Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen
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Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen
5 Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs Roswitha Badry PL ISSN 0239-8818 HEMISPHERES No. 28°, 2013 Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs Bilderwelten aus dem Arabischen Frühling Abstract The messages and pictures which were transmitted during the 2011 Arab Spring surprised international observers as they were contrary to the stereotypical images of Arabs/Muslims transported so far by mainstream international media. Based on photographic material taken by both local activists and international news agencies and Tillys thesis of the social movement repertoire and displays, this contribution sheds light on the physical and symbolic role of the body (presentation of power and/or powerlessness) during the non-violent uprisings as well as on the forms of representation and the choice of motifs. The gender aspect is implicit in both principal questions. Keywords: 2011 Arab Spring; (re-) presentation and perception; social movement repertoire and WUNC displays; Orientalism / Occidentalism; counter-society / counter-culture. 1. Unerwartetes löst Irritationen aus der Arabische Frühling als Ausgangspunkt für das Jahr des Protestlers Die Welle an Massenprotesten, die seit Ende Dezember 2010 von Tunesien ausgehend weite Teile der arabischen Welt überzog, kam sowohl für die lokal Herrschenden als auch für die Weltöffentlichkeit überraschend. Sicherlich hatte niemand den konkreten Auslöser und genauen Zeitpunkt dieses einschneidenden Ereignisses1 voraussagen können. Gleichwohl waren die gesellschaftspolitischen Missstände in der Region weithin bekannt, und der Unmut in der Bevölkerung hatte sich bereits in den Jahren zuvor in kollektiven Aktionen Luft gemacht. Dennoch hatte sich die Mehrheit der externen Analysten der Entwicklungen im Raum Nordafrika, Nah- und Mittelost (im Folgenden MENA) eher Gedanken über die Langlebigkeit der autoritären Regime gemacht als über die Entstehung sozialer Bewegungen.2 Das Erstaunen war deshalb groß, als sich der Aufstand mit dem Ziel 1 Selbst wenn sich zwei Jahre später bei vielen Akteuren und Akteurinnen Ernüchterung oder gar Desillusionierung über die unvollendete Revolution eingestellt hat (vgl. z.B. A. Bayat, Revolution in Bad Times, New Left Review, Vol. 80, No. 2, March-April 2013 http://newleftreview.org/II/80/asef -bayat-revolution-in-bad-times Zugriff am 06.06.2013), so sind die Ereignisse des Jahres 2011 dennoch historisch betrachtet als wichtige Zäsur zu bewerten. H. Dabashi spricht sogar von einer Zeitenwende (Dabashi zitiert nach K. Brakel, The Great Game 2.0 veränderte Machtdynamiken im Nahen Osten nach dem Arabischen Frühling, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Vol. 25, No. 3, 2012, S. 42). 2 Vgl. etwa E. Bellin, Reconsidering the Robustness of Authoritarianism in the Middle East, Comparative Politics, Vol. 44, No. 2, 2012, S. 127149; oder: F.G. Gause III, Why Middle East 6 Roswitha Badry eines fundamentalen Regime- bzw. Politikwechsels ausweitete, zum Sturz einiger Potentaten führte und sogar zur Inspiration für ähnliche Erhebungen weltweit wurde.3 Die Botschaften und Bilder, die dank des regen Medieninteresses besonders im Jahre 2011 aus etlichen arabischen Ländern übermittelt wurden, waren ungewohnt. Sie mögen bei vielen Beobachtern Irritationen ausgelöst haben, weil sie den bisher mehrheitlich transportierten Klischees über die arabische Straße diametral widersprachen. Zu sehen waren friedlich demonstrierende Menschenmassen