Andrea Witzmann verband eine intensive Brieffreundschaft mit

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Andrea Witzmann verband eine intensive Brieffreundschaft mit
LEBEN
Andrea Witzmann verband eine intensive Brieffreundschaft mit einem
Todeskandidaten in Florida. So erfüllte sie seinen letzten Wunsch –
und verbrachte seine letzten Stunden vor der Hinrichtung mit ihm.
Das Tagebuch-Protokoll einer besonderen Begegnung.
ch kann mich noch gut an den Tag erinnern, als ich
an meinem Schreibtisch in Heidelberg über einem
leeren Blatt Papier saß und mich fragte, was ich wohl
einem Insassen des Todestraktes schreiben könnte.
Viereinhalb Jahre später verabschiedete ich mich von
Chadwick D. Banks oder Maqbul, wie er sich selbst nannte, am
Tag seiner Hinrichtung in Florida.
23. S EP T E M BE R 2014
Fotos: privat
Es ist 8 Uhr morgens, ich bin in Ludwigsburg und warte mit
20 anderen aufgeregten Menschen auf den Start eines Bewerbungsverfahrens. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass
ich eine neue E-Mail von einer Freundin aus der Schweiz
bekommen habe. „Liebe Andrea, das ist wohl die traurigste
Nachricht die ich dir übermitteln muss.“ Angehängt ist die
Information, dass der Gouverneur von Florida den Hinrichtungsbefehl für meinen Brieffreund unterschrieben hat und
Maqbul am 13. November 2014 um 18 Uhr Ortszeit in Florida
hingerichtet werden soll.
Ich kann nicht glauben, was ich lese, überfliege diese Zeilen
wieder und wieder. Ich wusste, dass dieser Tag einmal kommen
würde, aber vorbereitet war ich nicht.
„Guten Morgen, Sie dürfen jetzt hereinkommen!“ – Ich
versuche den Gedanken an Maqbul und seine Hinrichtung zu
verdrängen und mich auf das Testverfahren zu konzentrieren.
Knappe vier Stunden später verlasse ich den Raum, suche mir ein
ruhiges Plätzchen, rufe die E-Mail noch einmal auf und dieses Mal
kann ich meine Tränen nicht zurückhalten.
Maqbul erfährt einen Tag vor mir von seinem Hinrichtungsdatum. Er wird noch am selben Tag aufgefordert seine Sachen zu
packen. Ein Van holt ihn ab und bringt ihn in ein benachbartes
Gefängnis, in dem sich die Hinrichtungskammer befindet und er
in seiner Zelle 24 Stunden überwacht wird. Hier wird er die nächsten knapp zwei Monate verbringen und kann jeweils Montag bis
Mittwoch für insgesamt zwölf Stunden Besuch erhalten.
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LEBEN
3. OKTOBER 201 4:
Ich sitze am Küchentisch, auf dem Herd köchelt eine Suppe und vor mir
liegt ein leeres Blatt Papier. Was schreibt man jemandem, der weiß, dass er
bald sterben wird? Maqbul hat sich noch nicht bei mir gemeldet, obwohl
es zeitlich möglich gewesen wäre, da ein Brief nur ca. eine Woche braucht.
Vielleicht hat er keinen Antrieb mir zu schreiben? Ich weiß es nicht und
beginne ihm von meiner Woche zu erzählen. Das kommt mir so trivial
vor. Ich stoppe, ringe um Worte und frage Gott. Beim Aufschlagen meiner
Bibel stoße ich auf den Vers aus Jesaja 41,10: „Fürchte dich nicht, ich bin
mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir
auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Gott
und Religion war eines der Themen, die uns über die gesamte Briefreundschaft begleiteten. Maqbul konvertierte im Gefängnis zum Islam und wir
schrieben oft darüber, was Moslem- bzw. Christsein für uns bedeutet. Ich
beende den Brief mit dem Bibelvers und hoffe, dass er Maqbul genauso
ermutigt wie mich.
