UNHCR-Stellungnahme zur Situation im Nordirak

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UNHCR-Stellungnahme zur Situation im Nordirak
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UNHCR-Stellungnahme zur Situation im Nordirak
- Bietet der Nordirak für irakische Schutzsuchende eine interne
Relokationsmöglichkeit? I. Einleitung
Nach Auffassung von UNHCR erfüllt ein erheblicher Teil der irakischen
Staatsangehörigen, die ihr Herkunftsland verlassen, die Flüchtlingseigenschaft des Art. 1
A Abs. 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden GFK)
und bedarf deshalb internationalen Schutzes.
Angesichts der seit 1996 deutlich gesunkenen Zahl von Flüchtlingsanerkennungen
irakischer Asylsuchender in Europa weist UNHCR darauf hin, dass auch der jetzige
Sonderberichterstatter der UN zur Menschenrechtssituation im Irak, Andreas
Mavrommatis, keine Verbesserung der Menschenrechtssituation zu erkennen vermag.
Seinem Bericht “Situation of human rights in Iraq” vom 14. August 2000 (A/55/294)
zufolge sind schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverletzungen weiterhin
an der Tagesordnung. Relevant für die Flüchtlingsanerkennung sind u.a. die in seinem
Bericht enthaltenen Informationen über die Verfolgung von tatsächlichen oder vermuteten
Regimegegnern durch Folter, Inhaftierung (Rn. 27-28)1 oder Hinrichtungen (Rn. 12, 19),
die massiven Verfolgungsmaßnahmen gegen Familienmitglieder von tatsächlichen oder
vermuteten Oppositionellen (Rn. 44-48) sowie von massiven Verfolgungsmaßnahmen
gegen die schiitische Bevölkerung (Rn. 17, vgl. hierzu auch den o.g. Bericht des
vorherigen Sonderberichterstatters Max van der Stoel, „Situation of human rights in Iraq“,
A/54/466, vom 14. Oktober 1999, Rn. 6).
II. Der Nordirak als interne Relokationsmöglichkeit
Asylanträge von Schutzsuchenden aus dem Irak werden in vielen europäischen Staaten
vermehrt mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer internen Relokation (= interne
Fluchtalternative) abgelehnt.
1
Die hier zitierten Textstellen der Sonderberichterstatterberichte sind in Kopie in englischer Sprache
beigelegt.
Mit der Ausnahme von Finnland und Frankreich gehen alle übrigen EU-Staaten
gegenwärtig davon aus, dass der Nordirak für Schutzsuchende aus dem Irak grundsätzlich
als interne Relokationsmöglichkeit in Betracht kommt.
Die Schweizerische Asylrekurskommission dagegen hat in einem Grundsatzurteil vom 12.
Juli 2000 (in Kopie beigefügt) entschieden, dass eine interne Relokation nur dann in Frage
kommt, wenn der Asylsuchende sich auf den Schutz seines Heimatlandes berufen kann.
Dieser Schutz könne zwar auch von quasistaatlichen Autoritäten, wie den beiden
Kurdenparteien KDP und PUK, ausgeübt werden. Die Asylrekurskommission kommt
jedoch in ihrem Urteil zu dem Schluss, dass die Quasistaaten im Nordirak nicht in
“hinlänglicher Weise abgesichert erscheinen”, um als “schutzgewährende Instanz” dem
Staat gleichgestellt zu werden (vgl. S. 33 der Entscheidung).
Zum Konzept der internen Fluchtalternative ist aus der Sicht von UNHCR grundsätzlich
Folgendes anzumerken:
Nach Auffassung von UNHCR ist die sogenannte “inländische Fluchtalternative” (= interne
Relokation) keine Pauschallösung für Asylbegehren und sollte weder zum Ausschluss vom
Asylverfahren noch zur Entscheidung im beschleunigten Verfahren führen. Aus der Sicht
von UNHCR stellt sich die Frage nach einer internen Relokationsmöglichkeit, wenn
feststeht, dass dem Schutzsuchenden in einem Teil des Landes Verfolgung droht, diese sich
jedoch nicht auf alle Gebiete des Landes erstreckt. Hier kann die Prüfung einer
Relokationsmöglichkeit für die Klärung der Frage von Bedeutung sein, ob die Furcht vor
Verfolgung im Einzelfall wohlbegründet ist (vgl. hierzu das UNHCR-Positionspapier
“Interne Relokation als sinnvolle Alternative zum Asyl” von Februar 1999, in deutscher
Sprache in Kopie beigefügt).