mit ganz unterschiedlichen Lebenshintergründen, darunter selbstbewusst auftretende Frauen, verschleiert wie unverschleiert, die eindringlich ein Leben in Würde, demokratische Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und ein Ende des innenpolitischen business as usual forderten. Bereits 2003 hatte Asef Bayat in einem kurzen Artikel versucht, Protestbewegungen in der arabischen Welt das Etikett der vermeintlichen Andersartigkeit von vergleichbaren westlichen Phänomenen zu nehmen. Sein vorausschauendes Schlussplädoyer lautete: The Arab street is neither «irrational» nor «dead,» but is undergoing a major transformation caused both by old constraints and new opportunities brought about by global restructuring.4 Mehrere Detailstudien der vergangenen Jahre haben ihrerseits die fortgesetzte Stereotypisierung mit Blick auf Islam oder Muslime in konventionellen internationalen Medien herausgestellt. Wesentliche Elemente des Negativ-Images sind demzufolge: Gewaltbereitschaft, religiöser Fanatismus, Bedrohung des Westens; Rückständigkeit, Intoleranz, Demokratieunfähigkeit, starres Festhalten an überkommenen Glaubenssätzen, Unterdrückung der Frau bzw. Muslimin und deren bevorzugte Darstellung als Opfer.5 Diese weit verbreiteten Muster der Repräsentation und Perzeption wurden zumindest zeitweilig und auch höchstens partiell durch die Berichterstattung im Laufe des Jahres 2011 modifiziert; mittlerweile scheint sich aber wieder die bekannte Darstellungstradition durchgesetzt zu haben. Zum sog. Arabischen Frühling6 sind bereits zahlreiche Publikationen erschienen, die u. a. die Hintergründe, den Verlauf und die lokalen, regionalen wie globalen Folgen Studies Missed the Arab Spring: The Myth of Authoritarian Stability, Foreign Affairs, Vol. 90, No. 4, 2011, S. 8190. 3 Vgl. das US-Magazin Time, das den Protestler zur Person des Jahres 2011 kürte (Vol. 178, No. 25, Dec. 2011, S. 68f. mit einer Protestlandkarte). 4 A. Bayat, The Street and the Politics of Dissent in the Arab World, MERIP Middle East Report, No. 226, Spring 2003, S. 17. Es sei angemerkt, dass auch im Westen Protestbewegungen lange Zeit als irrational und chaotisch galten. 5 Siehe z.B. Susan Schenk, Das Islambild im internationalen Fernsehen. Ein Vergleich der Nachrichtensender, Al Jazeera English, BBC World und CNN International, Berlin: Frank & Timme, 2009, bes. S. 4752 mit weiteren Literaturverweisen. 6 Der Begriff Arabischer Frühling ist irreführend, weil er fälschlicherweise die arabischen Welt als Einheit begreift und suggeriert, es bestünden gemeinsame Ursachen, Kontexte und Wirkungen der Proteste; tatsächlich sind diese aber je nach Land ganz unterschiedlich. Zudem hält diese Wahrnehmung davon ab, nach größeren Zusammenhängen (Globalisierung u. a.) zu fragen. Ferner unterschlägt er den Einfluss (direkte oder indirekte Intervention) externer Akteure, wie im Falle Libyens oder Syriens. Und nicht zuletzt erinnert der Terminus ein westliches Publikum umgehend an den Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 7 beleuchten.7 Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich dagegen mit einem in der bisherigen Forschung weitgehend vernachlässigten Themenspektrum.8 Mit der Untersuchung von Fotografien zu den Formen des gewaltlosen Widerstandes bietet er einen kleinen Einblick in das reichlich vorhandene Bildmaterial. Die Analyse konzentriert sich auf folgende Aspekte: Zum einen geht es um die Bedeutung des Körpers während der Erhebungen. Welche Gestik, Mimik, Posen oder Rituale der Protestler werden abgebildet? Wie wird die symbolische und physische Macht bzw. Ohnmacht des Körpers visuell veranschaulicht? Zum