16. OKTO BE R 20 14
Eine ungewöhnliche Freundschaft: Andrea Witzmann und Maqbul
Seitdem der Hinrichtungsbefehl unterschrieben wurde sind inzwischen fast
vier Wochen vergangen und nur noch vier weitere bleiben bis er hingerichtet wird. Noch kein Brief von Maqbul. Über vier Jahre schreiben wir uns
jetzt und schon lange haben wir uns nicht mehr über den „Ernstfall“ unterhalten. Darüber schrieben wir einmal am Anfang unserer Brieffreundschaft,
aber Maqbul sprach dieses Thema generell nicht gerne an. Er schrieb lieber
von den Basketballspielen auf dem Hof oder von Schachpartien mit seinem
Zellnachbar. Die beiden konnten sich dabei zwar nie sehen, aber hören, da
die Zellen nach vorne hin nur mit Gitterstäben abgegrenzt sind. So riefen sie
sich gegenseitig die Spielzüge zu, die dann jeder auf seinem Spielfeld voran
ging. Nur zwei Mal pro Woche darf ein Insasse des Todestraktes in Florida
seine Zelle verlassen und für zwei Stunden im Hof sein. Wann genau das
jeweils ist, ist nicht bekannt, da dies die Gefahr eines Ausbruchsversuchs
erhöhen würde.
Ich vergleiche aus Interesse Flugangebote nach Florida. Eine Freundin
hat mir schon mehrmals angeboten, dass ich gerne bei ihr übernachten
kann, sollte ich mich entscheiden in die USA zu fliegen. Ich will die Entscheidung Maqbul überlassen und buche erst einmal nichts. Inzwischen
hat mich ein Informationsblatt bzgl. des Hinrichtungsvorgangs in Florida
erreicht. Es berichtet davon, dass die Hinrichtung einige Tage vorher trocken geübt wird, dass die letzte Mahlzeit morgens um 10 Uhr eingenommen
werden muss und danach nichts mehr gegessen werden darf, dass bei der
Hinrichtung selbst Angehörige der Opfer, Anwälte und Medien zuschauen
können oder dass der „Hinrichter“ anonym bleibt und mit $150 entlohnt
wird. Das alles macht mich wütend und traurig zugleich. Wie kann es sein,
dass ein Land wie die USA in einigen Staaten noch die Todesstrafe praktiziert und die Welt einfach zuschaut oder teilweise sogar das Gift dafür
liefert? Ich schicke einen etwas anderen Rundbrief an meine Freunde, weil
ich nicht will, dass so etwas unbemerkt bleibt.
17. OKTO BE R 20 14
"
Ich wusste, dass dieser
Tag einmal kommen würde,
aber vorbereitet
war ich nicht."
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Wie jeden Tag öffne ich erwartungsvoll meinen Briefkasten und heute ist
tatsächlich ein Brief von Maqbul drin. „Hallo Andrea, wie geht es dir? Gerade kam ein Brief von mir an dich zurück. Ich hatte ihn nicht ausreichend
frankiert. Es tut mir leid, dass du so lange nichts von mir gehört hast. Du
musst denken, ich will nichts mehr von dir hören. Aber das ist nicht der Fall.
Ich will, dass du mit mir unterwegs bist, bis ich diese Welt verlasse. Obwohl
ich weiß, warum ich hier bin, war die Bekanntgabe meines Hinrichtungsdatums ein Schock für mich. Ich hoffe du kannst Urlaub nehmen und mich
noch einmal besuchen kommen!“
Einige Briefe später sitze ich im Flugzeug nach Florida.
LEBEN
Während die meisten
Florida-Besucher Strand
und Sonne genießen,
verbrachte Andrea Witzmann
viel Zeit mit Besuchen bei
Maqbul im Gefängnis.
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6. NOVE M BE R 2014
7. NOV E M BE R 2014
„Den kann ich Ihnen sehr empfehlen!“ Mein Sitznachbar schaut mir bei meiner Filmauswahl auf dem
Bildschirm vor mir zu. Wir sind inzwischen irgendwo
über dem Atlantik. „Ich bin übrigens John“, stellt er
sich vor und fragt, wo die Reise für mich hingeht. „Ich
fliege nach Florida um einen Freund zu besuchen,
der nächste Woche hingerichtet wird“ – wie klingt
das denn? Ich entscheide mich für die Variante „Nach
Florida, Freunde besuchen.“ In den Sunshine-State
würde er auch gerne einmal reisen. Ich habe gerade
keine Lust auf ein Gespräch und wende mich wieder
dem Bildschirm zu. Leute, die wussten, dass meine
Reise einen anderen Grund als tatsächlichen Urlaub
hat, bezeichneten mich als mutig, verrückt, tapfer oder
auch bescheuert. Keines dieser Worte beschreibt wie
ich mich gerade fühle, eine Mischung aus allen trifft
es vielleicht am ehesten. Ich bin angespannt und aufgewühlt und ich glaube, ich weiß gar nicht so wirklich
auf was ich mich da einlasse. Knappe zwei Stunden
später dreht sich John zu mir um, der Abspann läuft
gerade, und fragt mich, wie mir der Film gefallen hat.
