nach hinten rücken, damit der seniorige Miroslav Klose als echter Mittelstürmer in die Startaufstellung passt. Ja, und Götze sitzt eben auf der Bank, weil er den Ball zu lange am Fuß hält und das Umschalten behindert. Das Murren in der Truppe bleibt jedoch aus. Erfolg hat immer Recht. Das 7 : 1 gegen Gastgeber Brasilien verschlägt Löws Kritikern endgültig die Sprache. Mit diesem Halbfinal-Triumph, der schlimmsten Niederlage, die eine brasilianische Mannschaft jemals hat einstecken müssen, ist Bundes-Jogi unantastbar – nach außen wie nach innen. Eigentlich wollte die Seleção in diesem Halbfinale die historische Pleite aus dem Jahr 1950 vergessen machen, als Brasilien ebenfalls bei einer Heim-WM 2 : 1 gegen Uruguay verlor – eine traumatische Schmach. Nun aber ist es das Jahrhundert-Spiel der Deutschen und ein Stück Zeitgeschichte, das den Blick auf Joachim Löw für immer Her mit dem vierten WM-Stern! Zuversicht sieht so aus: Auf Twitter und Facebook zeigen die deutschen Stars vor dem Finale, was jetzt zählt: die Vier. Den vierten WMStern wollen sie sich auf das Nationaltrikot nähen. Nach 1954, 74 und 90. Und es hat geklappt. Vier Sterne für Deutschland zum Positiven wendet. Auf dem Plakat eines wohl rheinischen Stadionbesuchers war vor dem Anpfiff zu lesen: „Keine Angst – et LÖW’t.“ Wie wahr. „Sprecht ihr Deutsch?“, ruft Verteidiger Mats Hummels nach den 90 Minuten von Belo Horizonte, in denen Brasilien ein Stück seiner Identität verlor, den Journalisten in den Katakomben im Stadion entgegen. Der Dortmunder will das WMWunder nicht in einer Sprache erklären, für das ihm selbst in der Muttersprache die Worte fehlen. „Ich habe auf dem Feld immer gedacht, hoffentlich ist das hier nicht nur ein schöner Traum“, sagt er. „Ich habe aber auch Mitgefühl mit dem Gegner – so ein Spiel wünscht man keiner Mannschaft. Wir wollten auf keinen Fall die Brasilianer noch vorführen mit irgendwelchen Zaubertricks, sondern das seriös zu Ende spielen.“ Wenn Fußballer mit dem Gegner Mitleid haben, ist etwas Außergewöhnliches passiert. Am Tag nach dem Debakel twitterte Mesut Özil: „Ihr habt ein wundervolles Land, wundervolle Menschen und tolle Fußballer. Dieses Spiel darf euren Stolz nicht zerstören!“ Um die Fallhöhe dieses 1 : 7 zu begreifen, braucht es einen Blick in die brasilianische Seele. Der Fußball besitzt für die 200 Millionen Brasilianer einen existenziellen Stellenwert. Dieser Sport ist die große Chance, aus den untersten Schichten bis ganz nach oben aufzusteigen. FOCUS 29/2014 F otos: facebook, Sharifulin Valery/ITAR-TASS/Corbis, Markus Gilliar/REUTERS Schlachtengemälde, zwingend dazugehört. Zugleich hat der nunmehr viermalige Weltmeister einen Bundestrainer, der flexibel genug war, auf klimatische wie auch taktische Anforderungen angemessen und erfolgreich zu reagieren. Joachim Löw hatte nicht nur einen Plan – er hatte für alles einen Plan. „Ein guter Anfang braucht Begeisterung, ein gutes Ende Disziplin“, lautete der Wahlspruch, den der Bundestrainer dem Team für die Titelmission auf den Wimpel geschrieben hatte – und so hat es die Mannschaft gehalten. Damit die Gedanken des Personals nicht abschweiften, hängte Löw sogar ein Trikot mit den Unterschriften aller noch lebenden deutschen Weltmeister vor jedem Anpfiff in die Umkleidekabine. Selten nahm eine Gruppe Menschen die Worte „konzentriert“ und „fokussiert“ öfter in den Mund als die nationale Elite deutscher Fußballer. „Jogi war immer unbeeindruckt von der Kritik von außen“, erklärt Löws Assistenztrainer Hansi Flick seinen Chef. „Wir haben unsere Vision umgesetzt und sind einen klaren Weg gegangen.