Bei der Prüfung einer internen Relokationsmöglichkeit sind nach Auffassung von UNHCR
zwei Kernfragen zu klären, nämlich ob die Alternative der internen Relokation im
Einzelfall überhaupt in Betracht kommt (Relevanz) und ob es dem konkreten
Asylsuchenden in Anbetracht sämtlicher Umstände zumutbar ist, an dem entsprechenden
Ort Zuflucht zu suchen (Zumutbarkeit).
1.
Relevanz der internen Relokation
Die Feststellung der Relevanz einer internen Relokation verlangt eine objektive
Beurteilung der Lage in dem als sicher vorgeschlagenen Landesteil bzw. den Landesteilen.
Es müssen Tatsachen bekannt sein, die belegen, dass sich die vom Asylsuchenden
befürchtete Verfolgung nicht auf diesen Teil des Landes erstreckt und dass das Gebiet an
sich bewohnbar ist.
Im Hinblick auf den Nordirak sind insbesondere die folgenden Faktoren zu prüfen:
•
•
•
das Vorhandensein eines tatsächlich risikofreien Gebietes;
die Stabilität in dem Gebiet und die Wahrscheinlichkeit, dass die Sicherheit von Dauer
ist; sowie
die Erreichbarkeit des Gebietes (sowohl von innerhalb als auch von außerhalb des
Landes).
2
1.1.
Vorhandensein eines tatsächlich risikofreien Gebietes: Entstehung einer
„Autonomie“ im Nordirak
Gestützt auf Resolution 688 des UN-Sicherheitsrates vom 5. April 1991, in der der
Sicherheitsrat die Repressionsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung im Nordirak
verurteilte, erklärten die alliierten Streitkräfte (USA, Großbritannien, Frankreich) das
Gebiet von der irakischen Staatsgrenze im Norden bis zu der durch die Städte Zakho Dohuk - Aqra verbundenen Linie zur Sicherheitszone (“security zone”) und sicherte diese
militärisch von Militärstützpunkten in der Türkei aus.
Zusätzlich zu der Sicherheitszone wurde durch die alliierten Streitkräfte am 19. April 1991
nördlich des 36. Breitengrades eine Flugverbotszone errichtet. Während die
Sicherheitszone nur einen kleinen Teil der von Kurden bewohnten Gebieten umfasst,
erstreckt sich die Flugverbotszone über etwa 2/3 dieses Gebiets. Ein Teil der
Flugverbotszone im Nordwesten des Iraks blieb unter der Kontrolle der irakischen
Zentralregierung und ihrer Streitkräfte.
In der Folge zog der irakische Staatspräsident Saddam Hussein den gesamten
Staatsapparat (Armee, Polizei, Verwaltung) aus dem größten Teil der kurdischen
Provinzen ab. Das Gebiet wird seither fast ausschließlich von den zwei großen kurdischen
Parteien kontrolliert, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) von Masoud Barzani
und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) von Jalal Talabani. Während die KDP die
Gebietsherrschaft über die Regierungsbezirke Arbil und Dohuk ausübt, umfasst das Gebiet
unter der Kontrolle der PUK den Bezirk Sulaymaniyah (inkl. das Dokan-Gebiet). Die Stadt
Halabjah sowie Neu Halabjah und Khourmal werden jedoch von der “Islamic Movement
of Iraqi Kurdistan” (IMIK) kontrolliert.
1.2
Stabilität
Seit Januar 1998 ist es nicht mehr zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der
KDP und der PUK gekommen. Zudem hat das Washingtoner Abkommen vom 17.
September 1998 zwischen den beiden Parteien Zeichen gesetzt, die auf eine stabilere
Situation im Nordirak hoffen lassen, wenngleich grundlegende Fragen, wie z.B. die
Verteilung von Zolleinnahmen weiterhin ungeklärt bleiben und auch die Wahlen für eine
gemeinsame Regierung im Nordirak, die für Juli 1999 vorgesehen waren, nicht
stattfanden.
