5 Jahre Soteria - das soteria netzwerk. soteria

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5 Jahre Soteria - das soteria netzwerk. soteria
FÜNF JAHRE
SOTERIA
H AUS I M PA R K
am Klinikum München-Ost
Erfahrungen und erste Ergebnisse
Februar 2008
Das Klinikum München-Ost ist zertifiziert nach DIN EN ISO 9001:2000
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Inhalt
I. Soteria-Alltag: Ereignisse und Erfahrungen
Soteria-Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Stationsalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Öffentlichkeitsarbeit
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Kooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Bestandsaufnahme und Perspektiven
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II. Die Begleitforschung der Soteria
Warum Begleitforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Finanzierung und Aufwand
Fragestellungen und Ziele
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Methoden und Instrumente
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III. Erste Daten und Ergebnisse
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Datenbasis und Grundgesamtheiten
Allgemeine Basisdaten
Aufnahmen, Entlassungen und Behandlungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Behandlungsvorgeschichte und Ersterkrankungen
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Schweregrad der Erkrankungen und Phaseneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Psychosebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Milieutherapeutische Behandlungselemente
Einsatz von Neuroleptika
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Die Behandlung in der Soteria aus der Sicht der PatientInnen
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Weitere Katamnese-Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Nächste Schritte und Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
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Grußwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Eröffnung der Soteria-Station im Oktober 2003
bedeutete für das Klinikum München-Ost der IsarAmper-Klinikum gemeinnützigen GmbH einen Meilenstein, trägt doch die Soteria zur bestehenden Vielfalt
an Behandlungsmöglichkeiten bei und erweitert die
konzeptionelle Bandbreite des Klinikums.
In der Fachwelt wird der Soteria-Ansatz durchaus
­kontrovers diskutiert. Der vorliegende Erfahrungsbericht für die Jahre 2003 bis 2005 vermittelt einen
lebendigen Eindruck über die Praxis und den Alltag
in der Soteria. Ein Schwerpunkt der Begleitforschung
wurde auf die Effekte des spezifischen Soteria-Milieus
gelegt. Seit der Eröffnung wurden insgesamt 318 Pa­
tienten behandelt, die Auslastungsquote der Station
betrug 2007 100,1 Prozent.
Die Ergebnisse der Begleitforschung sind dabei durchaus ermutigend. Aus Sicht der Patientinnen und
Patienten wurde der Soteria-Ansatz mehrheitlich als
hilfreich angesehen. Bei der Bewertung der einzelnen
milieutherapeutischen Behandlungselemente wurden
vor allem das Zusammenleben mit den Mitpatientinnen und Mitpatienten, die Gespräche über die
Erkrankung und die Einzelgespräche mit den Bezugspersonen als hilfreich bewertet. Diese Bewertungen erweisen sich, obwohl erst eine geringe Datengrundlage
vorhanden ist (bisherige Katamnesegruppe), als stabil.
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Margot Albus
Ärztliche Direktorin
Isar-Amper-Klinikum gemeinnützige GmbH
Klinikum München-Ost
Die Patientinnen und Patienten der Katamnesegruppe zeigen bezüglich der ambulanten psychiatrischen
Behandlung und der Einnahme der neuroleptischen Medikation eine eindrucksvolle Compliance/Beständigkeit.
Mit Gründung der deutschlandweit zweiten Soteria
konnte ein innovatives Versorgungsangebot realisiert
werden, das insbesondere auch durch die enge Zusammenarbeit mit den Krankenkassen ermöglicht wurde. Umso mehr freuen wir uns, dass sich die Soteria
am Klinikum München-Ost nach fünf Jahren etabliert
hat und einen sehr guten Ruf genießt. Inzwischen gehen Anfragen von Patientinnen und Patienten aus dem
gesamten Bundesgebiet ein.
Um den Therapieansatz der Soteria bekannt zu
machen, wurden von Anfang an Vorträge und Veranstaltungen für Betroffene, Angehörige und Professionelle durchgeführt. Daneben zeigten auch die
Besucherinnen und Besucher des Klinikums sowie die
Medien reges Interesse am Soteria-Modell, so dass
nicht nur das Behandlungsspektrum weiter ausgebaut
werden konnte, sondern auch unser Ziel zur Vermittlung der vielfältigen therapeutischen Möglichkeiten in
der Psychiatrie an eine breite Öffentlichkeit nachhaltig
verfolgt wurde. Auf diesem Weg möchten wir allen
Förderern und Kooperationspartnern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihr Engagement und den
Patientinnen und Patienten mit ihren Angehörigen für
ihr Vertrauen danken.
Martin Spuckti
Vorstand
Kliniken des Bezirks Oberbayern
Kommunalunternehmen
Vorwort
Nach fast fünf Jahren Soteria im Klinikum MünchenOst möchten wir mit diesem Erfahrungsbericht unsere
bisherige Arbeit darstellen. Sowohl das besonders
intensive erste Jahr der Aufbauphase wie auch die vier
folgenden Jahre, die zur Konsolidierung beitrugen,
stellen wir mit einer Zusammenfassung der wichtigsten
Ereignisse und Entwicklungen vor. Ergänzt um Pa­
tientInnen- und MitarbeiterInnen-Perspektiven hoffen
wir so, Ihnen einen Einblick in unseren Alltag vermitteln zu können. Die seit Beginn mit großer Sorgfalt
und in hoher Qualität gesammelten Daten machen mit
Zahlen und Fakten unsere Arbeit transparent, belegen
erste Ergebnisse und Erfolge.
Bekanntermaßen wird der Soteria-Ansatz oft kontrovers diskutiert. Mit diesem Erfahrungsbericht soll über
die Soteria-Praxis und den Soteria-Alltag am Klinikum
München-Ost informiert werden. Gleichzeitig stellen
wir uns damit auch der öffentlichen Fachdiskussion. Wir sind gespannt auf Ihre Reaktionen, Fragen,
Anmerkungen und wünschen uns einen anregenden
Austausch.
Wir bedanken uns herzlich bei allen Beteiligten, die die
Realisierung einer Soteria am Klinikum München-Ost
ermöglicht und unterstützt haben. Neben der Arbeits-
gemeinschaft Soteria München, dem Krankenhausträger sowie der Leitung des Klinikums und allen beteiligten Abteilungen sind hier vor allem die Krankenkassen
zu nennen, die als Kostenträger die Behandlung in der
Soteria finanzieren.
Wir möchten an dieser Stelle auch darauf hinweisen,
dass zwischen und hinter den in diesem Bericht dargestellten „harten“ Fakten die komplexen, oft schwierigen
Lebensgeschichten und Erfahrungen der Menschen
stecken, die wir begleiten durften. Wir danken ihnen für
das Vertrauen und die Offenheit, die sie uns geschenkt
haben. Hinter den Zahlen bleibt auch das unermüdliche
Engagement aller MitarbeiterInnen der Soteria verborgen, die sich mit viel Mut und Kraft auf die Veränderung
eingefahrener Gleise und den oft anstrengenden, aber
auch immer sehr lebendigen Grenzgang der Psychose­
begleitung eingelassen haben und weiter einlassen. Ohne
ihren enormen Einsatz wäre die gute Atmosphäre mit
entwicklungsfördernden Kontakten und Verbindlichkeit
in der Soteria nicht möglich geworden.
Besonders möchten wir uns bei den Soteria-PatientInnen
und -MitarbeiterInnen bedanken, die mit der schriftlichen Darstellung ihres Erlebens diesen Erfahrungsbericht wesentlich bereichert haben.
Wolfgang Eymer
Chefarzt AP III West
Petra Stockdreher
zweiplus BERATUNG ENTWICKLUNG EVALUATION
Roswitha Hurtz Oberärztin Soteria
Andrea Jordan
Leiterin der BADO-Abt. am Klinikum München-Ost
Irmi Breinbauer
Stationsleitung Soteria
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I. Ereignisse und Erfahrungen aus dem Soteria-Alltag
Soteria-Chronik
Von der „Antipsychiatrie“ ins „Großkrankenhaus“
Vor mehr als 10 Jahren entstand in München unter der
Beteiligung von Betroffenen, Angehörigen und Professionellen die Arbeitsgemeinschaft Soteria München .
Sie setzte sich für eine Soteria als Teil einer geplanten
integrierten Kriseneinrichtung im Münchner Westen ein .
Dieses Projekt konnte über Jahre nicht verwirklicht werden . Im Jahr 2002 entstand alternativ die Überlegung,
eine Soteria auf dem Gelände des Klinikums MünchenOst (damals noch Bezirkskrankenhaus Haar) zu realisieren . Durch ein Zusammentreffen mehrerer glücklicher Umstände gab es Ende Mai 2003 die endgültige
Zustimmung der Krankenkassen für eine Soteria in
Trägerschaft des Krankenhauses . Die Eröffnung war für
Oktober 2003 vorgesehen . In einem Wettlauf gegen die
Zeit mussten die umfangreichen Vorbereitungsarbeiten
erledigt werden . Ein Haus auf dem Klinikgelände wurde
gesucht und gefunden, renoviert und eingerichtet . Die
Stellen für das multiprofessionelle Team wurden ausgeschrieben, zahlreiche Vorstellungsgespräche fanden
statt, MitarbeiterInnen aus verschiedensten Bereichen
des Krankenhauses und von außerhalb formierten
sich allmählich zu einem neuen Team und schufen die
Voraussetzungen für die Umsetzung des Konzepts . Am
6 .10 .2003 wurde die Soteria als Modellprojekt in Haar
eröffnet .
Loren Mosher
Die Eröffnungsveranstaltungen
Es gab zwei Eröffnungsveranstaltungen . Beide fanden
eine große Resonanz . Die krankenhausinterne Eröffnungsfeier wurde vor allem durch die kreative
Beteiligung mehrerer MusiktherapeutInnen und die
Rede eines unserer ersten Patienten geprägt . Zur
offiziellen Eröffnungsveranstaltung konnten wir
neben Holger Hoffmann, dem Chefarzt der Soteria
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Bern, Loren Mosher, den „Urvater“ der Soteria-Idee aus
Kalifornien, als Referenten begrüßen . Nach lebendigen
Vorträgen und Diskussionen fanden sich viele TeilnehmerInnen zum „Nachmittag der offenen Tür“ in der
Soteria ein .
Finanzierung und Belegung
„Spannend“ war das erste Jahr nicht nur, weil so vieles
neu war, sondern auch, weil Soteria zunächst als Modellprojekt bis Dezember 2004 befristet war . Nachdem
das erste Jahr aus der Sicht der Krankenhausleitung und
der Krankenkassen erfolgreich verlief, wurde diese Befristung aufgehoben . In den jährlichen Budgetverhandlungen wurde seither das erforderliche Zusatzbudget
für die Soteria problemlos genehmigt .
Am 7 .10 .03 nahm die Soteria die ersten vier PatientInnen auf, am 12 .11 .2003 waren erstmals alle 12 Plätze
belegt . Bereits im November und Dezember 2003
konnte die geforderte Betten-Belegung mit 92,7% Belegung erbracht werden . Ab dem Jahr 2004 stieg die
Belegung kontinuierlich auf zuletzt 100,11% in 2007 .
Entwicklung des Stationslebens
Milieutherapeutisches Kernelement des Konzeptes ist es,
gemeinsam mit den PatientInnen den Alltag mit allen
anfallenden Aufgaben wie einkaufen, kochen, putzen
und waschen zu gestalten . Statt der Versorgung über die
zentrale Klinikküche
hat die Soteria ein
eigenes Budget von
derzeit 4,50 § pro
Person und Tag für
sämtliche Nahrungsmittel und Getränke .
Die Ausstattung unserer Küche komplettierte sich langsam,
das befürchtete ChaLuc Ciompi
os beim Mittagessenkochen blieb aus .
Die PatientInnen zeigten enorme Fähigkeiten, sowohl bei
der Anforderung, für 12 bis 14 Leute zu kochen, als auch
bei der Notwendigkeit, mit dem relativ niedrigen Budget
auszukommen . Von Beginn an war das Essen in der Soteria gut und abwechslungsreich . Der Speiseplan reicht von
einfachen Nudelgerichten über Schweinebraten, selbstgebackenem Brot und Kuchen bis zum mehrgängigen Weihnachtsmenü . In unserem großzügigen Garten haben wir
ein Hochbeet angelegt
und ernten seitdem
regelmäßig Rettiche,
Zucchini, Tomaten,
Kürbisse und diverse
Kräuter . Im Sommer ist
der Garten ein zusätzlicher Lebensraum, der
von allen gerne genutzt wird . Einmal jährlich findet ein Grillfest
mit „Ehemaligen“ statt .
Im Sommer 2005 gab es ein mehrwöchiges Kunstprojekt
im Garten . Gemeinsame Freizeit- und Ausflugsaktivitäten
prägen die Gemeinschaft der PatientInnen und MitarbeiterInnen . Es wird die Umgebung rund um Haar mit Parks,
Bergen, Seen und Schwimmbädern erkundet, aber auch
Museen, Ausstellungen und Konzerte in München werden
besucht . Projekte wie z . B . die Umgestaltung und Renovierung eines Gemeinschaftsraumes oder das Aufnehmen
eines Podcast standen ebenso auf dem Programm wie
einige Hauskonzerte .
Seit Oktober 2006 findet einmal monatlich ein Stammtisch für ehemalige SoteriapatientInnen in den Räumen
der Tagesstätte München-Neuhausen statt, der regelmäßig gut besucht ist .
Seit Mai 2007 arbeitet ein ehrenamtlicher Laienhelfer
einmal wöchentlich in der Soteria mit .
Die ruhelose Seele, der wirre Kopf und die sich immer
weiter drehenden Gedanken machten nicht halt. Erst als
die vom wilden Umherirren erschöpften Füße den blauen Boden des Weichen Zimmers betraten, konnte ich
seit Wochen wieder einmal aufatmen. Innerlich fühlte
ich mich leer und meine Gefühle waren wie versteinert.
Die Leere des Weichen Zimmers machte meiner inneren
Leere Platz und ich konnte mich in dem Raum sehr
wohl fühlen. An diesem Ort des Schutzes, ohne Bilder an
der Wand, die mir Rätsel aufgegeben hätten, landete ich
langsam aber sicher wieder auf dieser Erde.
Das Weiche Zimmer liegt zwischen dem Stationsbüro
und dem Bereitschaftszimmer. Ich hatte Angst zu schlafen und nun war jemand da, der über meinen Schlaf und
den der anderen Mitbewohner wachte.
FrauY.
Das Weiche Zimmer ist ein Raum, der unter der Prämisse größtmöglicher Einfachheit und Reizreduktion
nur mit Kissen, Decken und Matratzen ausgestattet ist .