“ Und Kapitän Philipp Lahm bestätigt: „Er war immer sehr ruhig und hat eine klare Linie verfolgt.“ Für die Öffentlichkeit war Joachim Löw in etwa so schwer zu greifen wie die in ihre Sandlöcher entschwindenden Krebse am brasilianischen Strand. Er tauchte im Campo Bahia ab und erschien lediglich zu den verpflichtenden Pressekonferenzen der Fifa. Dort lächelte Jogi wie eine Sphinx und ließ sich nicht in die Karten schauen. „Jogi hat sich morgens am Meer beim Laufen abreagiert“, meint Lahm. „Der ist früh am Morgen schon so viel gelaufen wie ich in den ersten sechs Spielen“, witzelt Thomas Müller. Das wären knapp 70 Kilometer. Joachim Löw nahm bei seinem WM-Plan ebenso wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Spieler wie auf seine eigenen. Wenn es sein muss, steht er mit durchweichtem Hemd und pitschnassem Haar im RegenSpiel gegen die USA an der Sei- WELTMEISTER-SPECIAL 2014 Vom Schusterlehrling wie Pelé zum gefragten Millionär.Wenn hiesige Metropolen ihre legendären Persönlichkeiten preisen, sind unter den Stadtgrößen nicht selten zwei Dichter und drei Fußballer. Nach dem verlorenen Halbfinale und dem anschließenden 0 : 3 im Spiel um Platz 3 gegen die Niederlande glauben brasilianische Medien nun sogar ernsthaft, dass selbst die Präsidentin des Landes nicht mehr zu halten ist. Angesichts dieses sozialen Drucks erscheint es fast zwangsläufig, dass die Spieler unten auf dem Platz im Turnierverlauf kollabieren mussten. Fußballer, die Tore im Staatsauftrag schießen sollen, können nur verlieren. Heraus kam das, was Psychologen kollektives Versagen nennen, und eine Höchststrafe obendrauf: Zum Ende der zweiten Halbzeit klatschten 55 000 Brasilianer in Belo Horizonte den Deutschen bei jedem gelungenen Kurzpass Beifall. Im Fußball ist es immer die Erwartungshaltung des Betrachters, die Siegen ihre historische Größe verleiht und Pleiten niederträchtige Häme beschert. Als sich die deutsche Auswahl gegen den Weltranglisten-22. Algerien in einem hart umkämpften Achtelfinale zu einem 2 : 1 grätscht, schwappt die Welle der Empörung aus Deutschland bis an die Küste des beschaulichen Dörfchen Santo André. Das Volk hätte ein leicht herauskombiniertes 4 : 0 erwartet. Sogar von Schande ist in den Blättern die Rede. Doch die Mannschaft wählt einen anderen Weg als das implodierte brasilianische Team. Dieser Weg ist die direkte Route ins Finale von Rio und zugleich der deutsche Schlüsselmoment der WM. Ohne ihn ist das Spiel gegen Brasilien kaum zu erklären. Per Mertesacker ist nach dem mühsamen K.-o.-Match gegen Algerien noch rot im Gesicht, da hält ihm ein ZDF-Reporter kurz nach Abpfiff das Mikro unter die Nase. Dieser will wissen, was die Elf im Viertelfinale besser machen müsse, um dort nicht gnadenlos unterzugehen. Dazu muss man wissen, dass der wortkarge Per Mertesacker in Gesprächen bereits nach weniFOCUS 29/2014 gen Minuten nervös mit dem Bein wippt und Blickkontakt gern meidet. Der Mann aus dem kargen Pattensen in Niedersachsen spielt und schweigt. Mertesacker also, von der Erwartungshaltung, die in der Frage steckt, sichtlich angefressen, blafft: „Wat woll’n Se jetzt von mir? Im Achtelfinale gibt es keine Karnevalstruppe mehr!“ Pers Patzigkeit trifft den Nerv seiner Kollegen. Für den Teamgeist ist es die Stunde null. Wieder daheim im eigens für die deutschen Kicker gebauten „Campo Bahia“, das im Misserfolgsfall zu einem Symbol deutschen Größenwahns geworden wäre, lädt der DFB kurz nach dem Mini-Eklat zur Presserunde unter das Sonnendach im duftenden Hotelgarten. Offensivgeist Müller, das rechte Auge Besiegt Welch eine Schmach für Brasilien! 