Vor diesem Hintergrund geht UNHCR davon aus, dass die Situation im Nordirak
ausreichend stabil ist, um für einige irakische Asylsuchende eine interne
Relokationsmöglichkeit zu bieten. Dabei ist es von grundlegender Bedeutung, dass jeder
Asylantrag im Lichte seiner besonderen Umstände sowie der aktuellen Situation im
Zufluchtsgebiet beurteilt wird.
1.3
Sicherheit vor Verfolgung
3
Bei der Prüfung der Frage, ob einem Asylsuchenden nicht nur im Zentralirak, sondern auch
im Nordirak Verfolgung droht, kommt es nach Auffassung von UNHCR nicht darauf an, ob
die vom Schutzsuchenden geltend gemachte Verfolgung von den staatlichen Behörden
seines Herkunftslandes ausgeht oder diesen zugerechnet werden kann. Entscheidend für die
Flüchtlingseigenschaft ist vielmehr, ob der Schutzsuchende effektiven Schutz vor
Verfolgungsmaßnahmen erhalten kann (vgl. UNHCR-Stellungnahme zur Anhörung
“Nichtstaatliche Verfolgung” des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
des Deutschen Bundestages am 29. November 1999).
1.3.1 Verfolgung durch die kurdischen De-facto-Autoritäten
Den
kurdischen
De-facto-Autoritäten
sind
weiterhin
schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen, einschließlich solcher, die als Verfolgung iSd Art. 1 A 2
GFK zu betrachten sind, vorzuwerfen. Hierzu gehören u.a. die Inhaftierung sowie die
Folterung und summarische Hinrichtung politischer Gegner. Zu den gefährdeten
Personengruppen gehören nach den Erfahrungen von UNHCR:
- Mitglieder der KDP bzw. der PUK
Aktive Mitglieder oder Sympathisanten der KDP und PUK genießen in der von ihrer
Partei kontrollierten Region des Nordiraks möglicherweise Schutz, können aber in dem
von der jeweils anderen Partei kontrollierten Gebiet gefährdet sein. So besteht zum
Beispiel für aktives PUK-Militärpersonal, Sicherheitskräfte und Personen aus der PUKVerwaltung oder der Polizei in Positionen mit Entscheidungsbefugnis die Gefahr, im
KDP-Gebiet gezielt verfolgt zu werden, wenn sie von der KDP identifiziert werden.
Umgekehrt können Personen, die der KDP in vergleichbaren Positionen angehören,
gefährdet sein, wenn sie im von der PUK kontrollierten Gebiet wohnen oder dieses
durchqueren.
- Angehörige anderer Gruppen/Parteien
Die KDP duldet nur bedingt die Aktivitäten kleinerer Parteien. Sobald sich diese öffentlich
kritisch gegenüber der KDP äußern, müssen sie mit Sanktionen vonseiten der KDP
rechnen.
Parteien, wie z.B. die Workers‘ Communist Party of Iraq (WCPI), die Independent
Women’s Organisation (IWO), die Kurdistan Conservative Party (KCP) des SurchiStammes sowie die Socialist Democratic Party of Kurdistan (HISK) haben ihre politischen
Aktivitäten wegen der restriktiven Politik der KDP in das von der PUK kontrollierte
Gebiet verlagert, um weitere Konfrontationen mit der KDP zu vermeiden.
Anders als die KDP duldet die PUK im allgemeinen Aktivitäten kleinerer Parteien. Es
kommt jedoch auch in dem von der PUK kontrollierten Gebiet hin und wieder mit diesen
zu Auseinandersetzungen. Dies gilt insbesondere für die WCPI und die IWO. So hat die
PUK z.B. im Februar 2000 drei Mitglieder des Zentralkomitees der WCPI in
Sulaymaniyah festgenommen. Diese befanden sich bis April 2000 in Haft. Im Juli 2000
kam es zu einer weiteren Auseinandersetzung zwischen der PUK und der WCPI um die
4
weitere Nutzung des WCPI-Büros in Sulaymaniyah. In deren Folge kam es zu einer
bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den beiden Parteien, bei der vier WCPIMitglieder getötet wurden. Zwölf Mitglieder der WCPI wurden für einige Tage in Haft
genommen.