Eine feste Begleitperson versucht, sich intuitiv auf die
Bedürfnisse des psychotischen Menschen einzustellen
und herauszufinden, was gerade hilfreich sein könnte .
Das weiche Zimmer wird als Möglichkeit angeboten
und kann durch die Reizreduktion zur Entspannung
und Entängstigung beitragen .
Stationsalltag
Soteria aus Sicht der Patientinnen und Patienten
Die folgenden Beiträge sind von zwei ehemaligen
Soteria-PatientInnen verfasst. Sie vermitteln einen unmittelbaren Eindruck vom Stationsalltag. Namen und
Begebenheiten wurden zum Schutz unserer PatientInnen anonymisiert.
Weiches Zimmer
Unzählige Nächte hatte ich nicht geschlafen und unzählige
Tagträume trieben mich in den Wahnsinn. Wie auf einem
LSD-Trip verschwammen alle Reize zu meinem persönlichen Alptraum. Die Sonne strahlte in jenem Sommer
heiß und in meinem Erleben fiel sie auf mich herunter. Die
Folter des Gehirns nahm kein Ende. Ständig löste ich Rätsel,
welche in einem größeren Zusammenhang standen, aufgegeben durch so viele Reize – die Zeitung, das Fernsehen,
das Radio, die vielen Menschen in der Stadt.
Das Weiche Zimmer
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I. Ereignisse und Erfahrungen aus dem Soteria-Alltag
Aufnahmesituation
Da kam ich nun an in dieses Haus mit seinen vier ­Meter
hohen Decken, die im Vergleich zu meinem kleinen
Zimmerchen geradezu wie Festungsmauern auf mich
wirkten. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl. ­Meine
Gedanken bewegten sich in Richtung Flucht. Das
Schlimmste überhaupt war die mir wahnsinnig hoch vorkommende Zahl neuer Gesichter, die mich erwarteten.
Das Mittagessen ließ ich aus diesem Grund auch erst mal
ausfallen – was jedoch eine meiner Bezugspersonen nicht
daran hinderte, mir etwas vom Essen zurückzustellen.
Gegen Nachmittag lernte ich Nummer Zwei aus diesem
Tandem kennen. Ich empfand es als sehr angenehm als
jemand mit einem freundlichen, aber dennoch besorgten
Blick meine Zimmertür öffnete und mich unverbindlich
danach fragte, ob man etwas für mich tun könne.
Ich unternahm den Versuch, meine Situation zu
­schildern. Dass ich mich hier nicht wohl fühle. Meine
Paranoia und mein Bedürfnis nach Rückzug. Schließlich
hatte ich die letzten Monate mit Alleinsein und Nachdenken verbracht und war einer derart gesellschaftlichen
Lebensweise entfremdet. Man hörte mir zu, schloss
Fragen an, ein langes Gespräch…
Ich bekam meine Zeit zum Alleinsein.
Herr Z.
Erstes Miteinander
Als zum Abendessen gerufen wurde, erschien es mir als
riskantes Abenteuer, meinen mittlerweile am anderen
Ende des Flures bezogenen Beobachtungsposten aufzugeben. Doch auch an dieser Stelle blieb ich nicht allein.
Ein anderer Betreuer nahm sich meiner an und schaffte
es doch tatsächlich, mich an einen Tisch mit
14 Personen zu bekommen.
Mein Körper verkrampfte sich, an Essen war nicht zu
denken. Obwohl es so schien, als hätte den Tisch jemand
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mit Liebe gedeckt. Den Blicken der Anderen versuchte
ich auszuweichen, ein Ding der Unmöglichkeit.
Man kam ins Gespräch. Lustigerweise über die Vielzahl
der verschiedenen Geschmacksrichtungen des Tees, den
man hier im Angebot hat. Der Abend gestaltete sich
dann unverhofft im regen Austausch mit einer Handvoll
PatientInnen über die jeweiligen Erfahrungen unserer
Krankheitsgeschichten. Fast schon sarkastisch wurde dabei viel gelacht und durch die unglaublichsten Gemeinsamkeiten Vertrautheit erzeugt. Weshalb ich mir noch
an diesem Abend sicher war, mit diesem Aufenthalt den
richtigen Entschluss getroffen zu haben.
Herr Z.
Psychotisches Erleben im geschützten Rahmen
Während der darauf folgenden Tage wurde mir immer
bewusster, dass ich mich bereits in einem tiefen Loch
befand. Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Hoffnungslosigkeit und Depression gingen Hand in Hand.
Wusste ich noch im einen Moment, was ich sagen wollte,
war im nächsten Moment Leere.
Die Möglichkeit, nahezu jederzeit Gespräche mit
dem Personal zu führen, half mir über diese Zeit der
Schwierigkeiten am meisten hinweg. Auch die besagten Momente der
Leere während eines
Gespräches schienen
dabei ungewöhnlich
selbstverständlich zu
sein. In diesen Momenten herrschte
Schweigen und ich
hatte die Möglichkeit, den Gedanken,
der mir abhanden
gekommen war,
wieder zu finden.
Selbst wenn mir dies nicht gelang, ist niemand einfach
aufgestanden und gegangen. Das Ende des Gespräches
durfte ich festlegen. Das gab mir die Möglichkeit, selbst
sehr realitätsferne Gedanken auszusprechen und zu klären. Es löste die Unordnung in meinem Kopf.
Herr Z.
Haushalt und Therapie
Tägliche Dienste, die jeweils für eine Woche verteilt
wurden und von uns selbst gewählt werden konnten,
verhalfen zu einem geregelten Tagesablauf. Wobei
sich das Kochen für 14 Personen anfangs als unlösbares
Problem darstellte, welches sich jedoch mit wertvoller
Unterstützung von MitpatientInnen und Personal wider
aller Befürchtungen gut meistern ließ. Als Belohnung
wurden alle satt und im besten Fall hat es auch noch
allen geschmeckt.
Dabei muss ich bemerken, dass auch Tage dabei waren,
an denen ich nicht vorwärts kam, auf der Stelle trat, alles
wieder zum Problem wurde und die Hoffnungslosigkeit ihr Recht forderte. Es war an solchen Tagen nie ein
Problem, zu sagen: „Ich schaffe das im Moment nicht!“
Alle PatientInnen und das Personal bildeten eine Gemeinschaft, es fand sich immer jemand, dem es besser
ging und der sich bereit erklärte, die fragliche Aufgabe zu
übernehmen.
Soteria aus Sicht der
Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter
Die folgenden Beiträge sind von
mehreren KollegInnen erstellt
und beschreiben einige Facetten des Soteria-Alltag. Auch
hier sind zum Schutze unserer
PatientInnen die Begebenheiten
anonymisiert worden.
Die täglichen Aufgaben wie Wäsche waschen, Blumen
gießen, Früh-, Mittag-, Abenddeckdienst, das oben erwähnte Kochen, Aufräumen, der Wocheneinkauf usw.,
sind auf den ersten Blick vielleicht etwas Selbstverständliches. Auf den zweiten entpuppen sie sich als wichtiger
Bestandteil der therapeutischen Maßnahmen.
Für den einen lästig, um für einen anderen Neuland zu
sein. Die Möglichkeit, Herausforderungen anzunehmen
und erfolgreich zu meistern, empfand ich als ein Stück
Lebensqualität. Als Chance, mich auszuprobieren und
zu testen, womöglich vergangene Misserfolge oder gar
Demütigungen wett zu machen. Zu merken, dass man
etwas beitragen kann, nicht auf einem Abstellgleis steht,
sondern an der eigenen Umwelt teilhaben und sie aktiv
mitgestalten kann.
Herr Z.
Einstimmung
Auf dem Weg von der S-Bahn, während meine Füße von
alleine dem mittlerweile vertrauten Weg durch die weit­
läufige Parkanlage des Klinikums München-Ost finden,
nähere ich mich auch innerlich nach und nach der Soteria
und ihren „Bewohnern“. Begebenheiten der letzten
Dienste gehen mir durch den Sinn. Nach einigen freien
Tagen liegt nun eine 24h-Schicht vor mir. Zeit mich darauf
einzulassen, Zeit, ein Stück Alltag miteinander zu teilen.
Perspektive und Rehabilitation
Im Laufe der Gespräche mit meinen Bezugspersonen konnten wir zusammen eine neue berufliche
Zukunft für mich erarbeiten. So werde ich an einem
Programm speziell für psychisch erkrankte Menschen
teilnehmen, die sich aus diesem Grund beruflich neu
orientieren müssen. Eventuell werde ich noch in diesem Jahr, dank der Unterstützung durch Fördereinrichtungen und das Arbeitsamt eine Ausbildung zum
Schreiner beginnen. Der Gedanke, nochmals eine
Berufsausbildung zu beginnen, war zwar schon lange
vorhanden, doch ohne die intensive Unterstützung
und Begleitung hätte ich dies sicher nicht in die Tat
umsetzen können.
Herr Z.
Therapeutische Haltung im Alltag
Therapeuein (gr.): dienen, freundlich behandeln,
hoch achten, sorgen, pflegen, heilen
Heute Nachmittag werde ich mit T. Dienst haben, meinem
Tandempartner. Ein seltener Glücksfall und eine gute Gelegenheit, sich wegen Hr. G. zu beraten, einen Behandlungsplan zu erarbeiten. Gelegenheit auch, um meiner
momentanen Ratlosigkeit und einem Durcheinander von
Gefühlen Ausdruck zu verleihen, auf der gemeinsamen
Suche nach psychodynamischen Zusammenhängen und
einer konstruktiven Haltung. Therapeutische Distanz,
zugleich präsent sein, im Kontakt bleiben, sich ­verwickeln
lassen, – eine tragfähige Be­ziehung aufbauen und
9
I. Ereignisse und Erfahrungen aus dem Soteria-Alltag
mitgestalten . Leicht gesagt! Wie so oft, auch hier: „Das
Wesentliche bleibt unsichtbar!“ Ein „intimes“ Geschehen
zwischen zwei Menschen, doch ohne echte Teamarbeit,
ohne Rückhalt und differenzierten Austausch, ein Ding
der Unmöglichkeit .
Dienstbeginn
Fr . M . steht hilflos im Stationszimmer .
„Wann kommt meine Mutter?“
Die Kollegin spricht beruhigend auf sie ein, begleitet sie
ins Wohnzimmer, um für sie eine ablenkende Beschäftigung zu finden .
Tür zu . Übergabe . Das Team der Frühschicht wirkt
gestresst .
„Herr . H . ist im Stadtausgang zum Einkaufen“
„Herr . G . auch – hat heute einen TWG Vorstellungstermin und wird gegen 19:00 zurückerwartet .“
„Frau . B ., sehr aufgedreht, hat sich gestern Abend geweigert, ihre Medikamente zu nehmen“ .
„Frau . K . hat gekocht .“
Bei Frau M . bricht eine kleine Debatte los:
„ – ist sehr agitiert, kaum zu beruhigen, sehr gequält .“
„… Hat gestern Papiere von Herrn F . zerrissen – braucht
evtl . mehr Medizin – Am Samstag ging es schon mal besser . Wir haben da gemeinsam einen Kuchen gebacken .
– Gestern beim Spaziergang wollte sie gar nicht wieder
auf Station…“
Wir werden unterbrochen, es klopft an der Tür:
Patientenzimmer für eine Mutter mit Baby
„Ich habe Angst um meine Mutter!“
Frau M . zwingt uns dazu, unsere unterschiedlichen
Gefühlsregungen, die von deutlicher Besorgnis, über
Hilflosigkeit bis hin zur unverhohlenen Gereiztheit
reichen, nun in ein konkretes Handlungskonzept
umzusetzen . Angst und Schutzbedürfnis der Patientin dominieren in unserer Wahrnehmung derart, dass
wir uns – trotz der Bedenken, damit auch regressive
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Tendenzen zu verstärken – darauf verständigen, Frau
M . wieder in die 1:1 Betreuung zu übernehmen . Die
Bezugsperson ist heute im Dienst und will mit ihr erst
mal rausgehen . „Nimm das Handy mit!“
Gewachsenes
Frau K . wirft nach der Übergabe einen kurzen Blick ins
Stationszimmer, begrüßt mich lächelnd und fragt nach
einem gemeinsamen Spaziergang vor dem Abendessen .
Ich freue mich über die blitzenden Augen, über die
Verbindlichkeit, die zwischen uns entstanden ist, umso
mehr, nachdem sie anfangs über Wochen jedem Kontakt ausgewichen ist und kaum in der Lage war, auch
nur an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen .
Es war lange fraglich, inwieweit die Angst vor so viel
Fremdheit, dicht gefolgt von den Gefahren wachsender
Vertrautheit und den damit einhergehenden unberechenbaren Gefühlen stärker bleibt als der Wunsch nach
Veränderung und Perspektive . In den ersten Wochen
brauchte Frau K . das Gefühl, jederzeit wieder gehen
zu können, um überhaupt bleiben zu können . Mittlerweile konnte sie sich im nächsten Schritt für eine TWG
entscheiden; eine erfreuliche Entwicklung, da sie bisher
ausschließlich bei ihren Eltern gewohnt hat .
Intermezzo
Frau B . stürmt auf mich zu, überschlägt sich fast mit
Worten . Fragt nach Ausgang:
„… Jetzt sofort, die Freundin wartet im Café .“ …
„Und natürlich fürs Wochenende, mit Übernachtung“
… „Außerdem kommt bald die Oma . Übrigens – die
Medikamente sind auch ein wenig viel .“
Die geballte Ladung an Wünschen lässt mich unwillkürlich zwei Schritte nach hinten ausweichen .
„Eigentlich geht´s super…“ … „… wollte auch schon
mal nach dem Entlassungstermin fragen .“ … „Der Arbeitgeber wartet schon .“
Mit meinem „… es wird mir jetzt ehrlich gesagt zuviel…“
gelingt endlich und für mich selber überraschend, die
Notbremsung . Schweigen . Stille!
Dann ein zaghaftes „Ich bin vielleicht noch etwas überdreht“ .
Im gemeinsamen Einvernehmen begrenzen wir den
Cafébesuch auf eine Stunde . Für die weitere Planung
verspricht Frau B ., sich an ihre beiden Bezugspersonen
zu wenden .
„Aber am Wochenende …“, die Worte „Oma…“ und
„Entlassungstermin…“ verebben mit den Schritten
Richtung Tür .
keineswegs, wegen der Strahlung . Aber danke, dass ich
ihn gefragt hätte . Hier sei er ja sicher . Das Fernsehen
hätte übrigens auch schon etwas von ihm gebracht .