Wir kommen ins Gespräch und landen über den Protagonisten des Filmes, der als Atheist dargestellt wird,
bei dem Thema Glauben. John weiß nicht genau, ob
er sich als Atheist bezeichnen würde. Er weiß nicht, ob
es einen Gott gibt, das stört ihn aber auch gar nicht.
Auch die Frage, was nach dem Tod kommt, beunruhigt ihn nicht. Jetzt erzähle ich ihm doch von dem
Grund, der mich zu dieser Reise veranlasst hat. John
ist etwas geschockt. Neben jemandem mit so einer Geschichte habe er ja noch nie gesessen. „Sie meinen das
schon richtig ernst mit ihrer Religion, oder?“ „Ähm, ja,
ich versuche es zumindest …“ In Atlanta verabschieden wir uns. Kurz vor Mitternacht empfangen mich
die Wärme Floridas und zwei Freundinnen dann endlich am Flughafen.
Heute werde ich mit einem Besuch von Maqbuls Anwältin geweckt. Auf dem Weg ins Gefängnis will sie
fragen, ob ich gut angekommen bin um Maqbul diese
Nachricht zu überbringen. Susan, so heißt sie, ist eine
ältere, engagierte Dame, die sich Fällen im Endstadium annimmt. Aus finanziellen Gründen hatte Maqbul
bisher nur Pflichtverteidiger, die ihre Arbeit scheinbar
mehr schlecht als recht machen. Jedenfalls hat dieser
eine Deadline verpasst und daher wurde sein Fall zu
einem akuten und der Hinrichtungsbefehl konnte unterschrieben werden. Susans letzter Einspruch wurde
am Montag abgelehnt. Sie hat dennoch die Hoffnung
noch nicht aufgegeben. Bis Donnerstag 17:59 Uhr
besteht die Möglichkeit, dass die Hinrichtung aufgeschoben wird und solange will sie kämpfen.
Bevor sie ins Auto steigt, ruft Susan mir zu: „Es
ist schlimm genug, dass wir Leute hinrichten, aber
dass sie nicht einmal die Möglichkeit auf einen fairen
Prozess haben ist katastrophal.“
"
Leute, die wussten, dass meine Reise einen anderen
Grund als tatsächlichen Urlaub hat, bezeichneten mich
als mutig, verrückt, tapfer oder auch bescheuert."
10. NOV EM BE R 2014
Um 7 Uhr klingelt mein Wecker. Eine Stunde später sitzen Tanja und ich im Auto zum Gefängnis.
„Wir sehen uns in sechs Stunden! Hab eine gute
Zeit!“ Mit einer festen Umarmung verabschiedet
sie mich. Ein Gefängnisoffizier hat mich von dem
Wachturm aus vermutlich bereits gesehen, denn das
erste Tor öffnet sich noch bevor ich dort ankomme.
Das zweite Tor, das in das eigentliche Gebäude
führt, öffnet sich erst, nachdem das Tor hinter mir
wieder ins Schloss fällt. Im Eingangsbereich werde
ich von einem Gefängnisbeamten begrüßt und gefragt, wen ich besuchen möchte. „Chadwick Banks“.
„Und ihr Name ist?“ - der Beamte holt eine Liste
raus. Ich bin erleichtert als er meinen Namen dort
findet und mich bittet Platz zu nehmen. Es werde
noch einige Minuten dauern bis Herr Banks im Besucherraum ist, ich solle mich gedulden. Das kenne
ich von meinen beiden letzten Besuchen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass damals mit mir
ca. 15 weitere Frauen warteten und wir bereits im
Besucherraum an Metalltischen mit jeweils vier am
Boden fest geschraubten Metallhockern Platz nehmen durften. Ich kann mich noch gut an meinen
ersten Besuch im Herbst 2011 erinnern, wie ich
voller Spannung auf die Tür schaute, aus der die
Häftlinge in den Besucherraum kamen. Heute bin
ich etwas entspannter was Maqbul angeht, warte jedoch gespannt auf seine Familie, die ich noch nicht
kenne. Nach etwa zehn Minuten werde ich zum Sicherheitscheck gebeten. „Sie sind die Erste heute“,
begrüßt mich der Beamte, der mich durch mehrere
Eisentüren in den Besucherraum bringt. „Wie viele
Besucher stehen denn auf der Liste?“ frage ich neugierig. „Heute sind es 7. Es soll sogar jemand aus
Deutschland kommen.“ „Das bin ich!“ antworte ich
grinsend. „Wirklich? Na dann herzlich willkommen
im schönsten Staat Amerikas!“ sagt er und schließt
die Tür hinter mir zu. Durch die Glasscheibe in der
Tür, die durch Gitterstäbe gesichert ist, ruft er mir
noch zu, ich solle laut an die Tür klopfen, falls ich etwas aus
dem Kiosk möchte, der sich im Raum nebenan befindet.
