Posttraumatisches Stresssyndrom

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Posttraumatisches Stresssyndrom
Praktische Kardiologie für Pflegende – 5. Mai 2012
Posttraumatisches Stresssyndrom
Impulse zu Verständnis und Umgang mit
traumatisierten Herzpatientinnen/-patienten
Cyrill Kälin, lic. phil. et theol.
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP
Psychokardiologie CHF/HTx, Universitätsklinik für Kardiologie
Universitätsklinik für Kardiologie
Symbolische Bedeutung des Herzens
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
Denken
Fühlen
Spüren
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
Einteilung der Traumata (1)
Psychotrauma
Verletzung der seelisch-geistigen Integrität
durch Ereignis ausserhalb des Alltäglichen und Normalen
Typ I
Einmalig,
kurzfristig
Urheber
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
Typ II
Wiederholt,
langdauernd
Traumata im
medizinischen
Kontext
Natur ! " Mensch
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Universitätsklinik für Kardiologie
Einteilung der Traumata (2)
Ereignisse
ausserhalb
des Normalen
Typ I
einmalig
kurzfristig
Natur- • Schwere Verkehrsgemacht unfälle
• Berufsbedingte
Traumata (z.B.
Rettungskräfte)
• Naturkatastrophen
Menschen- • Sexueller Übergriff
gemacht • Körperliche Gewalt
• Ziviles GewaltErleben
(z.B. Banküberfall)
Typ II
wiederholt
langdauernd
• Langdauernde
Naturkatastrophen
(Erdbeben, Überschwemmung)
• Technische
Katastrophen
Traumata im
medizinischen
Kontext
• Akute lebensgefährliche Erkrankungen (z.B. Infarkt)
• Chronische
Krankheiten (z.B.
Herzinsuffizienz)
• Wiederholte
Medizinische
sexuelle und
Behandlungsfehler
körperliche Gewalt
• Krieg, politische
Inhaftierung,
Folter
Nach Maercker A. (2009): Posttraumatische Belastungsstörungen, S. 15
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
„Posttraumatisches Stresssyndrom“
• Stress (Wikipedia: engl. für Druck, Anspannung; lat. stringere:
anspannen): Reaktion auf Anforderungen, Belastung (auch
Alltagssprache)
•  Syndrom: ein Strauss von Symptomen
"  Anzeichen von starker Belastung
nach einem aussergewöhnlichen Ereignis
≠ medizinisch-diagnostischer Begriff
≠ Posttraumatische Belastungsstörung PTBS (Engl. PTSD)
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Kriterien nach ICD-10:
1.  Ereignis von aussergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem
Ausmass (Traumakriterium)
2.  Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben (Flashbacks)
3.  Trauma-ähnliche Umstände werden vermieden (Vermeidung)
4.  Unfähigkeit, wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern (Amnesie,
Dissoziation) oder Schlafstörungen, Wutausbrüche,
Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz, Schreckhaftigkeit
(chronische Übererregung)
5.  Dauer > 6 Monate (Zeitkriterium)
Unterschied zu DSM-IV: 1 Monat oder mehr, präzisere Formulierungen
(erlebte, beobachtete, tödlich scheinende Bedrohung, sozialer Bezug)
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
Traumata und posttraumatische
Belastungsstörungen
•  Trauma ≠ PTBS
•  Häufigste Traumata: Kriegshandlungen, schwere Unfälle
sowie Zeugesein von Unfällen und Gewalt
•  Häufigste PTBS: Trauma nach Vergewaltigung,
Misshandlung und sexueller Missbrauch in der Kindheit
und nach Kriegsteilnahme (als Soldat wie auch Zivilist)
(Maercker et al. 2008)
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
Stressmodell (nach Lazarus 1974)
Wahrnehmung, Interpretation
Bewertung (appraisal 1, unreflektiert)
Situation
Wahrnehmung
1.  Relevant oder irrelevant?
Positiv oder negativ?
Person
Reagieren
Bewältigung möglich?
ja
Coping
nein
2. Schaffe ich das?
Reichen meine Ressourcen aus?