Seit April 1997 ist der Iraqi National Congress (INC) nicht mehr im Nordirak vertreten. Im
November 1999 erklärte Masoud Barzani im Hinblick auf den INC, dass die KDP keine
vom Ausland unterstützte Miliz gegen die irakische Regierung im KDP-Gebiet dulden
werde. Die Iraqi National Accord (INA), eine arabische Oppositionsgruppe mit dem Ziel,
die Zentralirakische Regierung zu stürzen, und die über keine solche Miliz verfügt, wird
sowohl von der KDP als auch von der PUK geduldet.
- Oppositionelle
Auch Personen, die sich, ohne Mitglieder irgendeiner Partei zu sein, öffentlich kritisch
gegen die Führung und die Politik der KDP äußern, riskieren, Verfolgungsmaßnahmen
seitens der KDP ausgesetzt zu werden. Dies gilt, wenn auch in geringerem Maße, ebenso
für das PUK-Gebiet. In solchen Fällen bieten die Position der Person innerhalb der
dortigen Gesellschaft und in der Öffentlichkeit sowie Inhalt und Ausmaß der Kritik
Anhaltspunkte für das Verfolgungsrisiko.
1.3.2 Verfolgung durch den irakischen Geheimdienst
Seit dem durch irakische Truppen unterstützten Angriff der KDP auf Arbil ist eine
deutlich verstärkte Anwesenheit des irakischen Geheimdienstes im Nordirak zu
beobachten. Personen, die im Zentralirak eine herausgehobene politische oder militärische
Position innehatten, müssen daher auch im Nordirak befürchten, von diesem verfolgt zu
werden. Für sie bietet der Nordirak daher auch dann keine inländische Fluchtalternative,
wenn sie dort verwandtschaftliche oder andere Beziehungen haben.
1.3.3 Verfolgung durch Islamisten
Die Städte Halabjah, Neu Halabjah und Khourmal stehen unter Kontrolle der IMIK, die
über eine Miliz verfügt. Ihre Lehren sowie die anderer islamischer Gruppen finden unter
der Bevölkerung im Nordirak wachsenden Anklang. So sind unter anderem verstärkte
Aktivitäten hinsichtlich der Rekrutierung von neuen Mitgliedern sowie ein erhöhtes
Angebot von Koranstunden zu beobachten.
Durch die Präsenz und Aktivitäten der IMIK sind vor allem Gruppen oder Personen
gefährdet, die eine anti-islamische Grundhaltung offen kundgeben oder aktiv verbreiten.
So wird die IMIK z.B. verdächtigt, im Oktober 1999 zwei Mitglieder der WCPI in
Sulaymaniyah ermordet zu haben. Berichten zufolge wurden im März 2000 zwei Lehrer
von Mitgliedern der IMIK in Shirimar angegriffen. Ihnen wurde von der IMIK
vorgeworfen, anti-islamische Ideologien verbreitet zu haben. Berichten zufolge hat die
IMIK auch in der von der KDP kontrollierten Stadt Arbil vereinzelt Anschläge verübt.
5
Es ist nicht davon auszugehen, dass die KDP sowie die PUK in der Lage sind, gefährdeten
Personen vor den unberechenbaren Gewalttaten seitens der Islamisten dauerhaften und
effektiven Schutz zu gewähren. Da es im gesamten kurdisch kontrollierten Territorium zu
Anschlägen und Aktivitäten der Islamisten kommt, gibt es für Personen, die eine
begründete Furcht vor Verfolgung durch die Islamisten geltend machen können, idR keine
interne Relokationsmöglichkeit.
1.3.4
Verfolgung von Frauen durch Familienmitglieder
Nach den Informationen von UNHCR kommt es im Nordirak immer wieder zu Tötungen
oder Verstümmelungen von Frauen und Mädchen durch ihre männlichen
Familienmitglieder mit der Begründung, sie hätten gegen den Sittenkodex der Gesellschaft
verstoßen und damit die Ehre der Familie verletzt. Bisher konnten die Täter solcher
Ehrendelikte mit Straffreiheit rechnen. Fälle, in denen Täter solcher Ehrendelikte im
Nordirak vor Gericht gebracht und verurteilt worden sind, sind UNHCR nicht bekannt.