Der Besucherraum ist ganz anders als der, den ich kenne. Er ist länglich mit Stühlen für diejenigen die mit einem Insassen hinter den Glasscheiben links sprechen wollen und mit
Bänken an der Wand rechts, für Leute die warten falls mehrere
Besucher da sind. Auf der linken Seite des Raumes, hinter den
Glasscheiben, befinden sich mindestens zehn Einzelzellen für
die Häftlinge, die nach hinten durch Gitterstäbe von einem weiteren Gang abgetrennt sind. Da Maqbul der einzige Häftling ist,
der in nächster Zeit hingerichtet wird, werden wir den Raum
die nächsten Tage für uns alleine haben. Maqbul ist noch nicht
da. Mein Blick fällt auf eine Box Taschentücher und ich frage
mich, wer wohl schon alles hier war und welche Dramen sich in
diesem Raum bereits abspielten. Daneben liegt eine Plastiktüte. „Für Andrea“ lese ich und schaue vorsichtig hinein. Maqbul hatte mir bereits angekündigt, dass er mir meine Briefe an
ihn zurückgeben wird. Es war ihm wichtig, dass ich darüber
bestimmen kann, was mit ihnen geschieht. Während ich warte
überfliege ich den ein oder anderen Brief. Ich staune, wie oft
ich einen Bibelvers oder eine unserer Diskussionen über den
Glauben lese. Vor meinem Hinflug habe ich mir oft überlegt,
was wir in den letzten Stunden wohl reden werden. Ich war
fest davon überzeugt, dass ich Jesus noch einmal ansprechen
will. Während ich diese Briefe in der Hand halte, wird mir bewusst, dass eigentlich alles schon gesagt wurde und dass es jetzt
nicht mehr darum geht über die Wahrheit zu diskutieren. Bin
ich nicht einfach nur noch da um zu lieben? Plötzlich höre ich
wie die Tür im Gang hinter den Einzelzellen ins Schloss fällt.
Maqbul wird in die zweite Zelle gebracht. Erst als die Gittertür hinter ihm geschlossen ist, nehmen ihm zwei Offiziere die
Handschellen ab. Die an den Füßen muss er anlassen. „Schön
dich zu sehen!“ begrüßt er mich lachend. „Ebenso!“ erwidere ich
und freue mich, dass auf der anderen Seite der Glasscheibe ein
so fröhlicher Mensch sitzt. Er erkundigt sich, wie die Reise verlief. Ich berichte kurz und frage dann, wie es ihm geht. Er sagt
den gleichen Satz, mit dem er alle seine Briefe immer beginnt:
„Den Umständen entsprechend gut!“. Er verbringe viel Zeit mit
Schreiben. Seit der Veröffentlichung seines Hinrichtungsdatums
bekomme er viel Post aus der ganzen Welt und ihm sei es wichtig jeden einzelnen zu beantworten. „Ich habe mich noch nie so
geliebt gefühlt wie in diesen Tagen. Leute nehmen sich die Zeit
um mir durch einen Brief Mut zu machen oder fliegen viele
Tausend Kilometer um mich besuchen zu kommen.“ Draußen
höre ich Stimmen und durch das kleine Sichtfenster in der Tür
sehe ich, dass seine Familie im Anmarsch ist. Ich lerne Maqbuls Mutter, seine Tochter und einen seiner Söhne sowie einen
Bruder und zwei Schwestern kennen. In den nächsten Stunden
stelle ich fest, dass die Familie komplett anders mit der Situation
umgeht, als ich es tue bzw. tun kann. Während ich oft mit den
Tränen kämpfe, scheinen sie sehr fröhlich und lachen viel miteinander und würde man die Situation nicht kennen, könnte man
denken dies sei ein ganz gewöhnliches Familientreffen.
„Andrea?“, Maqbul ruft mir zu. Jetzt bin ich wieder an der
Reihe. Während sich die anderen hinter mir unterhalten versuche
ich Maqbul durch das kleine Sprechfeld zu verstehen. Ich gehe
dicht ran und teilweise muss ich den Kopf drehen, damit ich ihn
verstehe. Er erzählt, dass seine Körpermaße genommen wurden,
damit sein Anzug für den Hinrichtungstag geschneidert werden
kann. Außerdem musste er sich bereits entscheiden, wie seine
letzte Mahlzeit aussehen soll. „Und, was hast du dir bestellt?“ Er
grinst und zählt Dinge auf, von denen er mir schon öfter vorgeschwärmt hatte „Pommes frittes, frittierter Fisch, Kroketten und
Biscuits mit Eis und Kuchen zum Nachtisch.“
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LEBEN
Es ist kurz vor 15 Uhr als ein Gefängnisoffizier uns darauf
aufmerksam macht, dass die Besuchszeit gleich vorbei ist. Wir
winken Maqbul nochmal kurz zu und werden dann gemeinsam
aus dem Gefängnis heraus begleitet.
