hier - Autonome Antifa Radeberg

Transcrição

hier - Autonome Antifa Radeberg
Autorengruppe
unter Leitung von Professor Dr. Helfried Wehner
Radeberger Land
unter dem Hakenkreuz
Fakten und Ereignisse aus unserer Stadt
und umliegenden Orten
während des "Dritten Reiches"
Herausgeber: Bund der Antifaschisten, Region Dresden e.V.
Zum Geleit
Mit diesem Buch wird eine Lücke in der Darstellung der Geschichte
unserer Heimatstadt und ihrer Umgebung geschlossen.
Heimatforscher unter der Leitung von Professor Dr. Helfried Wehner
berichten über das dunkelste Kapitel in der Geschichte von Radeberg.
Das ist keine angenehme, aber notwendige Lektüre. In unserer näheren
Heimat vollzog sich die gleiche Tragödie wie im gesamten “Dritten
Reich”.
Die antifaschistischen Kräfte fanden sich trotz vorhandener
Ansätze nicht zum gemeinsamen Handeln. Sie konnten deshalb
der NSDAP den Weg zur Macht nicht versperren und dem eigenen
Volk und den Völkern Europas die Nazibarbarei nicht ersparen.
Die Mehrheit der Deutschen erlag der Demagogie der Hitlerclique,
stützte die Machthaber und wurde zum Mittäter.
Mit der Rückkehr des Krieges nach Deutschland wurden die
Mittäter zu Opfern.
Es ist das Verdienst der Autoren, diese folgenschwere Entwicklung in
unserer Heimat und ihrer näheren Umgebung mit Tatsachen zu belegen, lebendig zu machen, den Blick auch auf diesen Teil unserer
Vergangenheit zu öffnen und zu ehrlicher, sachlicher Diskussion darüber anzuregen.
Sich dieser Diskussion zu stellen, an dieser Diskussion mitzuwirken,
wäre eine wichtige Aufgabe der das Leben in unserer Stadt gestaltenden
Kräfte.
Eine Meinungsbildung darüber ist ein Teil unseres Weges in das nächste Jahrhundert.
Holm Theinert
Vors. des Bundes des Antifaschisten,
Region Dresden e.V.
Gerhard Lemm
Bürgermeister der Stadt Radeberg
Vorwort
Ziel unserer Arbeit war es, die Wahrheit über die NS-Barbarei in unserer Heimatstadt und
im Radeberger Land so konkret wie möglich zu erforschen.
Während unserer Arbeit wurde uns deutlich, daß für die Nachgeborenen viele
Geschehnisse in unserer engeren Heimat nur verständlich sind, wenn wir den Zusammenhang zur Gesamtpolitik der NSDAP herstellen. Deshalb findet der Leser Abschnitte, in
denen das geschieht.
Eine Schwierigkeit behinderte unsere Forschungsarbeit substantiell: Fast alle amtlichen
Dokumente aus der Zeit des "Dritten Reiches" wurden von den damaligen Kommunalbehörden und von den NS-Größen vernichtet. Deshalb mußten wir uns vorwiegend auf
Ausschnitte von damaligen Zeitungen und auf die Darstellungen von Zeitzeugen stützen.
Aus diesem Grund legen wir keine vollständige Geschichte von Radeberg und Umgebung
unter dem Hakenkreuz vor, sondern berichten aus der Geschichte dieser Zeit in dem
Rahmen, den die uns zugänglichen Quellen ermöglichten. Trotz dieser Schwierigkeit bemühen wir uns, das damalige Geschehen mit Quellen zu belegen.
Alle Autoren leisteten die Forschungsarbeit in ihrer Freizeit und konzentrierten sich auf
wesentliche Seiten der NS-Barbarei in unserer Heimat. Andere Aspekte, wie zum Beispiel
die NS-Herrschaft das tägliche Leben der Menschen veränderte, konnten noch nicht detailliert erforscht werden. Wir wären deshalb dankbar, wenn dieses Büchlein den Leser anregt,
sich zu unseren Forschungsergebnissen auch kritisch zu äußern oder sie durch eigene
Erfahrungen, möglicherweise sogar durch Dokumente aus dieser Zeit, zu ergänzen und zu
bereichern.
Es ist uns ein Bedürfnis, allen zu danken, die uns bei unserer Forschungsarbeit begleitet
und bei der Aufbereitung der Forschungsergebnisse unterstützt haben.
In der Verbreitung der schrecklichen Wahrheit über den "gewöhnlichen" Faschismus in
unserer engeren Heimat sehen wir eine wirksame Möglichkeit, neonazistischen und nationalistischen Aktivitäten, welcher Art auch immer, entgegenzuwirken.
Besonders freuen wir uns, daß junge Menschen, Schüler des Humboldt-Gymnasiums in
unserer Stadt, an unsere Seite treten und aus eigener Initiative und in eigener Verantwortung das dunkelste Kapitel unserer Stadt weiter erforschen. Sie verdienen unser aller
Unterstützung.
Die Erforschung der Vergangenheit sind wir den Opfern der "braunen Nacht über
Radeberg", uns selbst und unseren Kindern schuldig.
Verdrängen? Nein
Vergessen? Nie!
Wir hoffen, dieses Büchlein findet viele Leser, führt zum Nachdenken, zu ehrlichem, toleranten Gedankenaustausch und mündet in eine nachdenkliche Diskussion im Radeberger
Land.
Die Autoren
3
Seite
Inhalt
Geleitwort
Vorwort
I. Der Faschismus und seine extremste Erscheinungsform der deutsche Nationalsozialismus
7
Zur Entstehung des Faschismus
7
Das Wiedererstarken der konservativen Kräfte in der Weimarer Republik
und die NS-Bewegung in Radeberg
8
Auch in Radeberg verteidigten Antifaschisten die Weimarer Republik
14
Der Weg der NSDAP an die Macht
19
Radeberg in der Hand der Nationalsozialisten
24
Die Demagogie des NS-Systems
29
Terror gegen alle Andersdenkenden
36
II. Der Terror gegen die Juden
51
Zum Antisemitismus in der NS-Rassenideologie
51
Der NS-Terror gegen die jüdischen Bürger beginnt
52
Die Vertreibung
53
Die NS-Kristallnacht
56
Die Endlösung
56
Bilder gegen das Vergessen
12 grafische Blätter von Martin Lehnert, Radeberg
61
III. NS-Euthanasiemorde auch in unserer Heimat
77
4
IV. Die Verbrechen im "Arbeitserziehungslager" der Sachsenwerk
Licht- und Kraft AG 1944/45 das dunkelste Kapitel der Geschichte Radebergs
83
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in der
Kriegsproduktion
83
Die Errichtung des "Arbeitserziehungslagers" Radeberg
84
Hunger, Schläge, Krankheiten, Morde
90
Massenerschießungen
95
"Das haben wir nicht gewußt und nicht gewollt!"
98
V. Vor dem Kriegsende: NS-Durchhaltepolitik in Wort und Tat Verweigerung und antifaschistischer Widerstand
101
Kampf bis zum Letzten...
101
Mobilisierung von Greisen und Jugendlichen für den Endsieg
104
"Ich habe es für das ganze Dorf getan!"
107
Verweigerung und Widerstand
110
Auch fünf Minuten vor 12 geht das Morden weiter
113
Sich der Verantwortung entziehen
117
Anhang
Die Arbeitsgemeinschaft "Radeberg und Umgebung im
Nationalsozialismus"
123
Auch in Radeberg wurde gemordet
124
Unsere Forschungsarbeit
127
Vorbereitung für die Gedenkveranstaltung
128
Der 29. April 1998 auf dem Radeberger Marktplatz
129
5
Sachsensieger im Wettbewerb um den GOLDENEN FLOH, einen
Förderpreis für praktisches Lernen
131
Eine Ausstellung im Schloß Klippenstein
133
Eine Gedenktafel für Charlotte und Joseph Paulin
133
Pläne für die Zukunft
133
Einflußreiche Parteien und Organisationen
während und nach der Weimarer Republik
134
Quellen- und Literaturangaben
137
Impressum
139
6
I. Der Faschismus und seine extremste Erscheinungsform der deutsche Nationalsozialismus
Zur Entstehung des Faschismus
Die Geschichte des Faschismus in Europa läßt sich bis in die Anfangsjahre unseres
Jahrhunderts zurückverfolgen. Die ideologischen Wurzeln des Faschismus sind in
der Gedankenwelt bürgerlicher Eliten aus Politik, Wirtschaft, Geisteswissenschaften und Klerus zu finden. Sie sahen ihren Anspruch als "Herren im
Hause" infolge der zunehmenden sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft im Ergebnis der Emanzipation der in Gewerkschaften und Parteien
organisierten Arbeiter gefährdet, und sie schätzten ein, sie seien bei der Aufteilung der Weltressourcen schlecht weggekommen.
Zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche nach innen und außen
entwickelten sie die Vorstellung vom "starken Staat", in dem alle Kräfte der
Gesellschaft, unter kapitalistischen Produktions- und Distributionsverhältnissen gebündelt, die schrittweise "Neuordnung" in Europa durchsetzen sollten.
In den entstehenden faschistischen Staaten oder faschistischen Regimen bildete
sich die gleiche Doppelstrategie heraus:
• Unterdrückung und Zerschlagung oppositioneller Kräfte im Inneren
• Aggressive militärische Aktivitäten gegenüber anderen Staaten
zur Aufteilung der Welt in Interessensphären bis hin zur Auslösung
des Zweiten Weltkrieges
Die Bezeichnung Faschismus wurde von Mussolini für seine 1921 in Italien
gegründete Partei gewählt. Das Symbol war das im antiken Rom den Konsulen
vorangetragene Amtszeichen. Es stellte ein mit einem Lederriemen umschnürtes
Rutenbündel dar, mit einem aus dem Bündel herausragenden Beil. Das Bündel
sollte kennzeichnen, daß es im Gegensatz zu einer einzelnen Rute nicht
gebrochen werden kann. Das Beil stand für Wehrhaftigkeit und Gewalt.
Zu den ersten faschistischen Diktaturen in Europa zählen Italien unter Mussolini,
Ungarn unter Admiral Horthy, das Francoregime in Spanien, das Salazar-Regime
in Portugal und das NS-Regime in Deutschland unter Hitler.
Nach ihrer Niederlage in der Novemberrevolution 1918 und dem Ende des Ersten
Weltkrieges mit seinen verheerenden Auswirkungen für das deutsche Volk
(Kriegstote, Hunger, Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen...) orientierte sich
die konservative Elite auf die Wiedererlangung ihres schwer erschütterten
politischen und ökonomischen Machteinflusses.
Der erstmals von den Pastoren Friedrich Naumann und Paul Göhre publizierte
Begriff vom "Deutschnationalen Sozialismus" kann nicht zu den direkten
Vorläufern des Nationalsozialismus gezählt werden. Aus den Reihen dieser
7
christlichen Bewegung sind sowohl Faschisten als auch Antifaschisten
hervorgegangen. Dennoch haben beide Pastoren diesen Begriff und Vorstellungen
dazu in das Denken eingeführt und den rechten Kräften ein grundlegendes
Argumentationsmuster geliefert.
Die 1920 gegründete Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)
verknüpfte alle nationalistischen, chauvinistischen, rassistischen, militaristischen und deutsch- und heimattümelnden Komponenten zur "Nationalsozialistischen Weltanschauung". Mit ihrem demagogischen 25-PunkteProgramm führte sie rechtskonservative Gruppierungen wie den "Alldeutschen
Verband", die "Deutsche Soziale Partei", den "Deutschvölkischen Germanenorden", den "Germanenorden Walvater", die österreichische "Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei" u.a. aus ihrer sektenmäßig beschränkten
Mitgliederzahl zu einer breiteren Basis.
Die NSDAP übernahm Tratitionen der Arbeiterbewegung wie den Begriff
"sozialistisch" im Namen ihrer Partei, die Anrede "Parteigenosse", die Übernahme
von Arbeiterliedern mit NS-Text, den 1. Mai als "Feiertag der Arbeit" u.a. Zugleich
übte die NSDAP verbale Kritik am Kapitalismus durch dessen Differenzierung in
"Schaffendes Kapital" (Produktionsunternehmen) und "raffendes Kapital"
(Banken, Warenhäuser, insbesondere in jüdischem Besitz). Mit dieser Demagogie
erreichte sie deutliche populistische Erfolge.
Die Ideologie des sogenannten Nationalsozialismus ist grob zu charakterisieren
als antidemokratisch, macht- und gewaltanbetend, rassistisch, antisemitisch,
antiliberal, antimarxistisch, diktatorisch, kriegsverherrlichend und proimperialistisch.
Das Wiedererstarken der konservativen Kräfte in der Weimarer Republik
und die NS-Bewegung in Radeberg
Das Potential der NSDAP wuchs auf dem Boden und mit Unterstützung der in der
Weimarer Republik wiedererstarkenden konservativen Kräfte in Staat, Wirtschaft
und Militär, auf dem Boden eines reaktionären, autoritären Rechts- und
Bildungswesens und in hochgradig militarisierten Organisationen, Vereinen und
Verbänden. Bis zum Jahre 1945 galten zum Beispiel die 1873 von einem
preußischen Schulrat festgelegten Grundzüge der Volksschulerziehung: "Die
disziplinarischen Anordnungen dienen dazu, den Schüler zu gewöhnen, seinen
Willen einem höheren und damit dem höchsten Willen unterzuordnen." Die
"Erziehung" der Schüler zu "klostermäßigem Gehorsam" durch Leibesstrafen (u.a.
Stockschläge) entwickelte autoritäre Charaktere und Gewaltakzeptanz von Kind
an. Diese autoritäre Erziehung und die Glorifizierung des Krieges als höchste
Tugend und legitimes Mittel zur "Landnahme" fremder Territorien förderten eine
ständige Gewaltbereitschaft gegen je nach Bedarf projizierte Feindbilder.
Die völkerrechtlich festgestellte Alleinschuld des deutschen Kaiserreiches an der
8
Auslösung des Ersten Weltkrieges, die damit verbundenen Grenzkorrekturen und
völkerrechtlichen Auflagen, die Errichtung einer parlarmentarisch-bürgerlichen
Demokratie mit einer verfassungsgebenden Volksvertretung im Ergebnis der
Novemberrevolution, mit Volksbegehren und Volksentscheid, mit allgemeinem
Wahlrecht sowie die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages u.a. waren für die
monarchistisch-militaristischen Kräfte aus Grundbesitzern, Fabrikinhabern,
Verwaltungen und dem Großkapital Anlaß, mit allen Mitteln auf die Wiederherstellung ihrer Macht und ihres Einflusses hinzuarbeiten.
Wie Industrielle dabei vorgingen, zeigt eine vertrauliche Einladung des Verbandes
Sächsischer Industrieller zu einer Versammlung in den Räumen der Deutschen
Volkspartei:
Beeinflussung der Arbeiterschaft im antimarxistisch und nationalsozialistischem Sinne durch alle
Rechtsparteien.
9
Am 22.6.1922 ermordeten zwei junge Nationalsozialisten den konservativliberalen jüdischen Reichsaußenminister Walter Rathenau. Kurz danach hob die
Polizei im Richter´schen Sägewerk in Radeberg ein Waffenlager nationalistischer
Kräfte aus.
Darüber berichtete die Radeberger Zeitung am 1.7.1922:
Ermittlung eines
geheimen Waffenlagers.
Trotz des vom Reichspräsidenten erlassenen "Republikschutzgesetzes" vom
18.7.1922, des zeitweiligen Verbotes des "Stahlhelmes", des "Alldeutschen
Verbandes" und anderer republikfeindlicher Organisationen wucherten diese
weiter.
10
Wie auch in Radeberg konservative Kräfte der Grundbesitzer, Fabrikanten und
ehemalige Offiziere der NSDAP den Weg ebneten, zeigte sich bereits 1925: Nach
Wiederzulassung des "Stahlhelmes" marschierten anläßlich einer Fahnenweihe
700 feldgrau uniformierte, mit Stahlspitzenstöcken ausgerüstete "Stahlhelmer"
durch das Stadtzentrum zur ev.-luth. Stadtkirche. Die Radeberger Zeitung
berichtete darüber u.a.:
"Ernst und wuchtig marschierten die Stahlhelmmänner unter Glockengeläut zum
Gotteshaus auf ihre Plätze, ein Wald von Fahnen entstand im Altarraum... Die
Fahne Schwarz-Weiß-Rot sei das Panier. Die Reichsmarineflagge sei gehißt aus
Zorn, Trotz und Wut, weil diese Flagge zuerst in den Staub gerissen wurde...
'Unser Kampf gilt bis aufs Messer allem, was undeutsch und international ist',
führte u.a. ein Major a. D. namens Ritter als Hauptredner aus.
Dann nahm Herr Freigutbesitzer Maschke (Lotzdorf) das Wort und überreichte
ihm ein namhaftes Geldgeschenk mit herzlichen Glückwünschen."
Auch ein Radeberger Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei zeigt, wie
groß deren Übereinstimmung mit den Zielen der NSDAP war:
Wahlplakat
Duesterberg (Stahlhelm)
11
Etwa bis zum Jahre 1933 blieb der Einfluß der Radeberger Verbände des
Stahlhelmes und des Kyffhäuserbundes relativ konstant. Das zeigen die Ergebnisse der diese Verbände ideologisch und organisatorisch tragenden Parteien, der
Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), bei
den Radeberger Kommunalwahlen. Doch der antisemitische, antimarxistische
und chauvinistische Einfluß dieser militanten Wehrverbände auf Schützen- und
Sportvereine, Religionsgemeinschaften und die Öffentlichkeit der Stadt war nicht
zu übersehen. Er hatte das Ziel, die bürgerlich-liberale Weimarer Republik
verächtlich zu machen, ihre Ordnung zu untergraben und sie schließlich zu
stürzen.
Rückblickend auf die "Kampfzeit", wiederum anläßlich einer Fahnenweihe diesmal war das Radeberger Schützenhaus schon mit Hakenkreuzfahnen und
Wimpeln dekoriert - würdigte der Oberleutnant und Bezirksführer des Stahlhelmes, der langjährige Herausgeber der Radeberger Zeitung, Willi Hordler, in
seiner Ansprache den Einsatz seiner Kameraden:
"Der Aufstand undeutscher Elemente im November 1918, feiger Pazifismus,
wollte die Erinnerung an die großen Taten von Heer und Marine austilgen. Im
Staate von Weimar hatten diese keinen Platz mehr. Die Ideen, die krankhaft oder
schwächlich waren, sind vergangen. Wir geloben unverbrüchliche Treue und
Gefolgschaft dem Volkskanzler und Kameraden Adolf Hitler... und unseren
geweihten Fahnen. So ist der Bund ein Wegbereiter gewesen für die große
Entwicklung des Vaterlandes..."
Weiter war in der Zeitung zu lesen: "Das niederländische Dankgebet mit seinem
starken Appell an den Höchsten 'Herr, mach uns frei!' klang auf und fand einen
erhebenden Widerhall im Saale. Dabei grüßte es eindringlich 'Mit Gott für Volk
und Vaterland' von der mit Hakenkreuzbanner, Schwarz-Weiß-Roten Draperien
und umkränzten Bildnissen des greisen Reichspräsidenten und des genialen
Führers der deutschen Geschichte von der Bühne herab."
Schon vor der "Machtergreifung" der NSDAP, aber auch danach, unterstützten
einige Repräsentanten der ev.-luth. Kirche in Radeberg und Umgebung die
NSDAP. So berichtete die Radeberger Zeitung am 9.1.1933 und am 31.1.1934
(Ausschnitte der Berichte auf Seite 13):
12
Montag, den 9. Januar 1933
Mittwoch, den 31. Januar 1934
13
Auch in Radeberg verteidigten Antifaschisten die Weimarer Republik
Der im Zuge der Novemberrevolution in Radeberg gewählte Arbeiter- und
Soldatenrat setzte den bürgerlich-konservativen und kaisertreuen Stadtrat, der
bis dahin mit Hilfe des völlig undemokratischen Drei-Steuerklassen-Wahlrechtes
die Stadt regiert hatte, außer Kraft. Bei den Wahlen zur Gründung der
verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung im Jahr 1919, auf die die
Ausrufung der Deutschen Republik folgte, errangen die Kandidaten der Linken
die Mehrheit im Radeberger Stadtrat und behielten sie bis zur "Machtergreifung"
der NSDAP. Das entsprach der sozialen Struktur der Industriestadt Radeberg.
Zentren der politisch organisierten Arbeiterschaft befanden sich im Wahlbezirk 5,
"Gasthof Klengel"; im Wahlbezirk 6, Pillnitzer Straße; "Deutsches Haus", Bahnhofstraße und in den Wahlbezirken der Beschäftigten der 1929 zusammengebrochenen Glasindustrie Hirsch, Bedrich & Co.
Der politische Einfluß der am 10.6.1924 gegründeten Radeberger Ortsgruppe der
NSDAP blieb längere Zeit gering. Er beschränkte sich auf einige Dutzend
Mitglieder, konnte jedoch in den ländlichen Gemeinden, besonders unter der
Bauernschaft, aufgewogen werden. Den Bauern versprach die Hitlerpartei die
Entschuldung ihrer Höfe und die Schaffung tausender Erbbauernhöfe zur
Neubildung deutschen Bauerntums. So entstanden unter Mitwirkung der
Radeberger NSDAP in rascher Folge Ortsgruppen in Großerkmannsdorf, Langebrück, Arnsdorf, Ottendorf-Okrilla, Lausa, Pulsnitz und Kamenz.
1920 hatten Linksparteien und Gewerkschaften durch ihr entschlossenes
Handeln den Kapp-Putsch abgewehrt und die Weimarer Republik verteidigt. Am
6.7.1922 berichtete die Radeberger Zeitung (siehe Faksimile Seite 15).
Ein Jahr später löste die Entscheidung der Reichsregierung, den Einmarsch der
Reichswehr in Sachsen und Thüringen und die Absetzung der sozialdemokratisch-kommunistisch geführten Staatsregierung des Freistaates Sachsen
unter Ministerpräsident Zeigner anzuordnen, bei Linken, Demokraten und
Gewerkschaftern tiefe Empörung aus.
Die Verhaftungswelle der Reichswehr gegen Kommunisten in Radeberg, und ihr
rücksichtsloser Schußwaffengebrauch gegen die Arbeiterdemonstration in
Freiberg (29 Demonstranten wurden erschossen) waren ernüchternde Erlebnisse
für viele Sozialisten im Hinblick auf das Wiedererstarken erzkonservativer Kräfte
in der Weimarer Republik.
Treffend charakterisierte Herbert Wehner, langjähriger Vorsitzender der Fraktion
der SPD im Deutschen Bundestag, rückblickend diese Situation:
"Durch den Einmarsch der Reichswehr wurde damals alles ge- und zerstört. Im
Frühjahr 1924 lernten wir dann zum ersten Mal Faschismus kennen. Aus Anlaß
des Geburtstages von Bismarck marschierten die ‘vaterländischen Verbände’ auf,
die alles andere als vaterländisch waren, zum Beispiel die Brigade Erhardt, die
SA, NSDAP, der Stahlhelm u.a. Damals haben wir als Jugendgruppe
(Sozialistische Arbeiterjugend) gegen die Kolonnen demonstriert und protestiert.
14
Wir wurden zusammengeschlagen und haben uns wieder aufgerafft."
Wehners folgender Austritt aus der Sozialistischen Arbeiterjugend und sein
Übergang zu einer anarchistischen Jugendgruppe sowie seine folgende
Mitgliedschaft in der KPD (1927) waren Ausdruck der tiefen Enttäuschung des
21jährigen. Er war auch ein Beispiel für die Wählerwanderung von der SPD,
SAP und USPD zur KPD.
Die Übergriffe von Reichswehr, Polizei und militanten Krieger- und Schützenvereinen, royalistischen Ex-Soldatenorganisationen und der NSDAP gegen
Kundgebungen und Demonstrationen der Arbeiterparteien und Gewerkschaften
15
führten zur Bildung von unbewaffneten Schutzorganisationen der Linken, auch
in Radeberg.
Als einer der ersten trat im Freistaat Sachsen der "Proletarische Selbstschutz" in
Erscheinung. Partei- und gewerkschaftsübergreifend versuchte er, die Versammlungsfreiheit bei Versammlungen und Demonstrationen sicherzustellen.
Kurz darauf folgte die Gründung der Schutzorganisation der SPD, "Reichsbanner
Schwarz-Rot-Gold", der Schutzorganisation der KPD "Rotfrontkämpferbund" und
mehrerer Unterorganisationen wie "Arbeitersamariter" und "Rote Hilfe". Wenn
auch die politischen Zielvorstellungen und die praktischen Wege auseinander
gingen, gab es doch eine übereinstimmende Grundhaltung. Sie bestand in der
Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik (Antimilitarismus, aktiver
Pazifismus) und in der politischen Bekämpfung des Nationalsozialismus und
seiner "vaterländischen" Gehilfen.
Diese Grundhaltung wurde auch von Vereinen getragen, die die Emanzipation der
Arbeiterbewegung unterstützten, wie dem Freidenkerverband mit seiner
Jugendweihe (1922), der Naturfreundebewegung, den Arbeitersportvereinen u.a.
Die Aufführung des Antikriegsfilmes "Im Westen nichts Neues" im Radeberger
Kino mußte wegen des enormen Besucherandranges mehrfach verlängert
werden.
Trotz der ständigen Arbeitslosigkeit von 2500 bis 3000 Personen im Arbeitsamtsbezirk Radeberg von 1922 bis 1933 und trotz einer anhaltenden
Wohnungsmisere gelang weder den Vaterlandsparteien und schon gar nicht der
NSDAP ein nennenswerter Einbruch in die antifaschistische Grundhaltung der
Mehrheit der Radeberger Bevölkerung. Die entschlossene antifaschistische
Haltung wurde auch im Jahr 1931 deutlich. Eine von der NSDAP im Radeberger
"Schützenhaus" durchgeführte Großveranstaltung mit vielen Teilnehmern aus
ganz Sachsen führte am 24.1.1931 zu einer tausendköpfigen Gegendemonstration der Radeberger, die gemeinsam von den Gewerkschaften und
linken Parteien getragen wurde.
In den dabei von SA-Leuten begonnenen tätlichen Auseinandersetzungen
wurden vier Betriebsräte aus Radeberger Großbetrieben verletzt und mußten in
das Stadtkrankenhaus eingeliefert werden. Der tags darauf von den
Gewerkschaften ausgerufene und von linken Parteien unterstützte dreistündige
Generalstreik, an dem sich 12 Groß- und Mittelbetriebe beteiligten, war einer der
ersten politisch motivierten Generalstreiks in der Weimarer Republik. 4000
Radeberger unterstützen ihn mit einer Demonstration gegen die Hitlerpartei auf
dem Marktplatz.
Folgerichtig konstituierte sich kurze Zeit später in Radeberg ein gewerkschaftsund parteiübergreifendes Abwehrkartell gegen den Faschismus.
Die erzkonservativen Kräfte in Radeberg aus dem Stahlhelm, der Deutschen
Volkspartei und der Deutschnationalen Partei schlossen sich zu der "Bürgerlichen
Einheitsliste" zusammen und führten den Wahlkampf für die Reichstagswahl am
6.11.1932 gemeinsam mit der Radeberger NSDAP unter Oberlehrer Möckel.
16
w
Diese Zusammenarbeit zeigt auch eine Großanzeige der "Bürgerlichen
Einheitsliste" (Liste 2) und der NSDAP (Liste 4) in der Radeberger Zeitung
vom 16.11.1932:
17
Die enge Verflechtung hatte keinen wesentlichen Einfluß auf die antifaschistische
Einstellung der Mehrzahl der Radeberger. Am 18.11.1932 teilte die Radeberger
Zeitung ihren Lesern auf der Titelseite folgendes Wahlergebnis mit:
18
Der Weg der NSDAP an die Macht
Die Weltwirtschaftskrise erschütterte die letzten Jahre der Weimarer Republik
schwer. In dieser Zeit kommt es zu immer stärkerer politischer Radikalisierung.
Begünstigt durch die Schwierigkeiten, auf demokratische Weise Mehrheiten zu
bilden, verlagern sich die politischen Gewichte zunehmend von den Parteien und
dem Parlament zum Reichspräsidenten und seinen konservativen Beratern. Die
so entstehende politische Krise führt zu einem schnellen Anwachsen der rechten
Kräfte. Im Oktober 1931 verbünden sich Hitlers NSDAP, die Deutschnationale
Volkspartei und der Stahlhelm in der "Harzburger Front" zum Kampf gegen die
Regierung Brüning und die Republik.
Am 5. Oktober 1931 findet zwischen Vertretern des deutschen Monopolkapitals
und dem Reichspräsidenten von Hindenburg eine Unterredung über die
Umbildung der Regierung Brüning statt. Die Regierungsumbildung erfolgt vom
7. bis 9. Oktober 1931 und ist darauf gerichtet, die demokratische Staatsform zu
beseitigen.
Am 10. Oktober 1931 empfängt Reichspräsident von Hindenburg erstmalig Hitler
und Göring, um sich persönlich über die Ziele der NSDAP zu informieren.
1932 entläßt Reichspräsident von Hindenburg die Regierung Brüning. In der
Folge wird das Verbot der SA aufgehoben, der Reichstag aufgelöst und die von der
SPD geführte preußische Landesregierung abgesetzt.
Nun fordert Hitler kompromißlos die gesamte politische Macht in Deutschland.
Am 12. und 13. August 1932 verhandeln von Hindenburg, von Papen und
Schleicher, um Hitler für den Posten des Vizekanzlers zu gewinnen, doch Hitler
fordert den Posten des Reichskanzlers. Das wird ihm nicht zugebilligt. Darauf
lehnt die NSDAP ab, die inzwischen vom Reichspräsidenten berufene Regierung
von Papen zu tolerieren. Der Reichspräsident löst den Reichstag auf, und am
6. November 1932 finden Reichstagswahlen statt.
Ergebnisse:
NSDAP
Sozialdemokratische Partei
Kommunistische Partei
Zentrumspartei
Deutschnationale Volkspartei
Bayrische Volkspartei
11,7
7,2
6,0
4,2
3,0
1,1
Mio.
Mio.
Mio.
Mio.
Mio.
Mio.
Stimmen
Stimmen
Stimmen
Stimmen
Stimmen
Stimmen
196 Sitze
121 Sitze
100 Sitze
70 Sitze
52 Sitze
20 Sitze
Am 18. November 1932 erklärt Hitler dem Reichspräsidenten, seine Partei sei der
einzige "Damm gegen den Kommunismus" und fordert für die NSDAP die
Regierung und unbeschränkte Vollmachten. Am 24. November verweigert ihm
von Hindenburg das noch.
Am 4. Januar 1933 treffen sich im Hause des Bankiers Schröder in Köln von Papen
19
und Hitler. Es kommt zu der Übereinkunft, daß Hitler demnächst die Macht
übernehmen und eine Regierung bilden soll, die im Gegenzug die Forderung der
Wirtschaft und der Großbanken erfüllt. Damit wird der Weg zur offenen
faschistischen Diktatur frei. Um dieses Ziel schnell zu erreichen, lehnen NSDAP
und DNVP unter Hugenberg die Unterstützung der bestehenden Regierung
Schleicher ab.
Am 22. Januar 1933 findet im Hause von Ribbentrop eine Unterredung Hitlers mit
von Hindenburg, von Papen und Staatssekretär Otto Meißner mit dem Ergebnis
statt, Hitler in den nächsten Tagen zum Reichskanzler zu ernennen. Inzwischen
werden alle Aktivitäten des Reichskanzlers Schleicher abgelehnt, so daß er mit
seiner Regierung am 28. Januar 1933 zurücktritt. Am 30. Januar 1933 ernennt
Reichspräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler, der die
“Machtergreifung“ der NSDAP proklamiert.
Bereits am 1. Februar 1933 fand in Radeberg ein Fackelzug zu Ehren des
Reichskanzlers Adolf Hitler statt. Die Radeberger Zeitung berichtete:
Wie groß der Widerstand unter der Radeberger Bevölkerung gegen die NSDAP und
der Wille zur antifaschistischen Einheitsfront war, ist einem Bericht der
Radeberger Zeitung vom gleichen Tage zu entnehmen:
20
In Ottendorf-Okrilla bemerkten antifaschistische Bürger am 25.2.1933 auf dem
Schornstein der stillgelegten Glashütte Brockwitz eine Hakenkreuzfahne. Sie
beschlossen, diese Fahne zu entfernen. Der Ottendorfer Arbeiter Kurt Schwade
vollbrachte diese Tat. Kurz darauf wehte auf dem Schornstein der damaligen
Firma Scheffel eine rote Fahne. Unerkannt hatte der Schornsteinfeger Hermann
im Auftrage von Sozialdemokraten, Kommunisten und parteilosen Antifaschisten dieses Zeichen des Widerstandes gesetzt.
Mit der Machtergreifung begann die NSDAP, von konservativen Kräften
unterstützt, ihre Diktatur zu errichten. SA und Stahlhelmleute wurden als
Hilfspolizei eingesetzt.
Am 27. 2. 1933 wurde das Gebäude des Deutschen Reichstages in Brand gesetzt.
Die Hitlerregierung verkündete, der Reichstagsbrand sei das Werk der
Kommunisten und das Signal für eine Verschwörung gegen das deutsche Volk. Sie
benutzte dieses Verbrechen als Vorwand, eine Verordnung zum "Schutze von Volk
und Staat" zu erlassen und damit der Hitlerregierung fast uneingeschränkte
Machtbefugnisse einzuräumen. Reichspräsident von Hindenburg unterschrieb.
Damit waren entscheidende verfassungsmäßige Rechte außer Kraft und der
Terror gegen alle Andersdenkenden "legalisiert". Die ersten Opfer wurden
innerhalb von 24 Stunden mehr als 10.000 Arbeiterfunktionäre, die meisten
davon Kommunisten. Sie wurden verhaftet und in Internierungslager
verschleppt.
Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reiches werden
bis auf weiteres außer Kraft gesetzt - das bedeutet die Liquidierung aller Grundrechte.
21
Das entscheidende Ziel war, massiven Druck auf die Wähler auszuüben, damit sie
bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 der NSDAP ihre Stimme geben und so die
Gewaltherrschaft dieser Partei scheindemokratisch bemänteln sollten. Dem
diente auch das Verbot der Zeitungen von SPD und KPD. Dazu ließ der Berliner
Polizeipräsident ein Flugblatt verbreiten:
22
Die Radeberger Zeitung veröffentlichte das Ergebnis der Reichstagswahlen vom
5. März 1933:
In Radeberg gaben 3 903 Bürger der NSDAP ihre Stimme. Das waren rund 36 % der
Wähler. Bis auf zwei Gemeinden erreichte die NSDAP nicht die gewünschte
absolute Mehrheit. In Radeberg, Ottendorf-Okrilla, Hermsdorf, Leppersdorf und
Lomnitz erzielten SPD und KPD einen höheren Anteil der Wählerstimmen als die
NSDAP.
23
Radeberg in der Hand der Nationalsozialisten
Nachdem sie mit der Reichstagswahl am 5.3.1933 ihr Ziel nicht erreicht hatten,
setzte die NSDAP alle Mittel ein, um ihre Machtpositionen zu stärken. Sie sah das
größte Hindernis in den linken Parteien, den Gewerkschaftsverbänden und
anderen demokratischen Kräften, besonders auch deren Abgeordneten in den
Stadt- und Gemeindeparlamenten. Beim Ausbau ihrer Herrschaft in allen
staatlichen Ebenen traten die neuen Machthaber Recht und Gesetz mit Füßen.
Am 7. März 1933, zwei Tage nach den Reichstagswahlen, findet auf dem
Marktplatz von Radeberg eine große Kundgebung der NSDAP statt. SS und Polizei
sperren ab. Am Rathaus werden die Hakenkreuzfahne und die deutsch-nationale
Fahne Schwarz-Weiß-Rot gehißt. NSDAP-Ortsgruppenleiter Erich Möckel klagt in
einer Rede an, daß er lange Jahre "unter dem Marxismus geseufzt hat". Sieg-HeilRufe der SA hallen über den Marktplatz.
Von dieser Kundgebung veröffentlichte die Radeberger Zeitung am 8. März ein
Foto:
Bereits zwei Tage nach der Reichstagswahl vom 5. 3. 1933 besetzten gegen 17.30 Uhr SS, SA,
Stahlhelm und Polizei das Radeberger Rathaus und hißten die oben genannten Fahnen unter
Mißachtung des noch gültigen offiziellen Flaggengesetzes. Im Vordergrund der aufmarschierte
“Stahlhelm” mit dem Kommandierenden Teichert, rechts (kaum erkennbar) die SA-Formation. Die “II.
Revolution” des NSDAP-Ortsgruppenführers E. Möckel nahm ihren erfolgreichen Verlauf.
24
Eine zweite Kundgebung am 9. März 1933 versetzte dem demokratisch
gewählten Stadtrat und der Stadtverwaltung den Todesstoß. Darüber berichtete
die Radeberger Zeitung am 10.3.1933 ausführlich:
Fritz Weitzmann und weitere Radeberger
Antifaschisten wurden von den Nazis
gezwungen, die Wahlaufrufe der Arbeiterparteien zu den Reichstagswahlen
März 1933 von den Wänden abzuwaschen.
(Foto aus dem Nachlaß
von Fritz Weitzmann)
25
Der Terror ging weiter. Bereits am 4. März 1933 hatte die SA den Radeberger
Stadtverordneten der KPD eine "Sonderbehandlung" zuteil werden lassen.
Am 17. März 1933 holte die neue NS-Stadtverwaltung die Stadtverordneten der
SPD in das Rathaus zur "Vernehmung". Danach mußten sie zusammen mit
anderen Antifaschisten unter Aufsicht von SA-Leuten die Wahlplakate der
Arbeiterparteien für die Reichstagswahlen von den Wänden abwaschen.
Am gleichen Tag beschloß der "gesäuberte" Stadtrat, daß Marxisten nicht mehr in
leitenden Stellen beschäftigt werden dürfen. Dieser Beschluß wurde mit einer
Gegenstimme gefaßt.
Zum weiteren Ausbau der Diktatur legte Hitler ein Ermächtigungsgesetz vor, das
am 24.3.1933 das Parlament mit Zweidrittelmehrheit passierte. Es schaltete den
Reichstag und seine Kontrollorgane faktisch aus.
Nun folgten die Proklamation des "Einheitsstaates" und die "Gleichschaltung".
Damit wurden alle Parteien außer der NSDAP verboten, die Gewerkschaften und
die Länder entmachtet und der Reichsrat aufgehoben.
Am 30.3.1933 fand die letzte Sitzung der Radeberger Stadtverordneten statt, zu
der noch Abgeordnete der SPD zugelassen waren. Dazu schrieb die Radeberger
Zeitung:
26
"Am früher gewohnten Platze hing wieder das Gemälde König Georgs, ihm
gegenüber die Fahne Schwarz-Weiß-Rot, die Hakenkreuzfahne und die GrünWeiße Fahne Sachsens. Die Plätze der Kommunisten waren leer, da diese nicht
eingeladen waren. Von den Sozialdemokraten waren nur vier anwesend, da
einige sich bereits in Schutzhaft befanden. Der NSDAP-Ortsgruppenführer und
vorläufige Bürgermeister, Parteigenosse Möckel, stimmte ein kräftiges 'Sieg Heil'
auf Hindenburg und den Führer an, wobei sich die Abgeordneten von den Plätzen
erhoben, außer den vier Sozialdemokraten. Sie beteiligten sich auch nicht an der
Wahl des Präsidiums. Stadtverordneter Weitzmann (SPD) gab dazu eine
entsprechende Erklärung ab."
Einen Tag später erließ die Hitlerregierung das Länder- und GemeindeGleichschaltungsgesetz. Damit war auch in Radeberg der Weg zu einem
unglaublichen Wahlbetrug freigemacht.
Darüber informiert die Radeberger Zeitung:
27
Über die so an die Macht geschobenen Radeberger Stadtverordneten der NSDAP
und der Konservativen ("Gemeinsamer Wahlvorschlag") informierte die
Radeberger Zeitung:
Auch in allen Dörfern des Radeberger Landes wurden die Gemeindeparlamente
"gleichgeschaltet". Die von der Bevölkerung gewählten Abgeordneten von SPD
und KPD wurden aus den Gemeinderäten entfernt und ihre Mandate von
Vertretern der NSDAP besetzt.
Nun war die NSDAP in der Lage, ihre Diktatur ohne große Gegenwehr auszuüben.