… angstfreieren Umgang mit ihren MitpatientInnen im
Stationsalltag. Entlastet fühlt sich … durch eine Reduktion ihrer Dienste; sie hält aber insgesamt ein gutes
Handlungsniveau und erledigt die Stationsaufgaben
und persönlichen Dinge weitgehend zielgerichtet und
kompetent. In den Bezugspersonengesprächen ist …
spürbarer und schwingungsfähig, es gelingt ein erster
Austausch über ihre Psychose-Erfahrungen und Krankheitsverständnis. Auch ist ein Interesse an Informationen über Psychopharmaka …
Wieder das Telefon . Eine Kollegin aus einer der Aufnahmestationen fragt, ob wir wohl ein Bett frei hätten . Ich
verweise auf den morgigen Vormittag . „Ja, die Stationsleitung ruft dann zurück“… „kommt sicherlich gerne für
ein Abklärungsgespräch vorbei .“
Das Wohnzimmer
Füreinander sorgen
Nach einem kleinen Stationsrundgang wird es Zeit, die
Medikamente zu stellen . Das Telefon verhält sich bemerkenswert ruhig, im Wohnzimmer klappert begleitend
das Geschirr . Eine klagende Stimme ertönt in der Tür:
„Es gibt kein Brot mehr .“
„Dann kaufen Sie noch schnell was .“
Fliegende Wechsel
Im Flur wird es ruhig . Der Platz am PC ist auch frei . Zeit
genug für die Dokumentation in der Krankengeschichte:
„In der letzten Woche zeigte sich eine deutliche Besserung des psychopathologischen Befundes. … ist in
ihrem Denken merklich weniger grüblerisch und abgelenkt. Weiterhin bestehende Beziehungsideen kann sie
im Gespräch äußern und teilweise reflektiert betrachten. Dies ermöglicht ihr auch einen leichteren, …“
Das Telefon klingelt: EKG-Termin für Herrn . R .
„Wir warten schon .“
Herr R . sitzt Zeitung lesend auf dem Flur, schaut mich
eher misstrauisch an . Zeigt dann auf auf ein schwarzes
kastenförmiges Gebilde über der Tür . Ob wir ihn hier
mit Kameras überwachen würden . Ich versichere, dass
wir hier keine Monitore haben und frage ihn, ob er
jetzt, hier konkret Angst habe und was ihm dagegen
helfen könne? Herr R . lächelt mich nun an und erzählt
ein wenig von der „Geschlossenen“ . Zum EKG gehe er
„Nein!“
„Oder, Sie kochen ein paar Nudeln“…
Herr F ., ein Mann in den besten Jahren, der sonst selten
das Haus und Bett verlässt und sich in seinem bisherigen
Leben von seiner Mutter versorgen ließ, entschließt sich
dann nun doch für den Brotkauf . Gerade im Alltagsgeschehen, auf einen konkreten Ort und eine konkrete
Gruppe verwiesen, zeigen sich schnell – wie in einem
11
I. Ereignisse und Erfahrungen aus dem Soteria-Alltag
Brennspiegel intensiviert – Defizite und Ressourcen des
Einzelnen . Im sozialen Miteinander, in dem es gemeinsam die alltäglichen Notwendigkeiten zu bewältigen gilt,
treten verborgene Talente zu Tage, werden Fähigkeiten zu
Fertigkeiten .
Schon ertönt der Gong . Auf dem Weg ins Wohn- und
Esszimmer klopfe ich zusätzlich noch an jede Tür der
sechs Doppelzimmer, öffne, sage kurz Bescheid . Der
Gong sollte reichen, doch auf diese Weise wird der
Essensruf etwas persönlicher und zudem kann ich gleich
sehen, wer da ist, zum Essen kommt oder auch nicht .
Herr . T . steht am Waschbecken und schrubbt sich die
Hände . Wie lange schon? Er wirkt gequält, sieht kaum
auf, als die Tür aufgeht, murmelt leise und unverständlich, er komme gleich .
Tragfähigkeit
Frau S . sitzt im Flur auf dem Fußboden, an die kalte Heizung gelehnt, den Kopf zwischen den Knien . Auf meinen
Gruß hin erklingt lediglich ein unverständliches Murren .
Ich frage was los sei, woraufhin Frau S . den Kopf hebt,
Patientenzimmer
mich mit verkniffenem Gesichtausdruck aufs Feindseligste
anstarrt und äußerst sarkastisch die Gegenfrage stellt:
„Was soll schon los sein, Frau . D? Natürlich ist alles bestens! Für Sie ist doch sowieso alles bestens!!!“
Wir halten den Blickkontakt .
„Na wunderbar“, kontere ich ironisch, „dann können sie
mir ja sagen, wieso Sie hier an der Heizung sitzen! Für
mich sieht es nämlich ganz so aus, als seien Sie wütend
und hilflos zugleich!“
Insgeheim bin ich heilfroh, dass Frau S . schon etwas
länger bei uns ist, wir uns recht gut kennen und voneinander wissen, dass wir uns mögen! Dies ist nicht die
12
erste Klippe die wir gemeinsam umschiffen . Ansonsten
würde ich es jetzt mit der Angst zu tun bekommen,
im Angesicht von so viel Anspannung und Aggression .
Trotzdem bin ich alarmiert und sehr besorgt . Diesmal
ernte ich eine Flut von wirren, verschlüsselten Sätzen,
die mir zwar meine Vermutung bestätigen, einen „sinnvollen“ Dialog jedoch momentan unmöglich machen .
Ich sage Frau S ., dass ich mich gerne in Ruhe und
ausführlich mit ihr unterhalten möchte, dass mich die
Vorkommnisse der letzten Tage interessieren und auch,
inwieweit sie mit der besprochenen Wochenplanung
zurechtgekommen sei . Ich „ignoriere“ ihre paranoiden
Antworten, lege unseren Termin auf „nach dem Abendessen“, vergewissere mich ihres Einverständnisses und
gehe ins Stationszimmer .
Psychosebegleitung
Im Weichen Zimmer liegt Frau M . in Embryonalhaltung
auf der blau bezogenen Matratze und klammert sich an
die Hand von Kollegen T .
„Ich brauche ganz dringend eine Beruhigungstablette!“
Ich versuche, den Kollegen aufmunternd anzulächeln
und frage, ob er eine Ablösung braucht, um am
Abendessen teilnehmen zu können . Beim Wort „Essen“
entspannt sich Frau M . merklich, verlässt das Weiche
Zimmer und lässt uns erstaunt zurück . Frau M . sitzt als
erste am Tisch .
Das Tischgespräch plätschert nur mühsam dahin; die
ersten verlassen den Tisch . Bis Herr H . fragt, „…was ich
eigentlich schon immer über Neuroleptika wissen wollte .“ … Warum er dieses und nicht jenes Medikament
bekomme .
Herr F . schaltet sich ein, er hätte früher das Gleiche
wie Hr . H . jetzt bekommen, das sei eigentlich ganz gut
gewesen .
Frau M . murmelt dazwischen „…aber ich werde so fett
durch die Pillen .“
„Aber du brauchst die doch, die helfen dir und ich nehme sie auch…,“ sagt völlig überraschend ausgerechnet
Frau B .
Notwendigkeiten und Austausch
Kollege T . sitzt im Dienstzimmer und hat bereits mit
der Tagesdokumentation und mit dem Ausfüllen
der täglichen Begleitforschungsbögen begonnen .
Psychopathologie, Aktivitätsniveau, sowie die Dauer
der Gespräche oder der Psychosebegleitung müssen
täglich erfasst werden . Ich geselle mich dazu, über-
an der Kunsttherapie teil, die sie für sich als aufschlussreich erlebte.
Im Verlauf mehrerer Wochen gelang es … zunehmend
zwischen Realität und „Alptraumwelt“ zu unterscheiden, von den eingangs geschilderten Befürchtungen,
Ängsten und wahnhaften Verstrickungen konnte sie
sich bis ca. Mitte … deutlich distanzieren.
nehme meinen Teil dieser Schreibarbeit . Hie und da
wechseln wir ein paar Worte, berichten das eine oder
andere von unseren heutigen Begegnungen . Ich weiß
eigentlich nicht, was ich gerade nötiger habe –
Stille, Rückzug, innere Klärung, – oder Austausch und
Mitteilung . Ihm scheint es ähnlich zu gehen . Also
pendeln wir uns etwa in der Mitte ein . Der Tag ist
noch lange genug, jedenfalls der meinige ist längst
nicht zu Ende .
Der Tag neigt sich dem Abend zu
Kollegin B . hat heute Nachtdienst . Übergabe . Kollege
T . verabschiedet sich, ich gehe ins gegenüberliegende
Büro, stehe etwas verloren im Raum, versuche mich zu
ordnen . Erst einmal das Bett beziehen, in dem ich heute
Nacht schlafe . Ein Handtuch für morgen bereitlegen . Einen Gang über die Station, mit dem einen oder anderen
Bewohner noch einen Satz wechseln . Vier der PatientInnen sitzen im Wohnzimmer und spielen „Activity“ . Frau
S . sitzt im Fernsehraum vor der so oft umstrittenen Playstation, ich erinnere sie möglichst humorig freundlich
an unsere vorherige Bettgehvereinbarung . Doch dann –
ab an den Schreibtisch, ein Entlassungsbrief muss noch
geschrieben werden:
Nach ihrer Aufnahme auf der milieutherapeutischen
Soteria gelang … rasch die Integration in den stationären Alltag. Mit Kompetenz übernahm sie anfallende
Stationsdienste, beteiligte sich aktiv an Gemeinschaftsaktivitäten und knüpfte – auf stille und zurückhaltende
Art – Kontakte zu den MitpatientInnen. Sie nahm gerne
Unter der neuroleptischen Weiterbehandlung mit ….
kam es im Verlauf zur nahezu vollständigen Remission
der noch vorhandenen psychopathologischen Restsymptomatik. Eine zeitweilige Dosiserhöhung konnte
die noch bestehende Schlafproblematik mit restpsychotischem Erleben in der Nacht positiv beeinflussen.
In den Bezugspersonengesprächen wurden der Krankheitsverlauf thematisiert, mögliche Auslösesituationen
und Frühwarnsymptome besprochen sowie poststationäre prophylaktische Absicherungshilfen angedacht.
Den stationären Rahmen nutzte … für eine beginnende
Klärung einer mittelfristig stabileren Zukunftsgestaltung…
Flurbereich
Ausklang
Bis in die Morgenstunde hinein liege ich noch wach . Es
braucht seine Zeit, bis die innere Unruhe, Gedanken an
die unerledigten Dinge, die heutigen Begegnungen, die
eigenen Kinder daheim, sich legen, und ich – begleitet
von vereinzelten Gesprächsfetzen und Türenschlagen
auf dem Flur – hinüber gleite in Morpheus Reich . 6:00
Uhr Weckerklingeln . Gerade noch rechzeitig erwacht,
bevor Frau M . mich mit einem Riesenstaubsauger einzusaugen droht . Fast neun Stunden Dienst liegen noch
vor mir . Ich freue mich auf die Dusche und eine Tasse
starken Kaffee .
13
I. Ereignisse und Erfahrungen aus dem Soteria-Alltag
Zwischenbilanz nach dem ersten Jahr
Ein abenteuerliches Jahr, und erst allmählich findet eine
Konsolidierung statt. Mühsam errungen im theoretischen
und praktischen Miteinander. Ein spannender Prozess
und ein wertvoller Mosaikstein zu dem, was sich insgesamt als Berufs- und/oder auch Lebenserfahrung bezeichnen lässt. Man muss sie mögen, die Individualisten,
auf Patientenseite ebenso, wie in den eigenen Reihen.
Hier wie da geht es um den Spielraum zwischen Eigenständigkeit und Miteinander, um Weltanschauung und
Menschenbild, um gemeinsame Ziele und die unterschiedlichsten Wege dorthin.
Öffentlichkeitsarbeit
Ziele
Vor allem möchten wir als Soteria in München und
Umgebung bekannt werden, damit Betroffene, Angehörige und Professionelle unser Behandlungsangebot
kennen und nutzen können. Wir beantworten zahlreiche
An­fragen per Telefon und E-Mail, verschicken Informationsmaterial, empfangen BesucherInnen. Im Klinikum
­München-Ost möchten wir uns auch über unseren
eigenen sozialpsychiatrisch-psychotherapeutischen Fachbereich (Allgemeinpsychiatrie West) hinaus bekannt, für
unsere KollegInnen das Soteria-Konzept transparent und
erfahrbar machen. Es gab zahlreiche MitarbeiterInnen
aus dem Krankenhaus und von außerhalb, die bei uns
hospitiert haben. Darüber hinaus verfolgt unsere Öffentlichkeitsarbeit auch psychiatriepolitische Ziele. Wir möchten uns in der Bandbreite unterschiedlicher Behandlungsansätze positionieren und beispielsweise die Übernahme
von Soteria-Elementen auf anderen Stationen befördern.
Vorträge und Veranstaltungen
Wir stellten unser Projekt in einigen Krankenhäusern,
Einrichtungen, in Gremien und auf Tagungen vor:
• 13th AEP-Congress (Association European
­Psychiatrists) 2005 in München
• 15th ISPS-Congress (International Society for the
Psychological Treatments for the Schizophrenias and
other Psychoses) 2006 in Madrid
• Jährliche Fachtagungen „Pflege in der Allgemein­
psychiatrie“ beim Bildungswerk der bayrischen Bezirke
am Kloster Irsee seit 2004
• Jährliche Tagungen der Internationalen Arbeits­
gemeinschaft Soteria seit 2003
• Informationsabend im Selbsthilfe-Treffpunkt ­„KontakTee“
14
• Aktionsgemeinschaft der Angehörigen Psychisch
­Kranker
• Psychiatrie-Tage im Landkreis Aichach-Friedberg
• Workshop mit dem Team des psychosozialen Zentrums „Exit-sozial“ Linz/ Österreich
• Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München
• Psychiatrische Klinik am Klinikum Landsberg am Lech
• Psychiatrisches Krisen- und Behandlungszentrum
­Atriumhaus
• Gemeindepsychiatrischer Verbund Bad Tölz
• Fortbildungsveranstaltung des Frankfurter PsychoseProjekts
• Fachhochschule München, Fachbereich Soziale Arbeit
• Katholische Stiftungsfachhochschule München,
­Abteilung Benediktbeuern
• Langzeiteinrichtung Haus Iberg
• AWOSANA Gesellschaft für psychische Gesundheit
mbH Augsburg
Besucherinnen und Besucher
Es kamen viele Betroffene mit ihren Angehörigen
oder BehandlerInnen, die uns bereits im Vorfeld einer
eventuellen Krise kennen lernen wollten . Viele MitarbeiterInnen aus anderen Einrichtungen des stationären
und ambulant-komplementären Bereichs sowie aus
verschiedenen Ausbildungsinstitutionen interessierten
sich für unser Konzept . Außerdem hatten wir eine
ganze Reihe prominenter BesucherInnen (in alphabetischer Reihenfolge):
• Dr . Volkmar Aderhold (Universität Greifswald)
• Prof . Dr . Michaela Amering (Medizinische Universität
Wien)
• PD Dr . Thomas Bock (Universitätsklinikum HamburgEppendorf)
• Prof . Dr . Luc Ciompi (Begründer der Soteria Bern)
• PD Dr . Holger Hoffmann (Chefarzt der Soteria Bern)
• Prof . Dr . Wielant Machleidt (Medizinische Hochschule
Hannover)
• Alma Menn (Mitbegründerin und Mitarbeiterin der
Soteria in Kalifornien)
• Prof . Dr . Loren Mosher † (Begründer der Soteria Kalifornien)
sowie wichtige VertreterInnen der Kostenträger und
der Politik . Dabei haben wir sehr gute Erfahrungen
damit gemacht, die in der Soteria anwesenden (schon
etwas stabileren) PatientInnen in diese Besuche mit
einzubeziehen, und beispielsweise in einer Kaffeerunde
gemeinsam von unserem Alltag und unseren Erfahrungen zu berichten .