(appraisal 2, reflektiert)
Stress
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
Psychobiologie der Stressreaktion: HHNA
ANS
nein
–
+
PNS
SNS
+
Adrenalin
Noradrenalin
Herzfrequenz #
Muskelkraft #
Blutzufuhr #
+
Stresshormone
Stress
Posttraumatisches Stresssyndrom – Cyrill Kälin
CRH
Hypophyse
+
-Mark
Cortisol
Aldosteron
Hebt Blutzuckerspiegel
Hypothalamus
ACTH
Nebennieren
Stressantwort
Fight or flight
physiologisch
verhaltensmässig
-Rinde
Stresshormone
Nach Gisela Perren-Klingler 2004
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Universitätsklinik für Kardiologie
Reaktionen auf ein Psychotrauma (1)
1.  Akute Stressreaktion (während Ereignis)
• Biologische Antwort traumatischen Situation:
- Angriff oder Flucht (physiologische Vorgänge)
Nach Gisela Perren-Klingler
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Universitätsklinik für Kardiologie
Reaktionen auf ein Psychotrauma (1)
1.  Akute Stressreaktion (während Ereignis)
• Biologische Antwort traumatischen Situation:
- Angriff oder Flucht (physiologische Vorgänge)
• Psychologische Antwort:
-  Aufmerksamkeit nach aussen (monitoring)
-  Aufmerksamkeit nach innen (blunting)
-  Aufmerksamkeit weit weg (Dissoziation)
Nach Gisela Perren-Klingler
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Reaktionen auf ein Psychotrauma (2)
2. Spezifische Reaktionen (danach)
• Intrusion bzw. Flashbacks (Eindringen, sich Aufdrängen,
ständiges Wiedererleben, alle Sinneskanäle)
• Vermeidung/emotionale Betäubung (Numbing), Dissoziation
• Übererregung (Hyperarousal)
3.  Unspezifische Reaktionen (danach)
• Hilflosigkeit (Kontrollverlust)
•  Erschütterung von Grundannahmen und Werten
•  negative Emotionen wie Angst, Trauer, Ärger, aber auch
Gefühl der Gefühllosigkeit
Nach Gisela Perren-Klingler
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Universitätsklinik für Kardiologie
Myokardinfarkt und PTBS
Metaanalyse von Gander und von Känel (2006)
Eur J Cardiovasc Prev Rehabil 13:165–172
• Prävalenz der PTBS nach Herzinfarkt: 15% (827 Pat., 11 Studien)
• PTBS-Patienten mit häufigeren Herzbeschwerden
Berner Studie zu PTBS nach Herzinfarkt (2009)
Guler, Jean-Paul Schmid, Lina Wiedemar, Hugo Saner, Ulrich Schnyder, Roland von Känel
(2009): Clin. Cardiol. 32, 3, 125–129
• Herzinfarktpatienten des Inselspitals, 10,2% mit PTBS von 394
(951 Pat., 45% Rücklauf)
Andere Studien: 10-13% PTBS nach 3 Jahren
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PTBS bei ICD-Patienten
ICD-Studie von Roland von Känel et al. (2011)
Journal of Affective Disorders 131 (2011) 344–352
107 ICD-Patientinnen und -Patienten
• nach 2 Jahren: 31% mit PTBS (Prädiktoren: weiblich,
Depression)
• nach 5,5 Jahren: 36% mit PTBS (Prädiktoren: > 5
Schocks, Hilflosigkeit)
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Die Grenzen statistischer Untersuchungen
Statistische Normalverteilung
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Medaille
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Risikofaktoren für PTBS
•  Unerwartetheit, Plötzlichkeit
•  Alter: < 22 Jahr
> 60 Jahre (abnehmende Schmerz-/Stressresistenz)
•  Gesundheitszustand: Aktuelle Krankheit, psychische
Krisensituation
•  Dauer der traumatischen Exposition: je länger, desto höheres
Risiko
•  Chronische somatische oder psychische Erkrankung
•  Prätraumatische Persönlichkeit, v.a. kindliche Traumatisierung
•  Nicht funktionierendes soziales Netz
•  Fehlende Sinnhaftigkeit des Lebens
Gisela Perren-Klingler
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Menschen reagieren
unterschiedlich auf Traumata
Wie erklären?
•  Copingstrategien
•  Resilienz (vererbt/gelernt)
•  Posttraumatisches Wachstum
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Ein Trauma bewältigen ist einfacher, wenn...
•  ein soziales Netz trägt, tröstet und verstehen hilft
•  äussere Sicherheit bzw. Ruhe, Nahrung, Wohnung, eine
Aufgabe vorhanden ist
•  konfrontative Lösungsstrategien angewendet werden
(Geschichte rekonstruieren)
•  persönliche, whs. genetische Stressresistenz und Resilienz
vorhanden ist
•  Flexibilität und Fantasie eine Sinnfindung erleichtern
•  Gerechtigkeit auf gesellschaftlicher Ebene nachgelebt wird mit
Verurteilung, Strafe, Wiedergutmachung
•  gesellschaftlich bzw. familiär nach Lösungen und
Versöhnlichkeit mit dem Schicksal gestrebt wird
Gisela Perren-Klingler
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Munch,
Melancholie
Posttraumatisches Stresssyndrom
– Cyrill Kälin
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Universitätsklinik für Kardiologie
Zusammenfassung: Umgang
mit traumatisierten Herzpatientinnen/-patienten (1)
•  Ein Trauma ist ein aussergewöhnlich bedrohliches Ereignis.
Die Betroffenen haben es überlebt; ihre Reaktionen auf die
traumatische Belastung sind normal.
•  Eine Herzerkrankung hat eine grosse symbolische
Bedeutung („einen hohen Impact Factor“) und wird von
vielen Menschen als traumatisch erlebt.
•  Ein Trauma zu verarbeiten braucht Zeit, und die Reaktionen
klingen innerhalb von Wochen bis Monaten ab. Wenn
Übererregung, Flashbacks und Vermeidung/Dissoziation
länger andauern, muss fachliche Hilfe in Anspruch
genommen werden.
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Zusammenfassung: Umgang
mit traumatisierten Herzpatientinnen/-patienten (2)
1.  Den Menschen gegenüber
• die Reaktionen verstehen
• Sicherheit und Normalität anbieten
• Retraumatisierung vermeiden
• den Schutzraum respektieren
2.  Für uns selber
• offen sein für psychische Erkrankungen (Komorbidität) und
deren Symptome (Angst- und Zwangserkrankungen,
Depression, psychotische Zustände als Differenzialdiagnose)
• Austausch im Team
• wenn nötig überweisen (Traumatherapeuten)
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Zusammenfassung: Umgang
mit traumatisierten Herzpatientinnen/-patienten (3)
Wir möchten unsere Patientinnen und Patienten
zur Zusammenarbeit gewinnen.
Wenn wir mit Wohlwollen und Offenheit
uns ihnen zuwenden, zuhören,
uns in sie hineinversetzen,
teilen sie uns das mit,
was für sie von Bedeutung ist.
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Un
iver
iv
ersi
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sitä
si
täts
tä
tskl
ts
klin
kl
inik
in
ik ffür
ür K
Kar
ardi
ar
diol
di
olog
ol
ogie
og
ie
Universitätsklinik
Kardiologie
Danke
für Ihre Aufmerksamkeit
Posttraumatisches
Post
Po
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Stresssyndrom
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