Einen Höhepunkt der "Nationalsozialistischen Machtergreifung" und der
"Gleichschaltung" in Radeberg bildete die Stadtverordnetenversammlung am
15. Mai 1933 mit der Wahl des NS-Bürgermeisters Dr. Rasch.
28
Der Berichterstatter der Radeberger Zeitung schrieb:
"Der mit dem Wahrzeichen der nationalen Bewegung geschmückte Sitzungssaal
zeigt das Bild der Gleichschaltung, das braune Hemd beherrscht den Saal. Der bis
dahin kommissarische Bürgermeister, Gewerbeoberlehrer Möckel, seit 1929
Ortsgruppenleiter der NSDAP, gab die richtungweisende Orientierung. Er lobte die
Ausschaltung der staatsfeindlichen Elemente."
Der Historiker Guido Knopp verweist in seiner Studie "Hitler, eine Bilanz" auf
Hubertus von Löwenstein. Anläßlich der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler
warnte er seine sozialdemokratischen Freunde: "Kameraden, habt ihr begriffen,
daß heute der 2. Weltkrieg begonnen hat?"
Der Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann, hatte diese tödliche Gefahr mit den
Worten gekennzeichnet: "Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt,
wählt den Krieg!"
Beide sollten recht behalten.
Die Demagogie des NS-Systems
Um die Menschen zu gewinnen, nutzte die NS-Propaganda besonders die Sorgen
aus, die viele Leute bewegten:
• Angst vor der Arbeitslosigkeit war eine depressive Grundstimmung,
damit verbunden:
• Angst vor gesellschaftlicher Deklassierung
Gezielt und erfolgreich geschürt wurden:
• Angst vor dem Bolschewismus,
• Angst vor und Haß gegenüber den Juden,
• Angst vor Überfremdung
Die Propaganda der Nazis verkündete, nur einer könne der Bevölkerung diese
Ängste nehmen: Adolf Hitler mit seiner NSDAP.
Und Hitler ließ an seinem Willen zur alleinigen Macht keinen Zweifel:
"Nunmehr haben wir die Macht in der Hand, und ich als Kommissar des Reiches
bin in meiner Person der Ausdruck hierfür. Deshalb befehle ich und kein anderer.
Meine Befehle allein sind maßgebend, und ich allein trage die Verantwortung für
das, was geschieht."
29
Die Begeisterung bei NS-Propagandaveranstaltungen riß Zögernde mit. Um diese
Stimmung auszubauen, ergriff die NSDAP weitere Maßnahmen:
1. Der 1. Mai wurde zum gesetzlichen "Tag der nationalen Arbeit" erklärt. Mit der
Schaffung der Deutschen Arbeitsfront anstelle der verbotenen
Gewerkschaften sollten die Arbeiter an sozialen Forderungen gehindert und
auf das "Führerprinzip" auch in den Betrieben eingeschworen werden. Fortan
gab es einen "Betriebsführer" und eine "Gefolgschaft".
Der Beauftragte der "Deutschen Arbeitsfront", Felber, sagte in der
Gruppenstammversammlung 1/151 in Radeberg im Juli 1934:
"Wir haben für das deutsche Arbeitertum eine Organisation geschaffen, die
nicht nur Organisation ist, sondern ein ehernes Fundament unseres Staates...
Es ist unbestreitbar, daß die nationalsozialistische Revolution den Schutt der
deutschen Arbeiterklasse weggeräumt und den edlen Kern freigelegt hat, daß
es heute kaum einen willigeren und unbedingteren Staatsbejaher gibt, als
den deutschen Arbeiter."
In diesem Sinne organisierten NSDAP und Arbeitsfront in Radeberg die Feiern
zum 1. Mai. In Großveranstaltungen wurden die Leistungen und die
Gefolgschaftstreue des "Arbeitsvolkes" hervorgehoben.
Darüber berichtete die Radeberger Zeitung:
"Bereits in der 8. Stunde des 1. Mai versammelten sich auf der Pulsnitzer
Straße "Arbeitsmenschen", die Belegschaften der Betriebe, Beamte, Lehrer,
Gewerbetreibende, auch die arbeitslosen Volksgenossen usw. zum Marsch der
8500 durch die Stadt. Schließlich hatten sich im "Horst-Wessel-Stadion"
Zehntausend vereinigt.”
2. Mit riesigem propagandistischen Aufwand inszenierte die NS-Regierung
ihren demagogischen "Kampf um Arbeit und Brot".
Am 1. Mai 1933 verkündete sie das Reichsautobahnprogramm, und an vielen
Stellen in Deutschland wurden Bauprojekte begonnen:
Brennpunkte
der deutschen Arbeitsschlacht.
Die wichtigsten Stellen,
an denen das Arbeitsprogramm
in Angriff genommen wird.
30
Mit der Einführung eines halbjährigen "Reichsarbeitsdienstes" wurden alle
"wehrfähigen" jungen Männer an diesen Objekten zur Arbeit eingesetzt,
anfangs freiwillig, später als "Reichsarbeitsdienstpflicht". Dort wurden sie
gleichzeitig halbmilitärisch ausgebildet. Sie arbeiteten faktisch ohne Lohn. Ihr
Sold betrug 25 Reichspfennige pro Tag.
Zur gleichen Zeit betrieb die NS-Regierung - anfangs geheim - eine enorme
Aufrüstung, gekoppelt mit der Forderung, das "Schanddiktat" des Versailler
Friedensvertrages zu annullieren. Die Aufrüstung brachte viele neue
Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie und beim Bau militärischer Anlagen.
Die Autobahnen gehörten ebenso zur Aufrüstung wie das "Volkswagenwerk".
Als die ersten Volkswagen produziert wurden, rollten sie auf Hitlers
Autobahnen für seine Annexionen.
Mit Hilfe dieser Maßnahmen konnte Hitler bereits 1936 eine annähernde
Vollbeschäftigung verkünden.
3. Am 29. September 1933 wurde das "Reichserbhofgesetz" verkündet: "Landund forstwirtschaftlicher Besitz in der Größe von mindestens einer
Ackernahrung und von höchstens 125 Hektar ist ein Erbhof, wenn er einer
bauernfähigen Person gehört".
4. Weiterhin förderte der Staat den Eigenheimbau. Das Angebot an Konsumgütern wurde auch für Ärmere erschwinglich. Das Urlauberprogramm "Kraft
durch Freude" sollte den Menschen ein Gefühl sozialer Sicherheit vermitteln.
5. Die Deutsche Arbeitsfront lockte mit Bildungsangeboten und Sport und lenkte
auch die Freizeit in die Zielrichtung der NSDAP. Mit einem weitgehend
sorgenfreien Leben und einer auf das Heute gerichteten Sicht wurde die Masse
der Bevölkerung zufriedengestellt.
6. Ungezügelt propagierte die NSDAP ihre pseudowissenschaftlich verbrämte
Rassentheorie. Sie redete den Menschen ein, die blauäugige, blonde
"Nordische Rasse" verkörpere das Idealbild der Deutschen. Deshalb sei das
deutsche Volk "von der Vorsehung ausersehen", über alle anderen Völker zu
herrschen. Minderwertige Rassen, zu allererst die Juden, seien "nicht
lebenswert".
7. Alle deutschen Rundfunkstationen wurden zum Reichsrundfunk vereint.
Propagandaminister Goebbels baute den Reichsrundfunk neben Presse und
Film zu einem entscheidenden Instrument der NS-Propaganda aus. Diesem
Ziel diente auch die millionenfache Produktion des "Volksempfängers", eines
Kleinradios, das wegen seines niedrigen Preises zwischen 30 und 70
Reichsmark in den meisten deutschen Haushalten angeschafft wurde.
31
Antifaschisten gaben diesem Radio die drastische aber treffende Bezeichnung
"Goebbelsschnauze".
8. Parallel zu der gigantischen militärischen Aufrüstung schürte die NSDAP mit
allen Mitteln unter der Bevölkerung nationalistische und chauvinistische
Stimmungen, verherrlichte den Krieg und erhob unter der Losung vom
"Großdeutschen Reich" Gebietsansprüche an die Nachbarstaaten.
Diese systematische Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges wurde mit
heuchlerischen Friedensbeteuerungen getarnt. So gab die NSDAP ihrem
letzten Parteitag im August 1939, einen Monat vor dem Überfall auf Polen, mit
dem sie den Zweiten Weltkrieg begann, den Namen "Parteitag des Friedens.”
9. Die NSDAP unternahm alles, um die Erinnerung an die Weimarer Republik zu
diffamieren und aus dem Bewußtsein der Menschen zu verdrängen. So
wurden in Radeberg und allen umliegenden Gemeinden Straßen und Plätze
nach NS-Größen umbenannt.
In Radeberg gab es einen besonderen Höhepunkt dieser Kampagne: Von 1926
bis 1928 hatten sich die Arbeitersportler des Turn- und Sportvereins
"Vorwärts" trotz Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit aus eigenen
Mitteln und in freiwilliger Arbeit ihr Stadion erbaut. Sie gaben ihm den Namen
"Vorwärts-Stadion". Unmittelbar nach der Machtergreifung gab die NSDAP
diesem Stadion den Namen des SA-"Helden" Horst Wessel, der angeblich ein
Opfer der Kommunisten war. In Wahrheit wurde er bei persönlichen
Streitigkeiten erschossen, vom NS-Propagandaminister Goebbels jedoch zu
einem deutschen Nationalhelden hochstilisiert. Das Horst-Wessel-Lied wurde
neben dem Deutschlandlied die Hymne der NSDAP.
Gedenktafel
im “Vorwärtsstadion”
in Radeberg,
Schillerstraße
32
Auch dem ASB wurde seine volksverbundene Tätigkeit untersagt
Zu den verbotenen Organisationen gehörte auch der Arbeiter-Samariter-Bund,
der in Radeberg von 1921 bis 1933 eine mitgliederstarke Ortsgruppe besaß.
Seit ihrer Gründung gehörte ihr als betreuender und beratender Arzt Dr. med.
Albert Dietze an. “Er war eine Freund der Alten und der Armen”, so
charakterisierte der langjährige Ortschronist Rudolf Thomas den “Verdienten
Arzt des Volkes” und Ehrenbürger der Stadt Radeberg.
Dr. Dietze verstarb im Alter von 94 Jahren. Ein Teil der Pirnaer Straße erhielt
seinen Namen.
Dr. med. Albert Dietze
33
VOLKSHEIM LOMNITZ Von den Werktätigen erbaut und finanziert;
von den Nazis geschändet
Mehr als 120 Arbeiter, Sportler, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen und
einzelne Bauern beteiligten sich an den Arbeitseinsätzen. Viele fleißige Hände, die
tagsüber für den Kapitalisten schaffen mußten, hatten nach Feierabend und an
Wochenenden keine Ruhe, denn ihre Turnhalle sollte recht schnell fertig werden.
Die Bausumme entsprach damals ohne Arbeitsleistungen etwa 80.000 Mark. Die
Arbeiter verfügten aber weder über Bauland noch über finanzielle Mittel. Deshalb
hatte jedes Mitglied einen Pflichtanteil zu bringen, so kamen vorerst 13.000 Mark
zusammen. Diese Summe war die Grundlage für den Baubeginn.
Bauarbeiten 1927
In etwa zwei Jahren war das Bauwerk fertiggestellt. Im November 1928 wurde
bereits der erste Kirmestanz durchgeführt. Das war nicht nur für die Erbauer
sondern für alle Bürger des Ortes und der umliegenden Gemeinden ein großer
kultureller Höhepunkt.
Am 1./2. Juni 1929 erfolgte die Einweihung der Turnhalle. Diese war mit einer
großen Demonstration verbunden und verdeutlichte die Einheit der Arbeiterklasse. Sie bewies ihre Stärke und Leistungskraft.
34
1927 hatte der Gastwirt Pietzsch die Arbeitersportler, die Reigenfahrer und
Arbeitersänger kurzerhand vor die Tür gesetzt. Bereits 1922 mußten sie aufgrund
der Machenschaften des Herrn Pietzsch ihre Übungsstunden im Nachbarort
Kleindittmannsdorf durchführen.
Volksheimweihe 1929
Das alles war nun mit der Errichtung des Volksheimes vorbei. Endlich hatten sie
ein eigenes Heim mit Gaststätte, die sie selbst verwalteten. Mit dem Machtantritt
des Faschismus überzogen auch finstere Wolken das von den Arbeitern
geschaffene Heim. Es wurde von Faschisten besetzt und für viele andere Zwecke,
die gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet waren, genutzt.
In Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg diente der Saal als Getreidelager. In
den letzten Kriegswochen wurden dort Wehrwölfe ausgebildet, und SS-Banditen
zogen ein, die letztendlich das Volksheim sprengen wollten. Mutige und klassenbewußte Bürger des Ortes verhinderten dieses Verbrechen.
Volksheim 1999
35
Terror gegen alle Andersdenkenden
Parallel zur demagogischen Gewinnung der Menschen für ihre Ziele terrorisierten
die NS-Machthaber alle Gegner immer brutaler nach ihrem Grundsatz: "Wer nicht
für uns ist, ist gegen uns, und wer gegen uns ist, wird vernichtet!"
Die folgenden Angaben über Verfolgungen, Verhaftungen und Verurteilungen von
Antifaschisten sind unvollständig, weil sie nur die Ergebnisse unserer begrenzten
Forschungen enthalten. Dennoch geben sie einen weiteren Einblick in das
Ausmaß des NS-Terrors in Radeberg und in den umliegenden Gemeinden.
• Im Radeberger Rathaus mißhandelten SA-Leute viele Hitlergegner. Der
Radeberger Stadtverordnete der SPD, Fritz Weitzmann, schrieb in seinen
Erinnerungen: "Wir wissen, daß unsere Genossen so mißhandelt wurden, daß
die Wände des damaligen Bürgermeisterzimmers übertüncht werden mußten,
weil sich die Blutspuren nicht abwaschen ließen.”
• Der aus dem Amt getriebene Radeberger Bürgermeister Otto Uhlig (SPD)
erhielt Stadtverbot. Die Gestapo führte eine rote Karteikarte über ihn. Eine
Rente wurde ihm verweigert. Der Radeberger NS-Polizeikommissar Stalling
schrieb am 5. Juli 1933 an den Nazigauleiter von Sachsen, Martin
Mutschmann, "...daß man keinen Pfennig von den Steuergroschen des
deutschen Volkes für diesen Oberbonzen vergeuden darf. Er hat sich als
Schmarotzer am deutschen Volksvermögen erwiesen.”
• Den ebenfalls aus dem Amt vertriebenen Wohlfahrtsinspektor und
Stadtverordneten der SPD, Paul Brückner, verhaftete die Gestapo am 12. März
1933. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn wurden ausgewiesen. Sie
fanden in Schönborn Zuflucht.
Die Radeberger Zeitung berichtete am 13.3.1933: "Festgenommen wurden in
der Nacht zum Sonntag und nach Dresden in Schutzhaft eingeliefert der
sozialdemokratische Stadtrat Johannes Brückner, sein Bruder, der bisherige
Wohlfahrtsinspektor Paul Brückner, der Führer des Reichsbanners,
Konsumvereinsverwalter Schaar, die Funktionäre des Abwehrkartells
Pankratz und Tamme und der sozialdemokratische Stadtverordnete und
Bevollmächtigte des Metallarbeiterverbandes Heinze. Außerdem wurde in
Dresden der Kommunistenführer von Radeberg, Wächtler, erkannt und
festgenommen.”
In der Untersuchungshaftanstalt "Mathilde" in Dresden verhörten
Gestapobeamte Paul Brückner. Es gelang ihnen nicht, ein Geständnis zu
erpressen. Am 8. Juni 1933 wurde er trotzdem in das Schutzhaftlager
Hohnstein eingeliefert. Das Ansinnen, eine Loyalitätserklärung gegenüber
der NSDAP abzugeben, lehnte er ab.
• So wie in Radeberg wurden auch die Bürgermeister der umliegenden
Gemeinden, die nicht der NSDAP angehörten, aus ihren Ämtern gejagt. Die
Bevölkerung wurde aufgerufen, Andersdenkende zu denunzieren.
36
• Bereits am 28.2.1933 nahm die Gestapo die Kommunisten Heinz und Rudolf
Böhm aus Ottendorf-Okrilla fest und inhaftierte sie nach einer
Untersuchungshaft in dem Schutzhaftlager Hohnstein.
• Emil Fahrnländer aus Ullersdorf wurde am gleichen Tag verhaftet und wegen
Vorbereitung zum Hochverrat zu 10 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Kurz
nach seiner Entlassung wurde er erneut ein Jahr in Untersuchungshaft
festgehalten, mußte aber wegen Mangel an Beweisen freigesprochen werden.
Im Juni 1941 wurde er erneut wegen staatsfeindlicher Äußerungen im
Zusammenhang mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion
verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Im März 1933 folgt eine Verhaftungswelle:
• Der Arbeiter Kurt Alschner aus Radeberg wird wegen Zugehörigkeit zur KPD
im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert. Am 20.9.1935 wird er mit elf
weiteren Antifaschisten in das KZ Sachsenburg eingeliefert.
• Der Handformer Alfred Franke, Radeberg, wird erst im Schutzhaftlager
Königstein-Halbestadt und dann fünfzehn Monate im Schutzhaftlager
Hohnstein inhaftiert.
• Der Schriftsetzer Kurt Hantzsche aus Radeberg wird wegen Vorbereitung zum
Hochverrat festgenommen, muß aber aus Mangel an Beweisen aus der Haft
entlassen werden. Nach seiner erneuten Verhaftung am 18.9.1934 wird er für
längere Zeit in Untersuchungshaft gehalten.
• Die Geheime Staatspolizei verhaftet den Maler Walter Förster aus Radeberg,
Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. Wegen Fortführung der Tätigkeit
für die KPD wird er drei Jahre und sechs Monate im Zuchthaus Waldheim
gefangengehalten. Danach kommt er als "politisch unzuverlässig" in das KZ
Sachsenhausen. Erst die vorrückenden sowjetischen Truppen befreien ihn
1945.
• Nicht nur in Radeberg waren Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und
Mißhandlungen an der Tagesordnung. Besonders brutal gingen SA-Schläger
in Orten vor, in denen viele Einwohner nicht für Hitler gestimmt hatten.
Am 10. März 1933 umstellen SA-Leute Ottendorf-Okrilla und dringen von
allen Seiten in den Ort. Bei antifaschistisch eingestellten Bürgern führen sie
"Haussuchungen" durch. Viele werden festgenommen und zum Gasthof
"Schwarzes Roß" gebracht. Hier mißhandelt sie die SA mit Gummiknüppeln,
Gewehrkolben und Reitpeitschen. Fast 70 Verletzte sind die Folge. Besonders
brutal mißhandeln sie den körperbehinderten Kommunisten Josef
Hannemann. SA-Leute fassen ihn an Armen und Beinen, wippen seinen
Körper auf und nieder, werfen ihn in die Luft und lassen ihn dann auf die Erde
fallen. Diese "Volksbelustigung" wiederholen sie solange, bis der Mißhandelte
liegenbleibt. Josef Hannemann stirbt später im Krankenhaus an den Folgen.
• Wegen Widerstandes gegen die NS-Diktatur wird Johannes Kutzera aus
Radeberg von Januar bis Mitte 1933 fünfmal verhaftet. Er wird in das
37
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Schutzhaftlager Hohnstein gebracht. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat
muß er für ein Jahr in die Gefängnisse in Leipzig und Zwickau. 1935 wird er zu
zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, die er im Zuchthaus Waldheim, später im
KZ Mauthausen verbüßen muß. Vor dem Schlimmsten bewahrt ihn der
Vormarsch der US-Armee.
Der Arbeiter Josef Pankratz aus Radeberg, Mitglied der SPD und Leiter des
Abwehrkartells, wird verhaftet, im Polizeipräsidium Dresden vernommen und
dann im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert. Aus Mangel an Beweisen
kommt es zu keiner Gerichtsverhandlung.
In Arnsdorf wird der Melker Wolf vom Staatsgut der Landesanstalt wegen
kommunistischer Umtriebe festgenommen.
Der Arbeitersportler Martin Wagner, Leppersdorf, wird wegen der Verbreitung
verbotener Zeitschriften verhaftet.
Walter Thiem, Ullersdorf, wird wegen des Verdachtes, illegale Zeitschriften
verteilt zu haben, im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert.
Else Sommer aus Hermsdorf wird am 31.3.1933 verhaftet und im Gefängnis
"Münchner Platz" in Dresden über die Aktivitäten der Hitlergegner in
Ottendorf/Okrilla verhört. Sie bleibt standhaft und verrät nichts. Noch
zweimal, im Oktober 1933 und im November 1934, verhaftet sie die Gestapo,
wieder ergebnislos. Im März 1935 wird sie im Prozeß gegen "Wagner und
Genossen" zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt. Am 21. Mai
1940 schlägt die Gestapo endgültig zu. Else Sommer wird bis auf weiteres "zur
Umschulung" im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingesperrt. Sie
erhält die Häftlingsnummer 3944. Nur Dank der Solidarität ihrer Leidensgefährtinnen, unter ihnen die Dresdner Jüdin und Kommunistin Rosa Menzer,
die vergast wurde, überlebt Else Sommer.
Am 6.5.1933 wird der Wallrodaer Bruno Mai verhaftet, und am 5.4.1934
verurteilt ihn der "Volksgerichtshof" zu einem Jahr und sechs Monaten
Zuchthaus.
Die Gestapo verhaftet am 25.5.1933 Otto Hegewald und inhaftiert ihn zwei
Jahre im KZ Sachsenburg.
Der Glasarbeiter Kurt Lohse aus Radeberg wird im Schutzhaftlager Hohnstein
bis zu dessen Auflösung inhaftiert.
Das Sondergericht für das Land Sachsen verurteilt Hermann Philipp und Hans
Koch aus Arnsdorf wegen angeblichen Sprengstoffverbrechens und Nichtablieferung von Waffen zu zwei Jahren und zehn Monaten Zuchthaus bzw.
zehn Monaten Gefängnis.
Die Gestapo verhaftet in Ottendorf-Okrilla den jugendlichen Metallarbeiter
Adolf Neumann und andere Jugendliche. Das Sondergericht verurteilt sie zu
hohen Freiheitsstrafen.
Der Kellner Fritz Liebscher aus Ottendorf-Okrilla wird am 8.9.1933 verhaftet.
Der "Volksgerichtshof" verurteilt ihn im Verfahren Nr. 15 J 490/33 wegen
seiner Mitgliedschaft in der KPD, Vorbereitung zum Hochverrat, angeblichem
38
Sprengstoffverbrechens und verbotenem Waffenbesitz zu drei Jahren
Zuchthaus. Nach Ablauf der Strafzeit bringt man ihn bis 15.6.1937 in das KZ
Sachsenburg, dann bis 16.8.1937 in das KZ Sachsenhausen und schließlich
bis zum 18.4.1939 in das KZ Buchenwald. Obwohl er "wehrunwürdig" ist,
wird er 1942 zum Strafbataillon 999 eingezogen.
• Der Kommunist Alfred Leuthold aus Ottendorf-Okrilla wird verhaftet. Er wird
verdächtigt, den organisatorischen Zusammenhalt der Roten Wehr aufrechterhalten und Waffen und Munition für diese Organisation aufbewahrt zu
haben. Das Gericht verurteilt ihn zu einem Jahr und zwei Monaten Zuchthaus.
Danach wird er in ein Schutzhaftlager gebracht.
• Bei einer Razzia in Bischofswerda findet man im Portemonnaie eines
Festgenommenen die Adresse des kommunistischen Stadtverordneten Hugo
Jünger aus Radeberg. Daraufhin wird er verhaftet. Trotz Gegenüberstellung
mit dem bei der Razzia Festgenommenen können ihm illegale Tätigkeit,
Vertrieb von kommunistischen Zeitschriften und Zusammenarbeit mit
anderen KPD-Mitgliedern nicht nachgewiesen werden. Trotzdem wird er bis
1.5.1934 im Schutzhaftlager Hohnstein und danach bis 23.6.1936 im KZ
Sachsenburg inhaftiert.
• Nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933 besetzte die SA die Jugendburg
Hohnstein und errichtete darin ein “Schutzhaftlager”, um politische Gegner
aus dem ostsächsischen Raum festzusetzen und durch militärischen Drill,
schwere körperliche Arbeit und anderen Drangsalierungen “umerziehen”.
Mindestens 15 Antifaschisten aus dem Radeberger Gebiet wurden dort zeitweise inhaftiert.
Häftlinge auf dem Weg
zur Zwangsarbeit in Hohnstein
Fotos
aus dem
Museum
Hohnstein
39
• In Schönborn und Umgebung findet eine groß angelegte Verhaftungsaktion
statt. Unter den verhafteten Antifaschisten befinden sich die SPD-Mitglieder
Alfred Görner, Arno Liesner, Erich Partsch, Alfred Steinert, die Mitglieder der
KPD Fritz Gärtner, Max Görner, Rudi Görner, Rudolf Steinert und die
Parteilosen Willi Heiche aus Seifersdorf und Richard Angermann aus Wachau.
Alle werden in der Gaststätte "Anker" festgehalten, in das Polizeipräsidium
Dresden eingeliefert und teils in der Untersuchungshaftanstalt "Mathilde",
teils im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert.
• In Radeberg wird der Metallarbeiter Willy Schaarschmidt verhaftet, weil er
Mitglied der Roten Hilfe und des Abwehrkartells ist. Aus Mangel an Beweisen
kommt es zu keiner Gerichtsverhandlung.
• Der 1. September 1933 ist ein schwarzer Tag für Wachau. Früh gegen 4.30 Uhr
rücken Überfallwagen und Motorräder mit SA und Polizei in das Dorf ein.
Häuser werden umstellt und durchsucht, Gärten durchwühlt und Hitlergegner
zusammengetrieben. Wer nicht zu Hause ist, wird am Arbeitsplatz verhaftet.
Richard Angermann, ein Betroffener, berichtet:
"Von zwei Polizisten wurde ich in Klotzsche auf der Baustelle verhaftet,
nachdem sie bei mir zu Hause einen Kalender mit einem Spruch gegen die
braune Pest, mein blaues Arbeiterkartell-Hemd und den Schulterriemen
gefunden hatten. Ich wurde auf einen LKW gestoßen und von vier SAMännern in die Mitte genommen. Schon während der Fahrt wurde ich von
ihnen "verhört". Nachdem ich zugegeben hatte, diesen Spruch geschrieben zu
haben, versicherten mir meine Peiniger, daß sie mich aufhängen würden.
Meiner Frau hatten sie ohnehin schon gesagt, daß sie mich nicht wiedersehen
würde. Hinter Langebrück bog der Wagen in eine Schneise ein. Sie hatten
schon einen Baum ausgewählt, als sie nach einen Strick suchten. Nur dem
Umstand, daß sie in ihrer Kiste keinen fanden, habe ich es zu verdanken, daß
sie mich nach Wachau brachten. Gegen 10 Uhr kamen wir im "Anker" an.
Zuerst bekam ich einen Schlag, daß ich bewußtlos zusammenbrach. Mit
Kübeln kalten Wassers brachten sie mich wieder zur Besinnung, um auf diese
Weise das "Verhör" fortzusetzen. Übel zugerichtet wurde ich auf die Kegelbahn
getrieben, wo ich bis ans Ende laufen und meinen Namen und anderes rufen
mußte. Nach diesen Quälereien kam ich in einen anderen Raum, wo ich wieder
mit Schlägen empfangen wurde …
Oswin Görner hatten die SA-Leute ein rotes Tuch, das von einer Streichholzschachtel zusammengehalten wurde, um den Hals gelegt und einen
Holzsäbel in die Hand gedrückt. Er mußte uns kommandieren. Das ging bis
20 Uhr, dann wurden die meisten nach Hause gelassen. Erich Kriedel, Richard
Wittwer und ich wurden mit auf das Polizeipräsidium genommen. Während
Richard Wittwer nach einer Woche wieder entlassen wurde, mußte ich ein
Vierteljahr dort bleiben und Erich Kriedel noch länger.”
• Am 10.1.1934 wird in Grünberg Otto Lehmann verhaftet. Das Gericht
verurteilt ihn wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einem Jahr und acht
40
Monaten Zuchthaus. Nach Ausbruch des Krieges wird er zum Strafbataillon
999 eingezogen.
• Am gleichen Tag verhaftet die Gestapo den Kommunisten Alfred Seifert und
inhaftiert ihn im Schutzhaftlager Hohnstein. Bei der Auflösung des Lagers
wird er in dem Dresdner Untersuchungsgefängnis "Mathilde" inhaftiert.
• Wegen des Verdachtes der illegalen Tätigkeit für die KPD wird Georg Wehner,
Radeberg, in das Schutzhaftlager Hohnstein eingeliefert. Trotz vieler Verhöre
kann kein Beweis dafür erbracht werden. Auch nicht bei der erneuten
Festnahme am 11.1.1937. Ein Gericht verurteilt ihn 1942 zu sechs Jahren
Zuchthaus. Im April 1945 befreien ihn die vorrückenden Truppen der USArmee aus dem Zuchthaus Waldheim.
Im Schutzhaftlager Hohnstein - Bildmitte dritter von links: Georg Wehner
• Der Musiker Herbert Hache, Mitglied der KPD, wird in seiner Wohnung in
Fischbach verhaftet. Im Rathaus Radeberg vernimmt und mißhandelt ihn der
"NS-Kriminalrat" Stalling. Herbert Hache wird im Schutzhaftlager Hohnstein
inhaftiert.
• Das Sondergericht für das Land Sachsen verurteilt Mitglieder der SPD am
6.3.1934 wegen des Versuches, ihre Parteiorganisation aufrecht zu erhalten:
Johannes Brückner, Vorsitzender der SPD in Radeberg und Leiter der Abwehrorganisation "Eiserne Front", zu einem Jahr Zuchthaus,
Karl Schaar, Vorsitzender des Reichsbanners in Radeberg, zu einem Jahr und
sechs Monaten Gefängnis,
41
•
•
•
•
Georg Völkel aus Schönborn zu einem Jahr Gefängnis und den Jugendlichen
Harry Brückner, Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend in Radeberg,
wegen Verteilung des "Kleinen Vorwärts" zu acht Monaten Gefängnis.
Der Hilfsarbeiter Emil Förster und der Arbeiter Stephan Schulz, beide aus
Radeberg, werden am 7.3.1934 verhaftet und in das Schutzhaftlager
Hohnstein eingeliefert. Wegen ergebnisloser Ermittlungen müssen sie
freigelassen werden.
Das Sondergericht des Landes Sachsen verurteilt Arno Liebscher aus
Ottendorf-Okrilla nach § 7 des Sprengstoffgesetzes zu einem Jahr und sechs
Monaten Zuchthaus.
In Radeberg wird der Glasmacher Max Hengst verhaftet und in das KZ
Sachsenburg gebracht. Trotz ergebnisloser Ermittlungen kommt es zur
Anklage.
Die 12. Große Strafkammer verurteilt den Bürger Georg Kutzner zu neun
Monaten Gefängnis. Ihm wird vorgeworfen, in Radeberg eine Widerstandsgruppe unterstützt und kommunistische Beitragsmarken und
Zeitungen gekauft zu haben.
• Der "Volksgerichtshof" verurteilt am 6.9.1934 Willy Goeder und 15 Kommunisten wegen Sprengstoffvergehens zu folgenden hohen Zuchthausstrafen:
Anstreicher Willy Goeder, Radeberg
Glasmacher Franz Zelinka, Radeberg
Glasarbeiter Paul Lehmann, Radeberg
Glasmacher Bruno Hampel, Radeberg
Kristallschleifer Walter Herrmann, Radeberg
Bauarbeiter Willi Noack, Ottendorf-Okrilla
Steinarbeiter Josef Einhellinger, Königsbrück
Arbeiter Hans Wächtler, Radeberg
Glasmacher Friedrich Seifert, Radeberg
Bauarbeiter Oskar Costrau, Radeberg
Färber Carl Vetters, Radeberg
Maschinenformer Walter Opitz, Ullersdorf
Ofenformer Paul Preller, Königsbrück
Arbeiter Bruno Mai, Wallroda
Glasarbeiter Wilhelm Magiera, Ottendorf-O.
15 Jahre
2 Jahre
2 Jahre
2½ Jahre
2 Jahre
2½ Jahre
3½ Jahre
2½ Jahre
3 Jahre
3 Jahre
2½ Jahre
2 Jahre
5 Jahre
1½ Jahre
2 Jahre
Der Glasarbeiter Friedrich Seifert stirbt am 18.3.1935 im Zusammenhang mit den Verhören und den Haftbedingungen im Zuchthaus.
42
Auszug aus dem Urteil
43
• Das Oberlandesgericht verurteilt den Kommunisten Rudolf Steinert aus
Schönborn zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus.
• Das Oberlandesgericht verurteilt am 9.11.1934 wegen Vorbereitung zum
Hochverrat, weil sie in Radeberg und Umgebung Widerstandsgruppen
aufrecht erhalten und antifaschistische Druckschriften verteilt haben:
Arbeiter Josef Dziacka, Großerkmannsdorf
Glasmacherwitwe Helene Edelmann, Radeberg
Arbeiter Edmund Gräubig, Radeberg
Arbeiter Ewald Henker, Großerkmannsdorf
Arbeiter Richard Henker, Großerkmannsdorf
Händler Erich Hochmuth, Radeberg
Glasschleifer Franz Kleinert, Radeberg
Arbeiter Georg Kostirka, Radeberg
Glasarbeiter Alfred Lehmann, Radeberg
Schlosser Oskar Matulla, Radeberg
Glasbieger Erich Menschner, Radeberg
Maschinenschlosser Erich Meyer, Grünberg
Former Walter Pietsch, Radeberg
Metallschleifer Erich Schneider, Radeberg
Werkzeugmacher Walter Simmchen, Wallroda
Schneidergehilfe Erwin Stein, Lomnitz
Arbeiter Erich Steinert, Radeberg
Die Strafen liegen zwischen eineinhalb und drei Jahren Zuchthaus.
• Das Sondergericht für das Land Sachsen verurteilt nach § 7 des Sprengstoffgesetzes aus Ottendorf-Okrilla Willi Oswald zu einem Jahr und sechs
Monaten und Kurt Grafe zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus.
• Im Januar 1937 fällt im Kampf gegen das Franco-Regime der Kommunist
Rudolf Hable aus Radeburg als Angehöriger der Internationalen Brigaden bei
Hueska in Spanien.
• Am 11.1.1937 verurteilt das Oberlandesgericht den Radeberger Schlosser
Albert Zumpe wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens
zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus. Nach Ablauf der Strafe wird
er am 19.4.1939 auf Anordnung der Gestapo weiter im Polizeigefängnis
Dresden festgehalten. Schließlich wird er in das Strafbataillon 999 eingezogen. Im Krieg wird er verwundet, er überlebt.
44
Entlassungsschein von Albert Zumpe
45
Bei ihren Machtansprüchen machte die NSDAP auch vor der Kirche nicht halt.
Schon vor 1933 wurden die "Deutschen Christen" gegründet. In dieser NSVereinigung waren Angehörige verschiedener Konfessionen vertreten. Wichtig
war nur, daß sie dem Nationalsozialismus treu ergeben waren.
Aus einer Chronik der Gemeinde Ottendorf-Okrilla ist zu erfahren, daß sich am 8.
November 1933 eine Ortsgruppe der "Deutschen Christen" gebildet hatte. Weiter
heißt es: "Nach Anordnung des im Jahre 1933 neu gebildeten Landeskirchenamtes, dessen Mitglieder der nationalsozialistischen Partei angehörten,
hatte die Mehrheit im Kirchenvorstand aus Nationalsozialisten zu bestehen."
Für den 23. Juli 1933 verlangte Hitler Kirchenwahlen mit dem Ziel, dadurch den
Einfluß der "Deutschen Christen" zu verstärken.
Bekenntnistreue Pfarrer waren mit dieser Entwicklung nicht einverstanden und
gründeten im November 1933 einen Notbund, der im Dezember 1933 die
"Deutschen Christen" eindeutig ablehnte. Daraufhin kam es zu Verhaftungen von
bekennenden Pfarrern. Viele von ihnen gingen den Weg in Gefängnisse,
Zuchthäuser oder Konzentrationslager..
Am 8. März 1936 wurde in Leipzig der "Lutherische Rat" gegründet. Er hatte das
Ziel, mit dem Zusammenschluß aller bekennenden Kirchen eine Abwehrfront
gegen die "Deutschen Christen" zu bilden.
• Über das Schicksal eines bekennenden Pfarrers - des Großerkmannsdorfer
Pastors Kläss - berichtet der Ortschronist von Kleinwolmsdorf, Herr Otto
Wittich, u.a.: Im Januar 1938 erhielt der jung verheiratete Pastor ein Schreiben
des Landeskirchenamtes der 'Deutschen Christen':
Herrn
Pastor Rudolf Kläss
Großerkmannsdorf über Radeberg
27.1.1938
Nachdem Sie in dem von Ihnen unterzeichneten Schreiben vom 17. Januar
1938 ausdrücklich erklärt haben, die von Herrn Reichs- und Preußischen
Minister für kirchliche Angelegenheiten berufene und durch die 1. Verordnung
zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Evangelischen Kirche vom
10. Dezember 1937 (Kirchl. GVBI. S. 151) bestätigte Kirchenleitung nicht
anzuerkennen und Sie demzufolge auch der Aufforderung, zur Ihrer
Vernehmung im Landeskirchenamt zu erscheinen, nicht Folge geleistet haben,
sehe ich mich gezwungen, die Ihnen bereits mit Schreiben vom 12. Januar
1938 angekündigte Maßnahme durchzuführen und Sie mit sofortiger
Wirkung aus dem landeskirchlichen Vorbereitungsdienst abzuberufen.
Auf Ihre weitere Tätigkeit im Bereich der Evangelisch-lutherischen
Landeskirche Sachsen wird solange verzichtet, als Sie die von Ihnen
eingenommene Haltung nicht aufgeben und die Weisungen der Kirchenleitung befolgen.
46
Die Räumung der Ihnen zur Verfügung gestellten Amtswohnung ist zu
beschleunigen, auf einer sofortigen Räumung soll solange nicht bestanden
werden, als dadurch die Erledigung der Amtsgeschäfte durch die neue
abzuordnende Hilfskraft nicht erschwert wird.
i.V. Liebsch
ausgefertigt: Dresden, am 27. Januar 1938, gez. Thomann, K-Inspektor
Warum hatte sich der junge Pastor den Anordnungen der Kirchenleitung
widersetzt? Aus ihrer Erinnerung gab seine Frau dem Chronisten Auskunft:
Die 'Deutschen Christen', kurz DC genannt, brachten schon Mitte der 30er
Jahre eine nach den Maßstäben der NS-Ideologie "gereinigte Bibel" heraus. Das
Alte Testament war als "Judenbuch" weggelassen, im Neuen Testament
Christus als arischer Heroe dargestellt. Superintendent Klotsche, als
"Revolverklotsche" bekannt, kam in SA-Uniform und mit Pistole ins
Landeskirchenamt. Der DC-Landesbischof Friedrich Cohn hatte wahrlich
keinen guten Ruf.
Anfang 1935 war es in der Landeskirche zu Verhaftungen bekenntnistreuer
Pfarrer gekommen, weil sie die Wahrheit gepredigt, sich für bedrängte
Menschen eingesetzt hatten und sich als Seelsorger vieler Verhafteter und
deren Angehörigen annahmen.
Um äußerer Vorteile willen wollten Pfarrer Kläss und seine Frau ihren Glauben
nicht verleugnen. Eine Laienabordnung unter Führung Hugo Schäfers wurde
im Landeskirchenamt vorstellig, um die Entlassung von Pfarrer Kläss
rückgängig zu machen. Doch sie erreichten nichts, obwohl die ganze
Kirchgemeinde, das ganze Dorf, bis auf fünf fanatische NSDAP-Leute, hinter
dem Pfarrer standen.
Die Arbeit ging dennoch weiter als ob nichts geschehen sei: Unterricht,
Besuche, Bibelstunden, Gottesdienst, Junge Gemeinde, Kasualien usw. Bis
Himmelfahrt ging das so, dann verschloß man ihnen die Kirchentür. Die Maulund Klauenseuche solle nicht verbreitet werden, hieß es, aber alle anderen
Veranstaltungen, wie Kino, Versammlungen oder Schule liefen ungehindert
weiter.
Wovon lebte Familie Kläss ohne Gehalt?
Besucher der Bibelstunden oder des Frauendienstes drückten ihnen beim
Verabschieden Geld in die Hand. Die Nudelfabrik schickte eine Tüte mit 10 Pfd.
Nudeln, Bauern brachten Brote, Eier, Butter, Wurst, Speck oder auch vom
Schlachtfest fertiges Mittagessen. Arme Leute brachten ein Glas selbstgemachte Marmelade und ein 50-Pfennig-Stück darauf.