Ich glaube, ich habe das Wort Freiheit noch nie so „spüren“
können wie in dem Moment, indem ich meinen Pass wieder in
den Händen halte und die ganzen Zäune, Tore und Gitter hinter
mir lassen kann.
„Bis übermorgen!“, ich verabschiede mich von der Familie
und laufe auf den Parkplatz wo Tanja schon auf mich wartet. „Na,
wie war’s?“ Ich weiß gar nicht so recht, was ich antworten soll.
Ich freue mich, dass Maqbul sich so wacker hält, bin aber völlig
irritiert von der Art und Weise wie die Familie mit der Situation
umgeht. Ich habe das Gefühl, dass es noch so viele unausgesprochene Dinge gibt, Dinge über die niemand reden will.
12. NOV EM BE R 20 14
Ich habe schlecht geschlafen. So richtig kann ich die Situation
immer noch nicht wahr haben.
Die Zeit im Gefängnis läuft ähnlich ab wie am Montag.
Maqbul ist erstaunlich guten Mutes und scheint friedvoll. Er ist
bereit die Situation so anzunehmen, wie sie kommt. Ich würde
das kein zweites Mal durchmachen wollen. Als „Zuschauerin“ bin
ich schon so angespannt, dass ich an seiner Stelle wahrscheinlich
längst einen emotionalen Zusammenbruch gehabt hätte. Maqbul
will leben, aber er ist auch bereit zu gehen.
Er zeigt mir seine letzten Worte. Weil er Angst hat, dass die
Medien seine Worte verdrehen oder falsch darstellen, hat er sie
aufgeschrieben und Kopien anfertigen lassen. Sie beginnen mit
„Im Namen Allahs, …” Anschließend entschuldigt er sich bei
den Familien, denen er Schaden zugefügt hat und sagt, dass er
selbst keine gute Erklärung hat, warum er vor 22 Jahren zwei
Menschen das Leben nahm. Ich frage, warum er nicht vorher
schon einmal einen Schritt auf die Angehörigen der Opfer zugegangen ist und um Vergebung gebeten hat. Maqbul zuckt mit
"
den Schultern. „Mein Anwalt hat mir davon abgeraten, deshalb
habe ich es nicht weiter verfolgt.“ Jetzt wünschte ich, wir hätten
in unseren Briefen öfter einmal darüber geschrieben, was Vergebung bedeutet und wie wichtig sie ist. Vielleicht hätte er sogar
heilende Worte hören dürfen. Jetzt ist es zu spät dafür.
Unsere Unterhaltung wird durch den Gefängnisvorsteher
unterbrochen. Er kommt gegen 11 Uhr in den Besucherraum und
begrüßt jeden einzelnen mit Handschlag. Er entschuldigt sich dafür, dass wir uns in solch einer Situation kennenlernen. Wir seien
genauso Opfer wie die Familie der Opfer und sie beten für uns.
Wahrscheinlich ist er, wie viele andere Angestellten dort, nur einer, der ausführen muss, dennoch empfinde ich die Situation als
komisch und aufgesetzt.
Sein letztes Gespräch an diesem Tag führt Maqbul mit seinem Vater. Er scheint betroffen und ich habe das Gefühl, sie können ernsthaft miteinander reden. Wie die Anwältin mir jedoch
mittags am Telefon mitteilt, hatte sein Vater sich allerdings letzte
Woche geweigert ein Geständnis abzugeben bzgl. der Misshandlungen, die er Maqbul im Kindesalter zufügte.
Abends entschließe ich mich in die Baptistengemeinde zu
gehen. Es geht um Rut und ihre Geschichte unter der Überschrift
„Nichts passiert nur zufällig!“ Die Predigt ermutigt mich, auch
wenn ich nicht viel tue, doch genau am richtigen Ort zu sein.
Trotzdem ist diese Woche viel härter als ich dachte. Ich wünsche
mir so sehr, dass Gott spricht, dass er eingreift. Beim letzten Lied
schleiche ich mich aus dem Gebäude. Ich habe heute keine Lust
zu reden.