7 : 1 gewinnen die Deutschen – und trösten mehr, als sie feiern: Özil und Schweinsteiger umarmen Júlio César Beliebt Freundschaft statt Fremdeln: Podolski und Özil mit einheimischen Kindern im Trainingscamp. Die Nationalelf gewinnt auch Sympathien vom Duell gegen Ghana noch geschwollen, legt die schlaksigen Beine übereinander und sagt: „Grundsätzlich kann ich mit sportlicher Kritik gut umgehen. Aber was ich nicht haben kann, ist die Art, wie extrem wir dargestellt werden. Ich will mich nicht dafür entschuldigen müssen, dass wir ins Viertelfinale gekommen sind. Eine Schande sieht anders aus! Das Spiel gegen Algerien war nicht der Untergang des Weltfußballs.“ Der Leitgedanke ist gesetzt: Wir da drinnen – ihr da draußen. Fortan zieht sich die DFB-Auswahl noch ein wenig mehr ins Camp zurück, das die Spieler „unser kleines Dorf“ nennen. Dabei erschweren eine klapprige Fähre und bewaffnete Militärpolizisten ohnehin den Zugang zum Quartier. Nicht mal die Einheimischen gelangen ohne Passierschein in ihre benachbarten Häuser. Man will unter sich sein: Die Fußballer spielen Tischtennis oder auf der Playstation, machen Yoga und schwimmen im großzügigen Pool. Während etwa die Schweizer Spieler in ihrem beengten Hotel im Örtchen nebenan unter Hüttenkoller leiden, spricht nicht nur Lahm von der „optimalen Lösung“. „Die Gruppe ist immer zusammen, wir können uns überall und immer unter freiem Himmel treffen. Kein Spieler wird ausgeschlossen“, erzählt Teammanager Oliver Bierhoff. „Es ist richtig, sich abzuschotten, weil neben Journalisten auch jeder Mitarbeiter und jeder Sponsor in den Kreis der Nationalspieler drängt.“ Verteidiger Benedikt Höwedes sagt: „Dort ist der Teamgeist entstanden, der uns durch das Turnier getragen hat.“ Plötzlich ist es da: das große Wir-Gefühl! „Ich kann mir vorstellen, dass wir in 20 Jahren wiederkommen und die Zimmer genauso belegen wie jetzt“, träumt Lahm bereits von der Jubiläumsreise. Hatten Schweinsteiger und Lahm bei vorherigen Weltmeisterschaften bemängelt, dass die Atmosphäre im Team zu wünschen übrig lässt, zeigt sich bei diesem Turnier ein völlig anderes (Stimmungs-)Bild. Das Team, dessen Spieler die Brasilianer 11 nicht ohne Charme „Swainstaiga“, „Mihlah“ oder „Schuhrl“ nennen, ist eine geschlossene Einheit. „Jeder geht respektvoll mit dem anderen um“, berichtet Klose, der in Brasilien an seiner vierten WM teilnahm. Die Spieler haben sich richtig lieb. Ersatztorhüter Roman Weidenfeller, sonst kein Verächter verbaler Attacken, bejubelt von der Bank aus mit geballter Faust die Weltklasse-Paraden eines gesetzten Manuel Neuer – und bleibt stumm. Neulinge wie Christoph Kramer oder Erik Durm betonen, egal, welche Frage ihnen gestellt wurde, dass sie „total froh sind, überhaupt dabei zu sein“, und wollen „jeden Eindruck aufsaugen, den ich aufsaugen kann“. Lukas Podolski, der mit mehr als hundert Länderspieleinsätzen angereist ist und nun lediglich zu Kurzeinsätzen kommt, gibt den Klassenclown, als befände er sich auf der Saisonabschluss-Fahrt eines Kreisligisten nach Spiekeroog. Wenn er mal ausnahmsweise nicht lacht, ist ihm beim Training einer auf den Fuß gestiegen. Versehentlich natürlich. Als Per Mertesacker beim 1 : 0-Spiel gegen die Franzosen 90 Minuten auf der Bank sitzt, erklärt er hernach frei von Ironie: „Ich hatte heute eine neue Perspektive und bin überrascht, wie toll die Unterstützung von der Bank ist – Spiele gewinnt ein Team von der Bank aus.