Nachdem sich ein DC-Pfarrer gefunden hatte, mußte Familie Kläss das
Pfarrhaus räumen. Also ging man mit dem acht Monate alten Kind ins "Exil",
in das Auszugshaus des Bauern Arthur König in Kleinwolmsdorf Nr. 7. Dieser
Auszug wurde zu einem einzigen Bekenntnis. Jetzt, in der Heuernte, stellten
47
die Großerkmannsdorfer Bauern Wagen und Gespanne, und Frauen vom
Frauendienst halfen beim Packen und Verladen.
Als der DC-Pfarrer seine Tätigkeit aufgenommen hatte und Pfarrer Kläss das
Gotteshaus nicht mehr betreten durfte, beschränkte er sich zwangsläufig auf
seine Wohnung. Hier war jeden Abend und auch sonntag nachmittags die
Stube voll. Dorthin geschickte Spitzel hatten viel aufzuschreiben.
Nun übertrug die Bekennende Kirche Pfarrer Kläss die Aufgabe, katechetische
Kurse für Laien zu halten, anfangs in Dresden, dann auch in Radeberg.
Überall mußte er einspringen, denn er hatte ein Motorrad.
Mit Ausbruch des Krieges häuften sich die Vertretungen. Oft predigte er in
Großnaundorf und Lomnitz. Und hier, in fremden Orten, erkannte er oft
Besucher aus seinen alten Gemeinden. Obwohl sie sonst nach Radeberg zum
Gottesdienst gingen, scheuten sie auch den weiteren Weg nicht.
Zum Erntedankfest 1939 predigte Pfarrer Kläss in Radeberg. Auch am
Ewigkeitssonntag sollte er wieder hier predigen. Diese Niederlage wollten sich
die ‘Deutschen Christen’ nicht noch einmal einhandeln, und so wurde Pastor
Kläss am Freitag zuvor zur Wehrmacht einberufen. Während des Rückzuges
der Wehrmacht fiel Pastor Kläss am 7.2.1945 in Kroatien.
• Der "Volksgerichtshof" verurteilt am 17.11.1938 weitere meist Radeberger
Antifaschisten:
Johannes Kutzera
10 Jahre Zuchthaus
Helmut Köbbel
5 Jahre Zuchthaus
Martin Hommel
1½ Jahre Zuchthaus
Karl Otto
1 Jahr Gefängnis
Erich Gräfe
1 Jahr Gefängnis
• Die in diesem Prozeß ebenfalls Angeklagten Hustig und Weber konnten nicht
verurteilt werden. Nach Angaben der Polizei hatten sie im Gefängnis
Selbstmord begangen.
• Der Kommunist Samuel Steinfeld aus Weixdorf war wegen seiner
Mitgliedschaft in der KPD 1933 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden.
1940 wird er aus gleichem Grunde und wegen seiner jüdischen Abstammung
erneut verhaftet. Über die Konzentrationslager Radom, Maidanek,
Tschenstochau kommt er nach Buchenwald, wo er die Befreiung erlebt.
• Das Oberlandesgericht Dresden verurteilt den Kommunisten Paul Schmidt aus
Weixdorf wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zwei Jahren und sechs
Monaten Zuchthaus. Nach Ablauf dieser Strafzeit bleibt er weiter in den
Konzentrationslagern Buchenwald, Natzweiler und Dachau. Dort befreien ihn
am 27.4.1945 Truppen der Alliierten.
• Albin Lehmann aus Radeberg wird noch am 28. April 1944 wegen Abhörens
deutschsprachiger Nachrichten der Sender Moskau, London und Beromünster
zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dem Willen seiner Richter sollte er
mindestens bis 31.1.1947 inhaftiert bleiben.
48
Mitteilung in der Strafsache gegen Albin Lehmann vom Landrat zu Dresden an den Bürgermeister
von Radeberg
49
• Der Oberreichsanwalt beim "Volksgerichtshof" klagt 1944 den Drehergehilfen
Willi Burkhardt, den Maschinenarbeiter Friedrich Müller und den Dreher Paul
Schölzel, alle aus Radeberg, an. Da beim Bombenangriff auf Dresden das
Gerichtsgebäude stark beschädigt worden war und bis dahin noch keine
Gerichtsverhandlung stattgefunden hatte, kommt es bis zu ihrer Befreiung am
8. Mai 1945 zu keiner Verhandlung mehr.
Die Motive dieser und vieler Menschen, die die NS-Politik ablehnten oder sich der
NS-Politik widersetzten, waren ebenso unterschiedlich, wie ihre Lebenserfahrungen, ihre Herkunft, ihre Weltanschauung, ihr Alter und ihre
Persönlichkeitsstruktur.
Sie dachten und handelten antifaschistisch, weil die Nationalsozialisten die
Demokratie mit Füßen traten, einen nie dagewesenen Terror ausübten und alle
Andersdenkenden mit dem Tode bedrohten, Rassenhaß, Nationalismus und
Chauvinismus zur Staatspolitik erhoben, Gewalt verherrlichten und ausübten,
den Krieg systematisch vorbereiteten und 1939 begannen. Für alle diese
Menschen war der deutsche Faschismus mit Redlichkeit, Moral, Anstand,
Menschenwürde und Menschenrecht nicht zu vereinbaren.
Sie sahen im Faschismus eine tödliche Gefahr für Deutschland und seine
Nachbarn. Deshalb handelten sie antifaschistisch.
Es war ihre Tragödie, daß sie nicht zum gemeinsamen Handeln fanden. Das gilt
besonders für die Antifaschisten in politischen Parteien.
So fanden trotz der immer deutlicher heraufziehenden Gefahr einer NS-Diktatur
in Deutschland und trotz partieller Zusammenarbeit an der Basis die starken
antifaschistischen Kräfte in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und
in der Kommunistischen Partei Deutschlands keinen Grundkonsens zur Abwehr
dieser tödlichen Gefahr. Anstatt gemeinsam antifaschistisch zu handeln,
betonten sie die Unterschiede in ihren Auffassungen und schwächten sich mit
gegenseitigen Vorwürfen.
Der brutale Terror gegen alle Antifaschisten war die blutige Quittung dafür. Die
Völker Europas, auch das deutsche Volk, mußten mit dem Zweiten Weltkrieg
und dem Holocaust das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte
durchleben.
50
I. Der Faschismus und seine extremste Erscheinungsform der deutsche Nationalsozialismus
Zur Entstehung des Faschismus
Die Geschichte des Faschismus in Europa läßt sich bis in die Anfangsjahre unseres
Jahrhunderts zurückverfolgen. Die ideologischen Wurzeln des Faschismus sind in
der Gedankenwelt bürgerlicher Eliten aus Politik, Wirtschaft, Geisteswissenschaften und Klerus zu finden. Sie sahen ihren Anspruch als "Herren im
Hause" infolge der zunehmenden sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft im Ergebnis der Emanzipation der in Gewerkschaften und Parteien
organisierten Arbeiter gefährdet, und sie schätzten ein, sie seien bei der Aufteilung der Weltressourcen schlecht weggekommen.
Zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche nach innen und außen
entwickelten sie die Vorstellung vom "starken Staat", in dem alle Kräfte der
Gesellschaft, unter kapitalistischen Produktions- und Distributionsverhältnissen gebündelt, die schrittweise "Neuordnung" in Europa durchsetzen sollten.
In den entstehenden faschistischen Staaten oder faschistischen Regimen bildete
sich die gleiche Doppelstrategie heraus:
• Unterdrückung und Zerschlagung oppositioneller Kräfte im Inneren
• Aggressive militärische Aktivitäten gegenüber anderen Staaten
zur Aufteilung der Welt in Interessensphären bis hin zur Auslösung
des Zweiten Weltkrieges
Die Bezeichnung Faschismus wurde von Mussolini für seine 1921 in Italien
gegründete Partei gewählt. Das Symbol war das im antiken Rom den Konsulen
vorangetragene Amtszeichen. Es stellte ein mit einem Lederriemen umschnürtes
Rutenbündel dar, mit einem aus dem Bündel herausragenden Beil. Das Bündel
sollte kennzeichnen, daß es im Gegensatz zu einer einzelnen Rute nicht
gebrochen werden kann. Das Beil stand für Wehrhaftigkeit und Gewalt.
Zu den ersten faschistischen Diktaturen in Europa zählen Italien unter Mussolini,
Ungarn unter Admiral Horthy, das Francoregime in Spanien, das Salazar-Regime
in Portugal und das NS-Regime in Deutschland unter Hitler.
Nach ihrer Niederlage in der Novemberrevolution 1918 und dem Ende des Ersten
Weltkrieges mit seinen verheerenden Auswirkungen für das deutsche Volk
(Kriegstote, Hunger, Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen...) orientierte sich
die konservative Elite auf die Wiedererlangung ihres schwer erschütterten
politischen und ökonomischen Machteinflusses.
Der erstmals von den Pastoren Friedrich Naumann und Paul Göhre publizierte
Begriff vom "Deutschnationalen Sozialismus" kann nicht zu den direkten
Vorläufern des Nationalsozialismus gezählt werden. Aus den Reihen dieser
7
christlichen Bewegung sind sowohl Faschisten als auch Antifaschisten
hervorgegangen. Dennoch haben beide Pastoren diesen Begriff und Vorstellungen
dazu in das Denken eingeführt und den rechten Kräften ein grundlegendes
Argumentationsmuster geliefert.
Die 1920 gegründete Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)
verknüpfte alle nationalistischen, chauvinistischen, rassistischen, militaristischen und deutsch- und heimattümelnden Komponenten zur "Nationalsozialistischen Weltanschauung". Mit ihrem demagogischen 25-PunkteProgramm führte sie rechtskonservative Gruppierungen wie den "Alldeutschen
Verband", die "Deutsche Soziale Partei", den "Deutschvölkischen Germanenorden", den "Germanenorden Walvater", die österreichische "Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei" u.a. aus ihrer sektenmäßig beschränkten
Mitgliederzahl zu einer breiteren Basis.
Die NSDAP übernahm Tratitionen der Arbeiterbewegung wie den Begriff
"sozialistisch" im Namen ihrer Partei, die Anrede "Parteigenosse", die Übernahme
von Arbeiterliedern mit NS-Text, den 1. Mai als "Feiertag der Arbeit" u.a. Zugleich
übte die NSDAP verbale Kritik am Kapitalismus durch dessen Differenzierung in
"Schaffendes Kapital" (Produktionsunternehmen) und "raffendes Kapital"
(Banken, Warenhäuser, insbesondere in jüdischem Besitz). Mit dieser Demagogie
erreichte sie deutliche populistische Erfolge.
Die Ideologie des sogenannten Nationalsozialismus ist grob zu charakterisieren
als antidemokratisch, macht- und gewaltanbetend, rassistisch, antisemitisch,
antiliberal, antimarxistisch, diktatorisch, kriegsverherrlichend und proimperialistisch.
Das Wiedererstarken der konservativen Kräfte in der Weimarer Republik
und die NS-Bewegung in Radeberg
Das Potential der NSDAP wuchs auf dem Boden und mit Unterstützung der in der
Weimarer Republik wiedererstarkenden konservativen Kräfte in Staat, Wirtschaft
und Militär, auf dem Boden eines reaktionären, autoritären Rechts- und
Bildungswesens und in hochgradig militarisierten Organisationen, Vereinen und
Verbänden. Bis zum Jahre 1945 galten zum Beispiel die 1873 von einem
preußischen Schulrat festgelegten Grundzüge der Volksschulerziehung: "Die
disziplinarischen Anordnungen dienen dazu, den Schüler zu gewöhnen, seinen
Willen einem höheren und damit dem höchsten Willen unterzuordnen." Die
"Erziehung" der Schüler zu "klostermäßigem Gehorsam" durch Leibesstrafen (u.a.
Stockschläge) entwickelte autoritäre Charaktere und Gewaltakzeptanz von Kind
an. Diese autoritäre Erziehung und die Glorifizierung des Krieges als höchste
Tugend und legitimes Mittel zur "Landnahme" fremder Territorien förderten eine
ständige Gewaltbereitschaft gegen je nach Bedarf projizierte Feindbilder.
Die völkerrechtlich festgestellte Alleinschuld des deutschen Kaiserreiches an der
8
Auslösung des Ersten Weltkrieges, die damit verbundenen Grenzkorrekturen und
völkerrechtlichen Auflagen, die Errichtung einer parlarmentarisch-bürgerlichen
Demokratie mit einer verfassungsgebenden Volksvertretung im Ergebnis der
Novemberrevolution, mit Volksbegehren und Volksentscheid, mit allgemeinem
Wahlrecht sowie die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages u.a. waren für die
monarchistisch-militaristischen Kräfte aus Grundbesitzern, Fabrikinhabern,
Verwaltungen und dem Großkapital Anlaß, mit allen Mitteln auf die Wiederherstellung ihrer Macht und ihres Einflusses hinzuarbeiten.
Wie Industrielle dabei vorgingen, zeigt eine vertrauliche Einladung des Verbandes
Sächsischer Industrieller zu einer Versammlung in den Räumen der Deutschen
Volkspartei:
Beeinflussung der Arbeiterschaft im antimarxistisch und nationalsozialistischem Sinne durch alle
Rechtsparteien.
9
Am 22.6.1922 ermordeten zwei junge Nationalsozialisten den konservativliberalen jüdischen Reichsaußenminister Walter Rathenau. Kurz danach hob die
Polizei im Richter´schen Sägewerk in Radeberg ein Waffenlager nationalistischer
Kräfte aus.
Darüber berichtete die Radeberger Zeitung am 1.7.1922:
Ermittlung eines
geheimen Waffenlagers.
Trotz des vom Reichspräsidenten erlassenen "Republikschutzgesetzes" vom
18.7.1922, des zeitweiligen Verbotes des "Stahlhelmes", des "Alldeutschen
Verbandes" und anderer republikfeindlicher Organisationen wucherten diese
weiter.
10
Wie auch in Radeberg konservative Kräfte der Grundbesitzer, Fabrikanten und
ehemalige Offiziere der NSDAP den Weg ebneten, zeigte sich bereits 1925: Nach
Wiederzulassung des "Stahlhelmes" marschierten anläßlich einer Fahnenweihe
700 feldgrau uniformierte, mit Stahlspitzenstöcken ausgerüstete "Stahlhelmer"
durch das Stadtzentrum zur ev.-luth. Stadtkirche. Die Radeberger Zeitung
berichtete darüber u.a.:
"Ernst und wuchtig marschierten die Stahlhelmmänner unter Glockengeläut zum
Gotteshaus auf ihre Plätze, ein Wald von Fahnen entstand im Altarraum... Die
Fahne Schwarz-Weiß-Rot sei das Panier. Die Reichsmarineflagge sei gehißt aus
Zorn, Trotz und Wut, weil diese Flagge zuerst in den Staub gerissen wurde...
'Unser Kampf gilt bis aufs Messer allem, was undeutsch und international ist',
führte u.a. ein Major a. D. namens Ritter als Hauptredner aus.
Dann nahm Herr Freigutbesitzer Maschke (Lotzdorf) das Wort und überreichte
ihm ein namhaftes Geldgeschenk mit herzlichen Glückwünschen."
Auch ein Radeberger Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei zeigt, wie
groß deren Übereinstimmung mit den Zielen der NSDAP war:
Wahlplakat
Duesterberg (Stahlhelm)
11
Etwa bis zum Jahre 1933 blieb der Einfluß der Radeberger Verbände des
Stahlhelmes und des Kyffhäuserbundes relativ konstant. Das zeigen die Ergebnisse der diese Verbände ideologisch und organisatorisch tragenden Parteien, der
Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), bei
den Radeberger Kommunalwahlen. Doch der antisemitische, antimarxistische
und chauvinistische Einfluß dieser militanten Wehrverbände auf Schützen- und
Sportvereine, Religionsgemeinschaften und die Öffentlichkeit der Stadt war nicht
zu übersehen. Er hatte das Ziel, die bürgerlich-liberale Weimarer Republik
verächtlich zu machen, ihre Ordnung zu untergraben und sie schließlich zu
stürzen.
Rückblickend auf die "Kampfzeit", wiederum anläßlich einer Fahnenweihe diesmal war das Radeberger Schützenhaus schon mit Hakenkreuzfahnen und
Wimpeln dekoriert - würdigte der Oberleutnant und Bezirksführer des Stahlhelmes, der langjährige Herausgeber der Radeberger Zeitung, Willi Hordler, in
seiner Ansprache den Einsatz seiner Kameraden:
"Der Aufstand undeutscher Elemente im November 1918, feiger Pazifismus,
wollte die Erinnerung an die großen Taten von Heer und Marine austilgen. Im
Staate von Weimar hatten diese keinen Platz mehr. Die Ideen, die krankhaft oder
schwächlich waren, sind vergangen. Wir geloben unverbrüchliche Treue und
Gefolgschaft dem Volkskanzler und Kameraden Adolf Hitler... und unseren
geweihten Fahnen. So ist der Bund ein Wegbereiter gewesen für die große
Entwicklung des Vaterlandes..."
Weiter war in der Zeitung zu lesen: "Das niederländische Dankgebet mit seinem
starken Appell an den Höchsten 'Herr, mach uns frei!' klang auf und fand einen
erhebenden Widerhall im Saale. Dabei grüßte es eindringlich 'Mit Gott für Volk
und Vaterland' von der mit Hakenkreuzbanner, Schwarz-Weiß-Roten Draperien
und umkränzten Bildnissen des greisen Reichspräsidenten und des genialen
Führers der deutschen Geschichte von der Bühne herab."
Schon vor der "Machtergreifung" der NSDAP, aber auch danach, unterstützten
einige Repräsentanten der ev.-luth. Kirche in Radeberg und Umgebung die
NSDAP. So berichtete die Radeberger Zeitung am 9.1.1933 und am 31.1.1934
(Ausschnitte der Berichte auf Seite 13):
12
Montag, den 9. Januar 1933
Mittwoch, den 31. Januar 1934
13
Auch in Radeberg verteidigten Antifaschisten die Weimarer Republik
Der im Zuge der Novemberrevolution in Radeberg gewählte Arbeiter- und
Soldatenrat setzte den bürgerlich-konservativen und kaisertreuen Stadtrat, der
bis dahin mit Hilfe des völlig undemokratischen Drei-Steuerklassen-Wahlrechtes
die Stadt regiert hatte, außer Kraft. Bei den Wahlen zur Gründung der
verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung im Jahr 1919, auf die die
Ausrufung der Deutschen Republik folgte, errangen die Kandidaten der Linken
die Mehrheit im Radeberger Stadtrat und behielten sie bis zur "Machtergreifung"
der NSDAP. Das entsprach der sozialen Struktur der Industriestadt Radeberg.
Zentren der politisch organisierten Arbeiterschaft befanden sich im Wahlbezirk 5,
"Gasthof Klengel"; im Wahlbezirk 6, Pillnitzer Straße; "Deutsches Haus", Bahnhofstraße und in den Wahlbezirken der Beschäftigten der 1929 zusammengebrochenen Glasindustrie Hirsch, Bedrich & Co.
Der politische Einfluß der am 10.6.1924 gegründeten Radeberger Ortsgruppe der
NSDAP blieb längere Zeit gering. Er beschränkte sich auf einige Dutzend
Mitglieder, konnte jedoch in den ländlichen Gemeinden, besonders unter der
Bauernschaft, aufgewogen werden. Den Bauern versprach die Hitlerpartei die
Entschuldung ihrer Höfe und die Schaffung tausender Erbbauernhöfe zur
Neubildung deutschen Bauerntums. So entstanden unter Mitwirkung der
Radeberger NSDAP in rascher Folge Ortsgruppen in Großerkmannsdorf, Langebrück, Arnsdorf, Ottendorf-Okrilla, Lausa, Pulsnitz und Kamenz.
1920 hatten Linksparteien und Gewerkschaften durch ihr entschlossenes
Handeln den Kapp-Putsch abgewehrt und die Weimarer Republik verteidigt. Am
6.7.1922 berichtete die Radeberger Zeitung (siehe Faksimile Seite 15).
Ein Jahr später löste die Entscheidung der Reichsregierung, den Einmarsch der
Reichswehr in Sachsen und Thüringen und die Absetzung der sozialdemokratisch-kommunistisch geführten Staatsregierung des Freistaates Sachsen
unter Ministerpräsident Zeigner anzuordnen, bei Linken, Demokraten und
Gewerkschaftern tiefe Empörung aus.
Die Verhaftungswelle der Reichswehr gegen Kommunisten in Radeberg, und ihr
rücksichtsloser Schußwaffengebrauch gegen die Arbeiterdemonstration in
Freiberg (29 Demonstranten wurden erschossen) waren ernüchternde Erlebnisse
für viele Sozialisten im Hinblick auf das Wiedererstarken erzkonservativer Kräfte
in der Weimarer Republik.
Treffend charakterisierte Herbert Wehner, langjähriger Vorsitzender der Fraktion
der SPD im Deutschen Bundestag, rückblickend diese Situation:
"Durch den Einmarsch der Reichswehr wurde damals alles ge- und zerstört. Im
Frühjahr 1924 lernten wir dann zum ersten Mal Faschismus kennen. Aus Anlaß
des Geburtstages von Bismarck marschierten die ‘vaterländischen Verbände’ auf,
die alles andere als vaterländisch waren, zum Beispiel die Brigade Erhardt, die
SA, NSDAP, der Stahlhelm u.a. Damals haben wir als Jugendgruppe
(Sozialistische Arbeiterjugend) gegen die Kolonnen demonstriert und protestiert.
14
Wir wurden zusammengeschlagen und haben uns wieder aufgerafft."
Wehners folgender Austritt aus der Sozialistischen Arbeiterjugend und sein
Übergang zu einer anarchistischen Jugendgruppe sowie seine folgende
Mitgliedschaft in der KPD (1927) waren Ausdruck der tiefen Enttäuschung des
21jährigen. Er war auch ein Beispiel für die Wählerwanderung von der SPD,
SAP und USPD zur KPD.
Die Übergriffe von Reichswehr, Polizei und militanten Krieger- und Schützenvereinen, royalistischen Ex-Soldatenorganisationen und der NSDAP gegen
Kundgebungen und Demonstrationen der Arbeiterparteien und Gewerkschaften
15
führten zur Bildung von unbewaffneten Schutzorganisationen der Linken, auch
in Radeberg.
Als einer der ersten trat im Freistaat Sachsen der "Proletarische Selbstschutz" in
Erscheinung. Partei- und gewerkschaftsübergreifend versuchte er, die Versammlungsfreiheit bei Versammlungen und Demonstrationen sicherzustellen.
Kurz darauf folgte die Gründung der Schutzorganisation der SPD, "Reichsbanner
Schwarz-Rot-Gold", der Schutzorganisation der KPD "Rotfrontkämpferbund" und
mehrerer Unterorganisationen wie "Arbeitersamariter" und "Rote Hilfe". Wenn
auch die politischen Zielvorstellungen und die praktischen Wege auseinander
gingen, gab es doch eine übereinstimmende Grundhaltung. Sie bestand in der
Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik (Antimilitarismus, aktiver
Pazifismus) und in der politischen Bekämpfung des Nationalsozialismus und
seiner "vaterländischen" Gehilfen.
Diese Grundhaltung wurde auch von Vereinen getragen, die die Emanzipation der
Arbeiterbewegung unterstützten, wie dem Freidenkerverband mit seiner
Jugendweihe (1922), der Naturfreundebewegung, den Arbeitersportvereinen u.a.
Die Aufführung des Antikriegsfilmes "Im Westen nichts Neues" im Radeberger
Kino mußte wegen des enormen Besucherandranges mehrfach verlängert
werden.
Trotz der ständigen Arbeitslosigkeit von 2500 bis 3000 Personen im Arbeitsamtsbezirk Radeberg von 1922 bis 1933 und trotz einer anhaltenden
Wohnungsmisere gelang weder den Vaterlandsparteien und schon gar nicht der
NSDAP ein nennenswerter Einbruch in die antifaschistische Grundhaltung der
Mehrheit der Radeberger Bevölkerung. Die entschlossene antifaschistische
Haltung wurde auch im Jahr 1931 deutlich. Eine von der NSDAP im Radeberger
"Schützenhaus" durchgeführte Großveranstaltung mit vielen Teilnehmern aus
ganz Sachsen führte am 24.1.1931 zu einer tausendköpfigen Gegendemonstration der Radeberger, die gemeinsam von den Gewerkschaften und
linken Parteien getragen wurde.
In den dabei von SA-Leuten begonnenen tätlichen Auseinandersetzungen
wurden vier Betriebsräte aus Radeberger Großbetrieben verletzt und mußten in
das Stadtkrankenhaus eingeliefert werden. Der tags darauf von den
Gewerkschaften ausgerufene und von linken Parteien unterstützte dreistündige
Generalstreik, an dem sich 12 Groß- und Mittelbetriebe beteiligten, war einer der
ersten politisch motivierten Generalstreiks in der Weimarer Republik. 4000
Radeberger unterstützen ihn mit einer Demonstration gegen die Hitlerpartei auf
dem Marktplatz.
Folgerichtig konstituierte sich kurze Zeit später in Radeberg ein gewerkschaftsund parteiübergreifendes Abwehrkartell gegen den Faschismus.
Die erzkonservativen Kräfte in Radeberg aus dem Stahlhelm, der Deutschen
Volkspartei und der Deutschnationalen Partei schlossen sich zu der "Bürgerlichen
Einheitsliste" zusammen und führten den Wahlkampf für die Reichstagswahl am
6.11.1932 gemeinsam mit der Radeberger NSDAP unter Oberlehrer Möckel.
16
w
Diese Zusammenarbeit zeigt auch eine Großanzeige der "Bürgerlichen
Einheitsliste" (Liste 2) und der NSDAP (Liste 4) in der Radeberger Zeitung
vom 16.11.1932:
17
Die enge Verflechtung hatte keinen wesentlichen Einfluß auf die antifaschistische
Einstellung der Mehrzahl der Radeberger. Am 18.11.1932 teilte die Radeberger
Zeitung ihren Lesern auf der Titelseite folgendes Wahlergebnis mit:
18
Der Weg der NSDAP an die Macht
Die Weltwirtschaftskrise erschütterte die letzten Jahre der Weimarer Republik
schwer. In dieser Zeit kommt es zu immer stärkerer politischer Radikalisierung.
Begünstigt durch die Schwierigkeiten, auf demokratische Weise Mehrheiten zu
bilden, verlagern sich die politischen Gewichte zunehmend von den Parteien und
dem Parlament zum Reichspräsidenten und seinen konservativen Beratern. Die
so entstehende politische Krise führt zu einem schnellen Anwachsen der rechten
Kräfte. Im Oktober 1931 verbünden sich Hitlers NSDAP, die Deutschnationale
Volkspartei und der Stahlhelm in der "Harzburger Front" zum Kampf gegen die
Regierung Brüning und die Republik.
Am 5. Oktober 1931 findet zwischen Vertretern des deutschen Monopolkapitals
und dem Reichspräsidenten von Hindenburg eine Unterredung über die
Umbildung der Regierung Brüning statt. Die Regierungsumbildung erfolgt vom
7. bis 9. Oktober 1931 und ist darauf gerichtet, die demokratische Staatsform zu
beseitigen.
Am 10. Oktober 1931 empfängt Reichspräsident von Hindenburg erstmalig Hitler
und Göring, um sich persönlich über die Ziele der NSDAP zu informieren.
1932 entläßt Reichspräsident von Hindenburg die Regierung Brüning. In der
Folge wird das Verbot der SA aufgehoben, der Reichstag aufgelöst und die von der
SPD geführte preußische Landesregierung abgesetzt.
Nun fordert Hitler kompromißlos die gesamte politische Macht in Deutschland.
Am 12. und 13. August 1932 verhandeln von Hindenburg, von Papen und
Schleicher, um Hitler für den Posten des Vizekanzlers zu gewinnen, doch Hitler
fordert den Posten des Reichskanzlers. Das wird ihm nicht zugebilligt. Darauf
lehnt die NSDAP ab, die inzwischen vom Reichspräsidenten berufene Regierung
von Papen zu tolerieren. Der Reichspräsident löst den Reichstag auf, und am
6. November 1932 finden Reichstagswahlen statt.
Ergebnisse:
NSDAP
Sozialdemokratische Partei
Kommunistische Partei
Zentrumspartei
Deutschnationale Volkspartei
Bayrische Volkspartei
11,7
7,2
6,0
4,2
3,0
1,1
Mio.
Mio.
Mio.
Mio.
Mio.
Mio.
Stimmen
Stimmen
Stimmen
Stimmen
Stimmen
Stimmen
196 Sitze
121 Sitze
100 Sitze
70 Sitze
52 Sitze
20 Sitze
Am 18. November 1932 erklärt Hitler dem Reichspräsidenten, seine Partei sei der
einzige "Damm gegen den Kommunismus" und fordert für die NSDAP die
Regierung und unbeschränkte Vollmachten. Am 24. November verweigert ihm
von Hindenburg das noch.
Am 4. Januar 1933 treffen sich im Hause des Bankiers Schröder in Köln von Papen
19
und Hitler. Es kommt zu der Übereinkunft, daß Hitler demnächst die Macht
übernehmen und eine Regierung bilden soll, die im Gegenzug die Forderung der
Wirtschaft und der Großbanken erfüllt. Damit wird der Weg zur offenen
faschistischen Diktatur frei. Um dieses Ziel schnell zu erreichen, lehnen NSDAP
und DNVP unter Hugenberg die Unterstützung der bestehenden Regierung
Schleicher ab.
Am 22. Januar 1933 findet im Hause von Ribbentrop eine Unterredung Hitlers mit
von Hindenburg, von Papen und Staatssekretär Otto Meißner mit dem Ergebnis
statt, Hitler in den nächsten Tagen zum Reichskanzler zu ernennen. Inzwischen
werden alle Aktivitäten des Reichskanzlers Schleicher abgelehnt, so daß er mit
seiner Regierung am 28. Januar 1933 zurücktritt. Am 30. Januar 1933 ernennt
Reichspräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler, der die
“Machtergreifung“ der NSDAP proklamiert.
Bereits am 1. Februar 1933 fand in Radeberg ein Fackelzug zu Ehren des
Reichskanzlers Adolf Hitler statt. Die Radeberger Zeitung berichtete:
Wie groß der Widerstand unter der Radeberger Bevölkerung gegen die NSDAP und
der Wille zur antifaschistischen Einheitsfront war, ist einem Bericht der
Radeberger Zeitung vom gleichen Tage zu entnehmen:
20
In Ottendorf-Okrilla bemerkten antifaschistische Bürger am 25.2.1933 auf dem
Schornstein der stillgelegten Glashütte Brockwitz eine Hakenkreuzfahne. Sie
beschlossen, diese Fahne zu entfernen. Der Ottendorfer Arbeiter Kurt Schwade
vollbrachte diese Tat. Kurz darauf wehte auf dem Schornstein der damaligen
Firma Scheffel eine rote Fahne. Unerkannt hatte der Schornsteinfeger Hermann
im Auftrage von Sozialdemokraten, Kommunisten und parteilosen Antifaschisten dieses Zeichen des Widerstandes gesetzt.
Mit der Machtergreifung begann die NSDAP, von konservativen Kräften
unterstützt, ihre Diktatur zu errichten. SA und Stahlhelmleute wurden als
Hilfspolizei eingesetzt.
Am 27. 2. 1933 wurde das Gebäude des Deutschen Reichstages in Brand gesetzt.
Die Hitlerregierung verkündete, der Reichstagsbrand sei das Werk der
Kommunisten und das Signal für eine Verschwörung gegen das deutsche Volk. Sie
benutzte dieses Verbrechen als Vorwand, eine Verordnung zum "Schutze von Volk
und Staat" zu erlassen und damit der Hitlerregierung fast uneingeschränkte
Machtbefugnisse einzuräumen. Reichspräsident von Hindenburg unterschrieb.
Damit waren entscheidende verfassungsmäßige Rechte außer Kraft und der
Terror gegen alle Andersdenkenden "legalisiert". Die ersten Opfer wurden
innerhalb von 24 Stunden mehr als 10.000 Arbeiterfunktionäre, die meisten
davon Kommunisten. Sie wurden verhaftet und in Internierungslager
verschleppt.
Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reiches werden
bis auf weiteres außer Kraft gesetzt - das bedeutet die Liquidierung aller Grundrechte.
21
Das entscheidende Ziel war, massiven Druck auf die Wähler auszuüben, damit sie
bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 der NSDAP ihre Stimme geben und so die
Gewaltherrschaft dieser Partei scheindemokratisch bemänteln sollten. Dem
diente auch das Verbot der Zeitungen von SPD und KPD. Dazu ließ der Berliner
Polizeipräsident ein Flugblatt verbreiten:
22
Die Radeberger Zeitung veröffentlichte das Ergebnis der Reichstagswahlen vom
5. März 1933:
In Radeberg gaben 3 903 Bürger der NSDAP ihre Stimme. Das waren rund 36 % der
Wähler. Bis auf zwei Gemeinden erreichte die NSDAP nicht die gewünschte
absolute Mehrheit. In Radeberg, Ottendorf-Okrilla, Hermsdorf, Leppersdorf und
Lomnitz erzielten SPD und KPD einen höheren Anteil der Wählerstimmen als die
NSDAP.
23
Radeberg in der Hand der Nationalsozialisten
Nachdem sie mit der Reichstagswahl am 5.3.1933 ihr Ziel nicht erreicht hatten,
setzte die NSDAP alle Mittel ein, um ihre Machtpositionen zu stärken. Sie sah das
größte Hindernis in den linken Parteien, den Gewerkschaftsverbänden und
anderen demokratischen Kräften, besonders auch deren Abgeordneten in den
Stadt- und Gemeindeparlamenten. Beim Ausbau ihrer Herrschaft in allen
staatlichen Ebenen traten die neuen Machthaber Recht und Gesetz mit Füßen.
Am 7. März 1933, zwei Tage nach den Reichstagswahlen, findet auf dem
Marktplatz von Radeberg eine große Kundgebung der NSDAP statt. SS und Polizei
sperren ab. Am Rathaus werden die Hakenkreuzfahne und die deutsch-nationale
Fahne Schwarz-Weiß-Rot gehißt. NSDAP-Ortsgruppenleiter Erich Möckel klagt in
einer Rede an, daß er lange Jahre "unter dem Marxismus geseufzt hat". Sieg-HeilRufe der SA hallen über den Marktplatz.
Von dieser Kundgebung veröffentlichte die Radeberger Zeitung am 8. März ein
Foto:
Bereits zwei Tage nach der Reichstagswahl vom 5. 3. 1933 besetzten gegen 17.30 Uhr SS, SA,
Stahlhelm und Polizei das Radeberger Rathaus und hißten die oben genannten Fahnen unter
Mißachtung des noch gültigen offiziellen Flaggengesetzes. Im Vordergrund der aufmarschierte
“Stahlhelm” mit dem Kommandierenden Teichert, rechts (kaum erkennbar) die SA-Formation. Die “II.
Revolution” des NSDAP-Ortsgruppenführers E. Möckel nahm ihren erfolgreichen Verlauf.
24
Eine zweite Kundgebung am 9. März 1933 versetzte dem demokratisch
gewählten Stadtrat und der Stadtverwaltung den Todesstoß. Darüber berichtete
die Radeberger Zeitung am 10.3.1933 ausführlich:
Fritz Weitzmann und weitere Radeberger
Antifaschisten wurden von den Nazis
gezwungen, die Wahlaufrufe der Arbeiterparteien zu den Reichstagswahlen
März 1933 von den Wänden abzuwaschen.
(Foto aus dem Nachlaß
von Fritz Weitzmann)
25
Der Terror ging weiter. Bereits am 4. März 1933 hatte die SA den Radeberger
Stadtverordneten der KPD eine "Sonderbehandlung" zuteil werden lassen.
Am 17. März 1933 holte die neue NS-Stadtverwaltung die Stadtverordneten der
SPD in das Rathaus zur "Vernehmung". Danach mußten sie zusammen mit
anderen Antifaschisten unter Aufsicht von SA-Leuten die Wahlplakate der
Arbeiterparteien für die Reichstagswahlen von den Wänden abwaschen.
Am gleichen Tag beschloß der "gesäuberte" Stadtrat, daß Marxisten nicht mehr in
leitenden Stellen beschäftigt werden dürfen. Dieser Beschluß wurde mit einer
Gegenstimme gefaßt.
Zum weiteren Ausbau der Diktatur legte Hitler ein Ermächtigungsgesetz vor, das
am 24.3.1933 das Parlament mit Zweidrittelmehrheit passierte. Es schaltete den
Reichstag und seine Kontrollorgane faktisch aus.
Nun folgten die Proklamation des "Einheitsstaates" und die "Gleichschaltung".
Damit wurden alle Parteien außer der NSDAP verboten, die Gewerkschaften und
die Länder entmachtet und der Reichsrat aufgehoben.
Am 30.3.1933 fand die letzte Sitzung der Radeberger Stadtverordneten statt, zu
der noch Abgeordnete der SPD zugelassen waren. Dazu schrieb die Radeberger
Zeitung:
26
"Am früher gewohnten Platze hing wieder das Gemälde König Georgs, ihm
gegenüber die Fahne Schwarz-Weiß-Rot, die Hakenkreuzfahne und die GrünWeiße Fahne Sachsens. Die Plätze der Kommunisten waren leer, da diese nicht
eingeladen waren. Von den Sozialdemokraten waren nur vier anwesend, da
einige sich bereits in Schutzhaft befanden. Der NSDAP-Ortsgruppenführer und
vorläufige Bürgermeister, Parteigenosse Möckel, stimmte ein kräftiges 'Sieg Heil'
auf Hindenburg und den Führer an, wobei sich die Abgeordneten von den Plätzen
erhoben, außer den vier Sozialdemokraten. Sie beteiligten sich auch nicht an der
Wahl des Präsidiums. Stadtverordneter Weitzmann (SPD) gab dazu eine
entsprechende Erklärung ab."
Einen Tag später erließ die Hitlerregierung das Länder- und GemeindeGleichschaltungsgesetz. Damit war auch in Radeberg der Weg zu einem
unglaublichen Wahlbetrug freigemacht.
Darüber informiert die Radeberger Zeitung:
27
Über die so an die Macht geschobenen Radeberger Stadtverordneten der NSDAP
und der Konservativen ("Gemeinsamer Wahlvorschlag") informierte die
Radeberger Zeitung:
Auch in allen Dörfern des Radeberger Landes wurden die Gemeindeparlamente
"gleichgeschaltet". Die von der Bevölkerung gewählten Abgeordneten von SPD
und KPD wurden aus den Gemeinderäten entfernt und ihre Mandate von
Vertretern der NSDAP besetzt.
Nun war die NSDAP in der Lage, ihre Diktatur ohne große Gegenwehr auszuüben.
Einen Höhepunkt der "Nationalsozialistischen Machtergreifung" und der
"Gleichschaltung" in Radeberg bildete die Stadtverordnetenversammlung am
15. Mai 1933 mit der Wahl des NS-Bürgermeisters Dr. Rasch.
28
Der Berichterstatter der Radeberger Zeitung schrieb:
"Der mit dem Wahrzeichen der nationalen Bewegung geschmückte Sitzungssaal
zeigt das Bild der Gleichschaltung, das braune Hemd beherrscht den Saal. Der bis
dahin kommissarische Bürgermeister, Gewerbeoberlehrer Möckel, seit 1929
Ortsgruppenleiter der NSDAP, gab die richtungweisende Orientierung. Er lobte die
Ausschaltung der staatsfeindlichen Elemente."
Der Historiker Guido Knopp verweist in seiner Studie "Hitler, eine Bilanz" auf
Hubertus von Löwenstein. Anläßlich der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler
warnte er seine sozialdemokratischen Freunde: "Kameraden, habt ihr begriffen,
daß heute der 2. Weltkrieg begonnen hat?"
Der Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann, hatte diese tödliche Gefahr mit den
Worten gekennzeichnet: "Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt,
wählt den Krieg!"
Beide sollten recht behalten.
Die Demagogie des NS-Systems
Um die Menschen zu gewinnen, nutzte die NS-Propaganda besonders die Sorgen
aus, die viele Leute bewegten:
• Angst vor der Arbeitslosigkeit war eine depressive Grundstimmung,
damit verbunden:
• Angst vor gesellschaftlicher Deklassierung
Gezielt und erfolgreich geschürt wurden:
• Angst vor dem Bolschewismus,
• Angst vor und Haß gegenüber den Juden,
• Angst vor Überfremdung
Die Propaganda der Nazis verkündete, nur einer könne der Bevölkerung diese
Ängste nehmen: Adolf Hitler mit seiner NSDAP.