anderen steht die Repräsentationsform und Motivauswahl im Vordergrund der Betrachtung. Inwieweit unterliegen jene stereotypen Vorstellungen vom Eigenen und Fremden, die durch wiederholtes Ablichten Bilder im Kopf reproduzieren und weiter festschreiben ob nun bewusst oder unbewusst? In beiden Fällen ist zu beachten, dass es sich nicht nur um spontane Aufnahmen handelt, sondern ebenfalls um von Aktivisten wie Beobachtern absichtlich medienwirksam ins Bild gerückte Szenarien. Der Gender-Aspekt kommt in beiden Fragestellungen zum Tragen. Die Auswahl der Fotografien beschränkt sich in erster Linie auf Ägypten und Jemen, zudem auf die jeweiligen Hauptstädte, da mir hierzu Dokumente von Aktivisten vor Ort zur Verfügung gestellt wurden. Die Aufnahmen aus Ägypten stammen von dem Facebook-Auftritt von Timur El Hadidi, einem Ingenieur und GTZ-Mitarbeiter in Kairo; einen Teil seiner Fotos konnte Timur bereits auf einer Ausstellung in Berlin präsentieren.9 Für die Herstellung des Kontaktes danke ich meiner ehemaligen Studentin Tina Eisele. Die Bilddokumente aus Jemen habe ich durch Vermittlung von Frau Privatdozentin Dr. erfolglosen Prager Frühling. Zu den beiden erstgenannten Einwänden auch K. Dalacoura, The 2011 Uprisings in the Arab Middle East: Political Change and Geopolitical Implications, International Affairs, Vol. 88, No. 1, 2012, S. 63; zur dritten Bemerkung ebenfalls N. Ardiç, Understanding the Arab Spring: Justice, Dignity, Religion and International Politics, Afro Eurasian Studies, Vol. 1, No. 1, 2012, S. 9, und zum vierten Punkt ebenso N. Demerdash, Consuming Revolution: Ethics, Art, and Ambivalence in the Arab Spring, New Middle Eastern Studies, Vol. 2, 2012, S. 2. Trotz dieser Einwände verwende auch ich der Einfachheit halber diesen Terminus, da er selbst in arabischen Medien benutzt wird. 7 Aus der Vielzahl an Publikationen, von denen für diesen Beitrag nur ein Bruchteil verwertet wurde, seien beispielsweise die folgenden Sammelbände herausgegriffen: Deutsches Orient-Institut (Hg.), Der Arabische Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Berlin: DOI, (Sept.) 2011; Muriel Asseburg (ed.), Protest, Revolt and Regime Change in the Arab World: Actors, Challenges, Implications and Policy Options, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), 2012. Verwiesen sei zudem auf Sondernummern von Zeitschriften wie British Journal of Middle Eastern Studies (Vol. 12, 2011), Globalizations (Vol. 8, No. 5, 2011) oder Forschungsjournal Soziale Bewegungen (Vol. 25, No. 3, 2012). 8 S.a. J. Parviainen, Choreographing Resistances: Spatial-Kinaesthetic Intelligence and Bodily Knowledge as Political Tools in Activist Work, Mobilities, Vol. 5, No. 3, 2010, S. 312: Die traditionelle Forschung habe sich hauptsächlich auf die Agenda oder Aktionen der sozialen Bewegungen konzentriert; die symbolische und physische Macht, die sog. kinästhetischen Aspekte, seien dagegen vernachlässigt worden. 9 Das Plakat zur Ausstellung findet sich ebenfalls in: T. Hadidi, Facebook: https:// www.facebook.com/timur.hadidi (Sept. 2012), Aufnahme 191653. (Es werden grundsätzlich nur die ersten Ziffern einzelner Fotos erwähnt. Das Datum bzw., wie in diesem Fall, der Zeitraum des Zugriffs auf die virtuellen Medien steht immer in runden Klammern nach der URL.) 8 Roswitha Badry Elham Manea (Universität Zürich) aus der Facebook-Seite der Journalistin, Schriftstellerin, Frauenrechts- und Bürgerrechtsaktivistin Arwa (Abdo) Othman entnommen.10 Da ich selbst nicht zur Facebook-Generation gehöre, ermöglichte mir Herr Dr. Osama Gharibeh den Zugang zu diesem neuen Medium. Allen Beteiligten bei dieser Bilderrecherche