Pressespiegel
Mehrere Tageszeitungen und Wochenblätter schrieben über unsere Eröffnung . Der bayerische Rundfunk
berichtete in verschiedenen Sendungen von unserem
Projekt . In verschiedenen Fachzeitschriften wie „Soziale Psychiatrie“, „Verhaltenstherapie & Psychosoziale
Praxis“, „Ärztliche Praxis“, „Die Pflegezeitschrift“,
„PsychPflege heute“, „Zeitschrift des Salzburger Arbeitskreis für Psychoanalyse“ als auch im „International
Journal of Therapeutic Communities“ wurden Artikel
veröffentlicht . Zum hundertjährigen Bestehen des damaligen BKH Haar 2005 erschien über die Soteria ein
ausführlicher Bericht in der Süddeutschen Zeitung .
Eröffnungstagung
Kooperationen
Zusammenarbeit mit anderen
Soteria-Einrichtungen
Bereits im Vorfeld unserer Eröffnung suchten wir den
engen Austausch mit der Soteria Bern und der Soteria
in Zwiefalten . Durch gegenseitige Besuche kam es zu
einem offenen und intensiven Erfahrungsaustausch,
wobei wir von den Erfahrungen unserer „älteren
Geschwister-Einrichtungen“ viel profitieren konnten .
Mehrere unserer MitarbeiterInnen haben wochen-
Loren Mosher zu Besuch
weise in Zwiefalten hospitiert und dort bereits vor
unserer Eröffnung erste wichtige Soteria-Erfahrungen
gesammelt . Es gab mehrere Arbeitstreffen der drei
Teams, die konzeptionelle Gemeinsamkeiten wie
auch Unterschiede aufzeigten, vor allem aber viel
gegenseitige Rückenstärkung und Solidarität erlebbar
machten . Seit Sommer 2007 stehen wir im Austausch
mit dem Team der Soteria in Nacka/Stockholm,
Schweden .
15
I. Ereignisse und Erfahrungen aus dem Soteria-Alltag
Internationale Arbeitsgemeinschaft Soteria (IAS)
Die IAS wurde 1997 in Bern gegründet und verfolgt als
informeller Zusammenschluss aller am Soteria-Konzept
Interessierten das Ziel, bestehende Soteria-Projekte
und -Initiativen zu unterstützen, sowie der Gründung
von Soteria-Einrichtungen in Europa wichtige Impulse
zu geben . Die regelmäßigen Jahrestagungen dienen
der Vernetzung der einzelnen Initiativen zur Weitergabe von Wissen, Erfahrungen und praktischen Strategien für die Implementierung von Soteria-Projekten .
Dort wurde an der Entstehung der Soteria am Klinikum
München-Ost engagiert Anteil genommen, die ersten
Begleitforschungs-Ergebnisse vorgestellt und diskutiert . Die IAS wurde seit ihrer Gründung von Herrn
Professor Wielant Machleidt von der Medizinischen
Hochschule Hannover geleitet . Bei der Jahrestagung
2006 im Klinikum München-Ost wurde Herr Dr . Wolfgang Eymer (Chefarzt AP West) zum neuen Vorsitzenden gewählt .
Das weiche Zimmer
Im Gespräch: Holger Hoffmann, Wielant Machleidt, Luc Ciompi
16
Angehörigengruppe
Seit April 2004 findet eine Angehörigengruppe in Zusammenarbeit mit Herrn Dr . Heinrich Berger (Dipl . Psychologe, Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft
Soteria München und Leiter des Sozialpsychiatrischen
Dienstes München-Giesing) statt, an der außer den
Soteria-Angehörigen auch am Soteria-Konzept interessierte Angehörige aus dem ambulant-komplementären
Bereich teilnehmen können . Die Gruppe wird blockweise mit jeweils 6 Terminen, die während 3 Monaten
vierzehntägig im SPDI Giesing stattfinden, angeboten .
Die Inhalte richten sich nach den Bedürfnissen und
Wünschen der TeilnehmerInnen, Ziel ist vor allem die
Entlastung und Unterstützung durch Erfahrungsaustausch und Gespräch .
Kooperationstreffen
Zweimal jährlich findet ein Kooperationstreffen mit
VertreterInnen von Einrichtungen aus dem ambulantkomplementären Bereich statt, um über die jeweiligen
Vorstellungen einer guten Zusammenarbeit zu sprechen
und konkrete Vereinbarungen zu treffen . Durch das
gegenseitige Kennenlernen hat sich die Zusammenarbeit bezüglich der Aufnahme von PatientInnen in die
Soteria, wie auch die Vermittlung unserer PatientInnen
in ambulant-komplementäre Einrichtungen deutlich vereinfacht . So stellten sich mehrere therapeutische Wohngemeinschaften auf unserer Station vor, Tagesstätten
und sozialpsychiatrische Dienste kamen mit KlientInnen
zu Besuch, und Münchner-Psychiatrie-Erfahrene berichteten Team und PatientInnen vom Psychose-Seminar .
Beirat
Seit April 2004 gibt es einen Beirat für die Soteria .
Er besteht aus VertreterInnen von Angehörigen und
Betroffenen, den zuständigen psychosozialen Arbeitsgemeinschaften, der Krankenhaus-Direktion und der
Krankenkasse, der Fachbereichsleitung und der SoteriaLeitung . Der Beirat begleitet die Soteria mit einem kritischen Blick von außen, kommentiert und unterstützt . Er
dient der übergreifenden Kooperation wichtiger, auf das
Projekt bezogener Funktionsträger, der Unterstützung
des Projekts selbst, sowie der Förderung des Trialogs .
Bestandsaufnahme
und Entwicklungen
Bewertung der bisherigen Soteria-Jahre
In den Soteria-Alltag sind weitgehend Ruhe und Gelassenheit eingekehrt, zugleich sind noch viele Fragen
offen, ist noch vieles weiterzuentwickeln, und es bleibt
spannend, welche Ergebnisse die Begleitforschung noch
zeigen wird . Wir haben erleben müssen, dass es auch
immer wieder PatientInnen gibt, für die wir mit unseren
Möglichkeiten nicht hilfreich sein können, die dann (bei
dringender weiterer Behandlungsbedürftigkeit) verlegt
oder entlassen werden müssen . Unsere eigenen Grenzen sind uns einige Male, manchmal sehr schmerzlich,
klar gemacht worden . Wir versuchen, daraus zu lernen
und die Erfahrungen in die weitere Teamentwicklung
und Konzeptfortschreibung einzubeziehen . Gleichzeitig, und das gibt uns Motivation und Energie für die
notwendigen Weiterentwicklungen, sehen wir uns auf
einem guten Weg .
Team- und Konzeptentwicklung
Wir hatten mit dem Anspruch begonnen, dass weitgehend berufsgruppenunabhängig alle MitarbeiterInnen
in gleicher Weise die anfallenden Aufgaben in der
Behandlung und im Stationsalltag übernehmen . Grundsätzlich hat dieser Ansatz in unserer bisherigen Arbeit
deutliche Bestätigung gefunden . In einem anstrengenden Alltag mit vielen Herausforderungen werden aber
sowohl die jeweiligen persönlichen als auch die berufsgruppenspezifischen besonderen Fähigkeiten dringend
gebraucht, damit die Bilanz von eingesetzter Energie
und Ergebnis stimmt .
Nach unserer Erfahrung ist es entlastend, mit Hilfe einer
psychotherapeutischen Haltung besser zu verstehen,
was in den Alltags- und Gesprächssituationen genauer
passiert, Raum zu haben, darüber nachzudenken, sich
auszutauschen, gemeinsame Handlungsstrategien zu
entwickeln . Wir nutzen dazu neben unserer Verlaufsbesprechung und Supervision eine wöchentliche Intervisionsrunde, die von unserem Psychologen geleitet wird,
und für jeden die Möglichkeit bietet, Situationen aus
dem Alltag, die schwierig waren, anzusprechen und mit
den Anderen zu reflektieren .
Ein Teil des Teams der ersten Stunde
Workshops und
Klausuren sind, die
die Reflexion unserer Haltung, Handlungs- und Arbeitsweisen ermöglichen
und Entwicklungen
überprüfbar und
korrigierbar machen .
Perspektive
Natürlich ist es nach wie vor bedauerlich und auch
verwunderlich, dass sich das Soteria-Konzept trotz
nachgewiesener Erfolge, trotz zahlreicher Initiativen
und trotz der Psychiatrie-Erfahrenen- und AngehörigenBewegung nicht stärker durchsetzten konnte . Umso
erfreulicher ist, dass es gerade in einem so großen
Krankenhaus wie dem Klinikum München-Ost möglich
geworden ist, Neues zu wagen und Soteria umzusetzen . Denn Soteria ist inzwischen aus den Kinderschuhen
entwachsen, erprobt und erfahren genug, um nicht
als Gegenmodell zur bestehenden Psychiatrie, zu einer
„Insel der Seligen“ werden zu wollen . Soteria trägt zur
bestehenden Vielfalt an Behandlungsmöglichkeiten bei
und erweitert die konzeptionelle Bandbreite . Wir wollen
in Ergänzung zu den anderen Stationen und Konzepten
unsere Alltagstauglichkeit unter Beweis stellen und uns
unseren Platz in dieser Pluralität des Klinikum MünchenOst sichern .
Wir denken, dass es bisher gelungen ist, dem Spannungsbogen zwischen den Wurzeln aus der Antipsychiatrie und klinischer Psychiatrie, zwischen ursprünglicher
Wohngemeinschaft und großem Versorgungskrankenhaus gerecht zu werden und den Soteria-Gedanken,
so wie wir ihn verstehen, in unserer Arbeit lebendig
werden zu lassen .
Darüber hinaus haben wir erlebt, wie wichtig und
unverzichtbar für das Team gemeinsame Fortbildungen,
17
II. Die Begleitforschung der Soteria im Klinikum München-Ost
Warum Begleitforschung?
Dem Soteria-Konzept liegt ein milieutherapeutischer
und individueller Behandlungsansatz mit dem Kernelement der „Psychosebegleitung“ zugrunde. Für die
Realisierung ist gegenüber den üblichen psychiatrischen
Stationen eine erhöhte personelle Ausstattung notwendig, deren Finanzierung die Krankenkassen übernommen haben. Um die geleistete Arbeit, deren Qualität
und Behandlungsergebnisse transparent zu machen
und zu analysieren, wurde ab dem 1.3. 2004 eine Begleitforschung implementiert.
Finanzierung und Aufwand
Die Begleitforschung wird finanziell von den Krankenkassen getragen und von einem externen Institut
(zweiplus BERATUNG ENTWICKLUNG EVALUATION) in Zusammenarbeit mit einer Mitarbeiterin der BADO-Abteilung
des Klinikums München-Ost durchgeführt. Die Datenerhebungen erfordern einen kontinuierlichen Einsatz aller
MitarbeiterInnen des Teams. Mit den zur Verfügung
stehenden Ressourcen war die seriöse Etablierung und
Untersuchung einer Vergleichsgruppe nicht realisierbar.
Fragestellung und Ziele
Die bisher aus Kalifornien und Bern vorliegenden
Wirksamkeitsstudien über Soteria1 beinhalten Untersuchungen über die psychopathologischen Befundveränderungen, die durch das Soteria-Milieu erreicht
werden konnten, den Einsatz von Neuroleptika und die
Auswirkungen auf das psychosoziale Funktionsniveau.
Zusammenfassend zeigten die Ergebnisse, dass bei
deutlich reduziertem Neuroleptika-Einsatz vergleichbare
1 Vgl. Bola, John R.; Mosher, Loren R. (2003): Treatment of Acute
Psychosis without Neuroleptics: Two-Year Outcomes from the
Soteria Project. In: The Journal of Nervous and Mental Disease,
Vol.191, No.4, S. 219 ff
Ciompi, L. (u.a.)(1993): Das Pilotprojekt „Soteria Bern“ zur Behandlung akut Schizophrener. II. Ergebnisse einer vergleichenden
prospektiven Verlaufsstudie über zwei Jahre. In: Der Nervenarzt. S.
440 ff
18
Ergebnisse mit den jeweiligen Kontrollgruppen erzielt
werden konnten. Zudem lebten zwei Jahre nach der
Entlassung mehr PatientInnen als in den Vergleichsgruppen in unabhängigen Wohnformen.
Bisher kaum erforscht ist dagegen, wie das spezifische
Soteria-Milieu wirkt und was in der Soteria-Behandlung
wirksam ist. Es gibt in der Soteria-Literatur Hinweise
darauf, dass sich die Soteria-Behandlung positiv auf
Zufriedenheit, Selbstwertgefühl, Selbstidentität und
Krankheitskonzept auswirkt, außerdem zu einer geringeren Stigmatisierung von PatientInnen und Angehörigen führt.
Die Begleitforschung der Soteria am Klinikum MünchenOst versucht schrittweise und im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten, Aussagen über die Inhalte und
Wirkfaktoren des Soteria-Ansatzes zu machen.
