JAMES BRADDOCK
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JAMES BRADDOCK
DIE ASCHENPUTTEL-GESCHICHTE DES JAMES BRADDOCK Ein kurzer historischer Einblick in das Leben und die Zeit, die zu einer bleibenden Legende führten Die Jazz-Ära der 20er-Jahre war ein goldenes Zeitalter für Amerika. Die Nation feierte im Zuge der erfolgreichen Beendigung des Ersten Weltkriegs den Frieden und den boomenden Wohlstand. Es war auch ein goldenes Zeitalter für das Boxen, den zwar brutalen und doch so wunderschönen ballettartigen Sport, der die Öffentlichkeit mit seinem rohen, ursprünglichen Ringen um Transzendenz in seinen Bann schlug: In der Schmelztiegel-Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts war es für die verschiedenen Immigranten-Gruppierungen eine Frage des Stolzes, wenn ihre „Söhne“ boxten. Gemeinden mit starken Wurzeln in der Alten Welt fanden einen Fokus, einen Ausdruck für ihre Herkunft, wenn ein Boxer in den Ring stieg und ihre nationalen Farben oder Symbole trug. In dieser Zeit entschied sich James J. Braddock, ein Amateur aus New Jersey, der für seine gewaltige Rechte bekannt war, professioneller Boxer zu werden. Wie viele Kids aus der Arbeiterklasse sah auch er das Boxen als Gelegenheit, seinen sozialen Status zu verbessern und ein anständiges Leben führen zu können. Boxen war das Einzige, was er jemals konnte, worin er gut war – und eine Zeit lang war er sehr, sehr gut. In den frühen Jahren zeigte Braddock Potenzial. Wegen seiner unbeirrbaren Hartnäckigkeit, die ihn auch bei Kämpfen gegen deutlich größere Boxer die Oberhand behalten ließ, taufte man ihn „the Bulldog of Bergen“. Doch nachdem er sich irreparable Schäden an seiner schwer gebrochenen rechten Hand zuzog, ging es mit seiner Karriere langsam bergab. 1929 musste er eine schmerzhafte Niederlage gegen Tommy Loughran, den amtierenden Champion im leichten Schwergewicht, hinnehmen, der ihn in herzzerreißenden 15 Runden niederrang und damit den Startschuss für eine endlose Abfolge von Pech und hässlichen Niederlagen gab. Braddock war nie wieder derselbe. Der Nation ging es nicht besser. Im selben Jahr brach die Börse zusammen. 40 Prozent des Papierwertes aller Aktien waren wie weggefegt. Als sich die Schreckenswelle ausbreitete, verloren amerikanische Familien aller wirtschaftlichen Klassen ihr Erspartes, ihre Geschäfte, ihr Zuhause und ihre Höfe. Im Jahr 1932 war beinahe jeder vierte Amerikaner arbeitslos. Die Nation stand unter Schock. Nicht enden wollende Schlangen ehemaliger Arbeiterfamilien bildeten sich vor den Unterkünften der Heilsarmee. Menschen, die für Essen, für Arbeit, für Stütze anstanden, waren ein alltäglicher Anblick. Kurz davor war der bloße Gedanke an derartige Szenen für viele Amerikaner in ihrem eigenen Land undenkbar gewesen. Die Ärmsten der Armen waren gezwungen, in so genannten „Hoovervilles“ dahinzuvegetieren – improvisierten Ghettos aus Bretter- und Pappkartonverschlägen, die zumeist an den Rändern der Metropolen aus dem Boden schossen. Benannt wurden sie mit bitterster Ironie nach Präsident Herbert Hoover, der es vor seinem Verlust der Präsidentschaft an Franklin Delano Roosevelt im Jahr 1932 verpasst hatte, staatliche Hilfsprogramme für darbende Familien einzurichten. Abertausende zogen ziellos durchs Land auf der Suche nach Jobs, egal ob diese hart, erniedrigend oder lebensgefährlich waren. Erstmals seit den Anfängen des Landes mit den Pilgern sahen sich Amerikaner mit der sehr realen und bedrückenden Aussicht auf Hunger und womöglich sogar Verhungern konfrontiert. Die Selbstmordrate unter Männern, die ihre Arbeit verloren hatten, stieg gewaltig