Und Hitler ließ an seinem Willen zur alleinigen Macht keinen Zweifel:
"Nunmehr haben wir die Macht in der Hand, und ich als Kommissar des Reiches
bin in meiner Person der Ausdruck hierfür. Deshalb befehle ich und kein anderer.
Meine Befehle allein sind maßgebend, und ich allein trage die Verantwortung für
das, was geschieht."
29
Die Begeisterung bei NS-Propagandaveranstaltungen riß Zögernde mit. Um diese
Stimmung auszubauen, ergriff die NSDAP weitere Maßnahmen:
1. Der 1. Mai wurde zum gesetzlichen "Tag der nationalen Arbeit" erklärt. Mit der
Schaffung der Deutschen Arbeitsfront anstelle der verbotenen
Gewerkschaften sollten die Arbeiter an sozialen Forderungen gehindert und
auf das "Führerprinzip" auch in den Betrieben eingeschworen werden. Fortan
gab es einen "Betriebsführer" und eine "Gefolgschaft".
Der Beauftragte der "Deutschen Arbeitsfront", Felber, sagte in der
Gruppenstammversammlung 1/151 in Radeberg im Juli 1934:
"Wir haben für das deutsche Arbeitertum eine Organisation geschaffen, die
nicht nur Organisation ist, sondern ein ehernes Fundament unseres Staates...
Es ist unbestreitbar, daß die nationalsozialistische Revolution den Schutt der
deutschen Arbeiterklasse weggeräumt und den edlen Kern freigelegt hat, daß
es heute kaum einen willigeren und unbedingteren Staatsbejaher gibt, als
den deutschen Arbeiter."
In diesem Sinne organisierten NSDAP und Arbeitsfront in Radeberg die Feiern
zum 1. Mai. In Großveranstaltungen wurden die Leistungen und die
Gefolgschaftstreue des "Arbeitsvolkes" hervorgehoben.
Darüber berichtete die Radeberger Zeitung:
"Bereits in der 8. Stunde des 1. Mai versammelten sich auf der Pulsnitzer
Straße "Arbeitsmenschen", die Belegschaften der Betriebe, Beamte, Lehrer,
Gewerbetreibende, auch die arbeitslosen Volksgenossen usw. zum Marsch der
8500 durch die Stadt. Schließlich hatten sich im "Horst-Wessel-Stadion"
Zehntausend vereinigt.”
2. Mit riesigem propagandistischen Aufwand inszenierte die NS-Regierung
ihren demagogischen "Kampf um Arbeit und Brot".
Am 1. Mai 1933 verkündete sie das Reichsautobahnprogramm, und an vielen
Stellen in Deutschland wurden Bauprojekte begonnen:
Brennpunkte
der deutschen Arbeitsschlacht.
Die wichtigsten Stellen,
an denen das Arbeitsprogramm
in Angriff genommen wird.
30
Mit der Einführung eines halbjährigen "Reichsarbeitsdienstes" wurden alle
"wehrfähigen" jungen Männer an diesen Objekten zur Arbeit eingesetzt,
anfangs freiwillig, später als "Reichsarbeitsdienstpflicht". Dort wurden sie
gleichzeitig halbmilitärisch ausgebildet. Sie arbeiteten faktisch ohne Lohn. Ihr
Sold betrug 25 Reichspfennige pro Tag.
Zur gleichen Zeit betrieb die NS-Regierung - anfangs geheim - eine enorme
Aufrüstung, gekoppelt mit der Forderung, das "Schanddiktat" des Versailler
Friedensvertrages zu annullieren. Die Aufrüstung brachte viele neue
Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie und beim Bau militärischer Anlagen.
Die Autobahnen gehörten ebenso zur Aufrüstung wie das "Volkswagenwerk".
Als die ersten Volkswagen produziert wurden, rollten sie auf Hitlers
Autobahnen für seine Annexionen.
Mit Hilfe dieser Maßnahmen konnte Hitler bereits 1936 eine annähernde
Vollbeschäftigung verkünden.
3. Am 29. September 1933 wurde das "Reichserbhofgesetz" verkündet: "Landund forstwirtschaftlicher Besitz in der Größe von mindestens einer
Ackernahrung und von höchstens 125 Hektar ist ein Erbhof, wenn er einer
bauernfähigen Person gehört".
4. Weiterhin förderte der Staat den Eigenheimbau. Das Angebot an Konsumgütern wurde auch für Ärmere erschwinglich. Das Urlauberprogramm "Kraft
durch Freude" sollte den Menschen ein Gefühl sozialer Sicherheit vermitteln.
5. Die Deutsche Arbeitsfront lockte mit Bildungsangeboten und Sport und lenkte
auch die Freizeit in die Zielrichtung der NSDAP. Mit einem weitgehend
sorgenfreien Leben und einer auf das Heute gerichteten Sicht wurde die Masse
der Bevölkerung zufriedengestellt.
6. Ungezügelt propagierte die NSDAP ihre pseudowissenschaftlich verbrämte
Rassentheorie. Sie redete den Menschen ein, die blauäugige, blonde
"Nordische Rasse" verkörpere das Idealbild der Deutschen. Deshalb sei das
deutsche Volk "von der Vorsehung ausersehen", über alle anderen Völker zu
herrschen. Minderwertige Rassen, zu allererst die Juden, seien "nicht
lebenswert".
7. Alle deutschen Rundfunkstationen wurden zum Reichsrundfunk vereint.
Propagandaminister Goebbels baute den Reichsrundfunk neben Presse und
Film zu einem entscheidenden Instrument der NS-Propaganda aus. Diesem
Ziel diente auch die millionenfache Produktion des "Volksempfängers", eines
Kleinradios, das wegen seines niedrigen Preises zwischen 30 und 70
Reichsmark in den meisten deutschen Haushalten angeschafft wurde.
31
Antifaschisten gaben diesem Radio die drastische aber treffende Bezeichnung
"Goebbelsschnauze".
8. Parallel zu der gigantischen militärischen Aufrüstung schürte die NSDAP mit
allen Mitteln unter der Bevölkerung nationalistische und chauvinistische
Stimmungen, verherrlichte den Krieg und erhob unter der Losung vom
"Großdeutschen Reich" Gebietsansprüche an die Nachbarstaaten.
Diese systematische Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges wurde mit
heuchlerischen Friedensbeteuerungen getarnt. So gab die NSDAP ihrem
letzten Parteitag im August 1939, einen Monat vor dem Überfall auf Polen, mit
dem sie den Zweiten Weltkrieg begann, den Namen "Parteitag des Friedens.”
9. Die NSDAP unternahm alles, um die Erinnerung an die Weimarer Republik zu
diffamieren und aus dem Bewußtsein der Menschen zu verdrängen. So
wurden in Radeberg und allen umliegenden Gemeinden Straßen und Plätze
nach NS-Größen umbenannt.
In Radeberg gab es einen besonderen Höhepunkt dieser Kampagne: Von 1926
bis 1928 hatten sich die Arbeitersportler des Turn- und Sportvereins
"Vorwärts" trotz Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit aus eigenen
Mitteln und in freiwilliger Arbeit ihr Stadion erbaut. Sie gaben ihm den Namen
"Vorwärts-Stadion". Unmittelbar nach der Machtergreifung gab die NSDAP
diesem Stadion den Namen des SA-"Helden" Horst Wessel, der angeblich ein
Opfer der Kommunisten war. In Wahrheit wurde er bei persönlichen
Streitigkeiten erschossen, vom NS-Propagandaminister Goebbels jedoch zu
einem deutschen Nationalhelden hochstilisiert. Das Horst-Wessel-Lied wurde
neben dem Deutschlandlied die Hymne der NSDAP.
Gedenktafel
im “Vorwärtsstadion”
in Radeberg,
Schillerstraße
32
Auch dem ASB wurde seine volksverbundene Tätigkeit untersagt
Zu den verbotenen Organisationen gehörte auch der Arbeiter-Samariter-Bund,
der in Radeberg von 1921 bis 1933 eine mitgliederstarke Ortsgruppe besaß.
Seit ihrer Gründung gehörte ihr als betreuender und beratender Arzt Dr. med.
Albert Dietze an. “Er war eine Freund der Alten und der Armen”, so
charakterisierte der langjährige Ortschronist Rudolf Thomas den “Verdienten
Arzt des Volkes” und Ehrenbürger der Stadt Radeberg.
Dr. Dietze verstarb im Alter von 94 Jahren. Ein Teil der Pirnaer Straße erhielt
seinen Namen.
Dr. med. Albert Dietze
33
VOLKSHEIM LOMNITZ Von den Werktätigen erbaut und finanziert;
von den Nazis geschändet
Mehr als 120 Arbeiter, Sportler, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen und
einzelne Bauern beteiligten sich an den Arbeitseinsätzen. Viele fleißige Hände, die
tagsüber für den Kapitalisten schaffen mußten, hatten nach Feierabend und an
Wochenenden keine Ruhe, denn ihre Turnhalle sollte recht schnell fertig werden.
Die Bausumme entsprach damals ohne Arbeitsleistungen etwa 80.000 Mark. Die
Arbeiter verfügten aber weder über Bauland noch über finanzielle Mittel. Deshalb
hatte jedes Mitglied einen Pflichtanteil zu bringen, so kamen vorerst 13.000 Mark
zusammen. Diese Summe war die Grundlage für den Baubeginn.
Bauarbeiten 1927
In etwa zwei Jahren war das Bauwerk fertiggestellt. Im November 1928 wurde
bereits der erste Kirmestanz durchgeführt. Das war nicht nur für die Erbauer
sondern für alle Bürger des Ortes und der umliegenden Gemeinden ein großer
kultureller Höhepunkt.
Am 1./2. Juni 1929 erfolgte die Einweihung der Turnhalle. Diese war mit einer
großen Demonstration verbunden und verdeutlichte die Einheit der Arbeiterklasse. Sie bewies ihre Stärke und Leistungskraft.
34
1927 hatte der Gastwirt Pietzsch die Arbeitersportler, die Reigenfahrer und
Arbeitersänger kurzerhand vor die Tür gesetzt. Bereits 1922 mußten sie aufgrund
der Machenschaften des Herrn Pietzsch ihre Übungsstunden im Nachbarort
Kleindittmannsdorf durchführen.
Volksheimweihe 1929
Das alles war nun mit der Errichtung des Volksheimes vorbei. Endlich hatten sie
ein eigenes Heim mit Gaststätte, die sie selbst verwalteten. Mit dem Machtantritt
des Faschismus überzogen auch finstere Wolken das von den Arbeitern
geschaffene Heim. Es wurde von Faschisten besetzt und für viele andere Zwecke,
die gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet waren, genutzt.
In Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg diente der Saal als Getreidelager. In
den letzten Kriegswochen wurden dort Wehrwölfe ausgebildet, und SS-Banditen
zogen ein, die letztendlich das Volksheim sprengen wollten. Mutige und klassenbewußte Bürger des Ortes verhinderten dieses Verbrechen.
Volksheim 1999
35
Terror gegen alle Andersdenkenden
Parallel zur demagogischen Gewinnung der Menschen für ihre Ziele terrorisierten
die NS-Machthaber alle Gegner immer brutaler nach ihrem Grundsatz: "Wer nicht
für uns ist, ist gegen uns, und wer gegen uns ist, wird vernichtet!"
Die folgenden Angaben über Verfolgungen, Verhaftungen und Verurteilungen von
Antifaschisten sind unvollständig, weil sie nur die Ergebnisse unserer begrenzten
Forschungen enthalten. Dennoch geben sie einen weiteren Einblick in das
Ausmaß des NS-Terrors in Radeberg und in den umliegenden Gemeinden.
• Im Radeberger Rathaus mißhandelten SA-Leute viele Hitlergegner. Der
Radeberger Stadtverordnete der SPD, Fritz Weitzmann, schrieb in seinen
Erinnerungen: "Wir wissen, daß unsere Genossen so mißhandelt wurden, daß
die Wände des damaligen Bürgermeisterzimmers übertüncht werden mußten,
weil sich die Blutspuren nicht abwaschen ließen.”
• Der aus dem Amt getriebene Radeberger Bürgermeister Otto Uhlig (SPD)
erhielt Stadtverbot. Die Gestapo führte eine rote Karteikarte über ihn. Eine
Rente wurde ihm verweigert. Der Radeberger NS-Polizeikommissar Stalling
schrieb am 5. Juli 1933 an den Nazigauleiter von Sachsen, Martin
Mutschmann, "...daß man keinen Pfennig von den Steuergroschen des
deutschen Volkes für diesen Oberbonzen vergeuden darf. Er hat sich als
Schmarotzer am deutschen Volksvermögen erwiesen.”
• Den ebenfalls aus dem Amt vertriebenen Wohlfahrtsinspektor und
Stadtverordneten der SPD, Paul Brückner, verhaftete die Gestapo am 12. März
1933. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn wurden ausgewiesen. Sie
fanden in Schönborn Zuflucht.
Die Radeberger Zeitung berichtete am 13.3.1933: "Festgenommen wurden in
der Nacht zum Sonntag und nach Dresden in Schutzhaft eingeliefert der
sozialdemokratische Stadtrat Johannes Brückner, sein Bruder, der bisherige
Wohlfahrtsinspektor Paul Brückner, der Führer des Reichsbanners,
Konsumvereinsverwalter Schaar, die Funktionäre des Abwehrkartells
Pankratz und Tamme und der sozialdemokratische Stadtverordnete und
Bevollmächtigte des Metallarbeiterverbandes Heinze. Außerdem wurde in
Dresden der Kommunistenführer von Radeberg, Wächtler, erkannt und
festgenommen.”
In der Untersuchungshaftanstalt "Mathilde" in Dresden verhörten
Gestapobeamte Paul Brückner. Es gelang ihnen nicht, ein Geständnis zu
erpressen. Am 8. Juni 1933 wurde er trotzdem in das Schutzhaftlager
Hohnstein eingeliefert. Das Ansinnen, eine Loyalitätserklärung gegenüber
der NSDAP abzugeben, lehnte er ab.
• So wie in Radeberg wurden auch die Bürgermeister der umliegenden
Gemeinden, die nicht der NSDAP angehörten, aus ihren Ämtern gejagt. Die
Bevölkerung wurde aufgerufen, Andersdenkende zu denunzieren.
36
• Bereits am 28.2.1933 nahm die Gestapo die Kommunisten Heinz und Rudolf
Böhm aus Ottendorf-Okrilla fest und inhaftierte sie nach einer
Untersuchungshaft in dem Schutzhaftlager Hohnstein.
• Emil Fahrnländer aus Ullersdorf wurde am gleichen Tag verhaftet und wegen
Vorbereitung zum Hochverrat zu 10 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Kurz
nach seiner Entlassung wurde er erneut ein Jahr in Untersuchungshaft
festgehalten, mußte aber wegen Mangel an Beweisen freigesprochen werden.
Im Juni 1941 wurde er erneut wegen staatsfeindlicher Äußerungen im
Zusammenhang mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion
verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Im März 1933 folgt eine Verhaftungswelle:
• Der Arbeiter Kurt Alschner aus Radeberg wird wegen Zugehörigkeit zur KPD
im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert. Am 20.9.1935 wird er mit elf
weiteren Antifaschisten in das KZ Sachsenburg eingeliefert.
• Der Handformer Alfred Franke, Radeberg, wird erst im Schutzhaftlager
Königstein-Halbestadt und dann fünfzehn Monate im Schutzhaftlager
Hohnstein inhaftiert.
• Der Schriftsetzer Kurt Hantzsche aus Radeberg wird wegen Vorbereitung zum
Hochverrat festgenommen, muß aber aus Mangel an Beweisen aus der Haft
entlassen werden. Nach seiner erneuten Verhaftung am 18.9.1934 wird er für
längere Zeit in Untersuchungshaft gehalten.
• Die Geheime Staatspolizei verhaftet den Maler Walter Förster aus Radeberg,
Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. Wegen Fortführung der Tätigkeit
für die KPD wird er drei Jahre und sechs Monate im Zuchthaus Waldheim
gefangengehalten. Danach kommt er als "politisch unzuverlässig" in das KZ
Sachsenhausen. Erst die vorrückenden sowjetischen Truppen befreien ihn
1945.
• Nicht nur in Radeberg waren Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und
Mißhandlungen an der Tagesordnung. Besonders brutal gingen SA-Schläger
in Orten vor, in denen viele Einwohner nicht für Hitler gestimmt hatten.
Am 10. März 1933 umstellen SA-Leute Ottendorf-Okrilla und dringen von
allen Seiten in den Ort. Bei antifaschistisch eingestellten Bürgern führen sie
"Haussuchungen" durch. Viele werden festgenommen und zum Gasthof
"Schwarzes Roß" gebracht. Hier mißhandelt sie die SA mit Gummiknüppeln,
Gewehrkolben und Reitpeitschen. Fast 70 Verletzte sind die Folge. Besonders
brutal mißhandeln sie den körperbehinderten Kommunisten Josef
Hannemann. SA-Leute fassen ihn an Armen und Beinen, wippen seinen
Körper auf und nieder, werfen ihn in die Luft und lassen ihn dann auf die Erde
fallen. Diese "Volksbelustigung" wiederholen sie solange, bis der Mißhandelte
liegenbleibt. Josef Hannemann stirbt später im Krankenhaus an den Folgen.
• Wegen Widerstandes gegen die NS-Diktatur wird Johannes Kutzera aus
Radeberg von Januar bis Mitte 1933 fünfmal verhaftet. Er wird in das
37
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Schutzhaftlager Hohnstein gebracht. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat
muß er für ein Jahr in die Gefängnisse in Leipzig und Zwickau. 1935 wird er zu
zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, die er im Zuchthaus Waldheim, später im
KZ Mauthausen verbüßen muß. Vor dem Schlimmsten bewahrt ihn der
Vormarsch der US-Armee.
Der Arbeiter Josef Pankratz aus Radeberg, Mitglied der SPD und Leiter des
Abwehrkartells, wird verhaftet, im Polizeipräsidium Dresden vernommen und
dann im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert. Aus Mangel an Beweisen
kommt es zu keiner Gerichtsverhandlung.
In Arnsdorf wird der Melker Wolf vom Staatsgut der Landesanstalt wegen
kommunistischer Umtriebe festgenommen.
Der Arbeitersportler Martin Wagner, Leppersdorf, wird wegen der Verbreitung
verbotener Zeitschriften verhaftet.
Walter Thiem, Ullersdorf, wird wegen des Verdachtes, illegale Zeitschriften
verteilt zu haben, im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert.
Else Sommer aus Hermsdorf wird am 31.3.1933 verhaftet und im Gefängnis
"Münchner Platz" in Dresden über die Aktivitäten der Hitlergegner in
Ottendorf/Okrilla verhört. Sie bleibt standhaft und verrät nichts. Noch
zweimal, im Oktober 1933 und im November 1934, verhaftet sie die Gestapo,
wieder ergebnislos. Im März 1935 wird sie im Prozeß gegen "Wagner und
Genossen" zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt. Am 21. Mai
1940 schlägt die Gestapo endgültig zu. Else Sommer wird bis auf weiteres "zur
Umschulung" im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingesperrt. Sie
erhält die Häftlingsnummer 3944. Nur Dank der Solidarität ihrer Leidensgefährtinnen, unter ihnen die Dresdner Jüdin und Kommunistin Rosa Menzer,
die vergast wurde, überlebt Else Sommer.
Am 6.5.1933 wird der Wallrodaer Bruno Mai verhaftet, und am 5.4.1934
verurteilt ihn der "Volksgerichtshof" zu einem Jahr und sechs Monaten
Zuchthaus.
Die Gestapo verhaftet am 25.5.1933 Otto Hegewald und inhaftiert ihn zwei
Jahre im KZ Sachsenburg.
Der Glasarbeiter Kurt Lohse aus Radeberg wird im Schutzhaftlager Hohnstein
bis zu dessen Auflösung inhaftiert.
Das Sondergericht für das Land Sachsen verurteilt Hermann Philipp und Hans
Koch aus Arnsdorf wegen angeblichen Sprengstoffverbrechens und Nichtablieferung von Waffen zu zwei Jahren und zehn Monaten Zuchthaus bzw.
zehn Monaten Gefängnis.
Die Gestapo verhaftet in Ottendorf-Okrilla den jugendlichen Metallarbeiter
Adolf Neumann und andere Jugendliche. Das Sondergericht verurteilt sie zu
hohen Freiheitsstrafen.
Der Kellner Fritz Liebscher aus Ottendorf-Okrilla wird am 8.9.1933 verhaftet.
Der "Volksgerichtshof" verurteilt ihn im Verfahren Nr. 15 J 490/33 wegen
seiner Mitgliedschaft in der KPD, Vorbereitung zum Hochverrat, angeblichem
38
Sprengstoffverbrechens und verbotenem Waffenbesitz zu drei Jahren
Zuchthaus. Nach Ablauf der Strafzeit bringt man ihn bis 15.6.1937 in das KZ
Sachsenburg, dann bis 16.8.1937 in das KZ Sachsenhausen und schließlich
bis zum 18.4.1939 in das KZ Buchenwald. Obwohl er "wehrunwürdig" ist,
wird er 1942 zum Strafbataillon 999 eingezogen.
• Der Kommunist Alfred Leuthold aus Ottendorf-Okrilla wird verhaftet. Er wird
verdächtigt, den organisatorischen Zusammenhalt der Roten Wehr aufrechterhalten und Waffen und Munition für diese Organisation aufbewahrt zu
haben. Das Gericht verurteilt ihn zu einem Jahr und zwei Monaten Zuchthaus.
Danach wird er in ein Schutzhaftlager gebracht.
• Bei einer Razzia in Bischofswerda findet man im Portemonnaie eines
Festgenommenen die Adresse des kommunistischen Stadtverordneten Hugo
Jünger aus Radeberg. Daraufhin wird er verhaftet. Trotz Gegenüberstellung
mit dem bei der Razzia Festgenommenen können ihm illegale Tätigkeit,
Vertrieb von kommunistischen Zeitschriften und Zusammenarbeit mit
anderen KPD-Mitgliedern nicht nachgewiesen werden. Trotzdem wird er bis
1.5.1934 im Schutzhaftlager Hohnstein und danach bis 23.6.1936 im KZ
Sachsenburg inhaftiert.
• Nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933 besetzte die SA die Jugendburg
Hohnstein und errichtete darin ein “Schutzhaftlager”, um politische Gegner
aus dem ostsächsischen Raum festzusetzen und durch militärischen Drill,
schwere körperliche Arbeit und anderen Drangsalierungen “umerziehen”.
Mindestens 15 Antifaschisten aus dem Radeberger Gebiet wurden dort zeitweise inhaftiert.
Häftlinge auf dem Weg
zur Zwangsarbeit in Hohnstein
Fotos
aus dem
Museum
Hohnstein
39
• In Schönborn und Umgebung findet eine groß angelegte Verhaftungsaktion
statt. Unter den verhafteten Antifaschisten befinden sich die SPD-Mitglieder
Alfred Görner, Arno Liesner, Erich Partsch, Alfred Steinert, die Mitglieder der
KPD Fritz Gärtner, Max Görner, Rudi Görner, Rudolf Steinert und die
Parteilosen Willi Heiche aus Seifersdorf und Richard Angermann aus Wachau.
Alle werden in der Gaststätte "Anker" festgehalten, in das Polizeipräsidium
Dresden eingeliefert und teils in der Untersuchungshaftanstalt "Mathilde",
teils im Schutzhaftlager Hohnstein inhaftiert.
• In Radeberg wird der Metallarbeiter Willy Schaarschmidt verhaftet, weil er
Mitglied der Roten Hilfe und des Abwehrkartells ist. Aus Mangel an Beweisen
kommt es zu keiner Gerichtsverhandlung.
• Der 1. September 1933 ist ein schwarzer Tag für Wachau. Früh gegen 4.30 Uhr
rücken Überfallwagen und Motorräder mit SA und Polizei in das Dorf ein.
Häuser werden umstellt und durchsucht, Gärten durchwühlt und Hitlergegner
zusammengetrieben. Wer nicht zu Hause ist, wird am Arbeitsplatz verhaftet.
Richard Angermann, ein Betroffener, berichtet:
"Von zwei Polizisten wurde ich in Klotzsche auf der Baustelle verhaftet,
nachdem sie bei mir zu Hause einen Kalender mit einem Spruch gegen die
braune Pest, mein blaues Arbeiterkartell-Hemd und den Schulterriemen
gefunden hatten. Ich wurde auf einen LKW gestoßen und von vier SAMännern in die Mitte genommen. Schon während der Fahrt wurde ich von
ihnen "verhört". Nachdem ich zugegeben hatte, diesen Spruch geschrieben zu
haben, versicherten mir meine Peiniger, daß sie mich aufhängen würden.
Meiner Frau hatten sie ohnehin schon gesagt, daß sie mich nicht wiedersehen
würde. Hinter Langebrück bog der Wagen in eine Schneise ein. Sie hatten
schon einen Baum ausgewählt, als sie nach einen Strick suchten. Nur dem
Umstand, daß sie in ihrer Kiste keinen fanden, habe ich es zu verdanken, daß
sie mich nach Wachau brachten. Gegen 10 Uhr kamen wir im "Anker" an.
Zuerst bekam ich einen Schlag, daß ich bewußtlos zusammenbrach. Mit
Kübeln kalten Wassers brachten sie mich wieder zur Besinnung, um auf diese
Weise das "Verhör" fortzusetzen. Übel zugerichtet wurde ich auf die Kegelbahn
getrieben, wo ich bis ans Ende laufen und meinen Namen und anderes rufen
mußte. Nach diesen Quälereien kam ich in einen anderen Raum, wo ich wieder
mit Schlägen empfangen wurde …
Oswin Görner hatten die SA-Leute ein rotes Tuch, das von einer Streichholzschachtel zusammengehalten wurde, um den Hals gelegt und einen
Holzsäbel in die Hand gedrückt. Er mußte uns kommandieren. Das ging bis
20 Uhr, dann wurden die meisten nach Hause gelassen. Erich Kriedel, Richard
Wittwer und ich wurden mit auf das Polizeipräsidium genommen. Während
Richard Wittwer nach einer Woche wieder entlassen wurde, mußte ich ein
Vierteljahr dort bleiben und Erich Kriedel noch länger.”
• Am 10.1.1934 wird in Grünberg Otto Lehmann verhaftet. Das Gericht
verurteilt ihn wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einem Jahr und acht
40
Monaten Zuchthaus. Nach Ausbruch des Krieges wird er zum Strafbataillon
999 eingezogen.
• Am gleichen Tag verhaftet die Gestapo den Kommunisten Alfred Seifert und
inhaftiert ihn im Schutzhaftlager Hohnstein. Bei der Auflösung des Lagers
wird er in dem Dresdner Untersuchungsgefängnis "Mathilde" inhaftiert.
• Wegen des Verdachtes der illegalen Tätigkeit für die KPD wird Georg Wehner,
Radeberg, in das Schutzhaftlager Hohnstein eingeliefert. Trotz vieler Verhöre
kann kein Beweis dafür erbracht werden. Auch nicht bei der erneuten
Festnahme am 11.1.1937. Ein Gericht verurteilt ihn 1942 zu sechs Jahren
Zuchthaus. Im April 1945 befreien ihn die vorrückenden Truppen der USArmee aus dem Zuchthaus Waldheim.
Im Schutzhaftlager Hohnstein - Bildmitte dritter von links: Georg Wehner
• Der Musiker Herbert Hache, Mitglied der KPD, wird in seiner Wohnung in
Fischbach verhaftet. Im Rathaus Radeberg vernimmt und mißhandelt ihn der
"NS-Kriminalrat" Stalling. Herbert Hache wird im Schutzhaftlager Hohnstein
inhaftiert.
• Das Sondergericht für das Land Sachsen verurteilt Mitglieder der SPD am
6.3.1934 wegen des Versuches, ihre Parteiorganisation aufrecht zu erhalten:
Johannes Brückner, Vorsitzender der SPD in Radeberg und Leiter der Abwehrorganisation "Eiserne Front", zu einem Jahr Zuchthaus,
Karl Schaar, Vorsitzender des Reichsbanners in Radeberg, zu einem Jahr und
sechs Monaten Gefängnis,
41
•
•
•
•
Georg Völkel aus Schönborn zu einem Jahr Gefängnis und den Jugendlichen
Harry Brückner, Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend in Radeberg,
wegen Verteilung des "Kleinen Vorwärts" zu acht Monaten Gefängnis.
Der Hilfsarbeiter Emil Förster und der Arbeiter Stephan Schulz, beide aus
Radeberg, werden am 7.3.1934 verhaftet und in das Schutzhaftlager
Hohnstein eingeliefert. Wegen ergebnisloser Ermittlungen müssen sie
freigelassen werden.
Das Sondergericht des Landes Sachsen verurteilt Arno Liebscher aus
Ottendorf-Okrilla nach § 7 des Sprengstoffgesetzes zu einem Jahr und sechs
Monaten Zuchthaus.
In Radeberg wird der Glasmacher Max Hengst verhaftet und in das KZ
Sachsenburg gebracht. Trotz ergebnisloser Ermittlungen kommt es zur
Anklage.
Die 12. Große Strafkammer verurteilt den Bürger Georg Kutzner zu neun
Monaten Gefängnis. Ihm wird vorgeworfen, in Radeberg eine Widerstandsgruppe unterstützt und kommunistische Beitragsmarken und
Zeitungen gekauft zu haben.
• Der "Volksgerichtshof" verurteilt am 6.9.1934 Willy Goeder und 15 Kommunisten wegen Sprengstoffvergehens zu folgenden hohen Zuchthausstrafen:
Anstreicher Willy Goeder, Radeberg
Glasmacher Franz Zelinka, Radeberg
Glasarbeiter Paul Lehmann, Radeberg
Glasmacher Bruno Hampel, Radeberg
Kristallschleifer Walter Herrmann, Radeberg
Bauarbeiter Willi Noack, Ottendorf-Okrilla
Steinarbeiter Josef Einhellinger, Königsbrück
Arbeiter Hans Wächtler, Radeberg
Glasmacher Friedrich Seifert, Radeberg
Bauarbeiter Oskar Costrau, Radeberg
Färber Carl Vetters, Radeberg
Maschinenformer Walter Opitz, Ullersdorf
Ofenformer Paul Preller, Königsbrück
Arbeiter Bruno Mai, Wallroda
Glasarbeiter Wilhelm Magiera, Ottendorf-O.
15 Jahre
2 Jahre
2 Jahre
2½ Jahre
2 Jahre
2½ Jahre
3½ Jahre
2½ Jahre
3 Jahre
3 Jahre
2½ Jahre
2 Jahre
5 Jahre
1½ Jahre
2 Jahre
Der Glasarbeiter Friedrich Seifert stirbt am 18.3.1935 im Zusammenhang mit den Verhören und den Haftbedingungen im Zuchthaus.
42
Auszug aus dem Urteil
43
• Das Oberlandesgericht verurteilt den Kommunisten Rudolf Steinert aus
Schönborn zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus.
• Das Oberlandesgericht verurteilt am 9.11.1934 wegen Vorbereitung zum
Hochverrat, weil sie in Radeberg und Umgebung Widerstandsgruppen
aufrecht erhalten und antifaschistische Druckschriften verteilt haben:
Arbeiter Josef Dziacka, Großerkmannsdorf
Glasmacherwitwe Helene Edelmann, Radeberg
Arbeiter Edmund Gräubig, Radeberg
Arbeiter Ewald Henker, Großerkmannsdorf
Arbeiter Richard Henker, Großerkmannsdorf
Händler Erich Hochmuth, Radeberg
Glasschleifer Franz Kleinert, Radeberg
Arbeiter Georg Kostirka, Radeberg
Glasarbeiter Alfred Lehmann, Radeberg
Schlosser Oskar Matulla, Radeberg
Glasbieger Erich Menschner, Radeberg
Maschinenschlosser Erich Meyer, Grünberg
Former Walter Pietsch, Radeberg
Metallschleifer Erich Schneider, Radeberg
Werkzeugmacher Walter Simmchen, Wallroda
Schneidergehilfe Erwin Stein, Lomnitz
Arbeiter Erich Steinert, Radeberg
Die Strafen liegen zwischen eineinhalb und drei Jahren Zuchthaus.
• Das Sondergericht für das Land Sachsen verurteilt nach § 7 des Sprengstoffgesetzes aus Ottendorf-Okrilla Willi Oswald zu einem Jahr und sechs
Monaten und Kurt Grafe zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus.
• Im Januar 1937 fällt im Kampf gegen das Franco-Regime der Kommunist
Rudolf Hable aus Radeburg als Angehöriger der Internationalen Brigaden bei
Hueska in Spanien.
• Am 11.1.1937 verurteilt das Oberlandesgericht den Radeberger Schlosser
Albert Zumpe wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens
zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus. Nach Ablauf der Strafe wird
er am 19.4.1939 auf Anordnung der Gestapo weiter im Polizeigefängnis
Dresden festgehalten. Schließlich wird er in das Strafbataillon 999 eingezogen. Im Krieg wird er verwundet, er überlebt.
44
Entlassungsschein von Albert Zumpe
45
Bei ihren Machtansprüchen machte die NSDAP auch vor der Kirche nicht halt.
Schon vor 1933 wurden die "Deutschen Christen" gegründet. In dieser NSVereinigung waren Angehörige verschiedener Konfessionen vertreten. Wichtig
war nur, daß sie dem Nationalsozialismus treu ergeben waren.
Aus einer Chronik der Gemeinde Ottendorf-Okrilla ist zu erfahren, daß sich am 8.
November 1933 eine Ortsgruppe der "Deutschen Christen" gebildet hatte. Weiter
heißt es: "Nach Anordnung des im Jahre 1933 neu gebildeten Landeskirchenamtes, dessen Mitglieder der nationalsozialistischen Partei angehörten,
hatte die Mehrheit im Kirchenvorstand aus Nationalsozialisten zu bestehen."
Für den 23. Juli 1933 verlangte Hitler Kirchenwahlen mit dem Ziel, dadurch den
Einfluß der "Deutschen Christen" zu verstärken.
Bekenntnistreue Pfarrer waren mit dieser Entwicklung nicht einverstanden und
gründeten im November 1933 einen Notbund, der im Dezember 1933 die
"Deutschen Christen" eindeutig ablehnte. Daraufhin kam es zu Verhaftungen von
bekennenden Pfarrern. Viele von ihnen gingen den Weg in Gefängnisse,
Zuchthäuser oder Konzentrationslager..
Am 8. März 1936 wurde in Leipzig der "Lutherische Rat" gegründet. Er hatte das
Ziel, mit dem Zusammenschluß aller bekennenden Kirchen eine Abwehrfront
gegen die "Deutschen Christen" zu bilden.
• Über das Schicksal eines bekennenden Pfarrers - des Großerkmannsdorfer
Pastors Kläss - berichtet der Ortschronist von Kleinwolmsdorf, Herr Otto
Wittich, u.a.: Im Januar 1938 erhielt der jung verheiratete Pastor ein Schreiben
des Landeskirchenamtes der 'Deutschen Christen':
Herrn
Pastor Rudolf Kläss
Großerkmannsdorf über Radeberg
27.1.1938
Nachdem Sie in dem von Ihnen unterzeichneten Schreiben vom 17. Januar
1938 ausdrücklich erklärt haben, die von Herrn Reichs- und Preußischen
Minister für kirchliche Angelegenheiten berufene und durch die 1. Verordnung
zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Evangelischen Kirche vom
10. Dezember 1937 (Kirchl. GVBI. S. 151) bestätigte Kirchenleitung nicht
anzuerkennen und Sie demzufolge auch der Aufforderung, zur Ihrer
Vernehmung im Landeskirchenamt zu erscheinen, nicht Folge geleistet haben,
sehe ich mich gezwungen, die Ihnen bereits mit Schreiben vom 12. Januar
1938 angekündigte Maßnahme durchzuführen und Sie mit sofortiger
Wirkung aus dem landeskirchlichen Vorbereitungsdienst abzuberufen.
Auf Ihre weitere Tätigkeit im Bereich der Evangelisch-lutherischen
Landeskirche Sachsen wird solange verzichtet, als Sie die von Ihnen
eingenommene Haltung nicht aufgeben und die Weisungen der Kirchenleitung befolgen.
46
Die Räumung der Ihnen zur Verfügung gestellten Amtswohnung ist zu
beschleunigen, auf einer sofortigen Räumung soll solange nicht bestanden
werden, als dadurch die Erledigung der Amtsgeschäfte durch die neue
abzuordnende Hilfskraft nicht erschwert wird.
i.V. Liebsch
ausgefertigt: Dresden, am 27. Januar 1938, gez. Thomann, K-Inspektor
Warum hatte sich der junge Pastor den Anordnungen der Kirchenleitung
widersetzt? Aus ihrer Erinnerung gab seine Frau dem Chronisten Auskunft:
Die 'Deutschen Christen', kurz DC genannt, brachten schon Mitte der 30er
Jahre eine nach den Maßstäben der NS-Ideologie "gereinigte Bibel" heraus. Das
Alte Testament war als "Judenbuch" weggelassen, im Neuen Testament
Christus als arischer Heroe dargestellt. Superintendent Klotsche, als
"Revolverklotsche" bekannt, kam in SA-Uniform und mit Pistole ins
Landeskirchenamt. Der DC-Landesbischof Friedrich Cohn hatte wahrlich
keinen guten Ruf.
Anfang 1935 war es in der Landeskirche zu Verhaftungen bekenntnistreuer
Pfarrer gekommen, weil sie die Wahrheit gepredigt, sich für bedrängte
Menschen eingesetzt hatten und sich als Seelsorger vieler Verhafteter und
deren Angehörigen annahmen.
Um äußerer Vorteile willen wollten Pfarrer Kläss und seine Frau ihren Glauben
nicht verleugnen. Eine Laienabordnung unter Führung Hugo Schäfers wurde
im Landeskirchenamt vorstellig, um die Entlassung von Pfarrer Kläss
rückgängig zu machen. Doch sie erreichten nichts, obwohl die ganze
Kirchgemeinde, das ganze Dorf, bis auf fünf fanatische NSDAP-Leute, hinter
dem Pfarrer standen.
Die Arbeit ging dennoch weiter als ob nichts geschehen sei: Unterricht,
Besuche, Bibelstunden, Gottesdienst, Junge Gemeinde, Kasualien usw. Bis
Himmelfahrt ging das so, dann verschloß man ihnen die Kirchentür. Die Maulund Klauenseuche solle nicht verbreitet werden, hieß es, aber alle anderen
Veranstaltungen, wie Kino, Versammlungen oder Schule liefen ungehindert
weiter.
Wovon lebte Familie Kläss ohne Gehalt?
Besucher der Bibelstunden oder des Frauendienstes drückten ihnen beim
Verabschieden Geld in die Hand. Die Nudelfabrik schickte eine Tüte mit 10 Pfd.
Nudeln, Bauern brachten Brote, Eier, Butter, Wurst, Speck oder auch vom
Schlachtfest fertiges Mittagessen. Arme Leute brachten ein Glas selbstgemachte Marmelade und ein 50-Pfennig-Stück darauf.
Nachdem sich ein DC-Pfarrer gefunden hatte, mußte Familie Kläss das
Pfarrhaus räumen. Also ging man mit dem acht Monate alten Kind ins "Exil",
in das Auszugshaus des Bauern Arthur König in Kleinwolmsdorf Nr. 7. Dieser
Auszug wurde zu einem einzigen Bekenntnis. Jetzt, in der Heuernte, stellten
47
die Großerkmannsdorfer Bauern Wagen und Gespanne, und Frauen vom
Frauendienst halfen beim Packen und Verladen.
Als der DC-Pfarrer seine Tätigkeit aufgenommen hatte und Pfarrer Kläss das
Gotteshaus nicht mehr betreten durfte, beschränkte er sich zwangsläufig auf
seine Wohnung. Hier war jeden Abend und auch sonntag nachmittags die
Stube voll. Dorthin geschickte Spitzel hatten viel aufzuschreiben.
Nun übertrug die Bekennende Kirche Pfarrer Kläss die Aufgabe, katechetische
Kurse für Laien zu halten, anfangs in Dresden, dann auch in Radeberg.
Überall mußte er einspringen, denn er hatte ein Motorrad.
Mit Ausbruch des Krieges häuften sich die Vertretungen. Oft predigte er in
Großnaundorf und Lomnitz. Und hier, in fremden Orten, erkannte er oft
Besucher aus seinen alten Gemeinden. Obwohl sie sonst nach Radeberg zum
Gottesdienst gingen, scheuten sie auch den weiteren Weg nicht.
Zum Erntedankfest 1939 predigte Pfarrer Kläss in Radeberg. Auch am
Ewigkeitssonntag sollte er wieder hier predigen. Diese Niederlage wollten sich
die ‘Deutschen Christen’ nicht noch einmal einhandeln, und so wurde Pastor
Kläss am Freitag zuvor zur Wehrmacht einberufen. Während des Rückzuges
der Wehrmacht fiel Pastor Kläss am 7.2.1945 in Kroatien.