Ziele sind:
• Soteriaspezifische Behandlungsinhalte und -elemente
zu beschreiben, zu erfassen und in ihrer Anwendung
transparent und nachvollziehbar zu machen (systematische Dokumentation der Behandlungsleistungen)
• Behandlungsverläufe (einschließlich Medikation) und
Behandlungsergebnisse während und nach dem
Soteria-Aufenthalt abzubilden und miteinander in
Bezug zu setzen
• Subjektive Sichtweisen der PatientInnen zu erfassen
• Patientengruppen zu identifizieren, für die der
Soteria-Ansatz besonders hilfreich sein kann (Zielgruppenanalyse)
Dazu wird der Einsatz relevanter Behandlungselemente
wie Psychosebegleitung, Weiches Zimmer, Beteiligung
am lebenspraktischen Stationsalltag und die Kontakte
zum eigenen sozialen Umfeld systematisch erfasst. Es
werden patientenbezogene Daten zu Lebenssituation,
Vorbehandlungen, Krankheitsgrad und zur Entwicklung der Psychopathologie erhoben. Die Einbeziehung
subjektiver Sichtweisen der PatientInnen bei der Behandlungsbeendigung und im Rahmen einer Katamnese
ermöglichen Aussagen über die Akzeptanz des SoteriaKonzeptes, die Patientenzufriedenheit sowie den weiteren Behandlungsverlauf. Die zeitnahe Rückkopplung
in den klinischen Alltag dient der prozessorientierten
Evaluation, Objektivierung der Beurteilung von Behandlungsverläufen und der Verbesserung der Behandlung.
Methoden und Instrumente
Patientenbezogene Tagesdokumentation
Die patientenbezogene Tagesdokumentation ist das
Kernstück der Begleitforschung. Um dem individuellen
und milieutherapeutischen Behandlungsansatz des
Soteria-Konzeptes gerecht zu werden, wurde ein Erfassungskonzept entwickelt, das relevante und isolierbare
Elemente der soteriaspezifischen Leistungen abbildet
und gleichzeitig für das dokumentierende Personal
praktikabel ist. Mit der Tagesdokumentation werden
täglich relevante Behandlungsdaten aller PatientInnen
erfasst. Hierzu gehören Art und Dauer der Psychosebegleitung und der therapeutischen Gespräche,
Unterstützung bei der Zukunftsplanung, Medikation,
Einbeziehung von Angehörigen, Aktivitätsentwicklung
im lebenspraktischen Alltag sowie psychopathologische
Daten.
Psychopathologische Entwicklung
Zur Dokumentation der Psychopathologie wird die „Positive and Negative Syndrom Scale“ (PANSS) eingesetzt.
Sie wird für alle PatientInnen bei Behandlungsaufnahme
und -beendigung in der Soteria erhoben. Bearbeitet
wird sie von den hierfür geschulten MitarbeiterInnen
der Station.
Zehn Items der PANSS, die mit den in den Tageserfassungsbögen der Soteria Bern verwendeten Items kompatibel sind, werden außerdem täglich in der Tagesdokumentation erfasst.
Subjektive Sichtweisen der PatientInnen
Bei Behandlungsende werden den regulär entlassenen
PatientInnen drei Fragebögen vorgelegt. Die Fragebögen „Alltagsleben“ (AL) und „Brief Symptom Inventory“
(BSI) sind häufig angewendete Skalen zur Selbstbewertung der Lebensqualität und der Psychopathologie
durch die PatientInnen selbst. Zur Beurteilung des spezifischen Behandlungsansatzes des Soteria-Konzeptes
wurde ein eigenes Instrument, der Behandlungsbeurteilungsbogen (BBB) entwickelt.
Katamneseuntersuchung
Um längerfristige Aussagen zum Behandlungserfolg
und zum Werdegang der in der Soteria behandelten
PatientInnen treffen zu können, wird jeweils ein halbes
Jahr, ein Jahr und zwei Jahre nach der Entlassung eine
schriftliche Befragung bei den PatientInnen, die einer
solchen Befragung zugestimmt haben, durchgeführt.
Dabei werden Daten zur aktuellen Gesundheits-, Lebens- und Behandlungssituation erfasst und zur weiteren Verlaufsbeobachtung die gleichen Instrumente wie
bei der Behandlungsbeendigung eingesetzt: AL, BSI und
ein erweiterter Behandlungsbeurteilungsbogen (BBB).
Basisdokumentation (BADO) und Zusatz­
erhebungen
Die bundesweit etablierte psychiatrische Basisdokumentation zu Soziodemographie, Vorbehandlungen, Schweregrad der Erkrankung, aktueller Behandlung und Weiterbehandlung wird auch in der Soteria standardmäßig
durchgeführt. Sie wird ergänzt um Zusatzerhebungen
zur stationären und medikamentösen Vorbehandlung.
Phasenmodell
Die stationäre Behandlung in der Soteria unterteilt sich
in drei Phasen:
1. Phase:Bewältigung der akuten psychotischen Krise
2. Phase:Stabilisierung und Aktivierung
3. Phase:Vorbereitung auf die Entlassung mit sozialer
und beruflicher Wiedereingliederung und
ambulanter Weiterbehandlung
Die jeweilige Phase beinhaltet unterschiedliche Behandlungsschwerpunkte. Diese orientieren sich am Zustand
der PatientInnen, der primär durch das psychosoziale
Funktionsniveau und die Möglichkeiten zur Beziehungsgestaltung beschrieben wird. Für jede Phase sind darüber hinaus spezifische Behandlungsziele relevant. Die
Übergänge zwischen den drei Phasen sind fließend und
die Behandlungsinhalte überlappen sich teilweise, sind
aber durch eine Schwerpunktverlagerung in die jeweils
neue Phase charakterisiert.
19
II. Die Begleitforschung der Soteria im Klinikum München-Ost
1. Phase:
Bewältigung der akuten psychotischen Krise
In der ersten Phase liegt der Schwerpunkt in der Bereitstellung eines reizarmen und stabilen Milieus. Falls
sinnvoll und gewünscht kann der Patient im Weichen
Zimmer wohnen. Wenn es erforderlich ist, steht für
diese Zeit rund um die Uhr ein Mitarbeiter zur 1:1
Psychosebegleitung zur Verfügung. Die 1:1 Psychosebegleitung ist charakterisiert durch einfühlsames, aufnehmend waches Dabei-Sein und intuitives Eingehen auf
die jeweiligen Bedürfnisse des Patienten. Angehörige,
Freunde und dem Patienten vertraute Bezugspersonen
aus dem ambulant-komplementären Bereich können
in die Psychosebegleitung miteinbezogen werden. Die
Psychosebegleitung findet sowohl im Weichen Zimmer
als auch in den Räumen der gesamten Station und im
Garten statt. Am Gemeinschaftsleben nimmt der Patient
nur teil, soweit es seiner Stabilisierung förderlich ist. Es
bestehen keine Verpflichtungen zur Beteiligung an den
Haushaltsarbeiten.
2.Phase:
Stabilisierung und Aktivierung
Typisch für die zweite Phase sind das Wohnen im
Zwei-Bett-Zimmer, die regelmäßige Teilnahme an den
gemeinsamen Mahlzeiten und Tagesaktivitäten sowie
die Übernahme von Tätigkeiten im Stationsalltag mit
und ohne Unterstützung. Anforderungen des Alltags
(z.B. Tisch decken, einkaufen oder kochen) erleichtern
den PatientInnen den Zugang zur Realität, stärken und
­mobilisieren gesunde Anteile und Fähigkeiten. Durch
die gemeinsame Alltagsgestaltung entstehen Kontakte zu den MitpatientInnen, die häufig hilfreich und
entwicklungsfördernd sind. Therapeutische Angebote
bestehen in Form von Einzel-, Gruppen-, und Familien­
gesprächen sowie kreativen Therapien. Bei Bedarf
findet in enger Abstimmung mit den PatientInnen eine
Anpassung, Umstellung oder Optimierung der neuroleptischen Medikation statt.
Behandlungsziele:
•Angstlösung und Beruhigung durch ein reizarmes
und stabiles Milieu
•Die Bezugspersonen gehen auf die aktuellen
Bedürfnisse des Patienten ein, versuchen, Ängste
zu mildern, eine vertrauensvolle Beziehung aufzu­
bauen und die körperliche Basisversorgung sicherzustellen
•Herstellen des jeweils passenden Abstands: nicht
zu nah (Gefahr des Identitäts-Verlustes) und nicht
zu weit (Gefahr der Verlassenheits- und Vernichtungsangst)
Behandlungsziele:
•Aufbau von vertrauensvollen und tragfähigen
Beziehungen, in denen eine konstruktive Auseinandersetzung mit sich und der Erkrankung möglich
wird
•Grundsätzliches inneres Einverständnis des
­Patienten für alle Behandlungsschritte und -ziele
erreichen
•Sinnvolle und haltgebende Anforderungen, die die
Autonomie-Entwicklung fördern
20
3. Phase:
Vorbereitung auf die Entlassung
In der dritten Phase wird das milieutherapeutische
Angebot der zweiten Phase um zunehmende Verantwortungsübernahme und Belastungserprobungen in
und außerhalb der Soteria erweitert. In den therapeutischen Kontakten stehen die Auseinandersetzung und
der Umgang mit der Krise/Erkrankung im Mittelpunkt.
Individuelle Frühwarnzeichen und Strategien zur
Vermeidung von Rückfällen sowie Krisenpläne werden
erarbeitet. Ein selbständiger und möglichst eigenverantwortlicher Umgang mit der Medikation wird gefördert.
Zusätzlich wird die Entlassung vorbereitet und geplant.
Dabei werden gemeinsam mit den PatientInnen mögliche Perspektiven bezüglich Wohnen, Tagesstruktur,
Arbeit sowie sozialer Kontakte und Freizeitgestaltung
entwickelt. Daneben bildet die Einleitung, bzw. Wiederaufnahme einer ambulanten (sozial)-psychiatrischen
Behandlung einen wichtigen Schwerpunkt. Die Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung wird in
Zusammenarbeit mit Münchner Psychosetherapeuten
unterstützt (Hilfe bei der Therapeutensuche mit ersten
Terminen von der Soteria aus). Information über und
Kontakt zu Selbsthilfegruppen und Psychoseseminaren
werden gezielt gefördert.
Behandlungsziele:
•Förderung der Auseinandersetzung mit der Krise/
Erkrankung
•Entwicklung von Ansätzen für ein eigenes Krankheitskonzept
•Erarbeitung von Frühwarnzeichen, Rückfallstrategien sowie Krisenplänen
•Selbständiger und eigenverantwortlicher Umgang
mit der Medikation
•Vorbereitung auf ein möglichst selbständiges Leben hinsichtlich Wohnen, Arbeit, sozialer Kontakte
und Freizeit
•Einleitung/Wiederaufnahme einer ambulanten
psychiatrischen und möglichst auch psychotherapeutischen Weiterbehandlung
21
III. Erste Daten und Ergebnisse
Im Folgenden werden erste Ergebnisse aus der Begleitforschung dargestellt . Sie beziehen sich auf die
Jahre 2003 bis 2005 und sind von primär deskriptivem
Charakter .
Datenbasis und Grundgesamtheiten
Den Darstellungen liegen Auswertungen aus der klinischen Basisdokumentation (BADO), der Tagesdokumentation, aus Zusatzerhebungen, der Behandlungsbeurteilung (BBB) und der Halbjahres-Katamnese zugrunde .
Bei den folgenden Darstellungen ist zu berücksichtigen,
dass die Erhebungsinstrumente zu verschiedenen Zeitpunkten implementiert wurden und die Auswertungen
sich teilweise auf Aufenthalte und teilweise auf PatientInnen beziehen . In Übersicht 1 sind die wichtigsten
Grundgesamtheiten zusammenfassend dargestellt .
BADO-Daten und Zusatzerhebungen liegen für alle Aufenthalte in der Soteria vor, die Tagesdokumentation für
alle Aufenthalte ab dem 1 .5 .2004 . Der Fragebogen zur
Behandlungsbeurteilung durch die PatientInnen (BBB)
wird ebenfalls seit dem 1 .5 .2004 eingesetzt .
Alle zwischen dem 1 .10 .2003 und dem 31 .12 .2005
regulär entlassenen PatientInnen wurden gebeten, einer
katamnestischen Befragung zuzustimmen . Von 107 in
diesem Zeitraum regulär entlassenen PatientInnen haben 72 (67,3%) einer weiteren Befragung zugestimmt .
Von 57 dieser PatientInnen liegt ein bearbeiteter Fragebogen aus der Halbjahreskatamnese vor . Das entspricht
einer Rücklaufquote von 79% der PatientInnen mit Einverständniserklärung und von 53,3% aller im betrachteten Zeitraum regulär entlassenen PatientInnen .
Übersicht 1 Datenbasis
Anzahl
Aufenthalte
Anzahl Aufenthalte
mit regulärer
Entlassung
Anzahl
PatientInnen
Anzahl PatientInnen
mit mindestens einer
regulären Entlassung
Zeitraum
1.10.2003 bis 31.12.2005
155
126
135
107
Zeitraum
1.5.2004 bis 31.12.2005
103
81
87
63
BADO und Zusatzerhebung
ab 1 .10 .2003
155
126
135
107
Tagesdokumentation
ab 1 .5 .2004
103
81
87
63
Behandlungsbeurteilung*
ab 1 .5 .2004
-
75
-
-
Einverständniserklärung für
Katamnese* ab 1 .10 .2003
-
-
-
72
Halbjahres-Katamnese* ab
1 .10 .2003
-
-
-
57
* nur für PatientInnen mit regulärer Entlassung
22
Allgemeine Basisdaten
Insgesamt wurden in der Soteria zwischen dem
1 .10 .2003 und dem 31 .12 .2005 135 PatientInnen
behandelt . Bis zum 31 .12 .2004 bestand die Auflage der Krankenkassen, jeden Patienten nur einmal
aufzunehmen . Nach diesem Termin wurden 17
PatientInnen zweimal und 2 PatientInnen zu drei
Behandlungsaufenthalten aufgenommen . Unter den
Grafik 1
wiederholt aufgenommen PatientInnen waren 7, bei
denen der zweite Aufenthalt als Weiterbehandlung
des auf Patientenwunsch vorzeitig beendeten ersten
Aufenthaltes zu sehen ist .
Alter und Geschlecht
Männliche Patienten waren in der Soteria mit 56,8%
leicht überrepräsentiert . Das Durchschnittsalter betrug
31,7 Jahre .
Alter und Geschlecht
40,0%
62
34,2%
53
14,2%
22
8,4%
13
bis 20 Jahre
Durchschnittsalter: 31,7 Jahre
männlich
weiblich
88
56,8%
67
43,2%
3,2%
5
21 - 30 Jahre 31 - 40 Jahre 41 - 50 Jahre über 50 Jahre
Alter
Geschlecht
Quelle: BADO n = 155 Aufenthalte
Diagnosen
In die Soteria wurden ausschließlich
PatientInnen mit der Diagnose einer
Psychose (ICD 10 F20 – F 25) aufgenommen . Bei 8 PatientInnen wurde
während des Soteria-Aufenthaltes
die Aufnahmediagnose nicht bestätigt und eine andere psychiatrische
Störung diagnostiziert .