13. NOV EM BE R 2014
Heute ist der Tag. Wir hoffen immer noch alle auf einen „stay“.
Maqbuls Anwältin hat versprochen anzurufen, falls es Neuigkeiten
gibt. Sie wird heute die letzte sein, die mit ihm sprechen kann. Die
Besuchszeit für Angehörige ist nur von 8-11 Uhr. Ich bin wieder
als Erste im Gefängnis. Maqbul ist es wichtig mir die Narben des
Missbrauchs durch seinen Vater zu zeigen. Er dreht sich um und
Diese Woche ist viel härter als ich dachte.
Ich wünsche mir so sehr, dass Gott spricht,
dass er eingreift."
zieht sein T-Shirt hoch. Ich sehe die Narben auf dem
Rücken, danach zeigt er mir die auf seinen Armen.
„Warum hast du nie darüber gesprochen?“ „Ich bin
ein Mann. Weißt du, ich will keine Schwäche zeigen.
Bei einer Untersuchung fürs Militär wurde ich bereits
gefragt, wo die Narben herkommen. Ich hab‘ ihnen
gesagt, sie sind durch Bandenkriege entstanden und
damit hatte sich die Sache erledigt.“ Das macht mich
traurig und auch wütend. Dieses „Stärke zeigen“ ist in
der Familie, die ich diese Tage kennenlerne, scheinbar
eine Art Grundsatz. Auch sie zeigen kaum Betroffenheit oder was tatsächlich in ihnen vorgeht.
9: 30 U HR
Heute sind wir 14 Leute. Es ist recht laut im Besucherraum. Maqbul will mit jedem nochmal kurz reden. Um 9:30 Uhr bekommt er seine letzte Mahlzeit
serviert und wir können ihm hinter der Glasscheibe beim Essen zuschauen. „Sooo gut!“, grinst er. Ich
würde jetzt keinen Bissen runter kriegen, muss aber
lachen weil ich sehe, wie er dieses Essen feiert. Es ist
kurz vor zehn Uhr. Maqbul hat fast alles aufgegessen,
darf ab jetzt aber nichts mehr zu sich nehmen, damit
das Gift wirkt und er sich während der Hinrichtung
nicht erbricht. Die Tür des Besucherraums wird geöffnet und während der letzten Stunde dürfen vier
Personen zu Maqbul. Er hat sich entschieden seine
Eltern und seine Tochter konstant bei ihm zu haben.
Als vierte Person darf jeweils einer von uns zu ihm
und sich verabschieden. Der Rest kann das Szenario durch die Glasscheibe beobachten. Wir stehen im
Kreis während seine Schwester betet, dass Gott uns
beisteht. Die Tür geht auf. Maqbul sagt jeweils an,
wer als Nächstes rüber kommen soll. Wir schauen
jedes Mal gespannt durch die Glasscheibe, wie die
Verabschiedung ausfällt. Mich erinnert das an Big
Brother und eigentlich finde ich es total absurd, stehe aber genauso wie alle anderen da und schaue zu.
Jetzt bin ich dran. Maqbul hat mich in einem seiner
letzten Briefe gefragt, ob ich weinen werde, wenn ich
ihn das letzte Mal sehe. Gerade weiß ich es nicht –
ich fühle mich so leer und weiß gar nicht was ich
noch sagen soll … Ich werde von einem Offizier auf
die andere Seite begleitet. Maqbul steht auf, läuft mir
einige Schritte mit seinen Fußfesseln entgegen und
nimmt mich in den Arm. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir bedeutet, was du für mich getan
hast. Ich bin dir so dankbar dafür und egal was heute
Abend passiert, ich freue mich, dass ich dich kennen
lernen durfte.“ Er sagt noch viel und redet schnell.
Ich kann nicht alles verstehen, nur noch, dass es ihm
wichtig ist, dass ich Grüße ausrichte. An meine Eltern, meine Freunde, an Tanja, … Dieser Mann vor
mir hatte so ein hartes Leben, umso erstaunter bin
ich, was heute für ein Mensch aus ihm geworden ist.
Ich verabschiede mich mit den Worten “I wanna see
you in heaven – make sure you get there!”
11 UHR
Es ist 11 Uhr. Maqbuls Eltern und seine Tochter
werden zurück in den Besucherraum gebracht. Der
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LEBEN
Gefängnispfarrer kommt zu uns, spricht uns sein
Beileid aus und betet mit uns. Dazu stehen wir alle
im Kreis. Maqbul steht an der Glasscheibe und wir
drum herum. Wie man das aus Filmen kennt, hält
er beide Hände an die Glasscheibe und seine Tochter und ein Bruder halten ihre Hände dagegen.