“ Er selbst reicht den Kollegen von der Seitenlinie so viele Wasserflaschen aufs Feld, dass man meinen könnte, er betreibe ein Zusatzgeschäft. Der 1,98-MeterMann hatte erst am Abend vor dem Spiel von seiner Demission erfahren und anschließend nach eigener Aussage vor Enttäuschung kaum ein Auge zugemacht. Statt zu mosern, sagt er: „Das Team ist im Laufe der WM zusammengewachsen.“ Löws Mantra „Schon allein bei den klimatischen Bedingungen brauchen wir den ganzen Kader“ zeigt offenbar Wirkung. Alle Fußballer fühlen sich gebraucht und am Titel-Erfolg beteiligt – auch wenn der JogiSpruch faktisch nicht stimmt. Feldspieler wie Kevin Großkreutz, Matthias Ginter, Chris12 toph Kramer oder Julian Draxler spielen in Löws Überlegungen in Wahrheit keine Rolle. Löw fand spätestens im fünften WM-Spiel gegen die Franzosen seine G14, eine Stamm-Elf inklusive fester Einwechselspieler. Es bleibt sein persönliches Kunststück, dass er den Frieden in der Truppe trotzdem sicherstellte. Einzig Klose sprach unmissverständlich von einer A- und einer B-Mannschaft. Ex-Nationalspieler Jens Nowotny, der als WM-Dritter von 2006 in Brasilien für einen chinesischen Sender analysierte, meint: „Wenn Bankdrücker sagen, ihnen sei nur der Erfolg der Mannschaft wichtig, ist das natürlich Unsinn. Wer nicht spielt, ist unzufrieden – basta!“ Für die Frage, warum der Burgfriede im „Campo Bahia“ hielt, ist Hans-Dieter Hermann der passende Adressat. Hermann ist seit Ende 2004 festes Mitglied im Team und soll Konflikte und mentale Blockaden lösen. Der Mann ist Psychologe, besitzt ein sanftes Wesen und tritt immer dann in Erscheinung, wenn es im Team brodelt. Hermann sagt, Löw habe die Spieler schon so ausgesucht, dass es über die knapp zwei Monate des Zusammenlebens auf engstem Raum keine – auf gut Deutsch – Stinkstiefel gibt. Immerhin sind die Nationalspieler erbitterte Konkurrenten. Alle Positionen sind doppelt besetzt, und Konkurrenzkampf verbessert bekanntermaßen die Leistungen jedes Einzelnen. Nach drei Wochen im „Campo Bahia“ findet der Psychologe, dass „es eigentlich nichts zu tun gibt – die Jungs regeln All(e) im Ballfieber Nicht nur der ganze Erdball schaut bei dieser WM zu auch das Weltall: Der deutsche Astronaut Alexander Gerst hat sich an Bord der Raumstation ISS den vierten Stern aufs Trikot geklebt. „Als Experte in Sachen Sterne . . .“ FOCUS im Stadion Bei der deutschen Mannschaft für FOCUS am Ball: Reporter Axel Wolfsgruber begleitete das Team in Brasilien bis zum Titel alles untereinander.“ Wäre bei der WM 1990 ein Hermann in Italien dabei gewesen, er hätte bei Lothar Matthäus und seinen robusten Kollegen wohl Überstunden machen müssen. Es ist eine Binse, dass ein funktionierendes Kollektiv mehr Kräfte freisetzt als ein zerrütteter Haufen. Einfach, aber wahr. „Die Mannschaft“, sagt Assistenztrainer Flick, der nach der WM auf den Posten des DFBSportdirektors wechselt, „hat seit dem Trainingslager in Südtirol eine unglaubliche Entwicklung gemacht.“ Spätestens im Viertelfinale gegen die Franzosen rackert das Team bis zum Wadenkrampf, im Halbfinale gegen die Brasilianer kommt schließlich Kreativität zum Kampf hinzu, und im Finale gegen Argentinien ist die deutsche Elf zur gestählten Einheit gereift. Kroos und Co. helfen sich gegenseitig auf dem Feld und vermitteln einander so jene Sicherheit, die nach Meinung von Verteidiger Mertesacker so viel wichtiger ist als das reine technische Können des Individuums. Nummer 19 hatte sich eine gewichtigere Rolle in Löws Weltmeisterkader vorgestellt. Wie sollte er ahnen, was das Schicksal mit ihm anstellen würde. Mario Götze, der mit seinem smarten Lächeln und sportlichem Style in jede Boygroup passen würde, wirkt verloren, wie er da im idyllischen „Costa Brasilis“ sitzt, vor dieser Fototapete der 80er-Jahre. An seinem Kinn sprießen dünne schwarze Härchen, und dort, wo sonst schwarze Stecker blinken, klaffen Löcher in den Ohrläppchen. MG hat abgeschminkt. Als die Angestellten im „Costa Brasilis“ an Götzes Tisch drängen, um sich mit ihm zu fotografieren, mault er: „Quick, quick!