Das Spektrum der Entlassungsdiagnosen umfasste paranoid-halluzinatorische Psychosen (ICD10 - F20;
65,8%), akute psychotische Störungen (ICD10 - F23; 11,6%), schizoaffektive Störungen (ICD10 - F25;
14,2%) und andere psychiatrische
Störungen (ICD10 - F21; F22; F33;
F41; F43; F60; insgesamt 8,4%) .
Grafik 2
Verteilung der Entlassdiagnosen
F20 Paranoid
halluzinatorische Psychose
102
F21 Schizotype Störung
3
F22 Wahnhafte Störung
2
F23 Akute psychotische Störung
18
11,6%
F25 Schizoaffektive Störung
22
14,2%
F33 Depressive Störung *
1
F41 Angststörung***
1
F43 Anpassungsstörung **
3
F60 Persönlichkeitsstörung***
3
65,8%
*
die 2 . Diagnose war F22
** in einem Fall war die Differentialdiagnose F23
*** die Aufnahmediagnose war F2
Quelle: BADO n = 155 Aufenthalte
23
III. Erste Daten und Ergebnisse
Grafik 3
Aufnahme, Entlassung
und Behandlungsdauer
Art der Aufnahme
Aufnahmestationen
anderer Fachbereiche
des KMO
Atriumhaus
19
12,3%
13
8,4%
6
3,9%
andere psychiatrische
Kliniken
47
30,3%
70
45,2%
Direktaufnahme
Aufnahmestationen
des FB West
Quelle: BADO n = 155 Aufenthalte
Grafik 4
Behandlungsbeendigung
reguläre
Behandlungsbeendigung
(110 amb.,
15 teilstat.
Weiterbehandlung)
125
80,6%
24
15,5%
(Rück-)Verlegung
zur stationären
Weiterbehandlung
2 4
1,3% 2,6%
verstorben nach
Suizidversuch
Entweichung
Quelle: BADO n = 155 Aufenthalte
Grafik 5
Art der Aufnahme und Art der Entlassung –
4 Gruppen
Zuverlegung
108
81
52,3%
reguläre
Entlassung
nicht-reguläre
Entlassung
direkte
Aufnahme
47
44
28,4%
27
17,4%
3
1,9%
reguläre
Entlassung
nicht-reguläre
Entlassung
Quelle: BADO n = 155 Aufenthalte
24
Aufnahmen
30,3% aller Aufnahmen in die
Soteria erfolgten als „Direktaufnahmen“ von zu Hause bzw . aus einer
ambulanten Behandlung . 65,9% der
Aufnahmen waren Zuverlegungen
aus anderen Stationen des KMO,
mehrheitlich aus dem Fachbereich
West . 8,4% kamen von der Krisenstation des Atriumhauses, weitere
3,9% kamen aus anderen psychiatrischen Kliniken, primär aus der
Region .
Entlassungen
80,6% der Soteria-Aufenthalte im
betrachteten Zeitraum wurden
mit einer Entlassung nach Hause
beendet, darunter 9,7% in Verbindung mit einer tagklinischen Weiterbehandlung, im Folgenden als
„reguläre Entlassung“ bezeichnet .
Bei 19,4% der Soteria-Aufenthalte
erfolgte eine „nichtreguläre Entlassung“ . Dabei handelte es sich um
eine Verlegung bzw . Rückverlegung
in eine andere Station des Klinikum
München-Ost oder eines anderen
psychiatrischen Krankenhauses . Dies
erfolgte teilweise auf ausdrücklichen
Wunsch des Patienten, hauptsächlich allerdings bei im offenen Setting
nicht mehr zu verantwortender
Selbst- oder Fremdgefährdung . Vier
Patienten entzogen sich der Behandlung durch eine Entweichung . Zwei
Patienten sind durch einen Suizid
verstorben .
Aufenthalte von direkt aufgenommenen PatientInnen wurden mit
93,5% häufiger mit einer regulären
Entlassung beendet als die Aufenthalte der von anderen Stationen
zuverlegten PatientInnen mit 75,0% .
Behandlungsdauer
Die durchschnittliche Behandlungsdauer in der Soteria
betrug 55,5 Tage . Die folgende Häufigkeitsverteilung
zeigt, wie sich die Aufenthaltsdauern von PatientInnen
mit regulärer Entlassung und PatientInnen, die nicht
regulär entlassen wurden, unterscheiden . Bei regulär
entlassenen PatientInnen betrug die durchschnittliche
Aufenthaltsdauer 62,1 Tage, während sie bei nichtregulär entlassenen PatientInnen mit 26,9 Tagen weniger als
die Hälfte betrug .
Grafik 6
Wie in der Soteria Bern wurden auch hier Aufenthalte mit Behandlungsdauern unter 10 Tagen,
die mit einer Verlegung, Entweichung oder ohne
gemeinsame Behandlungsperspektive endeten, als
Fälle gewertet, für die das Behandlungskonzept der
Soteria ungeeignet erschien . Dies traf in der Soteria
Bern für 5 von 56 PatientInnen zu (8,9%) . In der
Soteria des Klinikums München-Ost betraf dies
11 von 155 Aufenthalten (7,1%) .2
Dauer der Soteria-Behandlung
20
Anzahl - bei regulärer Entlassung n = 125
Anzahl - bei nichtregulärer Entlassung n = 30
16
15
13
13
12
11
10
8
7
7
7
6
5
5
5
4
3
3
2
2
1
1
61-70
2
51-60
2
2
2
1
2
1
1
1
231-240
221-230
211-220
201-210
190-200
181-190
171-180
161-170
151-160
141-150
131-140
121-130
111-120
101-110
91-100
81-90
71-80
41-50
31-40
21-30
11-20
0
0-10
Anzahl Behandlungsfälle
15
Anzahl Tage
Quelle: BADO n = 155 Aufenthalte
2 Ciompi, L .; Dauwalder, Ch .; Aebi, E (1991): Das Pilotprojekt
„Soteria Bern“ zur Behandlung akut Schizophrener . I . Konzeptuelle
Grundlagen, praktische Realisierung, klinische Erfahrungen .
In: Der Nervenarzt . S . 431
25
III. Erste Daten und Ergebnisse
Behandlungsvorgeschichte und
Ersterkrankungen
handlung höchstens vier Wochen,
erstmals Diagnose einer Psychose,
Dauer der psychotischen Symptomatik nicht länger als 12 Monate .3
Schweregrad der
Erkrankung
und Phaseneinteilung
Ersterkrankungen
Die PatientInnen der Soteria München unterscheiden sich hinsichtlich
ihrer Krankheitsvorgeschichte in hohem Maße von den PatientInnen aus
den Studien der Soteria in Kalifornien
und Bern . Nur 16,3% der Münchner
Soteria-PatientInnen entsprachen
den in den Studien von Mosher und
Ciompi formulierten Einschlusskriterien für eine Aufnahme in die Soteria
Bern oder Kalifornien: Alter zwischen
18 und 35 Jahren, stationäre Vorbe-
Stationäre Vorbehandlung
Für 35 PatientInnen (25,9%) stellte
der Soteria-Aufenthalt die erste stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik dar . 73% der PatientInnen waren zuvor mindestens
schon einmal in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt worden: 22,2% mit einem Aufenthalt,
13,3% mit zwei Aufenthalten und
37,7% mit drei oder mehr Aufenthalten, darunter 7 PatientInnen mit
mehr als zehn Aufenthalten .
Schweregrad der Erkrankung
Zur Bewertung des Schweregrads
der psychischen Erkrankung wird
die häufig verwendete „Clinical
Global Impression“ Skala (CGI)
eingesetzt . Die CGI besteht aus zwei
Teilen:
Im ersten Teil wird der Schweregrad
der Erkrankung durch die BehandlerInnen auf einer Skala von „überhaupt nicht krank“ = 1 bis „extrem
krank“ = 7 eingeschätzt . Bei der
Aufnahme in die Soteria lag ein
durchschnittlicher CGI-Wert von 6,2
– d .h . zwischen „deutlich krank“ und
„schwer krank“ vor . Bei der Entlassung aus der Soteria lag der durchschnittliche CGI-Wert bei 5,5; bei
den regulären Entlassungen bei 5,2 .
Im zweiten Teil der CGI-Skala wird
der Heilungsverlauf bzw . die Zustandsveränderung zwischen der
Aufnahme und der Entlassung
ebenfalls auf einer siebenstufigen
Skala von „sehr viel schlechter“ bis
„sehr viel besser“ dokumentiert . Bei
der Entlassung aus der Soteria lag
der Durchschnittswert für den Heilungsverlauf bei 3,4 zwischen „etwas
besser“ und „viel besser“, bei Aufenthalten mit regulärer Entlassung
bei 3,0 („viel besser“) . Monate .3
Grafik 7
Anzahl stationärer Aufenthalte vor der ersten
Aufnahme in die Soteria
35
25,9%
1
30
22,2%
2
18
13,3%
3
17
12,6%
4
10
7,4%
5
5
3,7%
6
5
3,7%
7
5
3,7%
8
1
0,7%
9
1
0,7%
10
1
0,7%
11
3
2,2%
15
1
0,7%
20
1
0,7%
21
1
0,7%
keine
Angabe
1
0,7%
Anzahl stationärer Aufenthalte
0
25,9%
Das Funktionsniveau der psychischen, sozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit wird mit der „Global
Assessment of Functioning“ Skala
(GAF) mit Werten zwischen
Quelle: Soteria Zusatzerhebung n = 135 PatientInnen
26
3 Vgl . Ciompi, L . (u .a .)(1993): Das Pilotprojekt „Soteria Bern“ zur Behandlung akut
Schizophrener . II . Ergebnisse einer vergleichenden prospektiven Verlaufsstudie über
zwei Jahre . In: Der Nervenarzt . S .441
Übersicht 2 CGI- und GAF-Werte in der Soteria und im Klinikum München-Ost (gesamt)
für Patienten mit F2-Diagnosen
Soteria
KMO
alle Aufenthalte
n = 155
alle Aufenthalte
mit regulärer
Entlassung
n = 125
Aufenthalte im Klinikum MünchenOst mit F2-Diagnosen wie in Soteria
2004/2005*
CGI Teil 1 – Aufnahme Mittelwert
6,2
6,2
6,6 (n = 2967)
CGI Teil 1 – Entlassung Mittelwert
5,5
5,2
5,8 (n = 2705)
CGI Teil 2 – Veränderung Mittelwert
3,4
3,0
3,3 (n = 2699)
GAF – Aufnahme Mittelwert
30,5
30,9
25,8 ( n = 3174)
GAF – Entlassung Mittelwert
50,9
55,9
50,7 ( n = 3174)
*Quelle: BADO des KMO . Die unterschiedlichen Grundgesamtheiten sind auf teilweise fehlende Angaben zurückzuführen .
0 (schlechtester Wert) und 100 (bester Wert) erhoben .
Bei der Aufnahme in die Soteria lag das durchschnittliche Funktionsniveau bei einem Wert von 30,5, was auf
„schwere Einschränkungen“ verweist . Zuverlegte PatientInnen wiesen erwartungsgemäß im Schnitt etwas weniger
schwere Funktionsstörungen auf als direkt aufgenommene
PatientInnen . Bei der Entlassung aus der Soteria hatte
sich der durchschnittliche GAF Wert auf 50,9 (bei regulär entlassenen PatientInnen 55,9) verbessert .
Phaseneinteilung bei Aufnahme
Die stationäre Behandlung in der Soteria wird in drei
Behandlungsphasen eingeteilt . (vgl . Seiten 19 – 21) . Die
Grafik 8
Einteilung in eine der Phasen macht in Ergänzung zu den
CGI- und GAF-Werten therapierelevante Aussagen zum
Schweregrad und zur Akuität der Erkrankung . Dabei ist zu
berücksichtigen, dass knapp 70% der aufgenommenen
PatientInnen bereits auf anderen Stationen vollstationär
vorbehandelt wurden .
48 PatientInnen (47%) waren zu Beginn ihrer Behandlung
in der Soteria in Phase 1 . 33 PatientInnen (32%) waren
zur genaueren diagnostischen Abklärung zunächst der für
diesen Zweck eingeführten Phase 0 zugeordnet . Danach
wurden 17 dieser PatientInnen (51,5%) in Phase 1,
12 (36%) in Phase 2 und ein Patient in Phase 3 eingestuft .
Phase bei Aufnahme in die Soteria
davon Phase nach Phase 0 bei Behandlungsbeginn
Phase 2
22
21,4%
33
32,0%
48
46,6%
Phase 1
Phase 2
Phase 0
Phase 1
17
12
Phase 0
(PatientInnen wurden
während Phase 0 in
andere Station verlegt)
3 1
Phase 3
Quelle: Tagesdokumentation n = 103 Aufenthalte
27
III. Erste Daten und Ergebnisse
Grafik 9
Psychosebegleitung
davon
Fälle
nur mit
Phase 2
31
30,1%
72
69,9%
Fälle mit
mindestens
einem Tag
in Phase 1
ohne
Psychosebegleitung
mit
Psychosebegleitung
28
38,9%
44
61,1%
Quelle: Tagesdokumentation n = 103 Aufenthalte
Psychosebegleitung
In der Soteria wird zwischen zwei Formen der
Psychosebegleitung unterschieden, die sich bereits
nach kurzer Zeit im klinischen Alltag etabliert und
inzwischen sehr bewährt haben:
• „1:1 Psychosebegleitung“: Ein Mitarbeiter befindet
sich im ständigen, unmittelbaren Kontakt mit dem
Patienten .
• „Erhöhte Achtsamkeit“: Ein Mitarbeiter ist für
den Patienten klar benannt zuständig und hält den
Kontakt auf „Sichtweite“, bzw . durch kontinuierliche Absprachen . Er steht bei Bedarf immer zu
Verfügung, ist aber nicht ständig in unmittelbarer
räumlicher Nähe zum Patient .
Dokumentiert wird, wie lange welche Psychosebegleitung stattfindet und es wird differenziert, ob die Psychosebegleitung innerhalb oder außerhalb des Weichen
Zimmers erbracht wird .
Von den 103 Aufenthalten zwischen dem 1 .5 .2004 und
dem 31 .12 .2005 war für 72 Aufenthalte (69,9%) mindestens ein Tag in Phase 1 dokumentiert . Für 44 dieser
Fälle (61%) wurde mindestens an einem Tag Psychosebegleitung geleistet .
Im Durchschnitt erhielten die PatientInnen mit Psychosebegleitung diese an 7 Tagen mit jeweils 16,1 Stunden
pro Tag . Insgesamt wurden im betrachteten Zeitraum
fast 5000 Stunden Psychosebegleitung erbracht .
Bei 23 von 44 Aufenthalten mit Psychosebegleitung
wurde mindestens einmal das Weiche Zimmer genutzt .