an. Wie viele Banker, Metzger, Farmer und Fabrikarbeiter musste auch Jim Braddock mit ansehen, wie sein Leben aus den Fugen geriet und zusammenbrach. Als ihm die örtliche Boxkommission die Lizenz entzog und damit effektiv zum Rückzug aus dem Boxsport zwang, suchte Braddock tapfer nach vorhandenen Jobs, aber es gab keine. Er nahm Knochenjobs in Häfen an und schleppte prall gefüllte Säcke. Und doch verdiente er zu diesem Zeitpunkt so wenig Geld, dass Braddock seine fünfköpfige Familie mit 24 Dollar im Monat durchbringen musste. Es sah aus wie eine Schlacht, die nicht zu gewinnen war. Als sich die Familie nicht einmal mehr essentielle Dinge wie Milch, Gas und Strom leisten konnte, meldete sich Braddock für Sozialhilfe an. Für seinen Stolz war das ein fürchterlicher Schlag, eine verheimlichte Schande, die viele, die ihr ganzes Leben für ihre Familien gesorgt hatten, im Land erleben mussten. Doch im Jahr 1934, als Roosevelts New Deal zu greifen begann, wendete sich auch für Jim Braddock das Glück. Überraschenderweise erhielt er die Gelegenheit, im Boxring gegen John „Corn“ Griffin anzutreten – in einem Kampf, bei dem Braddock eigentlich hoffnungslos unterlegen hätte sein müssen. Doch stattdessen gelang es ihm, sich tänzelnd zu einem Sieg zu schlagen, den niemand so recht fassen konnte. Zu verdanken hatte er ihn zum Teil seiner überraschend effektiven Linken, die er bei der körperlich harten Arbeit in den Docks gestärkt hatte. Als wollte er beweisen, dass er keine Eintagsfliege sei, gewann Braddock kurz darauf einen Zehn-Runden-Kampf nach Punkten gegen den Hall-of-Famer John Henry Lewis. Danach stellte er sich Art Lasky, der von seinen letzten 15 Kämpfen bis auf einen alle für sich hatte entscheiden können. Und doch behielt erneut Braddock die Oberhand – in einer elektrisierenden Boxschlacht, die über 15 Runden ging. Durch die beachtlichen Siege wurde Braddocks Kampfwille und sein Glaube an sich selbst zu neuem Leben erweckt. Es entspricht absolut seinem Charakter, dass er mit dem verdienten Geld als Erstes seine Schulden für die Sozialhilfe an die Regierung zurückzahlte. Dieser selbstlose Akt bescherte Braddock unter der stetig wachsenden Zahl von Bewunderern einen neuen Spitznamen: „Gentleman Jim“. Sein Ruhm in der Boxwelt wuchs mit jedem neuen Tag. Und auf einmal fand er sich in der ungewöhnlichen Position, in einem Titelmatch gegen den amtierenden Schwergewichtsmeister Max Baer anzutreten. Das klingt nach einer Chance, die sich jeder Boxer erträumen würde. Aber für Braddock hätte es mannigfaltige Gründe gegeben, sich nicht auf diesen Kampf einzulassen. Tatsächlich meinten viele Spezialisten der Sportwelt, dass es sich um eine für Braddock womöglich tödliche Auseinandersetzung handeln könnte. Braddock war deutlich kleiner als Baer, er verfügte über weniger Erfahrungen und musste sich auf seine neuerdings erstarkte Linke verlassen, obwohl er selbst seine einst verletzte Rechte favorisierte. Baer sah sich auf der anderen Seite mit einer Totschlagsklage konfrontiert, weil einer seiner Kontrahenten von einem seiner wuchtigen Punches im Ring getötet worden war. Obwohl man ihn später freisprach, bestand wenig Zweifel daran, dass ein aufgeheizter Baer zu den gefährlichsten Kämpfern dieses Sports gehörte. Baer hatte auch Ernie Schaaf 1932 in einem Kampf mit einem seiner Hiebe bewusstlos geschlagen; beim darauf folgenden Kampf Schaafs gegen Primo Carnera starb der Boxer – sein Tod wird in erster Linie den kompromisslosen Prügeln zugeschrieben, die ihm Baer verpasst hatte. 1933 war Baer Protagonist eines der größten Boxmatches aller Zeiten, als er Max Schmeling in der zehnten Runde auf die Bretter schickte. 