Anschließend müssen wir das Gefängnis verlassen.
Maqbul ist stark. Er wirkt etwas stiller als sonst, behält aber die Fassung. Wir verabschieden uns mit
einem letzten Blick. Dann fällt die Tür ins Schloss.
Draußen scheint die Sonne. Es gibt Tage, an denen
wünscht man sich Regen. Ich verabschiede mich von
der Familie. Maqbuls Eltern bedanken sich überschwänglich bei mir, dass ich mich die letzten Jahre
um ihren Sohn gekümmert habe. Das klingt so, als
wäre ich die Heldin dieser Geschichte und als hätte ausschließlich Maqbul von unserer Brieffreundschaft profitiert. Ich bin mir sicher, dass es für mich
genauso spannend war ihn kennenzulernen und finde, dass der eigentliche Held er ist. Ich frage, was sie
heute Abend während der Hinrichtung machen werden. Sie wissen es noch nicht, aber sie wollen nicht in
der Nähe des Gefängnisses sein. Ich weiß auch noch
nicht ob ich das will und fahre nach Hause. Ich bin
unruhig, schaue immer wieder auf mein Handy und
hoffe, dass sich Maqbuls Anwältin meldet.
Auch wenn ich überhaupt nicht in der Stimmung bin unter Leute zu gehen, entscheide ich mich
mit Tanja zum stillen Protest während der Hinrichtung vor dem Gefängnis zu gehen.
A M A BEND
Nach ihrem letzten Besuch
bei Maqbul entschloss sich
Andrea Witzmann abends
zum stillen Protest während
der Hinrichtung vor dem
Gefängnis zu gehen.
Als wir ankommen, sind bereits Medienvertreter und
Polizei vor Ort. Wir werden gefragt ob wir Todesstrafgegner oder –befürworter sind. „Wie bitte?“, ich
kann nicht glauben, dass ich das ernsthaft gefragt
werde. „Natürlich Gegner!“ entgegnet Tanja prompt.
„Dann fahren sie bitte links.“ Ich schaue nach rechts
und sehe tatsächlich einige Leute dort stehen. Ein
paar mehr Leute warten auf der linken Seite auf uns.
Ein Verein aus Florida, der sich gegen die Todesstrafe
einsetzt, organisiert diese Zusammenkunft bei jeder
Hinrichtung. Wir sind ca. 25 Leute aus ganz Florida
und ein paar aus Europa. Sie sind eingeflogen um
ihre Brieffreunde im Gefängnis zu besuchen und
nutzen diese Gelegenheit um ihren Unmut über das
Praktizieren der Todesstrafe in den USA auszudrücken, genau wie es die Plakate tun, die um uns herum aufgestellt sind. Susan, die Anwältin, ist auch da.
„Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“, „Der Surpreme
Court hat noch nicht geantwortet. Maqbul darf erst
hingerichtet werden, wenn alle beteiligten Gerichte
den letzten Einspruch abgelehnt haben. Lass‘ uns
das Beste hoffen!“ Der Ablauf gleicht einem rituellen Gottesdienst. Lieder wechseln sich mit Gebeten
und dem Vorlesen von Psalmen ab. Kurz vor 18 Uhr
zünden wir Kerzen an und schlagen eine Glocke. Sie
ist so laut, dass Maqbul sie in der Hinrichtungskammer hören kann. Anschließend ergreift ein früherer Brieffreund das Wort: „Bisher wusste ich nicht,
was es heißt einen geliebten Menschen zu verlieren.
Heute Abend stehe ich hier und bin selbst ein Opfer.
Man hat meinen Freund ermordet. Jetzt ist es an mir,
das was ich mir immer für die Opfer von Maqbul
wünschte, zu tun: zu vergeben und loszulassen.“ Es
herrscht betroffenes Schweigen und man hört leises
Schluchzen. Ich bin überwältigt von so viel Anteilnahme. In diesem Augenblick kommt Susan zu mir,
umarmt mich und sagt „Gerade kam die Antwort
vom Supreme Court: We’re done!“ In wenigen Minuten wird Maqbul also das Gift gespritzt, das sein
Herz zum Stillstand bringen wird.
In mein Tagebuch schreibe ich an diesem
Abend: „So starb Maqbul heute als zweifacher Mörder und Vergewaltiger. Diese Tat veränderte sein Leben für immer. Ich durfte sehen, wie sich Maqbul
seitdem verändert hatte. Er saß 22 Jahre im Gefängnis, hat seine Tat nie verleugnet und zutiefst bereut.