Grafik 10 Psychosebegleitung und Nutzung des Weichen Zimmers
davon
ohne
Psychosebegleitung
28
38,9%
44
61,1%
mit
Psychosebegleitung
ohne
Nutzung des
Weichen
Zimmers
21
23
mit
Nutzung des
Weichen
Zimmers
Quelle: Tagesdokumentation n = 72 Aufenthalte mit mindestens einem Behandlungstag in Phase 1
28
Milieutherapeutische
Behandlungselemente
Beteiligung der PatientInnen an der Alltagsgestaltung des Stationslebens
Milieutherapeutisches Kernelement des Soteria-Konzeptes ist es, gemeinsam mit den PatientInnen den Alltag
mit allen anfallenden Aufgaben wie einkaufen, kochen,
putzen, waschen zu gestalten . Dies schafft zum einen
Kontakt zur „Normalität“ und ermöglicht damit häufig
wieder einen Zugang zur Realität, zum anderen schafft
es Verbindung und Verbindlichkeit zwischen allen Beteiligten .
Die Beteiligung der PatientInnen am milieutherapeutischen Alltag wird in der Tagesdokumentation gemessen
anhand einer sechs-stufigen Skala, die in Stufe 0 die
Nichtbeteiligung am praktischen Stationsalltag annimmt
und in Stufe 6 die eigenständige, sozial auf die anderen MitpatientInnen bezogene und kompetente Bewältigung komplexer Aufgaben (Ämter) in der Station
beinhaltet . Das „Aktivitätsniveau“ wird mit der Tagesdokumentation erfasst . Daten liegen aus 103 Aufenthalten
für 5586 Behandlungstage vor .
Grafik 11 Beteiligung der PatientInnen
am milieutherapeutischen Alltag
0
12,6%
1
12,7%
2
13,6%
3
20,8%
4
21,0%
5
14,0%
6
4,7%
keine
Angabe
0,4%
Aktivitätsnieveau
Bezogen auf die Gesamtstundenzahl der Psychosebegleitung, wurden 3921 Stunden (79,1%) der Psychosebegleitung außerhalb des Weichen Zimmers und 1036
Stunden (20,9%) im Weichen Zimmer erbracht .
14,1% der Psychosebegleitung leisteten die MitarbeiterInnen der Soteria als 1:1 Psychosebegleitung . Mit
85,9% erfolgte der überwiegende Anteil an Psychosebegleitung in Form der Erhöhten Achtsamkeit .
Quelle: Tagesdokumentation n = 5586 Behandlungstage von 103 Aufenthalten
Im Gesamt zeigt sich, dass die Stufen 0, 1 und 2 (Stufen
mit hohem Unterstützungs- und Motivationsbedarf)
mit Anteilen zwischen 12,6% und 13,6% etwa gleiche Prozentsätze ausmachten und insgesamt 38,9%
aller Behandlungstage betrafen . Etwas mehr, nämlich,
41,8% aller Behandlungstage entfielen auf die beiden
Niveaus 3 und 4 (die Stufen mit zunehmender Handlungskompetenz, aber nach wie vor hohem Unterstützungs- und Motivationsbedarf) . Die beiden höchsten
Stufen 5 und 6 waren für 18,7% aller Behandlungstage
dokumentiert .
29
III. Erste Daten und Ergebnisse
Grafik 12 Verteilung der Gesprächszeit bei 103 Aufenthalten auf die beiden
unterschiedlichen Arten des therapeutischen Gesprächs
Therapeutische Gespräche
50,7%
geplante Gespräche mit Terminvereinbarung:
durchschnittlich 12,3 Minuten täglich pro Patient
spontane Gespräche im Alltag:
durchschnittlich 12,0 Minuten täglich pro Patient
49,3%
Therapeutische Gespräche insgesamt:
durchschnittlich 24,3 Minuten täglich pro Patient
Alle sonstigen Patientengespräche wurden nicht erfasst.
Quelle: Tagesdokumentation n = 2263,5 Stunden therapeutische Gespräche an 5586 Behandlungstagen von 103 Aufenthalten
Therapeutische Gespräche
In der Tagesdokumentation wird für die therapeutischen, d .h . krankheits- und behandlungsbezogenen
Gespräche unterschieden zwischen „geplanten Gesprächen“ mit fester Terminvereinbarung und „spontanen
Gesprächen“, die im gemeinsamen Alltag entstehen .
Gespräche mit den Teammitgliedern, die nicht unmittelbar auf die Erkrankung, bzw . auf die Bewältigung
der Erkrankung bezogen sind, werden nicht erfasst . Die
Dokumentation der Gespräche erfolgt in Minuten .
Unter allen dokumentierten Gesprächsminuten machten
spontane therapeutische Gespräche im Alltag 49,3%
und geplante therapeutische Gespräche 50,7% aus .
Pro Patient ergab sich eine Dauer für therapeutische Gespräche von 24,3 Minuten täglich (auf die ganze Woche
einschließlich der Wochenendtage bezogen) . Mit 12,3
Minuten pro Tag und Patient für das geplante Gespräch
und 12,0 Minuten für das spontane Gespräch im Alltag
waren beide Gesprächsarten fast gleich verteilt .
Einsatz von Neuroleptika
Ziel ist ein individueller bedarfsorientierter Einsatz der
Medikamente . Im Vordergrund steht der Aufbau einer
vertrauensvollen Beziehung zu den Bezugspersonen . Die
Behandlung kann - sofern verantwortbar und vom Patienten gewünscht – zunächst ohne den Einsatz von Neuroleptika erfolgen . Bei sehr quälenden Symptomen werden
Tranquilizer oder Schlaftabletten gegeben . Bei fehlender
Besserung der psychotischen Symptome nach 1-2 Wochen
wird eine neuroleptische Medikation vorgeschlagen . Diese
wird individuell abgestimmt und unter Berücksichtigung
des subjektiven Erlebens und eventueller Vorerfahrungen
der PatientInnen eingesetzt . Nach ausführlicher Aufklärung
über die Gründe, Wirkungen und Nebenwirkungen ist es
Ziel, einen tragfähigen Konsens zu finden . Medikamente
werden außer bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung
nicht gegen den Willen der PatientInnen gegeben . Ein
eigenverantwortlicher und möglichst selbstverständlicher
Umgang der PatientInnen mit ihrer Medikation ist ein
zentrales Behandlungsziel .
In der Dokumentation der Begleitforschung wird erhoben,
ob die PatientInnen vor dem jeweiligen Aufenthalt in der
Soteria bzw . in die aufnehmende Station Neuroleptika
eingenommen hatten . Bei 118 der 155 Aufenthalte
(76,2%) hatten die PatientInnen vor der Aufnahme in die
Soteria bzw . in die zuweisende Station bereits Neuroleptika eingenommen: davon hatten 36,8% bis zur Aufnahme
30
Grafik 13 Einnahme von Neuroleptika vor der ersten Aufnahme in die Soteria oder die
aufnehmende Station vor Zuverlegung in die Soteria
regelmäßige Einnahme
von NL bis zur Aufnahme
in das KMO
davon 31 zuverlegte Patienten
57
36,8%
NL abgesetzt
innerhalb der
letzten 4 Wochen
vor Aufnahme
in das KMO
37
23,9%
13
8,4%
48
31,0%
NL abgesetzt mindestens
4 Wochen vor Aufnahme
in das KMO
noch nie
Einnahme
von NL bis
zur Aufnahme
in das KMO
26
5
ohne NL
in der
zuverlegenden Station
NL verordnet
in der
zuverlegenden Station
Quelle: BADO und Zusatzerhebung, n = 155 Aufenthalte
regelmäßig Neuroleptika eingenommen, 39,4% hatten vor
der Aufnahme die verordnete Medikation abgesetzt .
In 37 Fällen hatten die PatientInnen bis zur Aufnahme in
die Soteria bzw . in die zuverlegende Station noch nie Neuroleptika eingenommen . Von diesen Aufenthalten waren
31 Zuverlegungen aus anderen Stationen des Klinikum
München-Ost, des Atriumhauses oder anderer Psychiatrischer Kliniken in die Soteria . 26 dieser PatientInnen waren
in den zuverlegenden Stationen bereits Neuroleptika
verordnet worden . In der Soteria gab es im betrachteten
Zeitraum damit nur 11 Aufenthalte (7,1%) von 9 PatientInnen, die bei der Auf- oder Übernahme in die Soteria noch
nie Neuroleptika eingenommen hatten .
Auch in der Soteria kamen bei den meisten Aufenthalten
Neuroleptika zum Einsatz . Bei 130 Aufenthalten (83,9%)
wurden Neuroleptika mit Behandlungsbeginn eingesetzt,
11 Behandlungen (7%) wurden zunächst ohne den Einsatz von Neuroleptika begonnen und erst im Verlauf des
Aufenthaltes Neuroleptika eingesetzt . Bei 3 Behandlungen
wurden intermittierend Neuroleptika gegeben, die Entlassung erfolgte ohne Medikation . Gänzlich ohne den Einsatz
von Neuroleptika erfolgten 11 Behandlungen (7%) .
Von den 9 PatientInnen, die noch nie Neuroleptika eingenommen hatten, wurden in der Soteria 5 ohne neuroleptische Medikation behandelt und entlassen, 2 PatientInnen
erhielten vor Einsatz einer neuroleptischen Medikation
über einen längeren Zeitraum (mindestens 1-2 Wochen)
keine Neuroleptika und bei 2 PatientInnen wurde die
Behandlung vom ersten Tag an mit einer neuroleptischen
Medikation begonnen .
Grafik 14 Medikation während des
Behandlungsaufenthalts
in der Soteria
Medikation mit
Neuroleptika
130
83,9%
11
7,0%
3 11
1,9% 7,0%
Intermittierende
Medikation
mit Neuroleptika
Behandlung
ohne
Neuroleptika
Medikation
anfangs
ohne
Neuroleptika
Quelle: Tagesdokumentation und Zusatzerhebung n = 155 Aufenthalte
31
III. Erste Daten und Ergebnisse
Grafik 15 Gesamtbeurteilung der Behandlung am Ende des Soteria-Aufenthaltes
Behandlungsende
(n = 75)
37,3%
36,0%
Halbjahreskatamnese
(n = 57)
42,1%
sehr geholfen
17,3%
43,9%
geholfen
etwas geholfen
0,0%
9,3%
10,5%
1,8%
1,8%
nicht geholfen
keine Angabe
Quelle: Fragebogen zur Behandlungsbeurteilung (BBB) und Halbjahres-Katamnese
Grafik 16 Bewertung einzelner Behandlungselemente bei der Entlassung
Beteiligung an
den Außenaktivitäten
59,1%
Beteiligung an den
täglichen Stationsaufgaben
28,8%
64,0%
medikamentöse Behandlung
53,4%
Zusammenleben mit
den MitpatientInnen
52,0%
Stationsatmosphäre
9,1% 3,0%
28,0%
32,9%
6,8% 6,8%
2,7% 1,3%
44,0%
65,3%
26,7%
Die Gespräche
über Erkrankung
62,7%
30,7%
Ansprechbarkeit des
Personals im Alltag
62,7%
29,3%
Einzelgespräche mit
Bezugsperson
74,7%
geholfen
6,7% 1,3%
etwas geholfen
2,7% 4,0%
5,3% 2,7%
20,0%
nicht geholfen
6,7% 1,3%
2,7% 2,7%
keine Angabe
Quelle: Behandlungsbeurteilung (BBB) n= 75 Aufenthalte
32
Die Behandlung in der Soteria aus
Sicht der PatientInnen
Die Perspektive der PatientInnen wurde mit einem von
der Begleitforschung entwickelten Behandlungsbeurteilungsbogen erhoben . Dieser wurde bei Behandlungsende allen regulär entlassenen PatientInnen vorgelegt . Ein
halbes Jahr nach der Entlassung wurden PatientInnen,
die einer Wiederholungsbefragung zugestimmt hatten,
dieselben Fragen noch einmal gestellt .4
Aus Sicht der befragten PatientInnen stellte sich die Behandlung in der Soteria zum Zeitpunkt der Entlassung,
als auch 6 Monate nach Entlassung aus der Soteria
mehrheitlich als sehr hilfreich und hilfreich dar . Dies
betrifft sowohl die Gesamtbeurteilung als auch die
Bewertung einzelner Behandlungselemente .
Sowohl bei der Entlassungsbefragung als auch in der
Halbjahres-Katamnese wurden sämtliche Elemente
der Soteria-Behandlung von über 80% der befragten PatientInnen als hilfreich oder etwas hilfreich
bewertet . Die meisten positiven Bewertungen galten
dabei zu beiden Befragungszeitpunkten den mit den
Bezugspersonen der PatientInnen geführten Einzelgesprächen .
Grafik 17 Bewertung einzelner Behandlungselemente in der Halbjahreskatamnese
Beteiligung an
den Außenaktivitäten
68,4%
Beteiligung an den
täglichen Stationsaufgaben
21,1%
63,2%
medikamentöse Behandlung
52,6%
Zusammenleben mit
den MitpatientInnen
28,1%
7,0% 7,0%
42,1%
Stationsatmosphäre
66,7%
Die Gespräche über
ihre Erkrankung
35,1%
64,9%
Einzelgespräche mit
ihrer Bezugsperson
28,1%
75,4%
geholfen
etwas geholfen
3,5% 3,5%
29,8%
59,6%
Ansprechbarkeit des
Personals im Alltag
7,0% 1,8%
33,3%
50,9%
19,3%
nicht geholfen
3,5% 7,0%
0,0%
3,5%
1,8% 3,5%
3,5% 3,5%
1,8% 3,5%
keine Angabe
Quelle: Halbjahres-Katamnese n = 57 PatientInnen
4 Vgl . Abschnitt „Datenbasis und Grundgesamtheit“, Seite 22
33
III. Erste Daten und Ergebnisse
Grafik 18 Ambulante Weiterbehandlung nach
Entlassung aus der Soteria
mehr als 3-mal
mindestens einen
ambulanten Behandler
aufgesucht
2-3-mal
mindestens einen
ambulanten Behandler
aufgesucht
9
15,8%
36
63,2%
einmal
ambulanten
Behandler
aufgesucht
4
7,0%
3 5,3%
2 3,5%
3
5,3%
keinen
ambulanten
Behandler
aufgesucht
keine
Angabe
tagesklinische
Behandlung
Quelle: Halbjahres-Katamnese n= 57
Weitere Katamnese-Ergebnisse
Für diese Ergebnisse ist die bisher noch sehr kleine
Grundgesamtheit zu berücksichtigen. Von den im
betrachteten Zeitraum 107 regulär entlassenen PatientInnen haben 72 (67,3%) einer weiteren Befragung zugestimmt. Von 57 dieser PatientInnen liegt
ein bearbeiteter Fragebogen aus der HalbjahresKatamnese vor. Das entspricht einer Rücklaufquote
von 79% der PatientInnen mit Einverständniserklärung.