• Der "Volksgerichtshof" verurteilt am 17.11.1938 weitere meist Radeberger
Antifaschisten:
Johannes Kutzera
10 Jahre Zuchthaus
Helmut Köbbel
5 Jahre Zuchthaus
Martin Hommel
1½ Jahre Zuchthaus
Karl Otto
1 Jahr Gefängnis
Erich Gräfe
1 Jahr Gefängnis
• Die in diesem Prozeß ebenfalls Angeklagten Hustig und Weber konnten nicht
verurteilt werden. Nach Angaben der Polizei hatten sie im Gefängnis
Selbstmord begangen.
• Der Kommunist Samuel Steinfeld aus Weixdorf war wegen seiner
Mitgliedschaft in der KPD 1933 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden.
1940 wird er aus gleichem Grunde und wegen seiner jüdischen Abstammung
erneut verhaftet. Über die Konzentrationslager Radom, Maidanek,
Tschenstochau kommt er nach Buchenwald, wo er die Befreiung erlebt.
• Das Oberlandesgericht Dresden verurteilt den Kommunisten Paul Schmidt aus
Weixdorf wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zwei Jahren und sechs
Monaten Zuchthaus. Nach Ablauf dieser Strafzeit bleibt er weiter in den
Konzentrationslagern Buchenwald, Natzweiler und Dachau. Dort befreien ihn
am 27.4.1945 Truppen der Alliierten.
• Albin Lehmann aus Radeberg wird noch am 28. April 1944 wegen Abhörens
deutschsprachiger Nachrichten der Sender Moskau, London und Beromünster
zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dem Willen seiner Richter sollte er
mindestens bis 31.1.1947 inhaftiert bleiben.
48
Mitteilung in der Strafsache gegen Albin Lehmann vom Landrat zu Dresden an den Bürgermeister
von Radeberg
49
• Der Oberreichsanwalt beim "Volksgerichtshof" klagt 1944 den Drehergehilfen
Willi Burkhardt, den Maschinenarbeiter Friedrich Müller und den Dreher Paul
Schölzel, alle aus Radeberg, an. Da beim Bombenangriff auf Dresden das
Gerichtsgebäude stark beschädigt worden war und bis dahin noch keine
Gerichtsverhandlung stattgefunden hatte, kommt es bis zu ihrer Befreiung am
8. Mai 1945 zu keiner Verhandlung mehr.
Die Motive dieser und vieler Menschen, die die NS-Politik ablehnten oder sich der
NS-Politik widersetzten, waren ebenso unterschiedlich, wie ihre Lebenserfahrungen, ihre Herkunft, ihre Weltanschauung, ihr Alter und ihre
Persönlichkeitsstruktur.
Sie dachten und handelten antifaschistisch, weil die Nationalsozialisten die
Demokratie mit Füßen traten, einen nie dagewesenen Terror ausübten und alle
Andersdenkenden mit dem Tode bedrohten, Rassenhaß, Nationalismus und
Chauvinismus zur Staatspolitik erhoben, Gewalt verherrlichten und ausübten,
den Krieg systematisch vorbereiteten und 1939 begannen. Für alle diese
Menschen war der deutsche Faschismus mit Redlichkeit, Moral, Anstand,
Menschenwürde und Menschenrecht nicht zu vereinbaren.
Sie sahen im Faschismus eine tödliche Gefahr für Deutschland und seine
Nachbarn. Deshalb handelten sie antifaschistisch.
Es war ihre Tragödie, daß sie nicht zum gemeinsamen Handeln fanden. Das gilt
besonders für die Antifaschisten in politischen Parteien.
So fanden trotz der immer deutlicher heraufziehenden Gefahr einer NS-Diktatur
in Deutschland und trotz partieller Zusammenarbeit an der Basis die starken
antifaschistischen Kräfte in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und
in der Kommunistischen Partei Deutschlands keinen Grundkonsens zur Abwehr
dieser tödlichen Gefahr. Anstatt gemeinsam antifaschistisch zu handeln,
betonten sie die Unterschiede in ihren Auffassungen und schwächten sich mit
gegenseitigen Vorwürfen.
Der brutale Terror gegen alle Antifaschisten war die blutige Quittung dafür. Die
Völker Europas, auch das deutsche Volk, mußten mit dem Zweiten Weltkrieg
und dem Holocaust das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte
durchleben.
50
II. Der Terror gegen die Juden
Zum Antisemitismus in der NS-Rassenideologie
Antisemitismus (Judenhaß und Judenverfolgung) existiert seit Jahrhunderten.
Er war stets ein Mittel der Herrschenden, von den Ursachen politischer,
wirtschaftlicher und sozialer Probleme abzulenken. Juden wurden zu "Sündenböcken" abgestempelt, weil deren Vertreibung oder Auslöschung die Voraussetzung für einen Wandel zum Besseren sei.
Eine Welle des Antisemitismus entwickelte sich in Deutschland besonders nach
der militärischen Niederlage des Kaiserreiches im 1. Weltkrieg 1918. Die
patriotisch-völkischen Rechten erfanden die "Dolchstoßlegende". Sie behaupteten, die Novemberrevolution von 1918 sei eine jüdisch-sozialistische Verschwörung gewesen, die der siegreichen deutschen Armee in den Rücken gefallen
sei. Dieser angebliche Dolchstoß in den Rücken der tapferen deutschen Frontsoldaten sei Ursache für die deutsche Niederlage. Der Antisemitismus verband
sich mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Weimarer Republik, die als
Judenrepublik diffamiert wurde. Dadurch erhielt diese hemmungslose Judenhetze
ihre politische Brisanz.
Die 1920 gegründete NSDAP verdichtete den Antisemitismus der patriotischvölkischen Kräfte, verbrämte ihn pseudowissenschaftlich mit ihrer Rassentheorie
und radikalisierte ihn. Die NS-Ideologie reduzierte die weltpolitische Entwicklung
auf einen immerwährenden Rassenkampf. Ihrem Idealtyp des Ariers stellte sie
den Juden als Gegenrasse, als Negativtyp und unversöhnlichen Feind entgegen.
Zur Untermauerung dieser Auffassungen verbreitete die NS-Propaganda das
gesamte antisemitische Schriftgut von Dr. Martin Luther, Hofprediger Stoecker,
Friedrich Nietzsche, Richard Wagner u.a.
Der Landesbischof der ev.luth.Kirche, Martin Sasse, publizierte eine Broschüre
mit dem Titel: "Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen" (Sturmheit-Verlag
Erfurt).
NS-konform verhielt sich auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz,
Kardinal Adolf Bertram (Breslau), der besonders auf die Einhaltung des Artikels
29 des Staatsvertrages zwischen dem Heiligen Stuhl (Vatikan) und der Deutschen
Reichsregierung (1933) Wert legte. Dieser Artikel klammerte eine Schutzfunktion
der Katholiken für nicht "deutschblütige" Menschen (Juden, Sinti und Roma o.a.)
aus.
Kardinal Bertram setze sich übrigens auch für das "Gebet für den Führer" in den
Schulen ein und erließ die Verordnung, daß es zulässig ist, zum Empfang der
Heiligen Sakramente in der Uniform der Hitlerjugend zu erscheinen.
51
Der NS-Terror gegen die jüdischen Bürger beginnt
Wenige Wochen nach der NS-Machtergreifung begann der Terror. Das geschah
nahezu zeitgleich mit der Ausschaltung der Linksparteien, der Inhaftierung
Zehntausender ihrer Mitglieder, der Zerschlagung und des Verbots der
Gewerkschaften und ihrer Unterorganisationen sowie der Aneignung deren
gesamten Eigentums.
Am 28.3.1933 bildete die zentrale Leitung der NSDAP ein Zentralkomitee zur
Organisierung eines totalen Boykotts der Juden in Deutschland. "Zur Abwehr der
jüdischen Greuelhetze gegen das neue Deutschland" - so wurde verlogen
behauptet - rief die NSDAP am 29.3.1933 in ihrem Zentralblatt "Völkischer
Beobachter", an allen Litfaßsäulen und mit einer Flut von Flugblättern die
Bevölkerung zum Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Ärzte und Rechtsanwälte auf.
Ab 1. April 1933 postierten sich SA und HJ vor den jüdischen Geschäften und
beschmierten sie mit Parolen: "Kein Deutscher kauft bei Juden" oder "Achtung
Lebensgefahr" oder "Juda verrecke" oder einfach "Jude" und terrorisierten Kunden,
Klienten oder Patienten.
Am 4.4.1933 wurde der Boykott zwar für beendet erklärt, es folgte aber eine Flut
von Gesetzen und Verordnungen, die nun die staatliche organisierte Verfolgung
der Juden einleitete.
Bereits im Gesetz über das Berufsbeamtentum vom 7.4.1933 tauchte ein
"Arierparagraph" auf, der noch im gleichen Jahr Bestandteil weiterer Gesetze und
Verordnungen wurde. Danach mußten Juden als Beamte, aus staatlichen
Einrichtungen und Institutionen, einschließlich Hochschulen ausscheiden und
wurden aus künstlerischen Einrichtungen, der Presse und dem Verlagswesen
vertrieben.
Der Reichsparteitag der NSDAP am 15.9.1935 in Nürnberg wurde mit den von
Adolf Hitler begründeten und vom Deutschen Reichstag einstimmig beschlossenen Gesetzen zum "Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" und
dem "Reichsbürgergesetz" abgeschlossen. (Nürnberger Gesetze, siehe Seite 53)
Mit der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 und dem
darauf folgenden Runderlaß des Reichsminister des Inneren vom 26.11.1935
wurde definiert, wer als Jude oder Mischling 1. und 2. Grades zu gelten hatte. Da
es objektiv keinen Unterschied zwischen "deutschem oder artverwandtem Blut"
und der "jüdischen Rasse" gibt, griffen die Behörden entgegen der verlogenen NSRassenlehre auf die Zugehörigkeit zur mosaischen Religion bis zu den Großeltern
zurück, unabhängig davon, ob die Nachfahren einer anderen oder keiner
Religionsgemeinschaft angehörten.
Mit diesen Gesetzen wurden die deutschen Juden diffamiert und ihrer
elementaren Bürgerrechte beraubt.
52
Ein eigens zur Herabsetzung und Verleumdung der Juden geschaffenes Organ der
NS-Rassenpropaganda war die von NSDAP-Gauleiter Julius Streicher herausgegebene Zeitung "Der Stürmer". Sie wurde überall in Schaukästen veröffentlicht
und heizte den Haß gegen die "jüdischen Weltverschwörer" immer weiter an.
Die Vertreibung
Die NS-Regierung hatte das Ziel, möglichst viele Juden aus Deutschland und dem
inzwischen annektierten Österreich zu vertreiben, ohne daß sie nennenswertes
Vermögen mitnehmen konnten. Diesem Zweck diente die "Verordnung über die
Anmeldung des Vermögens der Juden" vom 26.4.1938.
53
Als besonders infame Maßnahme zum Boykott jüdischer Gewerbetreibender
setzte die NSDAP-Ortsgruppe Radeberg den Fotoschaukasten am Radeberger
Rathaus als Pranger ein. Dazu schreibt der Radeberger Gottfried Beier in seinen
Erinnerungen: "Mit Hochachtung wollen wir der mutigen Frauen gedenken, die
trotz des Boykott-Aufrufes bis zur gewaltsamen Schließung jüdischer Läden dort
einkauften. Um diese Radebergerinnen zu ängstigen und zu demütigen, wurden
sie fotografiert."
Die gleiche Erfahrung machte Erich Förster aus Wachau: "Ich hatte gerade
ausgelernt und wollte mir einen Anzug kaufen. Im Wissen um den Aberglauben
jüdischer Geschäftsinhaber, den ersten Kunden Montag früh auch um den Preis
eines finanziellen Verlustes nicht ohne Ware gehen zu lassen, ging ich zu TextilZeimann und kaufte dort. Am Nachmittag kam mein Lehrmeister und gab mir
eine schallende Ohrfeige mit der Bemerkung: 'Ich laß mir nicht von Dir das
Geschäft versauen'. Inzwischen hatte man ihm mein Foto im Schaukasten am
Radeberger Rathaus gezeigt. Ein SA-Mann hatte mich fotografiert und dieses
Foto unter der Überschrift 'Sie kauften beim Juden' ausgehängt" (Erlebnisbericht
1985).
54
In der Statistik des Deutschen Reiches wird unter der Überschrift "Die Glaubensjuden im Deutschen Reich" für den Amtsbezirk Radeberg die Zahl der religiös
gebundenen jüdischen Mitbürger mit neun (drei männlich, sechs weiblich)
angegeben.
Mit der hemmungslosen Judenhetze und dem seit 1933 anhaltenden Boykott
gegenüber den seit Jahrzehnten in Radeberg ansässigen jüdischen Gewerbetreibenden, wie der Konfektionsfirma Lederer (Hauptstraße), Schuhhaus Baum
(Hauptstraße), Trikotagen-Miederwaren Lingner (Hauptstraße), Textilgeschäft
Zeimann (Hauptstraße), trieben die NS-Machthaber diese Mitbürger finanziell
und moralisch in den Ruin. Sie konnten dem Druck nicht mehr standhalten,
gaben ihre Geschäfte und Immobilien auf und verließen die Stadt.
Da die jüdische Firma Ikenberg dem Terror noch widerstand und die Stadt nicht
verlassen wollte, demolierte der von SA-Leuten aufgeputschte Mob dieses
jüdische Warenhaus in der Hauptstraße, Ecke Schulstraße. Das war auch für diese
Familie das Ende in Radeberg.
Am 13.8.1938 war in der "Radeberger Zeitung" folgende Großanzeige zu lesen:
Durch diesen gebündelten antisemitischen Terror war die Wirtschaft von
Radeberg nun "judenfrei".
55
Die NS-Reichskristallnacht
Aus Protest gegen die Verfolgung der Juden und aus Verzweiflung über die
Vertreibung seiner Verwandten aus Deutschland erschoß am 8.11.1938 der
17jährige Herschel Grynszpan den deutschen Diplomaten E. vom Rath. Nun
begannen die Nationalsozialisten in ganz Deutschland staatlich organisierte
Judenpogrome, bei denen sich die SA besonders hervortat. Diese sogenannte
"Reichskristallnacht" dauerte bis zum 11. November 1938. Im gesamten Reichsgebiet wurden 7.000 jüdische Warenhäuser und Einzelhandelsgeschäfte völlig
demoliert und größtenteils ausgeplündert. Die Inhaber und deren Familien
wurden mißhandelt und jeglicher menschlicher Würde beraubt. Nach offiziellen
Angaben fanden dabei 91 jüdische Personen den Tod. 276 Synagogen und
jüdische Bethäuser gingen in Flammen auf, darunter die von Gottfried Semper
errichtete Dresdner Synagoge. Auf Anweisung der Gestapo mußten die
Feuerwehren den Bränden tatenlos zusehen. Schon während dieser Pogrome
verhafteten die Nationalsozialisten 22.000 jüdische Bürger und wiesen sie in
Konzentrationslager ein. Die bis dahin in jüdischem Besitz verbliebenen
Geschäfte und Immobilien wurden "arisiert", das heißt, Arier eigneten sich diese
an.
Dieses Schicksal widerfuhr auch der Familie Carl Schönwald in der benachbarten
Stadt Großröhrsdorf. Dr. E. Körner schreibt dazu: "In der Nacht vom 9. zum 10.
November 1938 zogen einige Mitglieder der NSDAP vor die Schaufenster der
Schönwalds, schlugen die Scheiben ein, demolierten Auslagen und Inventar und
grölten antisemitische Losungen. Eine Hauswand wurde derart beschmiert, daß
die Haßtiraden noch in den siebziger Jahren erkennbar waren. In diesen Stunden
trieben die faschistischen Herrscher auch die Familie Schönwald in ein
furchtbares Schicksal."
Am 13. November 1938 hielt NS-Reichspropagandaminister Dr. Goebbels eine
Rede, in der er die schrecklichen Pogrome lobte und den Judenhaß weiter
anheizte. Darüber berichtete die "Radeberger Zeitung und Tageblatt" am 14.11.38
(siehe Seite 57).
Gleichzeitig rechtfertigte Goebbels die am Vortage erlassenen Verordnungen der
NS-Reichsregierung (siehe Seite 58) zur weiteren Terrorisierung und Entrechtung
der Juden.
Die Endlösung
Schon vor den Pogromen von 1938 verschärfte die NSDAP den Terror gegen die
jüdische Bevölkerung ständig. Juden wurde untersagt, ein Gewerbe oder ein
selbständiges Handwerk zu betreiben. Jüdische Kinder durften deutsche Schulen
nicht mehr besuchen, hilfsbedürftigen Juden wurde die öffentliche Fürsorgezahlung entzogen. Juden durften nur noch in bestimmten Häusern wohnen
56
“Radeberger Zeitung und Tageblatt”
vom 14.11.1938
Bestandsaufnahme:
Erst Hetze und Boykott,
dann “arisiert”,
dann Auschwitz.
57
58
und ihr Wohngebiet nur mit Erlaubnis der Polizei verlassen. Der Besuch jeglicher
Kultur- und Sportveranstaltungen und der Freibäder wurde ihnen verboten.
Juden wurde untersagt, bestimmte Straßen, Plätze, Anlagen und Gebäude zu
betreten und Haustiere zu halten. Ihre Führerscheine wurden eingezogen. Mit
Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde über die Juden eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.
Vom Frühjahr 1941 an verschlechterte sich innerhalb weniger Monate die
Situation der völlig rechtlos gewordenen Juden dramatisch und wurde hoffnungslos. Juden ab dem 6. Lebensjahr wurden gezwungen, an der Oberbekleidung sichtbar den gelben Judenstern zu tragen. Wenig später mußten sie
auch ihre Wohnungen mit dem Judenstern kennzeichnen. Zwischen dem
20.7.1941 und dem 13.11.1944 wurden 108 neue Verordnungen und Erlasse zur
Terrorisierung der deutschen Juden verhängt. Es ist unvorstellbar, wie der Alltag
in den jüdischen Familien aussah, abgeschnitten von jeglicher Kommunikation
und kaum noch das Allernotwendigste zum Leben zur Verfügung. Rucksack oder
Koffer standen griffbereit. Sie warteten nur noch auf ihre Deportation. Die Zahl
der Selbsttötungen stieg.
Die NS-Regierung unterband nunmehr die Auswanderung von Juden aus
Deutschland. Bald danach begannen die systematischen Deportationen in
jüdische Gettos in die von der deutschen Wehrmacht besetzten Ostgebiete, z.B. in
Lodz, Minsk, Riga, Lublin und Theresienstadt. Gettos waren von der Außenwelt
völlig abgeriegelte Stadtteile, in die ausschließlich Juden eingesperrt wurden. In
das Getto in Lodz waren 170.000 Juden eingepfercht. Sie erhielten Hungerrationen. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Alle Arbeitsfähigen
mußten Aufträge der deutschen Wehrmacht erfüllen. Von Mai 1940 bis August
1944 starben im Getto Lodz mehr als 43.000 Deportierte, die Mehrzahl aus
Deutschland.
Im Januar 1942 fiel die Entscheidung über die "Endlösung" der Judenfrage
durch ihre systematische physische Vernichtung. Nun rollten die Deportationszüge auch von Dresden direkt in die Vernichtungslager Auschwitz oder
Theresienstadt.
Es ist schwer, Spuren der einstmals in Radeberg lebenden Juden zu finden. Frau
Berta Lederer wanderte 1934 nach der CSR aus. 1935 folgte ihre Schwester
Charlotte Baum und deren Ehemann Ernst Baum. Sie lebten in Prag, konnten aber
ihrem Schicksal nicht entgehen. Frau Baum wurde 1941 in das Getto Lodz
deportiert, ihre Schwester Berta Lederer kam 1942 nach Theresienstadt. In
welchem Lager sie umkam, ist unbekannt. Die Eheleute Ikenberg fanden nach
ihrer Vertreibung aus Radeberg Zuflucht in Dresden. Von dort wurden sie am
1.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 27.9.1942 bzw. am 7.1.1943
umkamen. Unbekannt ist das Schicksal der anderen ehemals in Radeberg
lebenden jüdischen Bürger.
59
Die ehemalige österreichische Festungsstadt Theresienstadt war mit Erlaß des
Reichssicherungshauptamtes (RSHA) vom 21.5.1942 als “Altersghetto” für über
65jährige Juden definiert. Mit Täuschung und Ausplünderung anhand der
sogenannten “Heimeinkaufsverträge” wurde diesem Personenkreis “Betreuung
und Pflege” versprochen.
Insgesamt wurden 141.000 Juden nach Theresienstadt (Terezin) deportiert.
Theresienstadt war eine Durchgangsstation für die Vernichtungslager im
Baltikum, Polen und Weißrußland (insgesamt dorthin deportiert ca. 88.000
Menschen). In Theresienstadt starben 33.500 Menschen.
Mit der Errichtung von Gettos und Vernichtungslagern im Machtbereich der
deutschen Wehrmacht praktizierten die Nationalsozialisten bis zu ihrer
Niederwerfung 1945 die von Beginn an geplante Endlösung der Judenfrage. In
diesem in der Geschichte der Menschheit einmaligen Holocaust ermordete das
NS-Regime über sechs Millionen Juden. Unmittelbar war daran eine Minderheit
der Deutschen beteiligt, aber die Mehrheit der Deutschen sah tatenlos zu.
Bundespräsident Roman Herzog am 9.11.1998:
"Über 4000 Deutsche werden heute in YAD-VASHEM als Judenretter geehrt. Um so
mehr haben wir alle die tägliche Pflicht, für Verhältnisse in unserem Land zu
sorgen, in denen niemand ein Held sein muß, um ein guter, ein anständiger
Mensch zu sein."
Nach dem Ende des Krieges beschäftigte den Radeberger Maler und Grafiker
Martin Lehnert aus seiner christlichen Verantwortung der millionenfache Mord
an Juden in Hitlerdeutschland zutiefst.
Nach intensiven Recherchen und tiefgehender geistiger und emotionaler
Auseinandersetzung drückte er seine Haltung, seine Gedanken und seine Gefühle
zum Holocaust in einem Zyklus von 12 Grafiken aus.
Wir sind dankbar, daß wir diese Werke und die Gedanken des Radeberger
Künstlers dazu mit seiner freundlichen Genehmigung der Öffentlichkeit
vorstellen können.
60
BILDER
GEGEN DAS
VERGESSEN
VERFOLGUNG DER JUDEN
1933-1945
12 grafische blätter
von martin lehnert,
radeberg
Ihre Schreie verhallten im Nichts
Wie konnte es geschehen, daß 1938 die Synagogen brannten?
Weil man das Denken und das Moralempfinden anderen überließ.
62
Wohin in dieser Welt?
Die Weltbevölkerung zu jener Zeit hat nicht begriffen, daß das Tragen des gelben Sterns
bereits ein Todeszeichen war.
63
Hommage à David Rubinowicz
Zwei jüdische Kinder schreiben Tagebuch während der Verfolgungszeit:
Anne Frank und David Rubinowicz. David Rubinowicz kam in Treblinka um.
64
Nacht über Babi Jar.
Bei Kiew wurden etwa 40.000 Juden erschossen und verscharrt.
65
Sie nannten es Selektion.
Es gab in den Konzentrationslagern nur diese Möglichkeiten: Vernichtung durch Arbeit oder
Vernichtung durch Gas.
66
Ein Traum: Psalm 55, 5-8
David wurde durch Saul verfolgt. Die Gefahr spiegelt sich im Psalm 55:
5. Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe, und des Todes Furcht ist auf mich gefallen.
6. Furcht und Zittern ist mir angekommen und Grauen hat mich überfallen.
7. Ich sprach: O hätt ich Flügel wie Tauben, daß ich flöge und bliebe!
8. Siehe, so wollte ich ferne wegfliegen und in der Wüste bleiben.
Ob nicht vielen hinter Stacheldraht ähnliche Gedanken kamen?
67
Im Getto.
Wie gehetzte Tiere kapitulierten die Opfer vor dem Vernichtungswahn.
Sie fanden keinen Ausweg.
68
Wo sind die Schuldigen?
1945: Der furchtbare Terror war vorüber. Die Überlebenden und Geschundenen verlangten
nach Gerechtigkeit. Aber wo und wie?
69
Hoffnung kommt und geht.
Das Bild zeigt Licht und Schatten. Gutes und Böses begegnen sich in unserer Welt.
Wir müssen uns entscheiden.
70
Der Geist der Tiefe regt sich.
Das furchtbare Töten war zu Ende. Es hinterließ ein Meer von Tränen.
Müssen bald neue Tränen fließen?
71
Mißgeburten der Unterwelt.
Wer steht nicht fassungslos vor den Vernichtungstaten, jeder soll sich fragen:
Was ist zu tun?
72
Gefährlicher Dschungel.
Sind es wieder die gleichen Schreie wie damals: »Deutschland erwache!«?
73
Holocaust
Als über Deutschland die Nacht der braunen Dämonie hereinbrach, bemerkten viele Bürger jener Zeit die Finsternis viel zu spät.
Zerschlagene Fensterscheiben klirrten auf dem Bürgersteig, deutsche
Marschstiefel zertraten Menschen und Kulturen in Europa, der Würgegriff
saß fest und unlösbar an den Kehlen von Millionen Menschen,
es gab kein Entrinnen mehr.
In diesem Siegesrausch fühlten sich die "Weltverbesserer" sicher und tobten
sich in den heimischen und in den eroberten Regionen aus.
Damit begann das größte Trauerspiel aller Zeiten. Eine Gruppe von Menschen - wie Du und Ich - wurde gezwungen, den gelben Stern an der Kleidung
zu tragen. Was dann geschah, dafür gibt es keine Worte, um dieses satanische Vernichtungswerk zu beschreiben.
Menschen wurden fabrikmäßig zu Asche verarbeitet.
Lies bitte die 43 Buchstaben noch einmal mit Bedacht!
Menschen wurden fabrikmäßig zu Asche verarbeitet.
Der Tag der Ernüchterung trat ein.
Die sieggewohnten Heilrufer mußten erkennen, daß sie die falschen Götter
angebetet hatten. Für diese chaotische Hinterlassenschaft wurden
Schuldige gesucht. Etwas Ungeheuerliches geschah, denn die größten
Verwandlungskünstler traten in Erscheinung. Viele mit beschmutzten Händen und Geist kamen mit sauberer Weste ans Tageslicht. Über die Vergangenheit wurde ein wurzelkräftiger Samen gestreut, ein neues Zeitalter
begann zu blühen.
Diese Zeilen und die grafischen Blätter sollen zum Nachdenken anregen
und uns mahnen, daß wir für die Vergangenheit und die Gegenwart Verantwortung tragen, damit über Deutschland nicht noch einmal eine dunkle
Nacht hereinbricht.
Januar 1997
Martin Lehnert
74
Gesichter der Juden in Auschwitz
Lili Meiers Album, Berin-Kreuzberg 1995
Ankunft eines Transportzuges.
Die Armstreifen kennzeichnen jüdische Ärzte im Lager.
75
Links Tante Tuba,
die Schwester von
Lili Jacobs Vater,
mit vier ihrer fünf Kinder.
Alle umgekommen.
Noch einsatzfähige Männer.
76
III. NS-Euthanasiemorde - auch in unserer Heimat
Euthanasie bedeutet im medizinischen Sinne die Pflicht des Arztes und seiner
Mitarbeiter, auch einem Sterbenden jede mögliche ärztliche Hilfe zu gewähren
und so sein Sterben zu erleichtern.
In der NS-Diktatur wurde dieser Begriff verbrecherisch mißbraucht, um die Morde
an hilfsbedürftigen Menschen zu umschreiben, zu vollziehen und zu vertuschen.
Die NSDAP berief sich dabei auf eine 1920 von dem Juristen Binding und dem
Mediziner Hoche veröffentlichte Schrift: "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens."
Mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" ordneten die NSBarbaren, juristisch verbrämt, die zwangsweise Sterilisation Hunderttausender
an. Im Gesetz wurden zahlreiche medizinisch genau definierte angeborene und
durch Krankheit erworbene Folgezustände benannt, die zur zwangsweisen
Sterilisation der Betroffenen führten.
Ein Schreiben aus Hitlers Büro sollte als "Führerbefehl" die zehntausendfache
Ermordung Behinderter durch Gas, Medikamente oder fehlerhafte Pflege
rechtfertigen. Am 1.9.1939 schrieb Hitler: "Reichsleiter Bouhler und Dr. med.
Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu
bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod
gewährt werden kann."
In der Tiergartenstraße 4 in Berlin wurde ein Organisationsnetz etabliert, das den
praktischen Ablauf der Massenmorde bis in die kleinsten Details regelte.
In den Heil- und Pflegeeinrichtungen begutachteten ausgewählte Ärzte die
Behinderten dreimal. Es geschah, was Historiker später als "Selektion" bezeichneten. Ein farbig markiertes Kreuz hinter dem Namen bedeutete den Tod.
Vorläufig am Leben bleiben durften nur Arbeitsfähige, deren Arbeitskraft bis zum
"Endsieg" auszubeuten war.
Auf dem "Sonnenstein" in Pirna, einer von vier in Deutschland betriebenen
Tötungsanstalten, wurden bis 1941 mindestens 15.000 Menschen als "lebensunwertes Leben" mit Gas ermordet. In die Gaskammer auf dem "Sonnenstein" in
Pirna schickten die Nazis aber auch Juden, die völlig gesund waren.
Aus der Landesheil- und Pflegeanstalt Arnsdorf wurden über 2.000 Patienten in
die Vernichtungsanstalt Pirna-Sonnenstein gebracht. 770 Patienten kamen über
einen Zwischenaufenthalt in Waldheim dorthin. Aus Großschweidnitz verlegte
man über 3.200 Patienten nach Pirna. Alle wurden in der Gaskammer mit
Kohlenmonoxyd getötet, ebenso der größte Teil der 1940/41 aus Zschadras
verlegten 3. 515 Patienten.
In einer Denkschrift über die Heil- und Pflegeanstalt der Inneren Mission Sachsen
in Kleinwachau ist zu lesen: "Es war an einem Sonntag im Mai 1943, als wir alle
zum letzten Mal in unserer Kapelle zusammenkamen. Die Abschiedsfeier... ging
77
uns allen sehr nahe. Nach der Feierstunde ging es hinaus auf den Hof. Dort
standen schon die Autobusse..."
Achtzig Kinder und viele Erwachsene wurden an diesem Tag nach der
Landesheilanstalt Großschweidnitz gebracht - für die meisten ist es die letzte
Fahrt; nur ein Kind hat das Grauen von Großschweidnitz überlebt.
Die Nachforschungen in Großschweidnitz und Sonnenstein haben bisher
ergeben, daß über 100 Euthanasieopfer aus Kleinwachau kamen.
Struktur der Tötungsanstalt
Pirna-Sonnenstein
78
Damit den Angehörigen diese Morde möglichst lange verborgen bleiben sollten,
erfolgte eine raffiniert ausgeklügelte Verschleierung. Die gemeinnützige Krankentransportgesellschaft "GEKRAT" transportierte die selektierten Opfer zunächst
von einer Pflegeeinrichtung in die andere, ehe sie auf den "Sonnenstein" gebracht
wurden. Der Transport erfolgte in Kleinbussen, deren Scheiben überstrichen oder
durch Vorhänge dem Einblick entzogen waren.
Kommunalverwaltungen und Standesämter gaben den Hinterbliebenen der
Ermordeten Falschinformationen über die Todesursache und stellten Falschbeurkundungen aus. Dafür zwei Beispiele:
Fräulein Erna Kriegel aus Löbau wurde aus Liebeskummer vorübergehend
verhaltensgestört. 1934 wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz
eingeliefert und im gleichen Jahr gegen den Widerstand der Eltern in Ebersbach
zwangsweise sterilisiert. Obwohl sich trotz dieser Tortour ihre psychische
Festigkeit wiederhergestellt hatte, wurde sie unter der Fehldiagnose
"Schizophrenie" wieder nach Großschweidnitz überstellt, am 7.8.1940 nach
Pirna-Sonnenstein transportiert und zusammen mit 84 weiblichen und 8 männlichen Kranken in der Gaskammer umgebracht. Wochen später erhielt der Vater,
Franz Kriegel, die Mitteilung, seine Tochter Erna sei in Hartheim bei Linz an
Lungenentzündung gestorben.
In Kummer und Leid ist Anna Frieda Lohse-Wächtler aus Dresden, eine vielseitig
begabte Malerin und Textilgestalterin, die auch plastische Bildwerke schuf,
erloschen. Sie hatte in der wirtschaftlich unsicheren Situation der Künstler
infolge der Weltwirtschaftskrise eine schwierige materielle Lebenssituation.
Konflikte mit ihrem sehr dominant-konservativen Vater, eine unglückliche Ehe
und später eine Verletzung brachten diese sensible Künstlerin in eine extrem
schwierige Lebenslage.
In der Landesheil- und Pflegeanstalt Arnsdorf wurde eine angebliche Schizophrenie "diagnostiziert". Trotz des Widerstandes der Eltern und Angehörigen
wurde im Dezember 1935 im Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt an der jungen
Frau die zwangsweise operative Sterilisation vorgenommen. Diese schwere, auch
psychische Verletzung und die erbärmliche, weit unter dem Existenzminimum
verabreichte Anstaltskost führten zum Schwund ihrer Kräfte.
Am 31.7.1940, in ihrem 40. Lebensjahr, wurde Anna Frieda Lohse-Wächtler auf
dem Sonnenstein Pirna im Gas umgebracht. Den Eltern wurde in einem amtlichen
Schreiben mitgeteilt, die Patientin sei nach Brandenburg verlegt worden. Mit
Datum vom 12.8.1940 wurde den Eltern die gefälschte Sterbeurkunde (siehe
Seite 80) mit der Todesursache "Lungenentzündung, Herzmuskelschwäche"
zugestellt.
Mutige Einzelpersonen und Geistliche versuchten gegen diese Verbrechen
anzugehen.
Pfarrer Paul Gerhard Braune aus Arnsdorf schickte eine Denkschrift an Hitler, in
der er darauf aufmerksam machte, daß in Arnsdorf die Anzahl der in der dortigen
Landesheil- und Pflegeanstalt Verstorbenen innerhalb kurzer Zeit (1938-1940)
79
von 101 auf über 300 pro Jahr angestiegen war. Der Geistliche wurde verhaftet.
Am 3.8.1941 nannte der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, in
einer Predigt die Euthanasiepraxis der Nationalsozialisten Mord. Nur weil er eine
international bekannte Persönlichkeit war, scheuten sich die NS-Machthaber,
gegen ihn vorzugehen.
Wegen fortgesetzter Proteste ordnete Hitler 1941 an, das Töten der Kranken
durch Gas vorübergehend einzustellen.
Statt dessen wurde der "Dämmerschlaf" praktiziert. Die Ärzte in den
psychiatrischen Einrichtungen setzten nun Schlafmittel, auch Morphium und
Scopolamin ein, um unruhige Kranke in Dämmerschlaf zu versetzen. Den durch
80
Mangel- und Fehlernährung ohnehin stark geschwächten Menschen wurden
hohe Dosen dieser Medikamente verabreicht. Dadurch wurden die Schutzreflexe,
wie Abhusten, unterdrückt, so daß schon leichte Erkältungsinfekte zu Lungenentzündung und damit zum "natürlichen" Tod führten. Dieses heimtückische
Vorgehen wurde in unserer Heimat in den Einrichtungen Arnsdorf, Großschweidnitz und Waldheim praktiziert. Allein in Großschweidnitz starben bis
Kriegsende 5.700 Menschen an Überdosen von Medikamenten oder der
"Vitaminkur" und an den katastrophalen hygienischen Zuständen.
Nach der Befreiung Deutschlands von der NS-Barbarei wurden in der damaligen
sowjetischen Besetzungszone die Täter, derer Polizei und Justiz habhaft werden
konnten, vor dem Landgericht Sachsen angeklagt. Der Hauptangeklagte, Prof.
Hermann Paul Nitsche, ist nicht nur für die Vergasung von mindestens 13.720
Menschen in der Tötungsanstalt Sonnenstein verantwortlich. Er trägt als Obergutachter und medizinischer Leiter der "Aktion T 4" in der Euthanasiezentrale
Berlin auch die Verantwortung für den gesamten ab 1940 organisierten
Massenmord von fast 120.000 wehrlosen Menschen in den Gaskammern. Er, der
Arzt Dr. Leonhardt und die Pfleger Felfe und Gäbler wurden am 20.12.1947 zum
Tode verurteilt. Das Urteil wurde vollstreckt. Ein Krankenpfleger erhielt
lebenslang Zuchthaus, weitere sieben Angeklagte Freiheitsstrafen zwischen
3 und 20 Jahren.
Im jetzigen Sächsischen Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie in Arnsdorf
erinnert eine Gedenktafel aus dem Jahre 1984 an die Opfer der faschistischen
Euthanasieverbrechen.
Nach 1990 wurde in Pirna das Kuratorium "Gedenkstätte Sonnenstein e.V."
gegründet und eine würdige Gedenkstätte errichtet. In mühseliger Kleinarbeit
werden alle noch erreichbaren Dokumente und Urkunden der Forschung
zugänglich gemacht.
Am 19.10.1995 wurde im Epilepsiezentrum Kleinwachau vor dem Brunnenhaus
ein Denkmal eingeweiht, das an die Euthanasieopfer erinnert, geschaffen von der
Bildhauerin Una Klose.
81
Im Gedenkblatt “Den Opfern der Euthanasie aus Kleinwachau” 1940-1942 wird dazu geschrieben: Nur
allmählich erschließt sich in der Betrachtung des Werkes, daß es zwei Figuren sind, gebeugt die eine, in sich
gekrümmt wie in hilfloser Abwehr die andere, doch untrennbar miteinander verhaftet und so die
schicksalhafte Knechtschaft der Erkrankten deutlich machend. Spannungsgeladen, fast widersprüchlich
aufstrebend dazu die Haltung der Beine und Füße. Diese Gegensätzlichkeit läßt uns erahnen, wie Dämon
Epilepsie die Befallenen explosionsartig in eine uns verschlossene Aura reißt, ehe er sie nur wenig später mit
ungeheurer Wucht zu einer konvulsiven Körpermasse verkommen läßt.
82
Frau Silke Teuerle, Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit im Epilepsiezentrum
Kleinwachau, schreibt dazu:
"Unser Denkmal ist den Opfern der Euthanasie gewidmet. Es ist Menschen
gewidmet, die kürzere oder längere Zeit in Kleinwachau gelebt haben, deren
Schicksal lange in Vergessenheit geriet. Doch solange sich niemand dieser
Menschen erinnert, bleiben sie vergessen, gedemütigt und verstoßen. Wir möchten mit dem Denkmal ein Zeichen setzen und die Erinnerung nach Kleinwachau
holen.
Diese Bronzeplastik soll auch ein Mahnmal sein und unser Gewissen wachhalten
gegenüber offensichtlichen oder versteckten geistigen und sozialen Tendenzen,
die das Lebensrecht behinderter, alter, andersdenkender oder irgendwie hilfsbedürftiger Menschen in Frage stellen."
IV. Die Verbrechen im "Arbeitserziehungslager" der Sachsenwerk Licht- und Kraft AG 1944 / 45 das dunkelste Kapitel in der Geschichte von Radeberg
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge
in der Kriegsproduktion
Am 13. Januar 1941 hatte Hitler die totale Mobilisierung aller materiellen und
personellen Ressourcen für den Endsieg, den "totalen Krieg" ausgerufen. Damit
begann die uferlose Radikalisierung des Krieges und des Alltagslebens. Dazu
gehörte auch die verstärkte Verschleppung von Ausländern zur Zwangsarbeit in
der Kriegsproduktion in Deutschland. Im Herbst 1944 arbeiteten rund 7,8
Millionen ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene in der deutschen
Wirtschaft, darunter etwa 2 Millionen aus der Sowjetunion und 1,7 Millionen aus
Polen. Wenn auch die Gesamtzahl der ausländischen Arbeiter und Kriegsgefangenen in Radeberg, Arnsdorf, Ottendorf-Okrilla und anderen Orten des
Radeberger Umlandes in der Landwirtschaft und in Industrie- und Handwerksbetrieben nur geschätzt werden kann, so ist die Zahl von 4.000 bis 5.000
nicht übertrieben.