Das Rechtssystem in Florida ist gnadenlos und gibt
keine zweiten Chancen. Wie gut, dass wir einen Gott
haben, der uns vergibt und bei dem sogar nach einer
zweiten Chance noch nicht Schluss ist.“
14. NOV E M BE R 2014
Auf dem Weg zum Flughafen ruft Susan an. Sie berichtet mir, dass gestern scheinbar alles „gut gegangen“ ist und Maqbul nicht, wie er oft befürchtete,
lange leiden musste. „Es war wichtig, dass du hier
warst! Hab eine gute Heimreise!“. Ich bedanke mich
und füge hinzu „Und es ist wichtig, dass du hier bist.
Frauen wie dich braucht diese Welt. Frauen, die immer wieder für die Gerechtigkeit aufstehen und sich
von Niederlagen wie diesen nicht einschüchtern lassen!“
Während dem Flug geht mir vieles durch den
Kopf. Mit meiner Vermutung, dass ich nicht wirklich weiß, was auf mich zukommen würde, hatte ich
Recht. Diese eine Woche mitzuerleben hat mich viel
mehr Kraft gekostet, als ich das vorher einschätzte. Es
war wie ein Eintauchen in eine andere Welt, die ich
nicht wirklich verstehe und auch nicht nachvollziehen kann. Extreme Emotionen. Viel Leid. Viel Zerbrochenheit.
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Im Nachhinein fragten mich viele, warum ich
mir diese Woche angetan habe. Für mich war die Entscheidung Maqbul in seinen letzten Tagen zu begleiten, eine logische Konsequenz aus viereinhalb Jahren
(Brief)Freundschaft. Ich bin überzeugt, dass jeder
andere bei einem Freund genauso gehandelt hätte.
Wahrscheinlich war der Stempel „Mörder“ das, was
diese Leute abschreckte oder die Situation so anders
und ungewöhnlich machte. Auch wenn das, was Maqbul getan hat, grausam ist, habe ich mich von Anfang
an dazu entschieden, ihm als Menschen zu begegnen,
den ich nicht über das, was vor 22 Jahren vorgefallen
ist, definiere, sondern über die Person, die er heute ist.
29. D E ZE MB E R 20 14
Zwischen all den Weihnachtskarten finde ich heute einen Brief von Susan in meinem Briefkasten. Sie
hatte mir versprochen Bilder von Maqbuls Grab zu
schicken. Es sieht sehr unspektakulär aus. Lediglich
ein Stein am Boden in den sein Name eingraviert ist,
markiert, dass er an dieser Stelle begraben ist. Als ich
die Bilder anschaue, kommen mir die Tränen. Ich vermisse den Austausch mit Maqbul und ich bin traurig,
dass er auf diese Art und Weise sterben musste. Den
Bildern liegt eine Karte bei. Susan schreibt: „Meine besten Wünsche für ein neues Jahr, indem du Heilung
und Freude erleben darfst! Schmetterlinge sind meine
besten Lehrer wenn es um Hoffnung und Veränderung geht. Es ist definitiv nicht einfach für die Raupe
sich zu einem Schmetterling zu entfalten. Einen geliebten Menschen am Ende seines Lebens zu begleiten
ist ein wertvolles Geschenk, obwohl wir zurückbleiben
und das Leben ohne diesen Menschen weitergehen
muss.“ Ich wische meine Tränen ab und finde sie hat
Recht. Am Ende überwiegt auch bei mir die Dankbarkeit. Als ich vor fünf Jahren Freunden erzählte, dass
ich darüber nachdenke eine Brieffreundschaft mit
einem Insassen des Todestraktes zu beginnen, fanden
das manche keine gute Idee, unter anderem, weil man
sich auf eine Freundschaft einlässt, von der man weiß,
dass sie einmal ein jähes und schreckliches Ende finden wird. Aber gehen wir das Risiko nicht mit jeder
Freundschaft ein die wir schließen? Wir wissen nie,
was im Leben noch alles passieren wird. Das weiß nur
einer. Und weil wir ihn kennen und er unser Versorger
und Tröster ist, können wir ganz unbeschwert unseren
Nächsten lieben. Einer meiner Nächsten in den letzten
viereinhalb Jahren war Maqbul.
ANDREA WITZMANN ist Leiterin des
Europabüros von Mission-Net in
Hamburg und arbeitet mit dem Team
gerade an den Vorbereitungen für den
nächsten Kongress über Silvester in
Offenburg. www.mission-net.org.
Ihr Briefkontakt zu Maqbul wurde über die Organisation „lifespark“ vermittelt, eine Schweizer Organisation die sich gegen
die Todesstrafe einsetzt. www.lifespark.org