Ambulante Behandlung nach der Entlassung aus
der Soteria
Sechs Monate nach der Entlassung aus der Soteria
gaben 91,2% der Patientinnen an, mindestens einen
Behandler bzw . eine Einrichtung oder Selbsthilfegruppe
ein- oder mehrfach aufgesucht zu haben und bewerteten diese auch mehrheitlich als hilfreich . 33 PatientInnen (57,9%) suchten einen niedergelassenen Psychiater/
Nervenarzt auf, davon 24 mehr als dreimal . Kein Patient
gab an, den Kontakt zum behandelnden Psychiater
abgebrochen zu haben .
11 PatientInnen (19,2%) waren zur Weiterbehandlung
in einer Psychiatrischen Ambulanz und 21 PatientInnen
(36,8%) in psychotherapeutische Behandlung vermittelt
worden . Während des halbjährigen Katamnese-Intervalls hatten 3 dieser PatientInnen die psychotherapeutische Behandlung beendet oder abgebrochen .
Stationäre Wiederaufnahmen
10 der 57 Katamnese-PatientInnen wurden innerhalb
von sechs Monaten nach der Entlassung aus der Soteria
wieder stationär aufgenommen . Davon wurden 7
PatientInnen direkt in der Soteria aufgenommen, ein
Patient wurde zunächst in einer Aufnahmestation des
Klinikums München-Ost aufgenommen und wieder in
die Soteria übernommen, zwei Patientinnen wurden auf
anderen psychiatrischen Stationen behandelt . Von den
7 wieder in der Soteria stationär behandelten PatientInnen hatten aus der Sicht des Teams 5 PatientInnen
ihren ersten Aufenthalt auf eigenen Wunsch vorzeitig
beendet, so dass die erneute stationäre Aufnahme als
Fortführung der Behandlung zu interpretieren ist .
34
Grafik 19 Stationäre Wiederaufnahmen
keine stationäre
Behandlung
Erster Aufenthalt in Soteria
vorzeitig durch Patient beendet
Erster Aufenthalt in Soteria
regulär beendet
47
82%
5
21
4% 2%
2
7
12%
Wiederaufnahme
direkt in die Soteria
davon
Wiederaufnahme in
andere psychiatrische Station
Wiederaufnahme in Aufnahmestation und dann Verlegung in Soteria
Quelle: Halbjahresatamnese n = 57
Einnahme von Neuroleptika
52 der 57 Katamnese-PatientInnen (91,2%) waren
mit einer Neuroleptika-Verordnung aus dem Referenzaufenthalt in der Soteria entlassen worden
(50 PatientInnen mit einem atypischen Neuroleptikum, ein Patient mit einer Kombination aus einem
klassischen und einem atypischen Neuroleptikum und
ein Patient mit einem klassischen Neuroleptikum) .
52,6% der Katamnese-PatientInnen haben nach der
Entlassung das verordnete Neuroleptikum regelmäßig weiter eingenommen, teilweise mit veränderten
Dosierungen .
14 (24,6%) PatientInnen haben im Laufe des Katamnesezeitraums die Substanz geändert .
7 (12,3%) PatientInnen gaben an, die verordneten
Neuroleptika abgesetzt zu haben . Von den 5 PatientInnen, die ohne Gabe von Neuroleptika entlassen
worden waren, nahmen 3 auch ein halbes Jahr nach
Entlassung aus der Soteria keine Neuroleptika ein, 2
PatientInnen wurden im ambulanten Setting Neuroleptika verordnet .
Zum Vergleich: Von den 57 Katamnese-PatientInnen
hatten vor der ersten Aufnahme in die Soteria
19 (33,3%) PatientInnen Neuroleptika abgesetzt,
20 (35,1%) noch nie Neuroleptika eingenommen und
18 (31,6%) Neuroleptika regelmäßig eingenommen .
Grafik 20 Neuroleptika-Einnahme
ein halbes Jahr nach der Entlassung
aus der Soteria
Neuroleptikasubstanz wurde
dauerhaft
eingenommen
Neuverordnung
von Neuroleptika
nach Entlassung
aus der Soteria
Neuroleptikasubstanzen
wurden geändert
2
3,5%
14
24,6%
30
52,6%
7
12,3%
1
1,8%
3
5,3%
Neuroleptika
wurden
abgesetzt
keine Neuroleptika
unklar
Quelle: Halbjahres-Katamnese n = 57
35
III. Erste Daten und Ergebnisse
Zusammenfassung und Bewertung
Ziel der Begleitforschung ist es, schrittweise und im
Rahmen der bestehenden Möglichkeiten, Aussagen
über Inhalte und Wirkfaktoren des Soteria-Konzeptes zu
­machen. Dazu erhebt die Begleitforschung umfangreiche
Patientendaten bei der Aufnahme und der Entlassung,
über die ausführliche Tagesdokumentation systematisch
Daten zum Einsatz der soteriaspezifischen Behandlungsinhalte und -elemente, subjektive Sichtweisen der PatientInnen sowie die Entwicklung der entlassenen PatientInnen mittels einer Katamnese über zwei Jahre.
Wünschenswert wäre der Vergleich mit einer entsprechenden, in der „klassischen Psychiatrie“ behandelten
Patientengruppe. Leider war die seriöse Etablierung einer Vergleichsgruppe mit den zur Verfügung stehenden
Ressourcen nicht möglich.
Auf Basis der ersten Auswertungen können folgende
Aussagen getroffen werden:
Diagnosen und Schweregrad der Erkrankungen
Das Diagnosespektrum wurde erweitert, um nicht nur
ersterkrankten Menschen eine Behandlung in der Soteria
zu ermöglichen. Es wurden anders als in den beiden bekannten Soteria-Studien ausdrücklich auch Menschen mit
schon länger bestehenden Psychosen sowie Menschen
mit schizoaffektiven Psychosen aufgenommen. Nur
16,3% der PatientInnen der Münchner Soteria entsprachen den Einschlusskriterien dieser Studien (vgl. Seite 26).
Der Vergleich des Schweregrads der Erkrankung mittels
CGI und GAF mit den im gleichen Zeitraum im Klinikum
München-Ost aufgenommen an einer Psychose erkrankten PatientInnen (ICD10 F2) zeigt, dass die SoteriaPatientInnen annähernd gleich schwer erkrankt waren
(CGI 6,2 versus 6,6) und auch vom Funktionsniveau der
Leistungsfähigkeit ähnlich schwer beeinträchtigt waren
(GAF 30,5 versus 25,8) (s. Tabelle S. 27).
Deutlich wird dies auch in der Phaseneinteilung. Mehr
als 63% der PatientInnen wurden zu Beginn ihrer Behandlung in der Soteria in die Phase 1 (= Bewältigung
der akuten psychotischen Krise) eingestuft (Grafik 8).
Dabei ist zu berücksichtigen, dass knapp 70% der in der
Soteria aufgenommenen PatientInnen bereits auf anderen Stationen vorbehandelt und damit schon in einem
etwas gebesserten Zustand waren.
36
Durch umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit konnte die
Zahl der direkt in der Soteria aufgenommenen Patientinnen von anfangs knapp 20% auf 30% gesteigert
werden (s. Grafik 3). Da diese Behandlungen sowohl
aus subjektiver Sicht der Mitarbeiterinnen günstiger
verliefen, als auch aus objektiver Sicht mit einem deutlich höheren Anteil regulärer Entlassungen und damit
erfolgreich beendeter Behandlungen (93,5% versus
75% bei den zuverlegten Patientinnen) verliefen, soll der
Anteil der Direktaufnahmen weiter gesteigert werden.
(s. Grafik 5).
Ob das Behandlungskonzept der Soteria für die Pa­tien­
tInnen geeignet ist, zeigte sich in den meisten Fällen
bereits innerhalb der ersten 10 Tage. Gegebenenfalls
wurden die PatientInnen in andere Stationen weiterverlegt oder auch entlassen.
Psychosebegleitung
Das Angebot der Psychosebegleitung (ein Mitarbeiter
steht für einen Patienten zur Verfügung) wurde von 61%
der in einer akut psychotischen Phase aufgenommenen
PatientInnen in Anspruch genommen (Grafik 9). Dies
entspricht fast 5000 Stunden Psychosebegleitung, die
von den MitarbeiterInnen der Soteria im betrachteten
Zeitraum erbracht wurden.
Etwas mehr als 20% der Psychosebegleitung fanden im
Weichen Zimmer statt. Fast 80% der Psychosebegleitung wurden außerhalb des Weichen Zimmers erbracht.
(Grafik 10).
Die Möglichkeit der Psychosebegleitung hat sich als
sinnvoll und für die Behandlung akut psychotischer
Menschen im milieutherapeutischen, offenen Setting als
notwendig erwiesen. Das Weiche Zimmer ist dabei ein
Angebot, das für einige PatientInnen sehr hilfreich ist,
aber nicht immer benötigt wird. Bei der Einbeziehung
von Angehörigen in die Psychosebegleitung bietet das
Weiche Zimmer eine Übernachtungsmöglichkeit (ansonsten nur Zwei- und Drei-Bettzimmer in der Soteria).
Falls das Weiche Zimmer nicht fest belegt ist, wird es
von allen PatientInnen der Soteria als Rückzugsraum
genutzt.
Milieutherapeutischer Ansatz
Der milieutherapeutische Ansatz der Soteria sieht die
gemeinsame Alltagsgestaltung und Bewältigung der
anfallenden Hausarbeiten von PatientInnen und MitarbeiterInnen vor. An mehr als 80% aller Behandlungstage
sind die PatientInnen dabei auf die Unterstützung und
Motivation durch die MitarbeiterInnen angewiesen
(Grafik 11).
In dem gemeinsamen Handeln von PatientInnen und
MitarbeiterInnen entstehen häufig therapeutisch
wichtige spontane Gespräche über die Lebenssituation,
die Erkrankung und deren Bewältigung, vorhandene
Ressourcen und mögliche Perspektiven. Diese „spontanen Gespräche“ machen fast die Hälfte (49,3%) aller
stattfindenden therapeutischen behandlungsbezogenen
Gespräche aus (Grafik 12).
Beide Ergebnisse belegen die Bedeutung und Sinn­
haftigkeit der Präsenz der MitarbeiterInnen im milieutherapeutischen Alltag. Unterstrichen wird dies auch
in der Beurteilung der einzelnen Behandlungselemente
durch die PatientInnen. Sowohl die Beteiligung an den
Stationsaufgaben wie auch die Ansprechbarkeit des
Personals im Alltag werden von den allermeisten der
PatientInnen als hilfreich erlebt (Grafik 15/16/17).
Medikamentöse Behandlung
Soteria wird häufig mit der Behandlung ohne Medikamente gleichgesetzt. In der Soteria am Klinikum
München-Ost erhielten 93% aller PatientInnen eine
neuroleptische Medikation (Grafik 14). Der größte Teil
der PatientInnen war bereits mit Neuroleptika vorbehandelt. Nur 9 PatientInnen kamen ohne neuroleptische Vorbehandlung in die Soteria (Grafik 13). Von
diesen wurden 5 PatientInnen ohne neuroleptische
Medikation behandelt. Nach unserer Erfahrung ist
auch im Soteria-Milieu, insbesondere bei schon mehrfach an einer Psychose erkrankten und mit Neuroleptika vorbehandelten PatientInnen, der Einsatz von Neuroleptika notwendig und sinnvoll. Allerdings ist es fast
immer möglich, mit sehr viel geringeren Dosierungen
als üblich auszukommen. Mit der Tagesdokumentation
ist dies für jeden in der Soteria behandelten Patienten erfasst worden. Diesen vorhandenen Datenpool
auszuwerten und darzustellen, wird einer der nächsten
Schritte der Begleitforschung sein.
Ergebnisse
Der Soteria Ansatz wurde aus Sicht der PatientInnen
mehrheitlich als hilfreich erlebt. Bei der Bewertung der
einzelnen milieutherapeutischen Behandlungselemente
wurde vor allem das Zusammenleben mit den MitpatientInnen, die Gespräche über die Erkrankung und die
Einzelgespräche mit den Bezugspersonen als hilfreich
bewertet. Diese Bewertungen erweisen sich, obwohl
erst eine geringe Datengrundlage vorhanden ist (bisherige Katamnesegruppe), auch mit der zeitlichen Distanz
von einem halben Jahr als sehr stabil.
Die PatientInnen der Katamnesegruppe zeigen bezüglich der ambulanten psychiatrischen Behandlung und
der Einnahme der neuroleptischen Medikation eine eindrucksvolle Beständigkeit/Compliance. Ein halbes Jahr
nach der Entlassung aus der Soteria war die Mehrzahl
der Katamnese-PatientInnen in ambulanter psychiatrischer Behandlung und bewertete diese mehrheitlich als
hilfreich. 86% der Katamnese-PatientInnen bewerten
auch ein halbes Jahr nach der Entlassung die medikamentöse Behandlung während des Soteria-Aufenthaltes
als hilfreich oder etwas hilfreich. Die Mehrheit der
PatientInnen (77%) gab an, ihre verordnete Medikation
weiter einzunehmen. Nur 12% der PatientInnen hatten
ihre Medikation nach der Entlassung abgesetzt. Vor der
ersten Aufnahme in die Soteria waren dies 33,3% der
Katamnese-PatientInnen.
Nächste Schritte und weitere
Entwicklung der Begleitforschung
2004 und 2005 standen der Aufbau, der Ausbau und
die Qualitätssicherung der Dokumentation im Vordergrund. Mit den Daten aus den Jahren 2006 und 2007
steht ein qualitativ hochwertiger Datenpool für weitere
Auswertungen zu Behandlungsinhalten und -ergebnissen sowie zu Behandlungsverlauf und Katamnese zur
Verfügung.
37
Impressum
Herausgeber
Isar-Amper-Klinikum
gemeinnützige GmbH
Klinikum München-Ost
Soteria
Haus im Park
Ringstraße14
85540 Haar bei München
Telefon 089-4562-3614
Allgemeinpsychiatrie III West
Chefarzt Dr. Wolfgang Eymer
Ansprechpartnerinnen
Irmi Breinbauer
Telefon 089-4562-3814
[email protected]
Roswitha Hurtz
Telefon 089-4562-3788
[email protected]
Redaktion
Irmi Breinbauer
Roswitha Hurtz
Andrea Jordan
Petra Stockdreher
Fotos
Denis Bachinger · MitarbeiterInnen der Soteria
Grafikdesign
Andreas von Mendel
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39
© IAK-KMO 2008
Isar-Amper-Klinikum
gemeinnützige GmbH
Klinikum München-Ost
Soteria
Haus im Park
Ringstraße 14
85540 Haar bei München