Ein irakisches Gesetz von 1990, das bei „Ehrendelikten“ die Möglichkeit der
Strafminderung vorsieht, wurde zwar in dem von der PUK kontrollierten Gebiet
inzwischen aufgehoben. UNHCR geht nicht davon aus, dass die Praxis von Tötungen
wegen einer „Verletzung der Ehre“ mit der Gesetzesänderung unmittelbar enden wird. Es
bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit die neue Gesetzgebung Veränderungen in der Praxis
dieser verbreiteten und tief verwurzelten Tradition mit sich bringt.
Nach den Informationen von UNHCR sind weder die KDP noch die PUK in der Lage,
Frauen, die von ihren eigenen Familienmitgliedern verfolgt werden, dauerhaften und
effektiven Schutz zu gewähren. In der Stadt Sulaymaniyah besteht zwar die Möglichkeit,
in einer Frauennotunterkunft um Schutz zu ersuchen. Diese kann jedoch gefährdeten
Frauen nur eine vorübergehende Lösung gewähren. Eine ähnliche, für diesen Zweck
bereitgestellte Einrichtung seitens der KDP ist UNHCR nicht bekannt. Gefährdete Frauen
können ihren Verfolgern in der Regel auch nicht durch die Flucht in einen anderen
Landesteil entkommen, da sie damit rechnen müssen, dass sie dort von der Familie
ausfindig gemacht und getötet werden. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass
alleinstehende Frauen im Nordirak idR keine Chance haben, eine eigenständige Existenz
aufzubauen.
In diesem Zusammenhang weist UNHCR auf den Beschluss Nr. 39 (XXXVI) des
UNHCR-Exekutivkomitees zum Thema Flüchtlingsfrauen und internationaler Schutz von
1985 hin, in dem anerkannt wurde, dass bei weiblichen Asylsuchenden, die harte oder
unmenschliche Behandlung zu erwarten hätten, weil sie gegen den sozialen Sittenkodex
der Gesellschaft, in der sie lebten, verstoßen haben, eine Flüchtlingsanerkennung wegen
der Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in Betracht
kommen kann.2
1.4
Erreichbarkeit
2
Vgl. hiezu auch die Grundsatzentscheidung des britischen House of Lords, Islam v. Secretary of State for
the Home Department Regina v. Immigration Appeal Tribunal and Another Ex Parte Shah (A.P.), abgedruckt
in IJRL 1999, 496-527.
6
Ein Zugang zum Nordirak auf dem Luftweg ist wegen der UN-Sanktionen derzeit nicht
möglich. Nach den Informationen der Internationalen Organisation für Migration (IOM)
hat sich für eine sehr beschränkte Anzahl von Einzelfällen eine Rückkehr in den Nordirak
über die Türkei und Syrien als möglich erwiesen. IOM berichtet über ca. 2 solcher
freiwilligen Ausreisen pro Monat. Diese mussten von IOM als Privatbuchungen
vorgenommen werden, ohne dass IOM für die Rückreise durch die o.g. Staaten irgendeine
Verantwortung übernehmen kann. Angesichts der sehr zurückhaltenden Position der
türkischen Behörden auf Bemühungen der Europäischen Union, eine Rückführung
abgelehnter irakischer Asylsuchender durch türkisches Staatsgebiet zu erreichen, geht
UNHCR davon aus, dass die Türkei eine staatlich organisierte Rückreise ebenso wie
private Rückreisen in größerem Umfang nicht genehmigen wird.
Eine Übersiedlung vom Zentralstaat in den Nordirak ist sowohl für Kurden als auch für
Araber grundsätzlich möglich, allerdings müssen sich Übersiedler bei den örtlichen
Behörden anmelden und ihre Niederlassung im Nordirak bestätigen lassen. Araber, die
weder über familiäre noch politische Beziehungen zum Nordirak verfügen, müssen damit
rechnen, im KDP-Gebiet in eines der zwei Lager (Zawita oder Balqus) verwiesen zu
werden. Alle Übersiedler werden auf eine mögliche Agententätigkeit für Bagdad hin
überprüft (vgl. u. 2).
Für Händler besteht zwischen den von der KDP und PUK kontrollierten Gebieten Reiseund Handelsfreiheit. Mitglieder der Miliz der PUK bzw. KDP oder Personen, die
gehobene Positionen innerhalb der PUK bzw. KDP innehaben, bleiben jedoch von dieser
Regelung ausgeschlossen und dürfen weiterhin nicht in das von der jeweils anderen Partei
kontrollierte Gebiet einreisen.