gilt mein aufrichtiger Dank. Das zum Vergleich herangezogene Material internationaler Nachrichtenagenturen und Sendeanstalten basiert ebenfalls auf der Sichtung einer großen Zahl an Fotos, die online einzusehen waren. Ergänzend fließen meine eigenen Beobachtungen als regelmäßige Konsumentin der Nachrichtensendungen nationaler und internationaler Fernsehkanäle, inklusive Al Jazeera (Arabisch und Englisch)11, ein. Zur ersten Sichtung des Materials erschien mir der Ansatz des US-amerikanischen Historikers und Sozialwissenschaftlers Charles Tilly zum Repertoire und zur Performanz sozialer Bewegungen 12 am besten geeignet. Seine Hauptthesen seien anschließend kurz vorgestellt. 2. Charles Tilly und seine Thesen zum Repertoire und zur Performanz sozialer Bewegungen Charles Tilly definiert eine soziale Bewegung (im Folgenden SB) wie folgt: A social movement is a sustained series of interactions between power holders and persons successfully claiming to speak on behalf of a constituency lacking 10 A. Othman, Facebook: https://www.facebook.com/arwa.abdoothman (Nov. 2012). Zu ihrem Engagement siehe z. B. S. Al-Harazi, Faces from Yemens revolution: Arwa Othman: http:// shaza.171.wordpress.com/2011/08/08/faces-from-yemens-revolution-arwa-othman-by-shatha-alharazi/ (Zugriff am 04.02.2013); F. Darem, Award Winning Yemeni Researcher Promotes Culture and Tolerance: http://al-shorfa.com/en_GB/articles/meii/features/main/2012/01/10feature-02 (Zugriff am 04.02.2013). O. El-Saket, At Samar Regional Activists Tell Stories of Revolution, AlMasry AlYoum, English Edition, 13.05.2012: http://www.egyptindependent.com/print/836876 (Zugriff am 04.02.2013); Z. al-Kamali, Yemens Women: Toppling Tradition, Al Akhbar English, 10.10.2011: http://english.al-akhbar.com/node/1023 (Zugriff am 04.02.2013). Eine Kurzbiographie auf Deutsch findet sich (anlässlich des Internationalen Literaturfestivals in Berlin 2009) unter: http://www.literaturfestival.com/teilnehmer/autoren/2009/arwa-abduh-othman (Zugriff am 04.02.2013). Es sei erwähnt, dass in diesem Aufsatz eine vereinfachte Transliteration der arabischen Begriffe und Eigennamen verwendet wird, die auch Eingang in die Printmedien gefunden hat. 11 An der bedeutenden Rolle des arabischen Senders bei der Unterstützung der Revolution in einigen Staaten (den Republiken, nicht unbedingt in den Monarchien, schon gar nicht im benachbarten Bahrain) besteht kein Zweifel (siehe z.B. Ardiç, Understanding the Arab Spring..., S. 21f.). Seit 2011 hält AJ zudem durch ständige Einspielung von Szenen der Revolutionen (zur Frage, ob es sich um Aufstände oder Revolutionen, im Sinne von Systemwandel, handelte, siehe Ibid., S. 1114; Roswitha Badry, Ermächtigung von Frauen im Jemen? Zur potentiellen Dynamik sozialer Bewegungen, in: Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt, Susanne Schröter (Hg.), Bielefeld: transcript, 2013, S. 70) und durch mehrere Sonderprogramme die Erinnerung an die Ereignisse wach, allerdings auch hier in der Regel mit der o. g. Einschränkung. 12 Zu sozialen Bewegungen existieren verschiedene Definitionen, Theorien und methodische Ansätze. Einen guten Überblick auf Deutsch verschafft z.B. Mark Herkenrath (Die Globalisierung der sozialen Bewegungen. Transnationale Zivilgesellschaft und die Suche nach einer gerechten Weltordnung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2011) in seinen einleitenden Kapiteln. Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 9 formal representation, in the course of which those persons make publicly visible demands for changes in the distribution or exercise of power, and back those demands with public demonstrations of support.13 Seinen historischen Studien zufolge ist die SB, so wie sie sich im Westen seit Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, durch das Zusammenspiel von drei Elementen gekennzeichnet:14 a) Kampagne: anhaltende, organisierte öffentliche Anstrengungen mit kollektiven Forderungen gegenüber den Ziel-Autoritäten; b) Repertoire: Nutzung einer Kombination verschiedener Aktionsformen (darunter Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Petitionen, Medienauftritte, Pamphlete); c) WUNC displays, d.h. die Beteiligten demonstrieren gemeinsam öffentlich worthiness, unity, numbers, and commitment on the part of themselves and/or their constituencies,15 so z.B. durch die Präsenz von Müttern mit Kindern oder von prominenten Persönlichkeiten, durch Transparente, Abzeichen oder Stirnbänder, Unterschriftensammlungen und das Trotzen gegen allerlei Widrigkeiten, inklusive Repression. Die WUNC, die in Form von Verlautbarungen, Slogans, Emblemen oder Engagement dargeboten werden und je nach Kontext ganz unterschiedliche Ausdrucksweisen annehmen können, dienen der Selbstvergewisserung der Akteure über geteilte Werte und Ziele, der Bildung einer Wir-Identität und der Stärkung der Solidarität. Tilly selbst, der 2008 verstarb, hatte den neuen (digitalen) Medien (Mobiltelefon, Internet, Facebook, Twitter usf.) noch keine essentielle Bedeutung in der Veränderung des SB-Repertoires beigemessen. Dennoch hatte er eingeräumt, dass die internationale Vernetzung der Organisationen der SB sowie die internationale Aufmerksamkeit samt Interventionschancen im Vergleich zum 20. Jahrhundert angewachsen seien.16 Vielleicht hätte Tilly unter dem Eindruck der Ereignisse in Iran 2009 und im Laufe des Jahres 2011 seine Meinung weiter revidiert. Denn auch wenn die Kontroverse über den Beitrag der neuen Technologie auf die Transformation von SB anhält, haben die jüngeren Entwicklungen doch zweifelsfrei deren Potential bei Mobilisierung, Organisation, Koordination, Kommunikation, Meinungsbildung und Meinungsaustausch unter Beweis gestellt. Freilich können die virtuellen Medien nur eine ergänzende Funktion wahrnehmen; sie ersetzen weder Charles Tilly, Social movements and national politics, in: Statemaking and Social Movements. Essays in History and Theory, Charles Bright und Susan Harding (eds.), Ann Arbor: University of Michigan Press, 1984, S. 306. 14 Charles Tilly und Lesley J. Wood, Social Movements, 17682008, Boulder und London: Paradigm, 2009, S. 3f. und passim; Charles Tilly, WUNC, in: Crowds, Jeffrey T. Schnapp und Matthew Tiews (eds.), Stanford: Stanford University Press, 2006, S. 289306, bes. S. 291f. 15 Tilly und Wood, Social Movements, S. 4; s.a. Tilly, WUNC, S. 292. 16 Tilly und Wood, Social Movements, S. 97f., 106108 (Warnung vor simplem technologischen Determinismus). 13 10 Roswitha Badry die Präsenz im realen öffentlichen Raum noch traditionelle Netzwerke17 bzw. Informationsbörsen.18 Die moderne Medientechnologie hat den Aktivisten darüber hinaus ein Mittel an die Hand gegeben, ihre mediale Selbstdarstellung selbst zu organisieren (einschließlich der Option zur eigenen Mythenbildung oder der manipulierten Demonstration von WUNC). Text-, Ton- und Bildmaterial wird auf Webseiten einzelner Gruppierungen oder auf Video-Portalen gesammelt und online gestellt. Und auch die konventionellen Medien recherchieren ihre Informationen und Bilder zunehmend aus dem Internet. So wird ihr früheres Monopol gebrochen, und es kommt zu einer interessanten, aber teilweise undurchschaubaren Vermischung lokaler, virtueller und massenmedialer Räume.19 17 Dazu zählen neben familiären, kollegialen und nachbarschaftlichen Beziehungen (vgl. auch etwa Wolfgang Kaschuba, Von der Rotte zum Block. Zur kulturellen Ikonographie der Demonstration im 19. Jahrhundert, in: Massenmedium Straße: zur Kulturgeschichte der Demonstration, Bernd J. Warneken (Hg.), Frankfurt, Main und New York: Campus, 1991, S. 78) in der arabischen Welt ebenfalls Taxis und Kaffeehäuser (M. Lim, Clicks, Cabs, and Coffee Houses: Social Media and Oppositional Movements in Egypt, 20042011, Journal of Communication, Vol. 62, 2012, S. 231248). 