Ihre Einstufung erfolgte strikt nach rassistischen Gesichtspunkten. Ganz am
Ende standen jüdische, sowjetische und polnische Frauen und Männer. Deshalb
wurden sie auf ihrer Kleidung mit dem Judenstern mit "Ost" oder "P" speziell
gekennzeichnet. In einer Polizeiordnung vom 2. Oktober 1943 "Über das Verhalten der Zivilarbeiter und -arbeiterinnen des polnischen Volkstums" war
festgelegt: Es ist verboten
• den Aufenthaltsort und die Unterkünfte in der Sperrzeit zu verlassen
• öffentliche Verkehrsmittel über den Ortsbereich hinaus zu benutzen
83
• öffentliche oder private Fernsprecher zu benutzen
und Fotoapparate zu besitzen
• öffentliche Einrichtungen und Veranstaltungen sowie Gaststätten zu besuchen
• jeder Umgang mit deutschen Volksgenossen,
soweit es nicht im Hinblick auf den Arbeitseinsatz erforderlich ist.
Alle Deutschen waren verpflichtet, der Ortspolizei jede Übertretung dieser Verbote
zu melden, sonst drohte ihnen Verhaftung. In dieser Art gab es eine Vielzahl von
Verbotsvorschriften für die Zwangsarbeiter.
Im Sommer 1942 verhaftete die Gestapo die Frau des Schmiedemeisters Paul
Berndt aus Kleinwolmsdorf bei Radeberg. Sie hatte die beiden Schmiedegehilfen,
einen Polen und einen Sowjetbürger, mit an ihrem Tisch essen lassen. Frau Berndt
mußte bei der Gestapo eine Erklärung abgeben, daß dies nie wieder vorkommen
werde. "Ostarbeiter haben einen Platz im Hausflur zu bekommen" wurde sie
zurechtgewiesen. Doch sie blieb wie manche andere Deutsche mutig und
menschlich. Sie aß weiterhin mit ihren Zwangsarbeitern an einem Tisch, verschloß aber um die Mittagszeit die Haustür.
In einer Anordnung für die Betriebe der Elektroindustrie - auch für das
Sachsenwerk Radeberg gültig - hieß es: "Es ist strengstens verboten, den
Russen irgendwelche Zuwendungen zukommen zu lassen (Geld, Kleidungsstücke, Getränke, Lebensmittel, Tabakwaren usw.)".
Über Vorgänge in Wallroda berichtet Fritz Zinke, damals ein Schuljunge:
"Schon sehr zeitig nach Kriegsbeginn wurde die Turnhalle in Wallroda zu einem
Kriegsgefangenenlager umfunktioniert. Später wurden die Inhaftierten unter
Bewachung in der Landwirtschaft eingesetzt. Im Verlaufe der Zeit wurde dieses
Lager wieder geräumt und die Inhaftierten, zuletzt vor allem polnische
Zwangsarbeiter, direkt in den Bauernhöfen untergebracht. Das geschah unter
starker Kontrolle des Staates. Kontrollgänger waren ständig zu sehen. Diese
Kontrollen waren oft mit körperlicher Züchtigung verbunden. An nicht wenigen
Tagen hörte man während solcher Kontrollgänge schmerzhafte Aufschreie von
Männern. Wenn diese Schreie aufhörten, sah ich auf dem nahegelegenen
Bauerngehöft die zum Teil uniformierten Kontrollkräfte wieder aus dem
Pferdestall kommen. Wenn ich die Mißhandlungen auch nicht augenscheinlich
sah, so war für mich bereits als Kind eindeutig, was da abgelaufen war".
Die Errichtung des "Arbeitserziehungslagers" Radeberg
Der überwiegende Teil der Zwangsarbeiter in Deutschland war in größeren und
kleineren Lagern untergebracht. Auf dem Gebiet des "Dritten Reiches" gab es mehr
als 20.000 solcher Einrichtungen. Viele waren direkt den Rüstungsbetrieben
angeschlossen.
84
Im System dieser Zwangseinrichtungen spielten die Arbeitserziehungslager mit
KZ-ähnlichen Haftbedingungen eine besondere Rolle. Es gab etwa 80. Sie wurden
vor allem in der zweiten Hälfte des Krieges eingerichtet, ein Lager davon in
Radeberg. Die Einweisung erfolgte durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo).
Durch härteste Arbeit und unmenschliche Haftbedingungen sollte zugleich ein
Abschreckungseffekt erreicht werden. Für "unverbesserliche" Häftlinge war
entweder die Einweisung in größere Konzentrationslager oder die Todesstrafe
vorgesehen.
Die "Sachsenwerk Licht- und Kraft-AG" war mit den beiden Konzernbetrieben in
Dresden-Niedersedlitz und in Radeberg völlig in die Kriegsproduktion integriert.
Mit Stolz schrieb der "Betriebsführer" Gustav Wrede in seinem Geleitwort für das
Jahr 1942: "Wir aber in der Heimat geloben der Front aufs Neue, ihr weiterhin die
besten Waffen zu schmieden, Waffen, an denen auch der letzte Feind zerbricht."
Wrede wurde bereits 1938 zum Wehrwirtschaftsführer ernannt. Diese Auszeichnung erhielten Wirtschaftsmanager für herausragenden Einsatz in der
Rüstungsindustrie.
85
Wrede verstarb 1943. Sein Nachfolger, Dr. Kunze, wurde noch im Dezember 1944
mit dem Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.
Dr. Kunze - Auszeichnung mit dem Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse
Bereits vor der Errichtung des "Arbeitserziehungslagers" waren hunderte ausländische Zwangsarbeiter im Sachsenwerk eingesetzt. Im August 1943 waren es
rund 800, davon 611 Sowjetbürger, weiterhin Tschechen, Franzosen und Belgier.
Diese ausländischen Arbeitssklaven waren in Radeberg vornehmlich im sogenannten "Freien Ostarbeiterlager" und in einzelnen anderen Baracken für
Zwangsverschleppte aus westeuropäischen Ländern untergebracht. Daneben gab
es das "Fürsorge-Erziehungslager" in der Sportplatzbaracke an der Schillerstraße.
Dort wurden Minderjährige ebenso wie die Zwangsverschleppten zu schwerer
körperlicher Arbeit mißbraucht.
Das dritte Lager, auf das nun näher einzugehen ist, war das "Arbeitserziehungslager".
Mit dem Übergang zum totalen Krieg stiegen die Anforderungen an die
Rüstungsindustrie enorm. Zusätzliche Arbeitskräfte waren erforderlich. Deshalb
erhob die Leitung des Sachsenwerkes Radeberg eine entsprechende Forderung.
Ende 1943 teilte das Arbeitsamt mit, daß bei der Gestapo in Dresden Häftlinge mit
kurzzeitigem Freiheitsentzug für den Einsatz in Radeberg zur Verfügung stehen
In den ersten Monaten des Jahres 1944 wurden die Vorbereitungen für die
86
Aufnahme der Häftlinge getroffen. Dabei spielte der Altnazi Lindenkreuz, ein
führendes Mitglied der Werkleitung des Sachsenwerkes Radeberg, eine wichtige
Rolle.
Am 31. Juli 1944 befanden sich einschließlich der Wachmannschaften 110 Personen im "Arbeitserziehungslager". Die Häftlinge waren Zwangsarbeiter, der
größte Teil aus der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei, weiterhin aus
Belgien, Bulgarien, Norwegen, Holland, Frankreich, Italien, Rumänien, Ungarn
und Deutschland. Sie waren wegen politischer Vergehen, Arbeitsverweigerung
und anderer angeblicher Verstöße gegen bestehende Verordnungen verurteilt.
Unter den Häftlingen befand sich eine Gruppe bulgarischer Studenten. Am
16. November 1944 hatte die Gestapo diese 18 bulgarischen Studenten an der TH
Dresden verhaftet und nach intensiven Verhören in das "Arbeitserziehungslager"
Radeberg eingewiesen. Der politische Hintergrund: Am 9. September 1944 hatte
in dem Balkanland ein Volksaufstand die monarcho-faschistische Regierung
gestürzt. Daraufhin hatte sich eine Exilregierung mit dem Ziel gebildet, mit
militärischen Mitteln in Bulgarien wieder ein hitlerhöriges Regime zu errichten.
Auch diese 18 Studenten sollten sich an der "Befreiung" Bulgariens beteiligen.
Weil sie dieses Ansinnen ablehnten, wurden sie verhaftet. Kojtscho Kojtschew
und Wassil Ditschew starben an der brutalen Behandlung, an Hunger und
Entkräftung im "Arbeitserziehungslager". Die überlebenden 16 Bulgaren wurden
Anfang März 1945 in das KZ Buchwald verschleppt. Nur sieben von ihnen
erlebten die Befreiung am 16.4.1945.
Fünf ehemalige bulgarische Häftlinge, die 1965 Radeberg besuchten.
87
Unmittelbar nach dem Terrorangriff auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945
kamen zunehmend auch deutsche Antifaschisten, die vorher in Konzentrationslagern oder Zuchthäusern inhaftiert waren, in das Radeberger "Arbeitserziehungslager". Zu ihnen gehörten der Dresdner Graphiker Herbert Gute, Kurt
Zechel aus dem Kurort Hartha, Oskar Mai aus Dresden, Martha Bohne und Betti
Engelbee aus Ottendorf-Okrilla.
Die Häftlinge, Männer und Frauen unterschiedlicher nationaler und sozialer
Herkunft, religiöser und politischer Überzeugung und Motive, vereinte ihre
antifaschistische Gesinnung und ihr Widerstand gegen die NS-Barbarei.
Die Leitung der Gestapo setzte im Lager als Aufseher SS-Schläger ein. In der
Anklageschrift im Radeberger Prozeß, der 1945 gegen Mitglieder des Wachpersonals durchgeführt wurde, wird der Lagerführer, Polizeirat und Sturmbannführer Ullrich, als ein "vollkommen skrupelloser Mensch charakterisiert, der
keine Rücksicht kannte und lediglich auf sein Wohlergehen bedacht war".
SS-Sturmbannführer Ullrich
SS-Untersturmbannführer Joch
An der Seite von Ullrich stand der Lagerkommandant, Kriminalsekretär und
Untersturmführer Joch. Über ihn heißt es: "In Selbstsucht und Gemeinheit ist er
seinem Vorgesetzten gleich."
Mit Vollzugs- und Befehlsgewalt war Oberwachtmeister der Schutzpolizei Ernst
Schneider, der "brutalste Peiniger im Lager", ausgestattet. Meist gaben die ersten
beiden die Befehle zu Bestrafung, Knechtung oder Ermordung der Häftlinge,
Schneider war für die Ausführung verantwortlich.
Neben der Gestapo-Abteilung und der Lagerverwaltung fungierte im Lager eine
Schutzpolizeiabteilung (Schupo) von 10 12 Mann. Die Anklageschrift bezeichnet
die Schutzpolizisten Goldammer, Schelenz, Frings und zwei Volksdeutsche,
"Friesen" genannt, als die brutalsten Mörder im Lager. Die Schutzpolizisten
Epping, Härich und Teich stand ihnen nicht viel nach .
88
Als Lagerarzt fungierte der SS-Offizier Dr. Thieme. Dem Lagerarzt, einem Mörder
im weißen Kittel, standen 40 deutsche Soldaten aus dem Strafgefängnis Torgau,
die zu lebenslänglicher Haft verurteilt waren, für "medizinische Versuche" zur
Verfügung. Mit ihrem Leben schaltete und waltete er, wie er wollte.
SS-Offizier Dr. Thieme
Die Hauptverantwortung für das Lager trug die Dresdner Geheime Staatspolizei
(Gestapo). Seit Februar 1945 hatte sie im Sachsenwerk eine Außenstelle
eingerichtet, die Kriminalsekretär Friedrich Beyerlein leitete. Lagerführer Ullrich
und Lagerkommandant Joch standen mit der Gestapo ständig in Verbindung.
Beyerlein und seine Mitarbeiter waren für das Lager und für die Stadt Radeberg
und ihre Umgebung zuständig.
Das Lager (siehe Seite 90) bestand aus zwei Baracken von 40 m Länge und war
mit Stacheldraht eingezäunt. Die Hälfte einer Baracke diente als Wachlokal,
Verwaltung und Krankenabteilung.
Anfänglich war das Lager für 300 Häftlinge gedacht, doch bald betrug die
Belegung zwischen 400 und 600, zuweilen bis 800 Häftlinge. Die dreistöckigen
Schlafstellen reichten bei weitem nicht aus. Häufig mußten zwei Häftlinge den
gleichen Schlafplatz benutzen. Am Anfang gab es zwei dünne Decken, später nur
eine. Viele zerschnitten diese zu zusätzlichen Kleidungsstücken, denn die ihnen
zugeteilte "Kleidung", Hose, Rock, Mütze, Holzschuhe, war mehr als dürftig.
Unterwäsche gab es nicht. Da im Winter 1944/1945 kaum Heizmaterial
vorhanden war, mußten die Häftlinge Teile ihrer Schlafstellen und Schlafsäcke
verheizen.
Den Häftlingen stand wenig Wasser zum Waschen zur Verfügung. Seife und
Handtücher gab es nicht. Bald strotzte die Unterkunft vor Schmutz und
Ungeziefer. Die Verpflegung war völlig unzureichend: morgens zwei dünne
Scheiben Brot mit etwas Marmelade, mittags ¾ Liter Suppe mit Kohlrüben,
89
Diese dargestellte Lagerskizze wurde 1965 von Eberhard Wehner und Wolfgang Behrens angefertigt.
Sie ist nicht maßstabsgerecht. Zum Verständnis für den Leser: der rechte Teil der Juri-Gagarin-Str. ist
heute die Robert-Bosch-Str., die Wilhelm-Pieck-Str. (früher Fr.-Ebert-Str.) wurde in Heidestr.
umbenannt. Auf dem Gelände des ehemaligen Sportplatzes ist nach 1945 eine Kleingartenanlage
entstanden. Zwischen dem ehemaligen Sportplatz und dem damaligen AE-Lager führt heute die
Adolph-Kolping-Str. und zwischen Sportplatz und den damaligen Lagerbaracken 3, 4 und 5 die
Ferdinand-Freiligrath-Str.
Kartoffeln oder Nudeln, abends wieder eine Doppelschnitte Brot, dünn mit
Margarine beschmiert, dazu Tee oder eine Wassersuppe. Der allgemeine
Körperzustand der Häftlinge verschlechterte sich zusehends, zumal viele aus
anderen Lagern oder Gefängnissen schon ausgemergelt nach Radeberg gekommen waren.
Hunger, Schläge, Krankheiten, Morde ...
Die Gefangenen arbeiteten in Tages- und Nachtschichten vor allem im
Sachsenwerk, aber auch bei der Fa. Eschebach, auf Baustellen und in anderen
Betrieben unter strenger Aufsicht des Wachpersonals. Die Arbeitszeit betrug
Werktag wie Sonntag 10 bis 12 Stunden, dazu oft Überstunden. Der Stundenlohn
war zwar mit 42 Reichspfennigen festgelegt, wurde aber nie an die Häftlinge
ausgezahlt. Allein in 5 Monaten unterschlug die Gestapo ca. 300.000 Reichsmark.
90
Am Arbeitsplatz gab es häufig Mißhandlungen, dabei taten sich bestimmte
Vorarbeiter und Meister, oft Mitglieder der NSDAP, besonders hervor.
Der Graphiker Herbert Gute schilderte aus eigenem Erleben. "Ein Schlag von
hinten trifft meine Schulter. Hiebe prasseln, dann spüre ich nichts mehr. Als ich
wieder auf den Füßen stehe, schmecke ich Blut. Werkspolizisten, den Gummiknüppel in der Hand, halten mich fest. Einer der Faschisten schreit nach dem
Vorarbeiter. Der taucht hinter einer Maschine auf: 'Der Lump hier arbeitet ohne
jede Pause bis heute abend, zu fressen kriegt er nichts mehr, verstanden!' Der
Vorarbeiter nickt. Der weiße Kittel mit dem Hakenkreuz rauscht ab samt seiner
Werkspolizei."
Wer das Arbeitspensum nicht schaffte - ob Mann oder Frau - wurde bestraft mit
Gummiknüppelschlägen, Essensentzug oder Zwangsarbeit in der Wohnbaracke.
Meister oder Vorarbeiter gaben der Wachmannschaft einen Zettel mit der Nummer
des Häftlings, die dem betroffenen Häftling dann 10 oder mehr Schläge erteilte.
In einem Vernehmungsprotokoll vom 14. Juli 1945 ist festgehalten:
"Wer in der Nachtschicht vor Hunger nicht mehr arbeiten konnte oder wem die
Augen zufielen, der wurde früh bei Arbeitsschluß mit einer Handschelle an das
Fenstergitter gekettet. Das wurde selbst bei strenger Kälte durchgeführt, so daß
der Häftling vollkommen durchgefroren und blau angelaufen war. Die Erkältungen waren meist so schwer, daß der Betroffene nach wenigen Tagen
verstarb."
Aus einem anderen Vernehmungsprotokoll ist zu erfahren:
"Die Abteilungsleiter Rinnelt, Lippert und Gruhl haben sich durch fortgesetzte
Mißhandlungen der politischen Häftlinge sehr hervorgetan. Auftraggeber war der
Obermeister Karl Thor, der sehr ehrgeizig veranlagt war und von der Direktion
sehr gelobt wurde." Thor war bereits 1940 mit dem Kriegsverdienstkreuz
ausgezeichnet worden.
Die außerhalb des Sachsenwerkes eingesetzten Häftlinge wurden mit Handfesseln an ihre Arbeitsstellen getrieben. Viele Häftlinge litten infolge der
erbärmlichen Kost unter schwerem Durchfall und mußten öfter den Abort
aufsuchen. Wer mehrere Male kam, erhielt Schläge, weil er zu faul zur Arbeit sei.
Das Resultat waren 10 Tote.
Am 19. Februar 1945 schrieben Mitglieder der Betriebsleitung der Eschebachwerke folgenden Brief an die Schutzpolizei Radeberg:
"Der französische Zivilarbeiter Bray, Aimable, geboren am 1.1.1915 in Saint en
Gohette, wird in unserer Abteilung Dreherei als Revolverdreher beschäftigt.
Genannter betreibt bewußt Sabotage, indem er zum Arbeitsbeginn früh laufend
1 bis 1½ Stunden später erscheint und sich außerdem noch während der
Arbeitszeit stundenlang von seinem Arbeitsplatz entfernt. Trotz mehrmaliger
Verwarnung durch den aufsichtsführenden Meister sowie durch die Betriebs91
leitung und Lagerführung ändert Bray sein Verhalten nicht und bummelt weiter.
Bei der letzten Verwarnung durch den Lagerführer nahm Bray sogar eine
drohende Haltung gegen diesen ein. Zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin
unter den bei uns beschäftigten ausländischen Arbeitern bitten wir Sie, den
Genannten dem Arbeitserziehungslager Radeberg zuzuführen, damit ihm von
dortiger Stelle entsprechende Erziehung zuteil wird."
Wie diese "entsprechende Erziehung" aussah, geht aus einem anderen Dokument
hervor. Dort ist registriert, daß am 2. März 1945 vier Häftlinge erschossen worden
sind: Die drei Sowjetbürger Michail Kudritzki, Piotr Trotzko, Michail Lossa und
der Franzose Aimable Bray.
Mißhandlungen der Lagerinsassen waren an der Tagesordnung. Die Wachmannschaft war mit Gummiknüppeln und anderen Schlaginstrumenten ausgestattet und schlug oftmals auf die Häftlinge ein, z.B. wenn einer später als
angeordnet zum Morgen- oder Abendappell kam. Nicht wenige Häftlinge holten
sich bei diesen Zählappellen in Wind und Wetter den Rest, denn sie waren nur
dürftig bekleidet und gesundheitlich stark angeschlagen. Abends veranstalteten
unbeschäftigte Wachleute zu ihrem Vergnügen regelrechte Prügelorgien. Häftlinge mußten sich über den Tisch oder einen Schemel legen, und der Wachmann
verabreichte ihnen dann Schläge auf das Gesäß. Diese Zustände im Lager und
während der Arbeitszeit führten zu einer immer rascheren Verschlechterung des
Gesundheitszustandes der Häftlinge und schließlich bei vielen zum Tode. In den
noch vorhandenen Totenlisten werden für die Monate Juli bis Dezember 1944 als
Todesursachen Herzschwäche, Pneumonie, Nephritis, Hirnblutung und andere
Krankheitserscheinungen genannt. Doch diese und andere Todesursachen setzte
der Lagerarzt oft ein, obwohl diese Häftlinge in Wirklichkeit erschossen worden
waren. Zu keiner Zeit der Geschichte Radebergs wurden in wenigen Monaten so
viele Menschen umgebracht, wie von August 1944 bis April 1945 im "Arbeitserziehungslager" des Sachsenwerkes.
Unmittelbar nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde eine Kommission zu
Untersuchung der Verbrechen in diesem Lager eingesetzt. Sie arbeitete unter der
Verantwortung des Leiters der Kriminalpolizei Dresden, Franz Dobermann. Die
Kommission gibt 422 ermordete Häftlinge an, doch die genaue Zahl der
umgekommenen Häftlinge ist kaum exakt zu ermitteln.
Mit Sicherheit ist mehr als die Hälfte der Todesopfer durch Genick- und Kopfschüsse umgebracht worden. Das beweisen die Freilegungen von 12 Massengräbern im Sachsenwerkgelände sowie an der Friedhofsmauer und die ärztlichen
Untersuchungen der Leichen.
Einige der 1945 exhumierten Leichen stammten nicht aus dem "Arbeitserziehungslager". Diese Häftlinge waren von der Gestapo aus Dresden und
anderen Orten zur Hinrichtung nach Radeberg gebracht worden. In den meisten
Fällen waren die Namen der Opfer von der Gestapozentrale in Dresden oder deren
Beauftragten im Sachsenwerk, z.B. von Kriminalsekretär Beyerlein, vorgegeben
92
Bilder des Grauens
93
Erschüttert stehen die Angehörigen von Radeberger Betrieben vor den Opfern faschistischer Verbrechen.
worden. In der Anklageschrift wird ausgewiesen, daß "meistens ein Motorradfahrer oder ein Personenkraftwagen mit einem Schreiben der Gestapo nach
Radeberg kam".
Zum Erschießungskommando gehörten die Schutzpolizisten Goldammer,
Schelenz, Frings u.a. Bei seiner Vernehmung im Jahr 1945 sagte der
Schutzpolizist Frings aus, daß allein im März und April 1945 über 200 Häftlinge
erschossen wurden. Der Schutzpolizist Schelenz gab an, bei den meisten
Erschießungen zugegen gewesen zu sein. Frings hat 22, Schelenz 28 Häftlinge
persönlich erschossen. Die Erschießungen gingen in den meisten Fällen von
Lagerführer Ullrich oder Lagerkommandant Joch aus. Sie bestellten das
Erschießungskommando zu sich und gaben den Befehl, die ausgesuchten
Häftlinge außerhalb des Lagers umzubringen. Die betreffenden Gefangenen
mußten auf dem Hof antreten. Je zwei oder drei wurden mit Handschellen
aneinander gefesselt und in das naheliegende Wäldchen geführt. Manchmal
erfolgte die Erschießung sogar im Lager. Die zur Hinrichtung geführten Häftlinge
waren mitunter so schwach, daß sie nicht mehr allein gehen konnten.
Die Erschießung erfolgte im Laufen hinterrücks, im Liegen oder in einer Grube
durch einen Schuß in den Hinterkopf. Unmenschlichste Brutalität zeigt folgender
Vorfall: Während der Erschießung rief einer der Häftlinge: " Ich bin noch nicht tot".
Er bekam einen zweiten Schuß. Das Wachpersonal verscharrte die Leichen in den
vorbereiteten Gruben notdürftig. Anschließend wurden die Namen der Ermordeten aus den Lohn- und Verpflegungslisten gestrichen.
94
Auch in diesen Fällen setzte der Lagerarzt Dr. Thieme an Stelle der wahren
Todesursache oft "Tod infolge Herzschlag", "Lungenentzündung" oder andere
Todesursachen ein. Die meisten Leichen hat er gar nicht begutachtet.
Beispiele aus der Liste der im "Arbeitserziehungslager" Radeberg umgekommenen Häftlinge:
51. Koranek, Jiri, geb. 1924 in Kürschau CSR, Todesursache "Herzschwäche”
56. Ramsdonk, Pieter, geb. 1923 in Gouda, (Holland),
Todesursache "Lungenentzündung”
148. Zechel, Kurt, geb. 1900 in Hartha/Sachsen, Todesursache "Herzschwäche”
213. Romanowsky, Adam, geb. 1920 in Oschnjanka (Sowjetunion),
Todesursache "Herzschwäche”
265. Spano, Espodito, geb. 1909 in Gallipolo (Italien), Tod durch Erschießen
272. Bleijc, Hilda, geb. 1919 in Trifel (Tschechoslowakei), Tod durch Erschießen
311. Szklarek, Adam, geb. 1926 in Kalisch (Polen), Tod durch Erschießen
315. Dhon, Robert, geb. 1919 in Nanterre (Frankreich), Tod durch Erschießen
329. Vanheske, Willi, geb. in Ostende (Belgien), Todesursache "Herzfehler",
Embolie linker Unterschenkel
Massenerschießungen
Aus der Anklageschrift des "Radeberger Prozesses":
"Mitte April 1945 sind 29 Häftlinge erschossen worden, davon hat Schelenz sechs
umgelegt. Den Befehl dazu hatte der Obersturmführer Becher aus Dresden erteilt,
der von der Gestapostelle ins Lager gekommen war, um Joch zu vertreten. Es
handelte sich durchweg um Polen, die erst einige Tage vorher aus einem
auswärtigen Lager in das "Arbeitserziehungslager" gekommen waren. Goldammer kannte dieses Lager und auch einige der Leute.
Schneider hatte angeordnet, daß einige Wachleute, unter ihnen Härich, einen
Kordon um das Wäldchen bilden sollten, weil er befürchtete, daß wieder
Gefangene ausreißen könnten. Er hatte deshalb die Waldränder mit Posten
besetzt. Die 29 Mann waren zu je drei gefesselt und mußten sich im Wäldchen
angezogen hinlegen... Die ersten beiden Reihen wurden von Schelenz erschossen.
Einige Tage später erteilte der Lagerkommandant Ullrich Befehl, in einer leeren
Baracke 35 Häftlinge zu erschießen. Ullrich hatte Schelenz mit in die Baracke
genommen, wo das übrige Erschießungskommando bereitstand. Die Gefangenen
lagen schon gefesselt nebeneinander. Sie waren dermaßen schwach und elend,
daß sie nicht mehr nach dem Wäldchen hätten gehen können. Ullrich gab den
Befehl zur Erschießung, indem er sich in die Mitte der Baracke stellte und
kommandierte: "Nun los!" Schelenz hat vier bis fünf Mann getroffen. Bei dem
Letzten will er daneben in die Wand geschossen haben, weil es ihm zuwider
wurde. Die Leichen wurden dann auf einen Anhänger geladen und in die
95
Sandgrube gefahren. Als der Anhänger dort ankam, kam ein von Schneider
geführter Pferdewagen, auf dem sich drei männliche und drei weibliche Häftlinge,
wohl aus dem Bautzner Gefängnis, befanden. Goldammer ließ die Männer von
dem Wagen heruntersteigen und tötete einen völlig erschöpften und offensichtlich kranken Mann durch Genickschuß. Die Mädchen wurden von Frings und
Goldammer erschossen".
In seiner Vernehmung sagte der Schutzpolizist Schelenz über die Erschießung
dieser 35 Häftlinge aus:
"Ullrich kam zu mir: 'Los, rüber in die Baracke, die werden alle umgelegt'. Ich ging
in die Baracke, traf Goldammer, Frings und zwei andere. Wahrscheinlich hatte
Goldammer schon vorgearbeitet, denn die Häftlinge lagen der Reihe nach auf dem
Erdboden. Auch hier wieder dasselbe Bild: Ein Weinen, Beten und Betteln um
Gnade... Wir hatten alle unsere Pistolen in der Hand... Ich habe fünf Häftlinge
erschossen. Wir haben die Leichen auf den Anhänger verfrachtet. Darüber wurde
eine Plane gelegt... Der Wagen fuhr an die Grube, Goldammer warf die Leichen
herunter, und wir haben sie dann zugescharrt".
Einige Tage zuvor wurden 18 Häftlinge erschossen, 15 Männer verschiedener
Nationalität, eine Polin, eine Französin und eine Deutsche. Die drei Frauen
wurden umgebracht, weil sie mit deutschen Soldaten Verkehr gehabt haben
sollen. Diese drei Soldaten hat der Lagerarzt Dr. Thieme persönlich erschossen.
Die 15 Männer wurden zu dritt gefesselt, in das Wäldchen geführt. Schelenz,
Frings, Goldammer und Schneider gingen hinter ihnen her. Sie mußten sich
hinlegen und wurden von hinten erschossen. Schelenz hat vier getötet. Vor der
Erschießung hatten sich die männlichen Gefangenen, soweit sie noch brauchbare
Sachen hatten, nackt ausziehen müssen. Nachdem die Leichen in der Grube mit
Sand zugedeckt waren, mußten sich die drei Frauen an den Ecken der Grube auf
die Sandschicht legen, unter der die Leichen der soeben erschossenen Männer
lagen. Schelenz will keines von den Mädchen erschossen und eine Ladehemmung
vorgetäuscht haben. Eines der drei Mädchen hat Frings, die beiden anderen
Goldammer erschossen.
Auszüge aus dem Vernehmungsprotokoll:
Schelenz: "Wir sollten drei Mädel, eine Deutsche mit Namen Hansi, eine
"Volksdeutsche" und eine Französin nach dem Wäldchen bringen, um sie zu
erschießen... Goldammer gab Anweisung, daß sich die Mädchen ausziehen
sollten. Nach einigem Sträuben und Wehren haben sie sich ausgezogen.
Goldammer riß der Hansi noch das Hemd vom Leibe. Er versuchte auch, uns zu
verleiten, mit den Mädels vorher noch Dummheiten zu machen. Er selbst packte
die Hansi an den Brüsten... Das Mädel schrie und weinte: 'Ach bitte, laßt mich
doch leben!' Aber Goldammer erledigte sie durch Genickschuß. Sie fiel, wie auch
die anderen zwei, auf die bereits vorher erschossenen Männer."
96
Als letzte Daten werden in den Totenlisten der 24. und 25. April 1945 genannt. Als
Todesursache wurden "Schußverletzung", "Verblutung" und mehrfach "unbekannt" eingetragen. Die letzten Opfer waren Sowjetbürger namens W. Matwejew,
E. Gontschar, M. Tolstona, K. Sidowrok und W. Jaruschuk.
Im Chaos der letzten Kriegstage Ende April bis zum 8. Mai 1945 lösten sich wie
überall auch in Radeberg und Umgebung die Fremdarbeiter- und Kriegsgefangenenlager auf. Die Insassen versuchten, in Verstecken, auch mit
Unterstützung deutscher Einwohner, die letzten Tage vor der Befreiung zu
überleben, oder sie begannen, sich in ihre Heimat durchzuschlagen. In den
turbulenten Tagen des Kriegsendes mußten das einige noch mit ihrem Leben
bezahlen.
Der Haß über die von Deutschen erlittenen Mißhandlungen führte manche Häftlinge in den Tagen nach ihrer Befreiung zu Gewalttaten gegenüber Deutschen.
Ein Teil der Häftlinge des "Arbeitserziehungslager" Radeberg wurde nach Dresden
transportiert - ihr Schicksal ist unbekannt - manchen gelang es, zu fliehen.
Lagerführer Ullrich und Lagerkommandant Joch sowie seine Komplizen Schneider und Goldammer flohen nach dem Westen Deutschlands.
Das Schlimmste: Das "Arbeitserziehungslager" Radeberg
Der ehemalige Häftling Herbert Gute schreibt:
"Ich war 6½ Jahre in deutschen Zuchthäusern und Gefängnissen. Das
Schlimmste, was ich erlebt habe, war das "Arbeitserziehungslager" Radeberg. Die
Zustände in Radeberg überstiegen alles, was wir durchgemacht hatten. Man
konnte sich ungefähr ausrechnen, wann und wie man zugrunde ging. Ein
Häftling, der mit mir eingeliefert worden war, verstarb nach zwei Tagen infolge
der schlechten Behandlung. Es gab weder Decken, Seife noch Handtücher, und im
Abortraum lagen die Leichen, die Merkmale schwerer Mißhandlungen trugen.
Wegen Kleinigkeiten wurden die Häftlinge geschlagen, wobei sie über einen
Schemel gelegt und an Kopf und Händen festgehalten wurden. Dabei wurden
öfters 50, 60 und 75 Schläge ausgeteilt, so daß es vorkam, daß Häftlinge an den
Folgen dieser Schläge binnen drei Tage gestorben waren.”
97
Professor Herbert Gute weihte im Mai 1965 den Gedenkstein auf dem Gelände des
ehemaligen "Arbeitserziehungslagers" am Robert-Blum-Weg ein. Er bat die Einwohner von Radeberg, alles zu tun, damit der Frieden festen Fuß fassen kann.
“Das haben wir nicht gewußt und nicht gewollt!"
Es ist kein Zufall, daß das "Arbeits- und Erziehungslager" Radeberg auf Antrag
der Sachsenwerk AG Radeberg, eines AEG-Betriebes, eingerichtet wurde. Der
auch hier praktizierte Grundsatz: "Vernichtung durch Arbeit" kostete in ganz
Deutschland Millionen Menschen das Leben. Neben den Riesengewinnen aus der
enormen Kriegsproduktion, brachte er den Konzernen zusätzliche Profite, an
denen das Blut der ermordeten Häftlinge klebt.
Die Sachsenwerk AG hatte alles versucht, in der Öffentlichkeit die Existenz des
Lagers mit dem demagogischen Begriff "Arbeitserziehung" zu begründen und die
menschenunwürdigen Verhältnisse und die Verbrechen in diesem Lager vor der
Bevölkerung zu verheimlichen. Dennoch drang einiges nach außen, konnte aber
wegen des Terrors der Nazis nur unter Lebensgefahr weitergetragen werden.
Als am 8. Mai 1945 sowjetische Einheiten die Stadt und das Radeberger Land
befreit hatten, machten Arbeiter aus der Sachsenwerk AG und Radeberger Frauen
und Männer die verantwortlichen Kräfte der Stadt darauf aufmerksam, daß auch
in der Röderstadt ein Arbeitslager existiert haben mußte. Sie erzählten von
ungewöhnlichen Leiterwagentransporten, die nicht selten Blutspuren hinterlassen hatten und auf dem Wege zur Friedhofsmauer beobachtet worden waren.
Mancher hatte Schreie und Schüsse im Gelände des Werkes gehört. Verschiedene
Radeberger hatten Häftlingen unter Einsatz ihres Lebens heimlich Lebensmittel
zugesteckt. Die Möglichkeiten der Hilfe waren gering gewesen. Nunmehr unterstützten diese Einwohner die Kommission der Kriminalpolizei bei ihren Ermittlungen über das Lager.
98
Der "Radeberger Prozeß" vom 25. September bis 2. Oktober 1945, der erste dieser
Art in Deutschland, deckte diese Verbrechen auf. Das Bekanntwerden der NSVerbrechen führte bei der Mehrheit der Bevölkerung zu Bestürzung und
Erschrecken. Viele sagten: "Das haben wir nicht gewußt!" und "Das haben wir
nicht gewollt!".
Aktivitäten der Radeberger Stadtverwaltung, der Ortsgruppen der KPD, der SPD
und anderer Parteien, die Besichtigung der freigelegten Massengräber,
Versammlungen, Berichte in der "Volkszeitung" und der "Volksstimme",
Anteilnahme an der feierlichen Beisetzung der Opfer am 20. Juli 1945 an der
Pulsnitzer Straße trugen dazu bei, daß sich die Mehrzahl der Einwohner nicht nur
von den Verbrechen distanzierte, sondern sich der Forderung anschloß, den
Faschismus in Deutschland mit der Wurzel auszurotten und eine antifaschistische, demokratische Gesellschaft aufzubauen.
Feierliche Beisetzung
der Opfer aus 12 Nationen
am 20. Juli 1945 an der
Pulsnitzer Straße
Es gab aber auch Stimmen wie: "Es waren ja nur Ausländer!" oder "Die kleinen
Verbrecher sollen nicht so hart bestraft werden." Solche und ähnliche Auffassungen drückten nicht die allgemeine Meinung in Radeberg aus.
99
Gedenkstein - Ehrenhain Pulsnitzer Straße
Die Todeslisten weisen aus, daß die Särge der Widerstandskämpfer in drei
Reihen, jeweils zwei übereinander (in den Todeslisten als 1. und 2. Tiefe
gekennzeichnet), eingeordnet sind.
Zum Beispiel:
Koitscheff, Kotscho und Ditscheff, Wassil jeweils 1. Tiefe, Reihe 1
Bray, Aimable, 1. Tiefe, Reihe 2
Zechel, Kurt, 1. Tiefe, Reihe 3
Mai, Oskar, Gemeinschaftsgrab
Außerdem befindet sich auf dem Gelände des Ehrenhains ein größeres Gemeinschaftsgrab.
Auf Bitten der Regierungen und antifaschistischer Verbände Frankreichs,
Hollands und Belgiens wurden 29 Tote am 25. Mai 1949 aus diesen Ländern
exhumiert und in ihre Heimat überführt.
100
V. Vor dem Kriegsende:
NS-Durchhaltepolitik in Wort und Tat
Verweigerung und antifaschistischer Widerstand
Kampf bis zum Letzten...
Am 18.2.1943 inszenierte Reichspropagandaminister Goebbels im Berliner
Sportpalast eine Großkundgebung. Eine handverlesene Zuhörerschaft, die das
deutsche Volk repräsentieren sollte, war geladen.
Goebbels hielt eine Rede, die er von allen Sendern des Reichsrundfunks
übertragen ließ. Seine Stimme ertönte auch aus tausenden Volksempfängern in
Radeberg und in umliegenden Orten. Nach der Niederlage der deutschen
Wehrmacht in der Schlacht um Moskau und nach der Tragödie von Stalingrad,
der Wende im 2. Weltkrieg, wollte Goebbels einen Stimmungsumschwung in
Deutschland herbeiführen. Vor allem sollte diese Großkundgebung zu einer Art
"Volksentscheid für den totalen Krieg" werden. Sie sollte die nun im Zeichen des
totalen Krieges nun folgenden Verbrechen vorher legitimieren.
Pathetisch-beschwörend stellte Goebbels an die Zuhörer sich ständig steigernde
Fragen und forderte ihre Antwort:
"Seid Ihr entschlossen, den Führer in Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn
und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen?"
"Seid Ihr bereit, wenn der Führer dies befielt, zehn, zwölf und wenn nötig,
vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten und das Letzte herzugeben
für den Sieg?"
"Wollt Ihr den totalen Krieg? Wollt Ihr ihn, wenn nötig, noch totaler und radikaler,
als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?"
"Seid Ihr damit einverstanden, daß, wer sich am Kriege vergreift, den Kopf
verliert?"
Auf jede Frage antworteten die Teilnehmer der Kundgebung mit frenetischem
Beifall, der nach jeder Frage immer stärker wurde. Auf die letzte, geradezu
perverse Frage, folgte ein minutenlanger Sturm der Begeisterung.
Mit dem frenetischen "Ja" im Berliner Sportpalast und mit der aktiven oder
passiven Zustimmung der meisten Deutschen war ihre Mitschuld an den nun
folgenden Verbrechen unübersehbar.
In den letzten beiden, den schlimmsten und opfer- und zerstörungsreichsten
Kriegsjahren erfuhr dann jeder, was totaler Krieg bedeutete. Er erreichte in der
Agonie des Dritten Reiches seinen Höhepunkt.
Als der Krieg auf deutschen Boden zurückkehrte, verschärften die NS-Machthaber
den Terror gegen alle, die das Ende des Völkermordens und den Frieden
herbeisehnten. Im März 1945 erhielt die Polizei den Befehl, alle "asozialen und
feindlichen Elemente zu vernichten und die Spuren sorgfältig zu verwischen".
101
Ein Blick in die Radeberger Zeitung macht deutlich, dieses NS-Propagandablatt
wollte bis zu seiner letzten Ausgabe die Wahrheit vertuschen und die Bevölkerung
zu sinnlosem Widerstand bewegen. Typisch dafür ist der Kommentar zu Hitlers
Geburtstag in der Ausgabe vom 28./29. April 1945, neun Tage vor Kriegsende:
"Die fanatische Kampfentschlossenheit unserer Truppen im Osten und Westen,
die aufrechte Haltung und der Widerstandsgeist der Zivilbevölkerung in den
feindbesetzten Gebieten zeigen bereits ihre Folgen. Die Pläne des Feindes, der
Deutschland vom Westen und Osten zu überrennen glaubte, sind durchkreuzt
worden. Er hat dadurch nur kostbare Zeit verloren, die er nicht wieder einholen
kann." ... "Es ist nicht so, daß unser Ringen ausweglos wäre, im Gegenteil. Die
letzte und schwerste Probe, die uns das Schicksal gestellt hat, muß uns standhaft
und von leidenschaftlichem Einsatzwillen beseelt finden."