“ Macht voran, das nervt, soll das wohl heißen. Manche halten ihn für arrogant. Aber das ist er nicht. Er will sich nur selbst schützen. Er ist 22 Jahre alt. Auf dem Foto lächelt dann nur das Personal. Da sind es aber noch ein paar Tage hin bis zum Sieg im WM-Finale. Bis das Strahlen zurückkehrt in Götzes Gesicht. ■ AXEL WOLFSGRUBER FOCUS 29/2014 Foto: NASA/Twitter WELTMEISTER-SPECIAL 2014 FAKTEN Marktwerte der Nationalspieler Marktwert der Nationalspieler (in Millionen Euro) 13 41 18 50 1 42 7 40 35 Mio. Euro Mio. Euro Toni Kroos Manuel Neuer Bastian Schweinsteiger 35 30 Mio. Euro Mio. Euro Mats Hummels Philipp Lahm 6 9 22 Mio. Euro 20 Mio. Euro Sami Khedira André Schürrle Quelle: Transfermarkt Mio. Euro Thomas Müller 16 MIROSLAV KLOSE: „DER BOMBER“ WM-Rekordtorjäger Klose entscheidet in den nächsten Wochen über seine weitere DFBKarriere. Bei Lazio Rom steht der „Killer“ – wie er in Rom genannt wird – noch bis 2015 unter Vertrag. 16 WM-Tore hat der 36-Jährige aus Opole (Polen) geschossen. 2002 erzielte er alle fünf Treffer mit dem Kopf! Fotos: Eddie Keogh/REUTERS, FIFA via Getty Images 137 Länderspiele hat Klose bestritten. Damit liegt er auf Platz 2 der ewigen DFBRekordspieler-Liste. Nur Lothar Matthäus (150) hat (noch) mehr. Sein Debüt gab Klose am 24. März 2001 gegen Albanien – und schoss kurz vor Schluss das entscheidende Tor zum 2 : 1. Quelle: Emnid-Umfrage für N24 5 Manuel Neuer Thomas Müller 5 5 4 Miroslav Bastian Mats Klose Schweinsteiger Hummels 4 Toni Kroos ZITATE FairplayAuszeichnungen hat Klose bekommen. 71 Länderspieltore hat der Stürmer geschossen. Das bedeutet Platz 1 vor Bomber Gerd Müller (68 Tore). 24 WM-Einsätze hat Klose absolviert – zwei weniger als Rekordspieler Lothar Matthäus. 0,7 Tore schießt der Vize-Europameister von 2008 und Vize-Weltmeister von 2002 pro WM-Spiel. Seine DFB-Quote beträgt insgesamt 0,52. Wussten Sie, dass Gottfried Fuchs die meisten Tore in der 114-jährigen DFB-Geschichte schoss? Er traf am 1. Juli 1912 im Olympiastadion von Stockholm zehnmal beim Länderspiel gegen Russland. Endstand: 16 : 0. FOCUS 29/2014 Sympathikus Neuer Torwart Manuel Neuer ist der beliebteste deutsche Spieler. Das ergab die neueste Umfrage des Marktforschers Emnid. 28 Mio. Euro 5 Deutschlands Liebling: Manu, der Libero Das Lächeln des Siegers Jogi Löw, Trainer der deutschen Nationalmannschaft, erringt den ersten Weltmeisterschafts-Titel für Deutschland seit 1990. „Niemand hat es so verdient wir wir. Die Spieler haben so viel gegeben wie nie, um zu haben, was sie nie hatten: den Pokal“ „Es ist unglaublich ganz Deutschland ist Weltmeister. Die Mannschaft hat es super gemacht. Wir feiern jetzt mindestens fünf Wochen!“ Manuel Neuer, als bester Torhüter der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien ausgezeichnet 13 Deutschland Weltmeister 2014 14 Foto: JUAN MABROMATA/AFP Lukas Podolski Mario Götze Roman Weidenfeller Jérôme Boateng Shkodran Mustafi Mats Hummels Kevin Großkreutz FOCUS 29/2014 Toni Kroos Per Mertesacker Sami Khedira Miroslav Klose Philipp Lahm Manuel Neuer Erik Durm Bastian Schweinsteiger Ron-Robert Zieler André Schürrle Julian Draxler Thomas Müller Matthias Ginter Christoph Kramer Hans-Dieter Flick Benedikt Höwedes Joachim Löw Mesut Özil Andreas Köpke Oliver Bierhoff 15