Das KDP-Gebiet im Nordirak ist von der Türkei aus zugänglich. Die Grenzstation Habur,
auf der irakischen Seite Ibrahim Khalil genannt, ist der einzige Grenzübergang zwischen
Nordirak und der Türkei. Für PUK-Mitglieder ist es nur möglich, durch dieses Gebiet zu
reisen, wenn sie kein bekanntes Sicherheits- oder Politikprofil haben (s.o. 1.3.1).
Dagegen besteht keine Möglichkeit, das von der PUK kontrollierte Gebiet vom Ausland
aus legal und ohne durch das KDP-Gebiet reisen zu müssen zu erreichen, da die iranischen
Behörden kein Durchreisevisum erteilen. Daher besteht mangels Zugänglichkeit bei
Asylsuchenden, die eine begründete Furcht vor Verfolgung vor der KDP geltend machen
können, auch dann keine interne Relokationsmöglichkeit, wenn sie zur Zeit der Ausreise
aus dem Nordirak in dem von der PUK kontrollierten Gebiet Zuflucht hätten finden
können.
2.
Zumutbarkeit der internen Relokation
UNHCR spricht sich dagegen aus, den Nordirak für eine bestimmte Gruppe von
Schutzsuchenden generell als „sicher“ zu bezeichnen. Die Prüfung einer internen
Relokation muss für den Einzelfall durchgeführt werden. Bei der Klärung der
Zumutbarkeit der internen Relokation für den konkreten Asylsuchenden sind die
besonderen Lebensumstände der betreffenden Person zu berücksichtigen. Unter anderem
sind dabei die folgenden Faktoren in Betracht zu ziehen:
7
-
Alter,
Geschlecht,
Gesundheit,
Ausbildung,
beruflicher Hintergrund,
Sprachkenntnisse,
die Anwesenheit von Familienmitgliedern,
die Existenz von ethnischen und religiösen Gemeinschaften, denen der Asylsuchende
angehört,
politische und andere Beziehungen zu der Region.
Ebenso müssen die politischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Verhältnisse im Land
in die Prüfung einfließen. Es muss nachgewiesen sein, dass es für diesen Asylsuchenden in
Anbetracht sämtlicher Umstände zumutbar wäre, an diesem Ort Zuflucht zu suchen.
UNHCR weist darauf hin, dass keine adäquaten Beziehungen zum Nordirak bestehen,
wenn im Einzelfall nur ein Einzelner der oben genannten Indikatoren vorliegt.
Im Hinblick auf die Zumutbarkeit einer Relokation im Nordirak ist nach Auffassung von
UNHCR von entscheidender Bedeutung, ob der Betreffende dort über ausreichende
Verbindungen verfügt. Nur wenn diese vorhanden sind, ist ein Existenzminimum und die
persönliche Sicherheit im Nordirak gewährleistet.
Für Kurden aus dem Nordirak, die durch direkte und enge Beziehung zu einem Stamm,
einer Großfamilie oder der Nachbarschaft in der dortigen Gesellschaft verwurzelt sind,
kommt daher eine interne Relokationsmöglichkeit im Nordirak eher in Betracht als für
Kurden aus dem Zentralirak.
Zu berücksichtigen ist, dass Personen, die nicht aus dem Nordirak stammen, von den
örtlichen Behörden leicht identifizierbar sind. Es ist möglich, dass diese ihnen jeglichen
Schutz verweigern. Für Araber aus dem Zentralirak ist die Lage besonders schwierig. Zum
einen verfügen sie idR nicht über ausreichende Beziehungen zur vorherrschenden
kurdischen Gesellschaft im Nordirak. Zweitens nehmen die beiden kurdischen Parteien
arabische Übersiedler, vor allem desertierte Offiziere der irakischen Armee ohne familiäre,
politische oder sonstige Beziehungen, nur widerwillig auf. Arabische Übersiedler, die über
keine Beziehungen zum Nordirak verfügen, werden regelmäßig im KDP-Gebiet in eines
der zwei Lager (Zawita oder Balqus) untergebracht. Der Nordirak ist folglich für Araber
aus dem Zentralirak nur in Ausnahmefällen eine zumutbare Relokationsmöglichkeit.