Am 16. April 1945 erließ der Sächsische Gauleiter und Reichsstatthalter
Mutschmann folgenden Aufruf:
102
Lügen sollten helfen, den Widerstand der Bevölkerung gegen die heranrückenden
Soldaten der Antihitlerkoalition zu stärken. Mit Großdruck stand in der
Radeberger Zeitung:
In Wirklichkeit unterschrieb der "allgewaltige Führer" am 29. April 1945 um 4 Uhr
sein "Politisches Testament", das auch die Unterschriften von Goebbels, Bormann
und Grätz trug, in dem Hitler sich sogar anmaßte, Schwerpunkte für seine
Nachfolge zu setzen: "Von allen Deutschen, allen Nationalsozialisten, Männern
und Frauen und allen Soldaten der Wehrmacht verlange ich, daß sie der neuen
Regierung und ihrem Präsidenten treu und gehorsam bis in den Tod sind. Vor
allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur Einhaltung
der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen die Weltvergifter,
das internationale Judentum."
Stunden später entzog er sich feige der Verantwortung für seine Verbrechen
durch Selbstmord. Die Lügenkette fortsetzend meldeten zentrale und regionale
Zeitungen, darunter die Radeberger Zeitung, daß Hitler kämpfend gefallen sei.
Auszüge aus einer Meldung
vom 3. Mai 1945
103
Mobilisierung von Greisen und Jugendlichen für den "Endsieg"
Die NS-Führung sah in den nicht zum Kriegsdienst eingezogenen Männern und
in den 16- und 17jährigen Jugendlichen eine letzte Reserve gegen die bereits auf
deutschem Boden operierenden alliierten Truppen.
Am 25. September 1944 ordnete Hitler die Bildung des "Volkssturmes" unter
direkter Leitung und Verantwortung der NSDAP an. Der Chef der Parteikanzlei,
Martin Bormann und der Chef des Ersatzheeres, Heinrich Himmler, waren
zuständig für die Aufstellung und Bewaffnung der "Volkssturmbataillone". Die
Aufstellung und Vereidigung erfolgte mit großer propagandistischer Aufmachung. Am 11. November 1944 waren Hunderte, vor allem Jugendliche und
ältere Männer auf dem Marktplatz in Radeberg zur Vereidigung angetreten.
NSDAP-Ortsgruppenleiter Kotte gab die Losung aus: "Wer leben will, der kämpfe
also, wer nicht kämpfen will, der verdient das Leben nicht!"
In Arnsdorf leisteten 360 Volkssturmleute den Eid: "Ich schwöre bei Gott diesen
heiligen Eid, daß ich dem Führer des Großdeutschen Reiches, Adolf Hitler,
bedingungslos treu und gehorsam sein werde. Ich gelobe, daß ich für meine
Heimat tapfer kämpfen und lieber sterben werde, als die Freiheit des Volkes
preiszugeben... Der Herrgott hat meinen Eid gehört, möge er unseren Kampf
segnen." Die Volkssturmleute wurden zu Schanzarbeiten und zu Bewachungsund Sicherungsaufgaben eingesetzt. Obwohl schlecht ausgerüstet und kaum
ausgebildet, kamen einige Einheiten dennoch, vor allem im Osten Deutschlands,
zum Kampfeinsatz. Nach Schätzungen gelten etwa 175.000 von ihnen als
vermißt, der größte Teil von ihnen dürfte gefallen sein.
Mit welchen Lügen und welcher Skrupelosigkeit hohe Militärs noch zwei Wochen
vor Kriegsende der NS-Führung folgten und Tausende Menschen in den sicheren
Tod schickten, zeigt der Tagesbefehl (Die Stunde der Rache ist gekommen! - siehe
Seite 104) des damals im Raum Radeberg operierenden Panzergenerals Gräser.
Die Röderstadt und ihr Umland gehörte zum "Festungsbereich Dresden". Sie war
in die Befehlsgewalt zur Verteidigung der "Gauhauptstadt" Dresden einbezogen.
So mußten in der anliegenden Dresdner Heide, im Seifersdorfer Tal, in den
Waldgebieten um Ottendorf/Okrilla, Langebrück und Arnsdorf Schützengräben,
MG-Stellungen und andere "Verteidigungsmaßnahmen" angelegt werden. Noch
nach über 50 Jahren stoßen Waldbesucher auf Reste dieser Hinterlassenschaften
des Dritten Reiches. Auch Panzersperren wurden an den Ausfallstraßen von
Radeberg, Arnsdorf, Ottendorf/Okrilla, Wachau und Schönborn errichtet und
Flak-Stellungen eiligst ausgehoben. Zu diesen Arbeiten wurden Männer des
Volkssturmes, Hitlerjungen und ausländische Zwangsarbeiter herangezogen.
Der Schulunterricht fiel häufig aus, dafür mußten die älteren Jungen Schanzarbeiten, die Mädchen Hilfsdienste in den völlig überfüllten Notlazaretten in
Radeberg und Arnsdorf verrichten. Der Radeberger HJ-Stammführer ließ keine
104
105
Gelegenheit ungenutzt, um die 15- und 16jährigen mit Befehlen und Aufrufen
anzuspornen. Als eine seiner letzten Amtshandlungen dekorierte Hitler den
Reichsjugendführer Axmann mit dem "Goldenen Kreuz des Deutschen Ordens"
mit dem Worten:
"Ohne Ihre Jungen wäre dieser Kampf nicht durchzuführen."
Die Radeberger Zeitung kommentierte diesen Akt mit besonderer Anbiederung:
"Mit dieser Auszeichnung ehrt der Führer die ganze deutsche Jugend, die mit Stolz
seinen Namen trägt und sich in diesen schweren Tagen als treueste Gefolgschaft
erweist."
Noch am 7. Mai 1945 trieb die SS alle männlichen Einwohner Radebergs, deren
sie habhaft werden konnte, zusammen und zwang sie, in der Nähe der Heidemühle Tellerminen zu verlegen.
Mit brutalsten Mitteln ging die Hitlerclique gegen Wehrmachtsdeserteure vor. Auf
Anweisung Hitlers wurden außerordentliche Feldgerichte der Wehrmacht und
Standgerichte gebildet.
106
Die Feldgerichte bestanden aus einem Kriegsrichter und zwei Offizieren, die
Standgerichte aus Offizieren und Zivilpersonen, in der Regel prominenten
NSDAP-Mitgliedern aus dem jeweiligen Territorium. Außerdem konnte jeder
Kommandant einer Stadt oder einer Truppeneinheit über das Leben der ihm
unterstellten Soldaten und der Zivilbevölkerung verfügen. Die Urteile lauteten
meist auf Erschießen oder Erhängen und wurden sofort vollstreckt. Im Dresdner
Raum und in Ostsachsen wurden damals schätzungsweise 300 Menschen von
Standgerichten ermordet.
Zwei Wochen vor Kriegsende wurden in einer Görlitzer Kaserne mehr als
50 Soldaten hingerichtet.
Seit März 1945 wütete in Löbau ein Standgericht, das noch am 7. Mai 1945 acht
Soldaten zum Tode verurteilte.
In Bautzen weigerten sich im April 1945 zehn Soldaten, darunter zwei Offiziere,
die "Festung" Bautzen zu verteidigen. Sie mußten sich ihr Grab selbst ausheben
und wurden danach erschossen.
In Königsbrück wurde einer von fünf erschossenen Soldaten öffentlich zur Schau
gestellt, und Wehrmachtsangehörige mußten am Leichnam vorbeimarschieren.
In Dippoldiswalde wurde ein 19jähriger Soldat umgebracht. Die Mörder hängten
ihn ein Schild mit der Aufschrift um: "So ergeht es jedem, der die Waffen
wegschmeißt!"
In Göda bei Bautzen ließ ein Standgericht einen Volkssturmmann und einen
Hitlerjungen erhängen. Noch am Morgen des 8. Mai 1945 hingen beide Leichen
am Ortseingang, jede mit dem Schild um den Hals: "Ich bin ein Deserteur"
"Ich habe es für das ganze Dorf getan!"
Gegen Kriegsende wuchs der Wunsch in der Bevölkerung nach Frieden immer
stärker. Hinter vorgehaltener Hand ging das Wort um: "Lieber ein Ende mit
Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende". Sogar NS-Reichsleiter Bormann mußte
in einem Brief an den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Kaltenbrunner am
4. April 1945 eingestehen, die deutsche Bevölkerung dränge gewaltig auf die
sofortige Einstellung des Krieges. Aber jeder Einwohner, der sich mit Wort oder Tat
gegen das untergehende NS-Regimes stellte, mußte mit dem Tode rechnen.
Ungeachtet aller Repressalien formierten sich in den letzten Kriegstagen neue
Kräfte des antifaschistischen Widerstandes. Oft traten spontan Menschen aus
allen Bevölkerungsschichten an die Seite der Antifaschisten.
So traf sich in Wachau Mitte April 1945 der Bürgermeister Bernhard Heinze,
Mitglied der NSDAP, heimlich mit dem Bauern Ernst Kunath und dem Zimmermann Erich Wehner, vor 1933 Mitglied der SPD. Sie waren sich einig, daß die
Kampfhandlungen möglichst vom Ort ferngehalten werden sollten. Die drei
mutigen Männer sorgten dafür, daß im Ort, auch auf dem Kirchturm, weiße
Fahnen gehißt, die Panzersperren an den Ortseingängen geöffnet wurden und die
107
Volkssturmmänner dagegen keinen Widerstand leisteten. Diesen Familienvätern
- jeder hatte mehrere Kinder - war bewußt, wenn sie in die Hände der SS fallen,
werden sie ohne Gnade erschossen.
Der Ortschronist von Wachau, Georg Habedank, führte nach Kriegsende mit der
Witwe des Bauern Ernst Kunath ein ausführliches Gespräch, in dem Einzelheiten
über die mutige Tat der Wachauer Patrioten ans Tageslicht kamen: "Oft war mein
Mann in diesen Tagen beim Bürgermeister, der mein Cousin ist. Da wurde beraten,
wie es weitergehen soll... Am Sonntag, dem 22. April sagte mein Mann zu mir, daß
er sich um 11 Uhr von der Frau Pfarrer Wolf ein weißes Bettlaken habe geben
lassen und auf dem Kirchturm gehißt hat... Am Nachmittag, ich ging gerade
wieder zu Heinzes, sah ich, wie mein Cousin von drei Männern in Zivil abgeholt
wird... Am Montag gegen 18 Uhr erscheinen drei Mann. Ich erkenne den wieder,
der den Bürgermeister mit abgeholt hat. Mein Mann sagt: 'Jetzt verhaften sie
mich. Wenn ich erschossen werde, ich habe es ja nicht für mich, ich habe es für’s
ganze Dorf getan.'"
Aus der Anklageschrift im Radeberger Prozeß von 1945 geht im Zusammenhang
mit der Vernehmung des Radeberger Ofensetzers Heintze, der am 22. April 1945
in das "Arbeitserziehungslager" eingewiesen worden war, folgendes hervor:
Nach brutalen Verhören mit Androhung der Erschießung wurde Ofensetzer
Heintze in seine Zelle gebracht. Dort war auch Bürgermeister Heinze aus Wachau
eingesperrt, ..."den man am nächsten Morgen herausholte und erschoß,
weil er die weiße Fahne gezeigt hatte". Der im Prozeß Mitangeklagte Härich,
Wachmann im "Arbeitserziehungslager", gab zu Protokoll: Nach den Kampfhandlungen am Stadtrand von Radeberg "wurde der Bürgermeister mit einem
Mann aus Wachau von einer unbekannten Militärperson gegen 6.30 Uhr früh
gebracht und im Schießstand erschossen, von wem, ist mir nicht bekannt.
Dieselben wurden von ihren Angehörigen geholt und dabei erfuhr ich, wer die
Erschossenen waren."
Nachdem sie sich mehrfach telefonisch in Radeberg erkundigt hatten, erhielten
die Ehefrauen von Bürgermeister Bernhard Heinze und dem Bauern Ernst Kunath
die Mitteilung, daß sie ihre Männer abholen könnten. Beide Familien nahmen an,
die Verhöre seien beendet und die Verhafteten freigelassen worden. Nichts
Schlimmes ahnend fuhr die Tochter des Bürgermeisters mit dem Pferdewagen
nach Radeberg. Im Gelände des Sachsenwerkes warf man ihr die beiden Leichen
auf das Pferdegespann. Das Begräbnis der Ermordeten durfte nur im engsten
Familienkreis erfolgen.
Der Zimmermann Erich Wehner konnte von einem Mitglied der Familie Heinze
über die Verhaftung informiert werden. Sofort floh er mit einem Fahrrad auf der
Autobahn in Richtung Bautzen. Unmittelbar danach erschienen in seiner
Wohnung SS-Offiziere und vernahmen seine Ehefrau. Das Gewehr auf Emma
Wehner gerichtet, wollten sie von ihr Auskunft über den Verbleib des Ehemannes
erpressen. Obwohl sie auf das Schlimmste gefaßt war, gab sie an, sie wisse es
nicht. Bis Anfang 1946 galt Erich Wehner als vermißt. Dann traf bei der Frau des
108
Verschollenen ein Brief aus Camina bei Bautzen ein. Darin steckte der Wehrpaß
von Erich Wehner. Der Bauer Mickel hatte ihn auf dem Heuboden seiner Scheune
gefunden. Auf Seite 6 stand mit Tintenstift geschrieben. "Wer ihn findet,
schreiben sie es bitte meiner lieben Frau nach dem Kriege, Frau Emma Wehner,
Wachau i. S. bei Radeberg." Und auf Seite 7 des Wehrpasses: "Liebe Emma und
Kinder! Ich muß einen unschuldigen Tod sterben. Unser Glück war schön. Dein
herzensguter Erich und Euer lieber Papa!”
Wehrpaß von E. Wehner mit letztem Gruß an seine Familie und Brief von Bauer Mickel
109
Was war geschehen? Auf Grund der von Kriminalsekretär Beyerlein ausgeschriebenen Fahndung wurde Erich Wehner bei einer Kontrolle in Camina
erkannt und von der SS festgenommen. Man sperrte ihn zunächst in die Scheune
des Bauern Mickel. Hier konnte er, den Tod vor Augen, seine Abschiedsworte
schreiben. Tags darauf erschossen ihn zwei SS-Offiziere in einem Schützengraben. Sechs Einwohner bestätigten diese Ereignisse.
In Gersdorf im Kreis Kamenz erschossen SS-Leute am 21. April 1945 den
Bürgermeister und den Pfarrer Talazko, weil sie ihre Einwohner veranlaßt hatten,
weiße Flaggen und Tücher anzubringen.
Den Bürgermeister, den Pfarrer, den Bauern und den Arbeiter vereinte der
Wunsch: Schluß mit dem Krieg, Frieden für die Menschen, Frieden für die Heimat.
Dafür wurden sie ermordet.
Verweigerung und Widerstand
An die letzten Kriegstage in Schönborn bei Radeberg erinnert sich Karl Pietzsch,
SPD-Mitglied seit 1922:
"Ende März, Anfang April 1945 sah ich im Geschäftszimmer des Gasthofes gegen
22 Uhr noch Licht. Neugierig trat ich unter das Fenster und hörte ganz leise das
Pausenzeichen des Londoner Senders. Ich war verblüfft, das hatte ich nicht
vermutet. Einige Tage später sagte ich dem Gastwirt auf den Kopf zu, daß er den
Londoner Sender höre. Ja, sagte er, ich höre auch den Moskauer Rundfunk. Im
Laufe des Gespräches kamen wir uns politisch etwas näher, denn er ließ
durchblicken, daß er den Krieg für Hitler als verloren ansehe und die Rote Armee
bei uns einmarschieren würde. Daraufhin vereinbarten wir, mit zuverlässigen
Einwohnern eine geheime Zusammenkunft im Gasthof durchzuführen. Wir
wurden uns auch einig, wen wir einladen. Es betraf etwa fünf Mitglieder der
verbotenen SPD und KPD und drei oder vier Bauern.
Bei diesem illegalen Treff beschlossen wir:
1. die in einer Bauernscheune lagernden Panzerfäuste im Steinbruch
(bis zu 30 m tief) zu versenken;
2. die Panzerfäuste der Volkssturmleute, welche die im Dorf gebauten Panzersperren bewachten, zu entschärfen;
3. die Panzersperren bei günstiger Gelegenheit zu beseitigen;
4. die Einwohner aufzuklären, daß sie von der Roten Armee nichts zu
befürchten hätten und sie zum Bleiben im Ort zu veranlassen.
In unserem Dorf lagen zu dieser Zeit Offiziersschüler aus Dresden. Bei mir zu
Hause war eine weibliche Schreibkraft aus dem Geschäftszimmer einquartiert.
Als die polnischen Truppen bis in die Gegend von Leppersdorf vorgedrungen
waren, wurden die Offiziersschüler nach Dresden zurückverlegt, kamen aber
nach einiger Zeit nach Schönborn zurück. Der Kommandeur der zurückkehrenden Truppe vermißte die Panzerfäuste. Bauer Erich Wagner, der die
110
Panzerfäuste entsprechend unserer Festlegungen im Steinbruch versenkt hatte,
gab zur Antwort, daß die Panzerfäuste von einer durchziehenden Panzerdivision
mitgenommen worden wären. Die sofort vom Kommandeur der Offiziersschüler
eingeleitete Überprüfung ergab, daß dies nicht zutraf. Er forderte sofortige
Aufklärung. Gastwirt Friedrich und Bauer Wagner erklärten geistesgegenwärtig,
sie hätten aus Versehen den falschen Namen der Panzerdivision genannt.
Daraufhin erklärte der Offizier, er werde sofort Verbindung zur letztgenannten
Division aufnehmen. Sollte das Gesagte nicht stimmen, hätte das Dorf mit
schärfsten Strafen zu rechnen.
Zusammen mit einigen Einwohnern hatte ich es übernommen, die Panzersperren
am Ortseingang aus Richtung Seifersdorf zu beseitigen. Mitten in unserer Arbeit
rollten plötzlich Wehrmachtstruppenteile aus Richtung Seifersdorf kommend an.
Ein Offizier zog sofort seinen Revolver und fragte im Schnauzton, was das hier zu
bedeuten hätte. Ich erklärte, daß die Sperren beseitigt würden, damit seine
Truppen eine schnellere und freie Durchfahrt haben sollten. Er gab sich damit
zufrieden und befahl uns, Bauernwagen, mit Steinen beladen, aufzufahren.
Viele Einwohner packten das Nötigste ein und wollten das Dorf verlassen.
Soldaten der durchziehenden Waffen-SS riefen der Bevölkerung, vornehmlich
den jungen Frauen und Mädchen zu, auf die Fahrzeuge zu steigen und
mitzufahren: 'Wir sind die Letzten, nach uns kommen die Russen, da seid ihr alle
verloren!'
An einem dieser Tage, früh 6 Uhr, wurde ich von einer Einwohnerin gebeten, an
den Gasthof zu kommen, wo sich eine große Menschenmenge versammelt hatte,
die den Ort verlassen wollte. Gemeinsam mit einigen Bauern bemühten wir uns,
die Leute aufzuhalten. Uns wurde aufgeregt entgegengerufen, die Russen hätten
in Lomnitz Kinder an die Scheunentore genagelt. Wir versuchten, die erregten
Einwohnern zu beruhigen, doch die Aufregung legte sich nicht. Da rief ich den
aufgeregten Menschen zu: 'Wer erklärt sich bereit, mit nach Lomnitz zu fahren?'
Es meldete sich Bauer Wagner. Wir machten uns per Fahrrad auf den Weg. Als wir
durch Seifersdorf kamen, sahen wir das gleiche Bild. Aufgeregte Menschenmengen. Mitten unter ihnen stand Fritz Weitzmann, Mitglied der verbotenen SPD,
der von den Nazis der Stadt Radeberg verwiesen worden war. Auch er versuchte,
die aufgeregten Menschenmengen zu beruhigen, die ihm ebenfalls von
Verbrechen der Roten Armee erzählten. Ich sagte ihm, daß wir nach Lomnitz
wollten, um das zu klären. Wir fuhren weiter und suchten dort Eckhard Brauny
auf, der mir seit den zwanziger Jahren gut bekannt war. Er sagte uns, daß alles
Lüge sei und nichts dergleichen im Ort geschehen ist. Auf der Rückfahrt
informierten wir in Seifersdorf Fritz Weitzmann und die Einwohner davon, daß in
Lomnitz alles ruhig ist. Ich war froh, daß der Bauer Erich Wagner dabei war, denn
mir hätten manche Einwohner im Dorf nicht geglaubt, da ich ja als "Roter"
bekannt war. Es gelang uns dann auch, den größten Teil der Einwohner von einer
Flucht abzuhalten. Nur wenige verließen den Ort, kehrten aber bald nach dem
8. Mai wieder zurück..."
111
Auch in Ottendorf-Okrilla war der Befehl zur Räumung des Ortes gegeben. Viele
Einwohner weigerten sich, diese Anweisung auszuführen. Es kam zu spontanem
Aufbegehren, an das sich zwei Frauen erinnern:
"Wir waren alle sehr empört und aufgeregt und zogen zum Gasthof "Hirsch". Der
Hof und das Treppenhaus waren voller Menschen. Es mögen an die Hundert
gewesen sein, vor allem Frauen, vereinzelt Männer. Wir verschafften uns
gewaltsam Einlaß, die Bedrohung durch 16jährige Flakhelfer nicht achtend.
Einige Frauen, darunter Martha Küttner, eine sonst ruhige und zurückhaltende
Frau, rückten auf den Ortsgruppenleiter Elble zu und brachten die Forderung zu
Gehör: 'Wir ziehen nicht ab, wir räumen unser Dorf nicht, macht die Panzersperren auf!' Elble drohte mit Verhaftung, einige Männer wollten beschwichtigen,
aber die Naziführer wagten es angesichts unserer Haltung nicht, ihre Drohung
wahrzumachen.
Dann zogen wir zu den Panzersperren, zuerst an die Radeberger Straße. Wir
räumten die schweren Stämme beiseite, die Volkssturmmänner hinderten uns
nicht. Als wir an die Sperre auf der Dresdner Straße kamen, war diese von einigen
anderen Gruppen von Frauen schon weggeräumt."
In Lomnitz brachte Frau Liddy Thieme am Volksheim eine weiße Fahne an.
Daraufhin drohten SS-Leute ihr und ihren Kindern mit Erschießung. Ein anderer
Lomnitzer fuhr mit einem weißen Tuch in der Hand auf dem Fahrrad den aus
Richtung Großnaundorf anrückenden Soldaten entgegen.
Auch im Ostteil des Radeberger Landes setzten mutige Menschen in dieser
turbulenten Zeit ihr Leben ein. Am 7. Mai 1945 sprengten gegen 20 Uhr deutsche
Truppen Eisenbahnbrücken und Telegrafenleitungen im Raum Arnsdorf-Kleinröhrsdorf-Seeligstadt. Durch die Tat eines Antifaschisten gelang es, die Brücke
zwischen Arnsdorf und Kleinwolmsdorf vor der Vernichtung zu retten.
In der Nacht vor dem Eintreffen der Sowjettruppen öffneten beherzte Männer in
Arnsdorf die Panzersperren.
Und in der Stadt Radeberg?
Viele Antifaschisten der Stadt waren in den 12 Jahren der NS-Herrschaft
Verfolgungen und Terror ausgesetzt. Alfred Lehmann, Hans Wächtler, Paul
Brückner, Walter Eberhard, Emil Vetters und Kurt Hantzsche gehörten zu denen,
die jahrelang eingesperrt gewesen waren. In den Apriltagen 1945 vereinbarten sie
illegale Treffs. Zu ihnen stieß Georg Wehner, dreimal verhaftet, zuletzt für sechs
Jahre im Zuchthaus Waldheim. Er hielt sich seit dem 1. Mai 1945 illegal in
Radeberg auf.
Wie kann Radeberg der Roten Armee kampflos übergeben werden?
Wie kann die Röderstadt vor der Zerstörung bewahrt und das Leben der Bürger
erhalten werden?
Dieses Problem stand im Mittelpunkt ihrer Überlegungen und Aktivitäten.
Georg Wehner und Hans Wächtler sollten den Truppen der Sowjetarmee
entgegengehen und über die Lage in der Stadt berichten.
112
Straßensperren mußten beseitigt werden, beginnend am Wiesental und an der
Pulsnitzer Straße. Dafür übernahm Emil Vetters die Verantwortung.
Außerdem wurde festgelegt, Verbindung mit Antifaschisten der benachbarten
Orte herzustellen, so mit Fritz Weitzmann (Seifersdorf) und Karl Pietzsch
(Schönborn).
Wie am 8. Mai 1945 die Begegnung mit sowjetischen Soldaten vor sich ging,
berichtete Georg Wehner:
"Es mag gegen 6 Uhr gewesen sein, als wir aus Richtung Wachau den Lärm einer
Marschkolonne hörten. Gespannt harrten wir der Dinge. Wir beschlossen, so bald
die Sowjetsoldaten sichtbar würden, unsere Deckung im Straßengraben zu
verlassen und ihnen winkend entgegenzugehen. Als die sowjetische Einheit noch
etwa 300 m entfernt war, gingen wir, uns an den Händen fassend, mitten auf der
Straße auf die Rotarmisten zu. Als sie näher kamen, riefen wir: 'Deutsche
Kommunisten!...SS kaputt!’
Als dann ein Dolmetscher eintraf, erklärten wir alles noch einmal: Wer wir seien,
wie die Lage in unserer Stadt war und welche Vorbereitungen wir getroffen
hatten. Nun verstanden sie alles, umarmten uns und nannten uns Towarischtschi
(Genossen)."
Andere Bürger setzten sich, ihrem Gewissen folgend, in diesen schwierigen Tagen
spontan für die Rettung ihrer Heimatstadt ein: Als sich Emil Vetters mit Frau
Walther und Herrn Hentschel auf den Weg machten, um wie vereinbart die
Sperren im Wiesental zu beseitigen, waren bereits andere, ihnen Unbekannte,
dabei, diese Hindernisse wegzuräumen.
Wenn der Röderübergang am Ende von Lotzdorf auch nur eine kleine Brücke ist,
so konnte sie für Truppenbewegungen von Bedeutung sein. Die zurückflutenden
SS-Soldaten hatten Sprengstoff angebracht, um diese Brücke zu sprengen und
den vorrückenden Soldaten der Sowjetarmee ein Hindernis in den Weg zu legen.
Albert Zumpe, vor 1933 aktives Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei und
wegen seiner antifaschistischen Gesinnung verhaftet, eingesperrt und danach in
ein Strafbataillon eingezogen, verwundet und im Lazarett auf Genesung hoffend,
war einige Tage in Lotzdorf auf Urlaub. Das Lazarett war aufgelöst worden. Er
hatte beobachtet, wie die Sprengladung angebracht worden war. Als die Brückenwache zeitweilig ihren Posten verlassen hatte, entfernte er gemeinsam mit Paul
Fasold und Erich Franke den Zünder, holte die in die Erde eingebettete Sprengleitung heraus und warf sie in den Garten. So blieb die Brücke erhalten.
Auch fünf Minuten vor 12 geht das Morden weiter
In der "Enzyklopädie des Nationalsozialismus" wird unter dem Stichwort
"Todesmärsche" gesagt: "Phänomen im Dritten Reich, vor allem gegen Ende des
Krieges, als die Häftlinge etlicher KZ evakuiert, d.h. in großer Zahl gezwungen
wurden, unter unerträglichen Bedingungen und brutalen Mißhandlungen über
113
weite Entfernungen zu marschieren, wobei ein großer Teil von ihnen von den
Begleitmannschaften ermordet wurde."
In den Monaten März und April 1945 erhöhte sich die Zahl der Todesmärsche
sprunghaft. Auch das Radeberger Land war von einem dieser Todesmärsche
betroffen. Zwei damals 11jährige Jungen, ihre Eltern wohnten in Wallroda bzw.
in Fischbach, haben, sich ihrer Kindheit erinnernd, 53 Jahre später niedergeschrieben, was sie damals sahen. Im Gedächtnisprotokoll von Fritz Zinke ist
zu lesen:
"Über die seichte Bergkuppe kam von Radeberg her eine Menschengruppe mit
einem größeren Bauernhandwagen. Beim näheren Herankommen wurde uns
deutlich, es sind Menschen in Sträflingskleidung, die von bewaffneten Uniformträgern bewacht wurden. Um sich herum mußten sie einen Stacheldrahtzaun
tragen. An der Bewegung der Gefangenen konnten wir erkennen, daß es den
Menschen sichtlich schwer fiel, mit dem Wagen voranzukommen. Auf etwa
halber Strecke der einsehbaren Straße fiel einer der Gefangenen um. Die anderen
zogen und schoben den Wagen äußerlich scheinbar unberührt weiter. Der
Umgefallene blieb liegen und war nun außerhalb des Drahtzaunes. Nach wenigen
Schritten blieb der Troß stehen. Einer der Bewachungskräfte griff zum Feldspaten
und schlug sehr kräftig und wiederholt auf den Kopf und den Oberkörper des am
Boden Liegenden ein. Nach kurzer Zeit zog der Troß weiter. Wir Kinder wollten
jetzt sofort auf die Straße und dem liegenden Menschen helfen. Doch unser Vater
hielt uns energisch zurück...
Die Männer haben sich dann mit dem liegengebliebenen Gefangen noch ein
kurzes Stück auf der Straße nach Kleinwolmsdorf bewegt. Neben der Straße
wurde danach geschachtet... Wie sich später herausstellte, wurde an dieser Stelle
nicht nur ein Gefangener regelrecht verscharrt. Mehrere Wochen nach Kriegsende
wurden diese Opfer wieder ausgegraben und auf dem Friedhof in Wallroda
(Gedenkstein siehe Seite 115) an der Mauer zur Kirchgasse ordentlich bestattet."
Dr. Heinz Senenko schrieb über seine Erlebnisse als 11jähriger:
"In der zweiten Aprilhälfte 1945 hatte uns der Frontenlärm um Kamenz Großröhrsdorf in die Keller vertrieben. 'Die Russen kommen!' rief man erschreckt. Auf
der Landstraße in Richtung Dresden rollten tatsächlich Panzer heran, Einschläge
dröhnten. Später sahen wir, Panzergranaten hatten im Oberdorf Häuser zerstört.
'Am Chauseehaus', so bezeichneten wir das Fischbacher Kreuz, 'liegen die Toten',
diese Botschaft ging wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus. Wir machten uns auf
den Weg dorthin. Niemals werde ich den Anblick vergessen. Im Bereich der
Kreuzung lagen mehrere Tote in gestreifter Kleidung. Damals war dort Heinemanns Sandgrube. In der Einfahrt lagen zerquetschte Körper, die offensichtlich
nach der Erschießung von Panzern überrollt worden waren.
Nach dem Kriege wurden sie auf dem Friedhof in Fischbach bestattet, wo der
Seeligstädter Bürgermeister, Martin Burkhardt, selbst KZ-Überlebender, die
Trauerrede hielt."
114
Gedenkstein in Wallroda
Gedenkstein in Fischbach
115
Die "Sächsische Volkszeitung" berichtete in ihrer Radeberger Ausgabe vom
15. Oktober 1945:
"Auf Anordnung des Polizeileiters wurden im Oktober 1945 auf einer ihm
gemeldeten Stelle auf der Flur zwischen Radeberg und Wallroda Nachgrabungen
nach dort versteckten Leichen von ehemaligen KZ-Häftlingen vorgenommen.
Die Nachforschung ergab, daß rechts an der Straße, in etwa 3o m Entfernung von
der Landstraße, auf dem Kartoffelacker sich eine verdächtige Stelle befand.
Nachgrabungen zeigten, daß man schon in etwa 50 cm Tiefe auf zwei männliche
Leichen stieß. Am 10. Oktober 1945 wurden die Nachgrabungen im Beisein von
Wachtmeister Papperitz intensiver weitergeführt. Der Erfolg zeigte, daß man nach
Freilegung einer geringen Erdschicht auf insgesamt sechs Leichen stieß.
Dieselben waren wahllos in diese Grube hineingeworfen worden.
Die Untersuchung der sechs Leichen ergab, daß bei zwei von ihnen der bekannte
Genickschuß stattgefunden hatte. Dagegen war bei den vier anderen festzustellen, daß die Schädeldecken vermutlich durch schwere Schläge vollkommen
zertrümmert waren. Auch sah man an den teilweise noch vorhandenen
Kleidungsstücken der Toten den ungeheuren Blutverlust. Die erste geborgene
Leiche zeigte an den noch vorhandenen Kleiderresten das gut bekannte rote
Erkennungszeichen der Kriegsgefangenen holländischer Nationalität mit der
Erkennungsnummer 91797 und unter diesem Zeichen ein rotes Dreieck. Tod
durch Zertrümmerung der Schädeldecke. Die Leiche Nr. 2 war völlig unkenntlich.
Tod durch Zertrümmerung der Schädeldecke. Die Leiche Nr. 3 war ebenfalls
unkenntlich. An der Schädeldecke war deutlich ein handtellergroßes Loch erkennbar. Leiche Nr. 4 hatte Zivilsachen an und an der Schädeldecke ein geldstückgroßes Loch, das vermutlich der Ausschuß war (Genickschuß). Leiche Nr. 5 hatte
einen blau-weiß-blauen Erkennungsstreifen aus Stoff an der Kleidung mit rotem
Dreieck, was auf belgische Nationalität schließen läßt. Tod durch Genickschuß.
Leiche Nr. 6 hatte ein blau-weiß gestreiftes Hemd an. Der Kopf war völlig
zerschlagen. Des weiteren wurden in diesem Grabe ein Kaffeetopf aus Steingut
sowie ein Eßlöffel gefunden. Nach Zeugenaussagen einer Frau sind diese
Menschen, die einem vorüberziehenden Zug von KZ-Häftlingen ange-hörten, in
der Nähe der Grube von ihren Aufsehern erschlagen bzw. erschossen worden..."
Auch die Standgerichte wüteten weiter. Über einen grausamen Doppelmord neun
Tage vor Kriegsende berichtet die "Arbeitsgemeinschaft Radeberg und Umgebung
im Nationalsozialismus" am Radeberger Humboldt-Gymnasium.
Mit freundlicher Genehmigung der Verfasser veröffentlichen wir im Anhang den
Bericht über diese Schreckenstat und über die Entstehung, die Aktivitäten und die
weiteren Pläne dieser rührigen Arbeitsgemeinschaft.
In Ottendorf-Okrilla verurteilte ein Standgericht am 27. April 1945 die 18jährige
Lydia Baibikowa zum Tod durch Erschießen. Das polnische Mädchen wollte ihren
Verlobten aufsuchen. Da sie ihn nicht antraf, hoffte sie, sich zur Roten Armee
116
durchschlagen zu können. Einwohner denunzierten sie. Ein Bürger berichtete:
"Es war am 27. April bei Einbruch der Dunkelheit. Ich befand mich auf dem
Nachhauseweg in der Köhlerei an der Bergstraße. Da hörte ich vom alten
Sportplatz her eine Feuersalve. Ich ging hin und sah das Mädchen neben einer der
großen Eichen an der Seite des Sportplatzes liegen".
Der verstorbene verdienstvolle Leiter des Heimatmuseums Radeberg, Rudolf
Limpach, verwies in einer Studie auf ein schreckliches Verbrechen am 6. Mai
1945: Soldaten bemerkten in der Stadt zwei junge ausländische Mädchen,
offensichtlich Zwangsarbeiterinnen, und nahmen sie fest. Einwohner hörten
Schüsse. Hinter den Scheunen der Otto-Uhlig-Straße war ein Doppelmord
vollzogen worden.
Auch gegen die eigenen Leute wüteten die SS-Mörder: Weil der Oberleutnant der
Schutzpolizei Unger die Verteidigung der Stadtrandsiedlung in Radeberg (21./22.
April 1945) angeblich nicht genügend organisiert hatte, wurde der Polizeioffizier
verhaftet und von einem Standgericht zum Tode verurteilt. Schließlich wurde die
Todesstrafe in eine langjährige Zuchthausstrafe umgewandelt.
Millionenfach verletzten die NS-Barbaren das internationale Kriegsrecht, besonders bezüglich der Behandlung der Kriegsgefangenen:
Am Nachmittag des 7. Mai 1945 überflogen drei sowjetische Aufklärungsflugzeuge die Röderstadt. Eine Maschine wurde von der am Heiderand stehenden
Hitlerjugend-Flak abgeschossen. Der Pilot konnte abspringen. Zwei SS-Leute
nahmen ihn gefangen und brachten ihn um.
Sich der Verantwortung entziehen
In den letzten Aprilwochen ergriffen die NS-Machthaber Maßnahmen, um die
Schuld für ihre blutigen Verbrechen zu vertuschen. Dazu gehörte die Anweisung
an die kommunalen Behörden und an die Betriebe, alle Aktenbestände über die
NSDAP und ihre Gliederungen, über die Aktivitäten der verbotenen politischen
Parteien und Organisationen, über die Juden, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter umgehend und restlos zu vernichten. Zugleich mußten Personalunterlagen, Geheimberichte, Kabel- und andere Pläne der Infrastruktur beseitigt
werden.
Am 23. April 1945 meldete der Radeberger Bürgermeister, Dr. Hilbert, den Vollzug
dieser Anweisung. Auch die umliegenden Gemeindeverwaltungen beseitigten
diese Unterlagen.
Die Radeberger Zeitung rief noch in ihrer letzten Ausgabe vom 5./6. Mai 1945 die
Bevölkerung "zur letzten Bewährung" auf.
117
Zur gleichen Zeit versuchten viele Funktionäre der NSDAP sich durch Flucht ihrer
Verantwortung zu entziehen. Das gelang den Hauptverantwortlichen für die
Ermordung der Häftlinge des "Arbeitserziehungslagers", SS-Sturmbannführer
Ullrich und SS-Untersturmführer Joch. Ebenso setzten sich "Betriebsführer"
großer Betriebe, wie der Sachsenglas AG, der Exportbierbrauerei und der
Hutschenreuter AG nach dem Westen ab oder tauchten unter. Auch der Leiter der
örtlichen Polizei, Senf, war zeitweise verschwunden. In einer Aufstellung aus der
Nachkriegszeit über Radeberger Aktivisten der NSDAP steht hinter vielen Namen:
"Aufenthalt unbekannt".
118
Sie alle ahmten ihren Gauleiter, Martin Mutschmann, nach, der kurz vor dem
Einmarsch der Sowjetarmee in Dresden die "Gauhauptstadt" mit seinem Gefolge,
vollbepackt mit Lebensmitteln und anderen Reserven, verlassen hatte und sich
im erzgebirgischen Tellerhäuser versteckt hielt. Schließlich verhafteten Mitglieder
der antifaschistischen Polizei 10 Tage nach der Kapitulation den Ranghöchsten
der NSDAP in Sachsen. Während die Bevölkerung hungerte, wurden in seinem
Versteck große Mengen an Lebensmitteln vorgefunden.
Auch das muß in Erinnerung gerufen werden:
Unter dem Eindruck der jahrelangen national-chauvinistischen Hetze der NSDAP,
teilweise gepaart mit Schuldgefühl, ergriff manche Menschen Ausweglosigkeit
und Hysterie. Sie sahen keinen Ausweg und begingen Selbstmord. In Pulsnitz
waren es über 50 Menschen, in Moritzburg 18 und in Radeberg 30-40 Einwohner.
Einige NS-Größen von Radeberg benutzten todbringende Zyankalikapseln, die
kurz vor Kriegsende an die Funktionäre der NSDAP verteilt worden waren, sogar
für ihre Kinder.
Im Juli 1945 konnte der untergetauchte SS-Sturmbannführer Senf festgenommen
werden. In seinem Schlips hatte er eine solche Ampulle verborgen und versuchte,
sich während seiner Vernehmung zu vergiften. Einem Polizisten gelang es, ihm
die Ampulle vorher zu entreißen.
Am 8. Mai 1946 hielt Bürgermeister Paul Brückner Rückblick auf das erste
Nachkriegsjahr:
"Wo waren die Helden der Nazizeit, alle die, die im Gefühl ihrer Macht die
Bevölkerung jahrelang terrorisieren konnten? Wo waren die bisherigen
Machthaber, die so überheblich vom tausendjährigen Reich gesprochen haben,
die stark waren, so lange sie von ihren Nachbetern, Schmeichlern und Marionetten umgeben waren? Aller Heldenmut war vorbei. Feig waren sie geflohen und
haben die von ihnen jahrelang "Betreuten", aber auch Geknechteten im Stich
gelassen, haben ein Trümmerfeld hinterlassen, nicht nur materiell, auch geistig,
moralisch, politisch und seelisch".