1934 besiegte er in derselben Nacht, in der Braddock gegen Corn Griffin gewann, Primo Carnera. In elf Runden schlug er ihn elfmal nieder. Trotz der Befürchtungen der Kritiker, dass der Kampf Braddock-Baer alles andere als fair sein würde, und trotz der Ängste seiner Frau Mae, sie könne ihren Mann in einem Boxkampf verlieren, ließ sich Braddock nicht beirren und unterzog sich einem der anstrengendsten Trainingsprogramme, die ein Boxer jemals über sich hatte ergehen lassen. Die Vorbereitung des Matches erhöhte die Spannung zusätzlich. Öffentlich kündigte Max Baer einen unangestrengten Knockout an. Außerdem soll er Braddock einen „Penner“ genannt haben – eine Beleidigung, die Braddock definitiv nicht unbeantwortet lassen konnte. Schließlich fand der Kampf zwischen Jim Braddock und Max Baer am 13. Juni 1935 statt, vor 35.000 boxbegeisterten Zuschauern im Madison Square Garden. Millionen mehr drängten sich vor ihren Radios, um den Kommentar sozusagen Schlag für Schlag mit verfolgen zu können. In den ersten Runden war Baer stark, aber Braddock blieb unbeeindruckt – immer angetrieben von dem Gedanken, für das Überleben seiner Familie Verantwortung zu tragen. Jedes Mal, wenn ein Kämpfer in einer Runde die Initiative übernahm, erwartete die Menge ein vorzeitiges Ende des Kampfes. Und doch kämpfte sich der Gegner jedes Mal wieder zurück. Diese unmöglich vorhersehbare Schlacht, in der es ständig hin und her ging, hielt über unfassbare 15 Runden an. Braddock, besessen von einem unbezwingbaren Willen und mit beachtlicher Ausdauer zuschlagend, hielt alle 15 Runden durch... und gewann den Kampf schließlich nach einstimmiger Schiedsrichterentscheidung. Sofort wurde Braddocks Sieg zum überraschendsten Triumph aller Zeiten erklärt, im Boxen wie im Sport im Allgemeinen. In Bars und Wohnzimmern im gesamten Land feierten einfache Menschen die Meisterschaft von Braddock, als wäre er ein Familienmitglied. Der Kampf schien eine verzweifelte Welt daran zu erinnern, dass die Abgeschriebenen bisweilen nicht nur überleben, sondern auch die Größten der Welt werden können. Es war nur passend, dass der Sportjournalist Damon Runyan Braddock als „Cinderella Man“ bezeichnet hatte, denn seine Vom-Tellerwäscher-zum-MillionärGeschichte war in der Tat vor allem mit einem Märchen zu vergleichen. Braddock machte als Boxer weiter. 1937 verlor er seinen Titel an Joe Louis, der ihn in der achten Runde k.o. schlug. Louis war damals 23 Jahre alt, während Braddock bereits relativ alt war und 32 Lenze zählte. Louis sagte später, dass Braddock einer der mutigsten Boxer war, mit dem er jemals im Ring gestanden habe. Einmal noch setzte sich Braddock gegen alle Widerstände durch, als er 1938 gegen den talentierten Tommy Farr gewann und damit in der Lage war, noch einmal um den Titel kämpfen zu können. Doch soweit kam es nicht: Braddock erklärte seinen Rücktritt. Reportern sagte er, er habe die Entscheidung nicht getroffen, weil er mit dem Boxen fertig wäre, sondern aus Respekt und Fairness gegenüber seiner Frau und seiner Familie. Im Lauf der Jahre blieb Braddock für alle, die seine Geschichte kannten, ein Held. 1964 wurde er in die Hall of Fame des Boxens aufgenommen, 2001 in die International Boxing Hall of Fame. Er diente ehrenamtlich im Zweiten Weltkrieg. Später besaß und bediente er schwere Maschinen auf genau denselben Docks, in denen er während der Depression geschuftet hatte. In den 50er-Jahren half er, Brooklyns berühmte Verrazano Bridge zu errichten, damals die längste Hängebrücke der Welt. 1974 starb er im Alter von 68 Jahren. Quelle: Buena Vista