Für einen irakischen Staatsangehörigen, der ursprünglich in keiner Verbindung mit der
kurdischen Gesellschaft im Nordirak stand, käme der Nordirak nur dann als Möglichkeit
der internen Relokation in Betracht, wenn er sich für eine beachtliche Zeit ohne
Schutzprobleme im Norden niedergelassen hatte und es angesichts der Umstände seines
Falles offensichtlich ist, dass er sich angemessen in die örtliche Gemeinde integriert hat.
3.
Rückführung in den Nordirak
UNHCR spricht sich nicht grundsätzlich gegen die Rückführung von Asylsuchenden aus
dem Irak in den Nordirak aus, wenn in einem fairen und effizienten Verfahren festgestellt
8
wurde, dass sie des internationalen Schutzes nicht bedürfen. Bei Personen, die nicht aus
dem Nordirak stammen, setzt eine Rückführung nach Auffassung von UNHCR allerdings
voraus, dass ausreichend familiäre, gemeinschaftliche oder politische Beziehungen im
Norden vorhanden sind, die die Möglichkeit einer reibungslosen Integration eröffnen.
III. Zusammenfassung
Festzuhalten ist, dass in den von der Flugverbotszone erfassten kurdisch verwalteten
Gebieten ein gewisser Schutz vor Übergriffen vonseiten der irakischen Regierung besteht,
so lange diese unter internationalem Schutz stehen.
Nach Auffassung von UNHCR erlaubt die Situation im Nordirak jedoch keine pauschale
Anwendung des Konzeptes der internen Relokation, sondern es ist nach den besonderen
Umständen des Einzelfalles zu beurteilen, ob dem Schutzsuchenden im Nordirak die
Möglichkeit der internen Relokation offensteht.
Der Nordirak kommt nur für solche irakischen Staatsangehörigen als interne
Relokationsmöglichkeit in Betracht, denen dort weder Verfolgungsmaßnahmen noch
andere Gefahren durch die irakische Zentralregierung, die kurdischen De-facto-Autoritäten
oder andere Akteure drohen. Weiterhin muss der Betreffende im Nordirak über
ausreichende familiäre, gesellschaftliche oder politische Verbindungen verfügen, die seine
Sicherheit garantieren und das zum Leben erforderliche Existenzminimum sicherstellen
können.
Im Einzelnen bedeutet dies, dass irakischen Asylsuchenden, die aus den von der Regierung
kontrollierten Gebieten stammen, im Nordirak grundsätzlich keine innerstaatliche
Fluchtalternative zur Verfügung steht. In Ausnahmefällen, wenn der Betreffende über
ausreichende gesellschaftliche (Sprache, ethnische Herkunft, Arbeitsmöglichkeit,
Religion, enge Freunde), familiäre (enge Verwandte, die bereits seit einiger Zeit dort
leben,) oder politische Verbindungen verfügt, können die Umstände des Einzelfalles
allerdings für eine Anwendbarkeit des Konzeptes der internen Relokation auf diese
Personengruppe sprechen. Hierbei ist davon auszugehen, dass keine adäquaten
Verbindungen bestehen, wenn im Einzelfall nur ein Einzelner der oben genannten
Indikatoren vorliegt. Ein Hinweis darauf, ob der Nordirak für den Betreffenden als
inländische Fluchtalternative in Betracht kommen kann, gibt auch die Zeit, die der
Betreffende in dem Gebiet verbracht hat. Hat eine Person bereits für einen beachtlichen
Zeitraum ohne Schutzprobleme im Nordirak gelebt, ist dies idR ein Zeichen dafür, dass sie
in die lokale Gemeinschaft integriert ist.
Auch Personen, die Verbindungen in den Nordirak haben, steht dort keine interne
Relokation offen, wenn sie bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgungsmaßnahmen durch
den irakischen Geheimdienst oder die kurdischen De-facto-Autoritäten fürchten müssen.
Für einen irakischen Staatsangehörigen, der aus dem Nordirak stammt und der vor
Verfolgungsmaßnahmen der irakischen Regierung flieht, kommen die unter kurdischer
Verwaltung stehenden Gebiete als inländische Fluchtalternative nur dann in Betracht,
wenn der Betreffende keine Verfolgungsmaßnahmen der lokalen kurdischen De-factoAutoritäten KDP und PUK oder durch andere Akteure (s.o.) zu befürchten hat.
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UNHCR Berlin
Januar 2001
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