F
F
F
F
F
In dem Maße, in dem nach der Befreiung Deutschlands von der Hitlertyrannei der
ganze Umfang der Verbrechen und der Barbarei im Dritten Reich aufgedeckt
wurde, wuchs die Abscheu der Bevölkerung. "Nie wieder Krieg!" war der
einhellige Wunsch. Dazu trugen die eigenen Erfahrungen bei, die fast alle Bürger
mit dem Krieg gemacht hatten. Fast jede Familie beklagte Angehörige, die im
Kriege gefallen oder umgekommen waren. Allein im zweiten Halbjahr 1943
erschienen in der Radeberger Zeitung 210 Todesanzeigen gefallener Soldaten.
Das gleiche erschreckende Bild zeigt ein Blick in die Betriebszeitung des
Sachsenwerkes "Arbeit und Freizeit":
119
“Arbeit + Freizeit”, Sachsenwerkchronik - Folge 16, Dez. 1939
120
“Arbeit + Freizeit”, Sachsenwerkchronik - Folge 36, Dez. 1944
121
Die Menschen erinnerten sich an das Versprechen, das Hitler 1933 dem deutschen
Volk gegeben hatte und dem die meisten geglaubt hatten:
"Gebt mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen!"
Deutschland war nicht wiederzuerkennen. Dresden, die Perle an der Elbe, ein
einziges Trümmerfeld, äußerste Knappheit an Lebensmitteln und Kleidung,
Hunger, Wohnungsnot, Krankheiten, Seuchengefahr...
Besonders Hitlergegner und Antifaschisten machten den verzweifelten Menschen
Mut, zuzupacken und die Nachkriegsnot Schritt für Schritt gemeinsam zu
überwinden.
Aus dem Beispiel dieser Antifaschisten und den eigenen Erfahrungen mit
zwölf Jahren NS-Diktatur und sechs Jahren Krieg wuchs der Wille der Mehrheit
der Bevölkerung, den Nazismus in unserem Lande mit der Wurzel auszurotten.
Gemeinsam in Deutschland antifaschistische Verhältnisse zu entwickeln, lag im
Interesse der deutschen Bevölkerung und entsprach zugleich den Beschlüssen
aller Siegermächte über die Nachkriegsentwicklung in Deutschland.
Wer von einem "verordneten" Antifaschismus in der sowjetischen Besatzungszone spricht, ignoriert die geschichtlichen Tatsachen. An dieser historischen
Wahrheit ändern auch die Fehler beim Aufbau einer antifaschistischen
Gesellschaft und die Versuche der DDR, sie mit antifaschistischen Grundpositionen zu rechtfertigen, nichts. Darüber und über die gesamte Nachkriegsentwicklung in beiden deutschen Staaten und deren Ursachen brauchen wir eine
vorurteilsfreie, sachliche, kritische und tolerante öffentliche Diskussion in
unserem Lande.
Eine Erkenntnis aus unseren Forschungen über das Radeberger Land ist leider
noch heute aktuell:
Nie darf die NS-Barbarei vergessen werden!
Nie wieder Rassenhetze, Juden- und Ausländerhaß!
Wehret den Anfängen!
Dafür brauchen wir einen antifaschistischen Grundkonsens der Demokraten
unserer Stadt und unseres Landes.
122
Anhang
Die Arbeitsgemeinschaft "Radeberg und Umgebung im Nationalsozialismus"
Seit ungefähr eineinhalb Jahren treffen wir, Schüler der Klassen 9-12 des
Radeberger Humboldt-Gymnasiums und unser Lehrer, Herr Mönch, uns, um uns
mit der Heimatgeschichte in der Zeit von 1933 bis 1945 zu beschäftigen. Anlaß
zur Gründung einer solchen Arbeitsgemeinschaft war zum einen die Anonymität,
von der unser Geschichtsunterricht oft geprägt ist. Zum anderen besteht vor allem
unter Jugendlichen ein großes Unwissen über diese Ereignisse. Der dritte und
wichtigste Grund für unsere Arbeit ist unsere Besorgnis angesichts der immer
stärker werdenden rechtsradikalen Tendenzen, besonders unter Jugendlichen.
Wir wollen vor allem jungen Menschen die schrecklichen Ausmaße des Nationalsozialismus vor Augen führen, damit derartiges Gedankengut nie wieder Fuß
fassen kann und Demokratie als wertvolles, aber verletzliches Gut erfaßt wird,
welches immer wieder neu errungen und verteidigt werden muß, damit Humanismus kein leeres Wort bleibt. Wir versuchen, Denkanstöße zu geben und Lehren
aus unserer Geschichte zu ziehen.
Um unsere Ziele zu verwirklichen, befragen wir Zeitzeugen und werten Dokumente aus. Dabei stießen wir im Herbst 1997 auf ein besonders grauenvolles
Verbrechen, den Doppelmord an Charlotte Freche und Joseph Paulin Michel.
Dieser Beitrag wurde von der
Arbeitsgemeinschaft Geschichte
“Radeberg und Umgebung im
Nationalsozialismus” des
Humboldt-Gymnasiums Radeberg
verfaßt.
Als Mentor wirkt der
Geschichtslehrer Bernd Mönch.
Charlotte Freche
123
Auch in Radeberg wurde gemordet
Am 29. April 1945 wurden Charlotte Freche und Joseph Paulin Michel in Radeberg
erhängt.
Was war geschehen?
Das Radeberger Arbeitslager, in dem Joseph Paulin gearbeitet hatte, wurde
aufgelöst. Der junge Belgier wollte am nächsten Morgen die Stadt verlassen und
suchte nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Die Straßen waren voller Menschen. Charlotte, die mit einem im Felde stehenden SS-Mann verheiratet war,
hatte Joseph Paulin im Sachsenwerk kennengelernt. Sie bat eine Nachbarin,
ihn für eine Nacht mit zu sich zu nehmen. Da diese es ablehnte, ließ
Charlotte den jungen Belgier in ihrer Wohnung, Winkelwiese 14, übernachten.
Am nächsten Morgen, einem Sonntag, kam der Ehemann zufällig heim, weil die
Front immer näher rückte. Nachdem er beide gesehen hatte, verließ er ohne
weitere Erklärung das Haus. Kurz darauf gingen auch Charlotte und Joseph
Paulin. Der junge Mann mischte sich unter die Menschen auf der Straße. Charlotte
fuhr mit dem Fahrrad zu ihren Eltern nach Stolpen und gab ihre Papiere der
Mutter.
Am Nachmittag erschienen drei SS-Leute, die den Eltern versprachen, daß ihrer
Tochter nichts passieren würde; sie sollte nur zu einer kurzen Aussprache
kommen. In Begleitung einer ihrer Schwestern wurde Charlotte mit nach
Radeberg genommen.
Auch Joseph Paulin wurde gefangen. Er war von der SS mit Hunden in der Heide
aufgespürt worden. Offensichtlich hatte man ihn geschlagen, denn von seinen
Händen lief Blut.
Auf der Winkelwiese rief jemand: "Wann und wo ist mir egal, aber ihr holt sofort
den Bürgermeister! Wir brauchen den Bürgermeister!" Dieser mußte kommen, da
ein Standgericht einberufen worden war. Charlottes Ehemann war bei der
Verhandlung, die in der Küche stattfand, nicht anwesend.
Einer unserer Zeitzeugen, der damals als Kind im gleichen Haus wohnte, ist durch
das Treppenhaus geschlichen und hat zur Wohnungstür, die nur angelehnt war,
geguckt. Er sah einen Tisch mit einer Hakenkreuzfahne darüber. Scheinbar wurde
dort das Gericht abgehalten.
Vorher mußte die Schwester das Haus verlassen. Sie lief heim nach Stolpen.
Durch Autos, Soldaten und Gespräche der Erwachsenen neugierig geworden,
versuchten die Kinder aus der Nachbarschaft herauszufinden, was passiert war.
In einem Jeep, der auf der Straße geparkt war, entdeckten sie zwei große
Holzschilder. Sie gingen heran, um festzustellen, was darauf geschrieben stand.
Aber ein Soldat forderte sie auf, wegzugehen: "Das geht euch nichts an, das ist
nichts für euch!"
Draußen vor der Tür stand ein Wachposten. Er fragte eine Nachbarin, die aus
einen Fenster sah, nach einer Tasse Kaffee. Die Frau brachte ihm den Kaffee und
fragte: "Was macht ihr mit den beiden?" Sie bekam zur Antwort: "Weiß ich nicht.
124
Geht mich nichts an, ich bin nur ein Wachposten." "Na, um Gottes Willen, ihr
werdet sie doch nicht etwa in ein KZ stecken?" "Nein, solche werden doch nicht
noch durchgefüttert." "Ihr werdet sie doch um Gottes Willen nicht erschießen?"
"Nein, eine Kugel ist zu schade, da haben wir keine übrig, wir haben Krieg."
Nach der Gerichtsverhandlung gingen die SS-Leute durch das Haus und fragten,
wer eine Wäscheleine hat, da kein Strang vorhanden war. Sie klingelten an jeder
Wohnungstür, aber keiner wollte eine haben. Der Wachposten verlangte den
Bodenschlüssel, und die Tür mußte aufgeschlossen werden. Jeder Mieter besaß
eine kleine Bodenkammer. In der ersten stand vorn ein Körbchen mit Klammern
und einer Wäscheleine. Nachdem der Wachtposten nach dem Besitzer gefragt
hatte, mußte dieser die Leine geben.
Ursprünglich sollten sie im Hof der Winkelwiese 14 an einer Teppichstange
"aufgeknüpft" werden. Doch die Frauen aus dem Haus haben dagegen opponiert:
"Das geht nicht. Wir haben Kinder hier." Die Bitte wurde gewährt. Dafür wurden
Charlotte und Joseph Paulin am damaligen Kaiserhof zentral in der Stadt
gehängt.
Als die Schwester gegen 22 Uhr zu Fuß ihr Elternhaus erreichte, wußte sie noch
nicht, daß Charlotte zu diesem Zeitpunkt bereits tot war.
Sie und der Belgier wurden sofort nach der Verhandlung zur Hauptstraße 61
gebracht, wo man das Urteil "Tod durch den Strang" gegen 19,30 Uhr vollstreckte.
Sie wurden mit Wäscheleinen um den Hals auf einen LKW gestellt. Charlotte
sprang herunter, noch bevor das Auto unter ihnen wegfuhr. Joseph Paulin lief mit,
solange es ging. Beide hatten ein Schild umhängen. Auf dem Schild der Frau war
zu lesen: "Mein Mann ist im Felde und ich habe mit einem Ausländer gehurt".
Das Schild des Belgiers trug folgende Aufschrift. "Ich bin Ausländer und habe
mich an einer deutschen Frau vergriffen".
Charlottes Ehemann brach zusammen, als er seine Frau hängen sah, haben
Augenzeugen berichtet.
Zur Abschreckung blieben die Leichen bis zum nächsten Morgen hängen. Niemand kümmerte sich um die Toten. Charlotte wurde von ihrer Familie mit dem
Auto nach Stolpen geholt. Sie mußte unter einem Baum beerdigt werden, denn sie
durfte ihre letzte Ruhestätte nicht in den Reihen der anderen Gräber finden. Die
Grabrede hielt eine jüngere Schwester, da der Pfarrer sich weigerte. Aus Angst vor
den Nazis war außer der Familie niemand gekommen.
Der Vater schrieb ins Stammbuch, daß Charlotte "von SS-Banditen öffentlich
gehängt" worden ist, weil sie "einem mit ihr arbeitenden Belgier manchmal ein
Stück Brot gab."
Für die Nachbarschaft war dieses Urteil um so schlimmer, da sie Charlotte als eine
sympathische, aufgeschlossene junge Frau kennengelernt hatten.
Nach Kriegsende wurde Charlotte umgebettet, die auf Wunsch ihrer Eltern unter
ihrem Mädchennamen beerdigt worden war, da ihr Ehemann maßgeblich am
Mord der beiden mitgewirkt hatte.
Der Nachbar, der die Wäscheleine geben mußte, wurde nach Kriegsende verhaftet.
125
Die Mörder verstanden sich als die besseren Deutschen. Doch offensichtlich nahmen sie es mit ihrer
Muttersprache nicht so genau. Vielleicht aber mußte auch alles sehr schnell gehen, zum Töten jedoch
hatten sie genug Zeit.
126
Aber die Mitbewohner waren sich einig, daß jeder in so eine Situation hätte
kommen können. Da sie sich sehr für ihn einsetzten, kam dieser schnell wieder
frei.
Unsere Forschungsarbeit
Bei den ersten Treffen unserer AG hatte keiner von uns eine genauere Vorstellung,
wie wir an ein solches Projekt herangehen sollen.
Unser Lehrer, Herr Mönch, wies uns gleich darauf hin, daß unsere Arbeit nicht nur
auf Sympathie stoßen würde. Damals konnte das noch keiner von uns glauben,
da wir fest davon überzeugt waren, daß sich niemand gegen unser menschliches
Anliegen und die Suche nach geschichtlicher Wahrheit stellen könnte. Später
erkannten wir, wie naiv und idealistisch diese Vorstellungen waren.
Mit Hilfe eines Fragebogens, den wir zunächst zusammenstellten, verschafften
wir uns einen groben Überblick über die Ereignisse in Radeberg während der Zeit
des Nationalsozialismus. Wir versuchten, die Fragen so zu formulieren, daß
die Gefühle der Zeitzeugen nicht verletzt werden. Dies erwies sich als sehr
schwierig und erforderte viel Einfühlungsvermögen.
Bei der Auswertung dieser Befragungen wurden wir auf das Schicksal von
Charlotte Freche und Joseph Paulin Michel aufmerksam. Um weitere Informationen über diese Ereignisse zu bekommen, wandten wir uns an andere
Hobbyhistoriker, die uns eine Kopie des Standgerichtsurteils zur Verfügung
stellten.
Die näheren Umstände aber erfuhren wir im Gespräch von der Schwester der
Ermordeten. Es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen, zugleich war sie aber froh,
daß sich junge Menschen für den tragischen Tod ihrer Schwester und des Belgiers
interessieren. Sie empfand es als ein Stück Wiedergutmachung. Auch ehemalige
Nachbarn und weitere Zeitzeugen konnten wir befragen. So ergab sich ein
genaueres Bild der schrecklichen Ereignisse. Als wir erste Forschungsergebnisse
bei öffentlichen Diskussionen in der Stadt Radeberg vorstellten, kam es zu
kontroversen Debatten. Mehrfach stießen wir auf seltsame Auffassungen und
latente Ausländerfeindlichkeit. Dies spürten wir dadurch, daß manche abfällig
von der vermeintlichen Beziehung einer Deutschen mit einem Ausländer
sprachen, um das Urteil zumindest teilweise zu legitimieren. Andere versuchten
den Doppelmord als Familientragödie zu banalisieren. Und plötzlich begriffen
wir, wie schwer es wirklich ist, dennoch einen friedlichen und konstruktiven
Meinungsaustausch mit Leuten zustande zu bringen, die andere Auffassungen
haben. Schnell ertappten wir uns dann selbst, in leeren Phrasen zu denken,
anstatt nach möglichen Argumenten zu suchen, wie wir das schon bei vielen
unserer Kritiker erleben mußten.
Um das Verbrechen an Charlotte Freche und Joseph Paulin Michel dauerhaft im
Gedächtnis der Menschen wach zu halten, brachten wir im Radeberger Stadtrat
127
den Vorschlag ein, jeweils eine Straße nach den Ermordeten zu benennen. Wir
ahnten nicht, auf wieviel Widerstand unser Ansinnen stoßen würde. Wir erlebten
streitbare Demokratie und nahmen die Gelegenheit wahr, unsere eigenen
Vorstellungen mit einzubringen. Erfolg und Mißerfolg lagen nahe beieinander;
Zwar wurde unser Vorschlag der Straßenbenennung mehrheitlich abgelehnt, in
der nächsten Stadtratssitzung wurde unser Textvorschlag für eine Gedenktafel
mit wenigen Detailänderungen fraktionsübergreifend angenommen.
Die Inschrift lautet:
Zum Gedächtnis
Am 29. April 1945 wurden
an dieser Stelle
Charlotte Freche
und Joseph Paulin Michel
von der SS ermordet.
Diese Tat war brutale Konsequenz
einer verbrecherischen
Weltanschauung.
Die Würde des Menschen
ist (un)antastbar.
Vorbereitungen für die Gedenkveranstaltung
Langfristig bereiteten wir uns auf den 29. April 1998 vor. Der Tag sollte ein
würdiges und ehrendes Andenken für die beiden Opfer werden. Da es sehr viel zu
tun gab, wurden Arbeitsgruppen gebildet, Aufgaben verteilt und zusätzliche
Treffen an Wochenenden und in den Ferien notwendig.
Wir begannen, mit selbstverfaßten Zeitungsartikeln die Öffentlichkeit zu
informieren und zu sensibilisieren.
Um vor allem junge Menschen für unser Vorhaben zu gewinnen, wandten wir
uns mit der Bitte, unser Projekt vorstellen zu können, an Schulleitung und Lehrer.
In jeder Klasse unserer Schule gestalteten Mitglieder unserer AG eine Unterrichtsstunde. Für viele Schüler der Sekundarstufe 1 und 2 stellte dieser lebendige
und anschauliche Geschichtsunterricht eine besondere Bereicherung des Schulalltags dar.
Einladungen für den 29. April verschickten wir sowohl an umliegende Schulen,
als auch an Vereine, Parteien und andere Organisationen. Persönlich besuchten
wir Junge Gemeinden und Kinder- und Jugendtreffs.
128
Wir waren verwundert, wieviel Aufwand die Vorbereitung eine solche Veranstaltung erfordert. So zum Beispiel mußten wir unsere Reden ausarbeiten, die
Musik auswählen, den genauen Ablaufplan zusammenstellen und technischorganisatorische Probleme bewältigen.
Der 29. April 1998 auf dem Radeberger Marktplatz
19.30 Uhr eröffnete die Saxophongruppe eines Mitschülers die Veranstaltung. In
der sich anschließenden ersten Rede klärten wir die Anwesenden über das
Schicksal von Charlotte Freche und Joseph Paulin Michel, die am 29. April vor 53
Jahren in Radeberg erhängt worden sind, auf. Dabei zeigten sich viele Teilnehmer
sehr bewegt.
Mit unseren Kritikern setzen wir uns in der zweiten Rede auseinander. Wir
begründeten, weshalb wir uns ausgerechnet diesen Fall gewählt haben. Zitat:
"..., denn die wären doch selber schuld, das wäre doch Ehebruch oder eine
Familientragödie gewesen". Uns geht es aber um einen Staat, in dem Gesetze den
Mord an zwei Menschen legalisieren. Zudem haben wir weder behauptet, daß
zwischen den beiden keine Beziehung bestanden hat, noch könnte irgend jemand
beeiden, es hätte eine intime Freundschaft zwischen den Ermordeten gegeben.
Auch auf den Vorwurf, die zwei hätten doch gar nichts geleistet, seien keine
Widerstandskämpfer gewesen, gingen wir ein. Für uns sind Charlotte Freche und
Joseph Paulin Michel Opfer, deren geraubte Ehre wir ein Stück mit dieser
Veranstaltung wieder herstellen wollen."
In der dritten Rede wollten wir den Teilnehmern zeigen, wie wichtig es heute noch
ist, daß man sich mit dieser Geschichte, besonders in den Jahren von 1933-1945,
auseinandersetzt. Wir wiesen auf aktuelle Tendenzen hin, die verdeutlichen, daß
viele die Schreckenstaten der Nationalsozialisten wahrscheinlich schon wieder
vergessen haben.
Mit den Worten des Schriftstellers Erich Fried endete diese Rede:
“Morgen wird keiner von uns
leben bleiben,
wenn wir heute
wieder nichts tun."
Im Anschluß an diese Reden, die alle von Schülern unserer Arbeitsgemeinschaft
gehalten wurden, gingen wir an den Ort, an dem Charlotte und Joseph Paulin vor
53 Jahren erhängt worden waren. Der Trauermarsch wurde von monotonen
Trommelklängen bis zum Haus der Hauptstraße 61 begleitet. Dort angekommen,
legten die Anwesenden mitgebrachte Kerzen und Rosen nieder.
Anschließend wurde das Urteil verlesen und zu einer Schweigeminute für die
beiden Ermordeten aufgefordert.
129
Zum Abschluß rezitierte ein Mitglied unserer Arbeitsgemeinschaft das Gedicht
"Überlegungen" von Martin Niemöller, welches den Leuten einen letzten Anstoß
zum Nachdenken geben sollte:
"Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen .
Ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen.
Ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Katholiken holten,
habe ich nicht protestiert,
ich war ja kein Katholik.
Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte."
Musikalisch ließen wir die Gedenkveranstaltung ausklingen.
Ein größeres Polizeiaufgebot sicherte den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung, was uns angesichts einiger merkwürdiger Zaungäste durchaus angebracht erschien.
Presse und Fernsehen berichteten. Viele Teilnehmer dankten uns für die
ergreifende Gedenkstunde. "Rote Rosen für Ermordete" (Sächsische Zeitung,
02./03. Mai 1998) und Kerzen zeugten noch tagelang von diesem Abend.
Gedenken am Ort des Verbrechens,
Trauermarsch am 29. 4. 1998
130
Sachsensieger im Wettbewerb um den GOLDENEN FLOH, einem Förderpreis für praktisches Lernen
Mitte Mai 1998 entdeckten wir in der Schule ein Plakat, auf dem zu einen
Wettbewerb aufgerufen wurde. Auf diesem war zu lesen:
"Ein Oscar, der Floh heißt:
Der GOLDENE FLOH ist ein Förderpreis für Praktisches Lernen der Jugendzeitschriften Flohkiste und Floh unter der Schirmherrschaft des sächsischen
Kultusministers Dr. Matthias Rößler, ausgeschrieben von FLOH Praktisches
Lernen e.V. und dem Verband Bildung und Erziehung Sachsen...
Ausgezeichnet werden Beispiele praktischen Lernens, in denen unsere Welt durch
Unterrichtsthemen und Projekte handelnd und sinnvoll erfahren und begriffen
werden kann...
Teilnahmebedingungen: Schicken Sie uns bitte Ihr Beispiel praktischen Lernens
aus Ihrem Unterricht, aus Arbeitsgemeinschaften, Projektwochen oder Projekten
aus Ihrem Schulleben, von Erkundungen, Aufführungen oder Ausstellungen.
Die Darstellungen können sich auf aktuell verwirklichte, laufende oder im
Ausschreibungszeitraum begonnene Vorhaben beziehen. Stellen Sie der Jury Ihr
Projekt zum praktischen Lernen in einem Bericht vor, der nicht mehr als zehn
Seiten umfaßt (DIN A4). Dieser kann durch Fotos, Videos, Dokumente usw.
ergänzt werden."
Wir beschlossen, daran teilzunehmen. Allerdings gab es ein Problem: Bis zum
Einsendeschluß blieben uns nur zwei Tage. In einer wahren "Nacht- und Nebelaktion" stellten wir aus Fotos, Zeitungsausschnitten und bereits vorhandenen
Texten eine Mappe über das Schicksal von Charlotte Freche und Joseph Paulin
Michel sowie über unsere Arbeit zusammen.
Ungefähr 150 Gruppen beteiligten sich an diesem Wettbewerb. Um so mehr
freuten wir uns, als wir einen Monat später erfuhren, daß wir zu den 20
Preisträgern gehörten, die ihr Projekt in Zittau präsentieren durften, damit die
endgültige Plazierung festgelegt werden konnte. Bis dahin arbeiteten wir an
unserem Ausstellungsmaterial, das wir mitnehmen wollten. So zum Beispiel
stellten wir Mappen mit Zeitungsausschnitten und Briefen zusammen. Ein rotschwarz-geflammter Modellgedenkstein, eine Fototafel über den 29. April und
das Video dieser Gedenkveranstaltung gehörten ebenfalls zu unserem Gepäck.
In der Zittauer Mittelschule am Burgteich stellten wir am 26. und 27. September
1998 der Jury und interessierten Besuchern unsere Ergebnisse vor. Viele Leute
ermunterten uns, nicht aufzugeben und uns für unsere Ziele einzusetzen. Einige
ältere Menschen erzählten von ihren Erlebnissen aus dem 2. Weltkrieg. Die
Atmosphäre an diesem Wochenende war sehr angenehm und wohltuend.
Grundschüler, Mittelschüler, Förderschüler, Behinderte und Gymnasiasten gingen
alle natürlich und verständnisvoll miteinander um.
131
Mit einer musikalisch umrahmten Auszeichnungsveranstaltung wurde die
Präsentation abgeschlossen. In der Kategorie Mittelschulen/Gymnasien wurden
wir Sachsensieger. Mit dem Preisgeld wollen wir einen Teil der Gedenktafel für
Charlotte Freche und Joseph Paulin Michel finanzieren.
132
Eine Ausstellung im Schloß Klippenstein
Um unsere Ergebnisse für einen längeren Zeitraum der Öffentlichkeit zugänglich
zu machen, stellten wir eine kleine Dokumentation unserer Arbeit zusammen.
Zur Eröffnung am 16. November 1998 luden wir Zeitzeugen, mit denen wir im
Verlauf unserer Nachforschungen gesprochen hatten, verschiedene Organisationen und Einzelpersonen, die uns unterstützt hatten und natürlich interessierte Einwohner Radebergs ein. Schätzungsweise 50 Personen waren dieser
Einladung gefolgt.
Nachdem Frau Altmann als Museumsleiterin, der Bürgermeister, Herr Lemm, und
unser Lehrer, Herr Mönch, zu Wort gekommen waren, war es an uns, etwas zu
sagen. Wir bedankten uns noch einmal bei allen, die uns immer wieder unterstützt und ermutigt haben, nicht lockerzulassen und weiterzuforschen.
Anschließend rezitierten wir das Gedicht "Gespräch mit einem Überlebenden"
von Erich Fried, daß wir schon bei der Gedenkveranstaltung auszugsweise
einbezogen haben...
Eine Gedenktafel für Charlotte und Joseph Paulin
Leider war es uns nicht möglich, die Gedenktafel für Charlotte Freche und Joseph
Paulin Michel schon am 29. April 1998 zu enthüllen. Dazu fehlten uns die finanziellen Mittel. Nach unserem Spendenaufruf, dem auch viele gefolgt sind, haben
sich nun neue Möglichkeiten eröffnet.
Die Firma Formguß Dresden GmbH ist bereit, die Produktions- und Materialkosten
für die Bronzeplatte zu übernehmen. Bei der Aufstellung eines Konzeptes für die
Gestaltung dieser Platte steht uns der Radeberger Künstler Detlef Herrmann mit
Rat und Tat zur Seite.
Wir hoffen so, die Gedenktafel am 29. April 1999 am Ort des Verbrechens, vor dem
Gebäude der Hauptstraße 61, enthüllen zu können.
Pläne für die Zukunft
Natürlich müssen wir erst diese Forschungsarbeit beenden, bevor wir uns neuen
Themen zuwenden können. So sind wir beispielsweise schon dabei, Kontakt mit
Belgien aufzunehmen, um Informationen über den Belgier und den Verbleib
dessen Leiche zu erhalten. Dazu haben wir uns an die belgische Botschaft und
verschiedene Suchdienste gewandt. Bisher leider ohne Erfolg.
Zudem haben wir unser Ziel, Straßen nach den Ermordeten zu benennen, noch
nicht aus den Augen verloren.
Wenn wir dieses Projekt abgeschlossen haben, wollen wir uns neuen Nachforschungen widmen. Anhaltspunkte dafür haben wir schon gesammelt.
133
Einflußreiche Parteien und Organisationen
während und nach der Weimarer Republik
SPD - Sozialdemokratische Partei Deutschlands
1875 vereinigten sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und der
Allgemeine Deutsche Arbeiterverein zur Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands.
Mitgliederzahl: 1914
1 085 905 Mitglieder
1932
1 008 953 Mitglieder
Von 1924 bis Mitte 1932 stellte die SPD die stärkste Fraktion im Deutschen
Reichstag.
SAP - Sozialistische Arbeiterpartei
Als linke Opposition aus der SPD ausgetretene oder ausgeschlossene
Mitglieder gründeten am 2.10.1931 in Breslau die Sozialistische
Arbeiterpartei.
Unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkrieges zerfiel die Auslandsleitung
der SAP. Damit hörte sie auf, als selbständige Partei zu bestehen.
KPD - Kommunistische Partei Deutschlands
Am 30.12.1918 von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegründet, war sie
1932 die drittstärkste Partei in Deutschland. Zu ihren Fehlern gehörte die
Sozialfaschismusthese gegenüber der SPD und die Unterschätzung des NSTerrors. Im Widerstand gegen die NS-Diktatur erlitt die KPD die größte Zahl
an Opfern (unmittelbar nach dem Reichstagsbrand ca. 11.000 Verhaftete), prozentual gefolgt von den Bibelforschern (Zeugen Jehovas).
KPD (O) - Kommunistische Partei Deutschlands (Opposition)
Am 30.12.1928 von August Thalheimer und Heinrich Brandler gegründet. Mit
dem Programm des deutsch-nationalen Weges zum Sozialismus und scharfer
Kritik an der stalinistisch dominierten KPD und der kommunistischen Internationale wollte sich die KPD (O) gegenüber der KPD unter Ernst Thälmann
durchsetzen. Das gelang nicht.
134
DNVP - Deutschnationale Volkspartei
Gegründet am 22.1.1918 von Großunternehmern, Großgrundbesitzern und
An-gehörigen des ehemaligen monarchistischen Offizierskorps. Ziele:
Beseitigung der Weimarer Republik
Rückkehr Deutschlands zur Monarchie
Wiedererwerb der deutschen Kolonien
Kampf gegen jüdische Kreise
1928 hatte die DNVP 696.000 Mitglieder, die besonders im "Stahlhelm" aktiv
waren. Am 1.12.1931 schloß sich die DNVP mit der NSDAP und dem
"Stahlhelm" in Bad Harzburg zur nationalen Opposition, der "Harzburger
Front" zusammen.
DVP - Deutsche Volkspartei
Gegründet am 23.11.1918. Ende 1920 hatte sie 800 000 Mitglieder, die sich auf
den Boden der Weimarer Republik stellten, jedoch am Ende der Weimarer
Republik zunehmend für den Abbau der bürgerlich-parlamentarischen
Demokratie wirkten und den Faschisierungsprozeß unterstützen.
Nach der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 23.3.1933 löste sich die
DVP selbst auf.
Stahlhelm
Am 13.11.1918 von Fabrikbesitzer Franz Seldte (DVP) gegründeter paramilitärischer Wehrverband zur Niederschlagung der Novemberrevolution.
Zwischen 1924 und 1929 hatte der Stahlhelm 500.000 Mitglieder, die ab 1930
zunehmend zur NSDAP überwechselten. Seldte wurde am 30.1.1933
Arbeitsminister in der ersten Hitler-Regierung. Am 27.4.1933 unterstellte sich
der Stahlhelm der Hitlerregierung und wurde in die SA übernommen.
NSDAP - Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
Die am 5.1.1919 in München gegründete Deutsche Arbeiterpartei entwickelte
sich mit Unterstützung des bayrischen Reichswehrkommandos und gab sich
am 24.2.1920 den Namen NSDAP.
Mitgliederzahl: 1925
27 000 Mitglieder
1929
176 000 Mitglieder
1930
806 000 Mitglieder
1933 3 900 000 Mitglieder
1945 9 600 000 Mitglieder
135
SA - Sturmabteilung
Von Hitler am 3.8.1921 als Kampftruppe gegründet, wurde die SA ab 1931 zu
einer halbmilitärischen Terrororganisation ausgebaut. 1932 hatte sie 300.000
Mitglieder.
SS - Schutzstaffel
Die SS war der Stoßtrupp Hitlers und gehörte anfangs organisatorisch der SA
an. Sie wurde jahrelang von der Reichswehr logistisch und mit Waffen
unterstützt. Von 400 Angehörigen im Jahr 1923 wuchs sie auf 52.000 im Jahr
1933 und 146.000 im Jahr 1944.
Waffen-SS
Sie wurde von Reichsminister Himmler am 18.5.1933 gebildet. Am 30.6.1944
hatte sie einen Bestand von 600.000 Mann, davon 350.000 Feldtruppen (35
Divisionen).
136
Quellen und Literaturangaben
Stadtverwaltung Radeberg, Archiv-Nr.: 62, 177, 227, 403, 2073, 2074, 2180,
2189, 4000, 4100, 4151, 5046
Nr. 3489: Ortschronik der Stadt Radeberg 1945 bis 1989, Band 1, von Rudolf
Thomas
Nr. 3589: Chronik der Stadt Radeberg und Umgebung bis 1948 von Theodor
Arlt.
Archiv der Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden
Landesnachrichtendienst, herausgegeben von der Landesverwaltung
Sachsen/ Landesnachrichtendienst, September/Oktober 1945
Radeberger Zeitung und Tageblatt (RZ), Jahrgänge 1922, 1931-1938, 1943,
1944 und einzelne Ausgaben 1945
Der Freiheitskampf, Amtliche Zeitung der NSDAP, Amtliches Blatt der
Behörden, Dresden, Januar bis 6. Mai 1945
Volkszeitung, Dresden, September/Oktober 1945
Volksstimme Dresden, September/Oktober 1945
Sächsische Zeitung vom 1.4.1964, 9.10.1991, 25.3.1992, 25.10.1994,
21.1.1998
Neues Deutschland vom 21.7.1998
Annaberger Tageblatt vom 17. Mai 1945
Die Radeberger Heimat, Heft 1 und 2, 1994 und 1995
Enzyklopädie des Nationalsozialismus, herausgegeben von Wolfgang Benz,
Hermann Graml und Hermann Weiß, Stuttgart, Klett-Cotta 1997
Deutscher Bundestag: Fragen an die deutsche Geschichte, Referat für Öffentlichkeitsarbeit, Bonn 1990
Chronik des antifaschistischen Widerstandes im Kreis Dresden-Land 19331945, Dresden 1985
Chronik des VEB RAFENA-Werkes, 1915-1957
Ortschroniken von Wachau, Ottendorf-Okrilla, Arnsdorf, Lomnitz, Kleinwolmsdorf, Schönborn, Langebrück
Lebenserinnerungen verdienter Partei- und Arbeiterveteranen des Kreises
Dresden-Land 1933-1945, Dresden 1985
Zeitzeugen und andere Berichte von Karl Pietzsch (Radeberg), Georg Wehner
(Dresden), Albert Zumpe (Radeberg), Franz Dobermann (Dresden), Arthur Hofmann (Dresden), Dr. Heinz Senenko (Sebnitz), Fritz Zinke (Radeberg), Otto
Wittich (Kleinwolmsdorf), Hans Thalheim (Lomnitz), jeweils im Besitz der
Verfasser
Privatarchive sowie Material- und Fotosammlungen zu einzelnen Sachgebieten von Herbert Böhm, Rosemarie Böttcher, Eberhard Wehner, Helfried
Wehner (alle Radeberg), Otto Wittich (Kleinwolmsdorf), Hans Thalheim
137
Beier Gottfried: Unerschrockene Frauen gedemütigt, in:
Sächsische Zeitung vom 6.11.1997
Bergschicker Heinz: Deutsche Chronik 1933-1945, Berlin 1981
Böhm Boris: In Jammer und Schmerz ist sie erloschen, in
Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen in Sachsen, Beiträge zu ihrer
Aufarbeitung,
Dresden-Pirna 1996
Ders.: Die Euthanasieanstalt Pirna-Sonnenstein 1940-1941, in: ebenda
Böhm Herbert: Der gelbe Stern, Gedanken zur Reichskristallnacht vor 50
Jahren, in: ROBOTRON, November 1988
Czok, Karl: Geschichte Sachsens, Weimar 1989
Forner, Willy: Kriminalsekretär Beyerleins letzter Fall in:
Dresdener Pitaval, Kriminalfälle aus vier Jahrhunderten
Gebauer, Hans-Werner: Biografische Anmerkungen zum Lebensweg
des Radeberger Bürgermeisters Otto Uhlig, Langebrück-Radeberg 1997
Goldenhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche
Deutsche und der Holocaust, 1996
Gute, Herbert: Partisanen ohne Gewehr, Berlin 1970
Knopp, Guido: Hitler - eine Bilanz, München 1997
Körner, Eberhard: Das Verbrechen an Familie Schönwald, in:
Sächsische Zeitung vom 9.10.91
Konev, I. S.: Das Jahr fünfundvierzig, Berlin 1969
Limpach, Rudolf: Kampfweg des Sieges - Tagebuch der Befreiung,
eine Dokumentation, in: Radeberger Kulturleben 1975
Löwental, Richard, von zur Mühlen, Patrik (Hg): Widerstand und
Verweigerung in Deutschland 1933-1945, Bonn 1997
Marschner, Wolfgang: Verfolgt - Verschleppt - Verbrannt (Sächsische Hefte),
Vom Schicksal der Juden in Dresden, Dresden 1995
Naumann, F. : Die Hilfe, Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe,
Berlin, Nr. 28 vom 14.7.1895
Rosanow, German: Des Ende des dritten Reiches, Berlin 1965
Schmeitzner, Mike und Rudloff, Michael: Geschichte der Sozialdemokratie im
Sächsischen Landtag, Dresden 1997
Schröder, Nina: Hitlers beugsame Gegnerinnen, Der Frauenaufstand in der
Rosenstraße, Wilhelm Heyne-Verlag, München, 1997
Stephan, Klaus: Zur politischen Bedeutung des Dresdner Prozesses gegen die
faschistischen Massenmörder des Arbeitserziehungslagers der "Sachsenwerk
Licht- und Kraft AG" in Radeberg (25. September bis 2. Oktober 1945),
Staatsexamenarbeit , Dresden 1964
Stolle, Charlotte: Der "Radeberger Prozeß" - Erste demokratische Justizorgane
urteilen im Namen des Volkes, in: Als der Krieg zu Ende war..., Dresden 1985
138
Wehner, Herbert: Zeugnis persönliche Notizen 1929-1942, Halle-Leizig 1990
Wehner, Helfried / Gräfe, Karl-Heinz: Die Befreiung unseres Volkes vom
Faschis-mus und der Beginn der antifaschistisch-demokratischen
Umwälzung, darge-stellt am Beispiel des Landes Sachsen,
in: Sächsische Heimatblätter, Heft 5 / 1975
Ders.: Verbrechen an Zwangsarbeitern in: Sächsische Zeitung vom 20.9.85
Ders.: Verjährung? Niemals?, eine aktuelle Dokumentation in:
Sächsische Zeitung vom 1.4.65
Wenske, Jürgen: In Gedenken der Opfer des 20. Juli (Kreisauer Kreis,
Schlesien), in Neues Deutschland vom 21.7.98
Aliiertes Haftstättenverzeichnis "Cataloque of Camps und Prisons in
Germany": Arbeitserziehungslager Radeberg: working for the "Sachsenwerke"
in Radeberg, established summer 1944. Strength: 300 persons in september
44, later 400-600-800 persons. At liberation in May 1945 200 persons. In
january 1945 executions started, more than 150 prisoners lost their lives in
this manner (1949).
Gedenkblatt: Den Opfern der Euthanasie aus Kleinwachau 1940-1943
Die Mörder in Weiß - Das NS-Euthanasieprogramm,
Wettbewerbsarbeit von Berliner Schülerinnen in: ANTIFA, 1/1996
Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen in Sachsen, Beiträge zu ihrer
Auf-arbeitung, Dresden-Pirna 1996
Antisemitismus und Massenmord, Rosa-Luxemburg-Verein e.V., Heft 16,
Leipzig 1994
Radeberger Marktgeschichten, Radeberg, 1989
Als der Krieg zu Ende war, Dresden 1985
Um der Zukunft Willen nicht vergessen, Pädagogisches Begleitheft zur Ausstellung, Kamenz 1997
Chronik Bibliothek des 20. Jahrhunderts 1940-1944, München 1995
Hohnstein und Umgebung, In der Nationalparkregion Sächsische Schweiz,
Hohnstein 1995
139
Impressum:
Herausgeber: Bund der Antifaschisten, Region Dresden e.V. Autorengruppe unter Leitung von Prof. Dr. Helfried Wehner
Fotoreproduktion der 12 graf. Blätter: Dieter Büttner, Radeberg
Satz, Gestaltung und Repros (Agfa-Scanner): PC-Satzstudio Förster, Zittau
Druck und Weiterverarbeitung: Graphische Werkstätten Zittau
140

Documentos relacionados