18 Zur Kontroverse über die Rolle der neuen Informations- und Kommunikationsmedien siehe neben Lim, Clicks, Cabs ..., (u. a.) S. 231235 (v. a. zu Nutzen und Funktion in Ägypten seit Entstehen der Kifâya-Bewegung 2004) und Ardiç, Understanding the Arab Spring..., S. 1922; M. Lerner, Connecting the Actual with the Virtual: The Internet and Social Movement Theory in the Muslim WorldThe Case of Iran and Egypt, Journal of Muslim Minority Affairs, Vol. 30, No. 4, 2010, S. 555574; H. H. Khondker, Role of New Media in the Arab Spring, Globalizations, Vol. 8, No. 5, Oct. 2011, S. 675679; B. Axford, Talk About a Revolution: Social Media and the MENA Uprisings, Globalizations, Vol. 8, No. 5, Oct. 2011, S. 681686; A. El-Difraoui, Die Rolle der neuen Medien im Arabischen Frühling, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Dossier 03.11.2011: http://www.bpb.de/internationales/afrika/ arabischer-fruehling/52420/die-rolle-der-neuen-medien (Zugriff am 15.08.2012); Asiem ElDifraoui, No Facebook Revolution but an Egyptian Youth We Know Little About, in: Protest, Revolt and Regime Change in the Arab World: Actors, Challenges, Implications and Policy Options, Muriel Asseburg (ed.), Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), 2012, S. 18 20; Katharina Milz, Die Bedeutung Sozialer Netzwerke in der arabischen Welt, KonradAdenauer-Stiftung, Juli 2011: www.kas.de/wf/doc/kas_233061522130.pdf?110706153514 (Zugriff am 15.08.2012). 19 Kathrin Fahlenbrach, Protest-Räume Medien-Räume. Zur rituellen Topologie der Straße als Protest-Raum, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 106f. Zur Wirkmächtigkeit älterer und neuerer audiovisueller Medien und der Bedeutung von Ritualen (im Sinne performativer Handlungsmuster) und Bildern samt Möglichkeit der Inszenierung, Konstruktion, Manipulation oder Simulation siehe: Anne Bartsch und Ingrid Brück und Kathrin Fahlenbrach, Einleitung: Rituale in den Medien Medienrituale, in: Medienrituale. Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und Neuen Medien, Kathrin Fahlenbrach und Ingrid Brück und Anne Bartsch (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag, 2008, S. 1131. Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 11 3. Ausgewähltes Fotomaterial zum Repertoire und zu den WUNC während des Arabischen Frühlings 3.1. Konventionelle und unkonventionelle Aktionsformen kollektiven Protests Kommen wir nun zum ausgewählten Fotomaterial. Da bei den Fallbeispielen Tunesien, Bahrain und insbesondere Ägypten und Jemen von einer mehr oder weniger lang anhaltenden kollektiven Protestaktion auszugehen ist, konzentrieren wir uns nachstehend allein auf die von Tilly an zweiter und dritter Stelle genannten Determinanten einer SB. Keine SB benutzt alle zur Verfügung stehenden Aktionsformen.20 In der Regel kommt es zur Verbindung von Altem und Neuem bzw. zur innovativen Weiterentwicklung bekannter Handlungsstrategien. Es sind vor allem diese unkonventionellen Methoden, die Aufmerksamkeit erregen und ihre Wirkung meist nicht verfehlen. Haben sich die Handlungspraxen bewährt, werden sie kopiert und unter Umständen kontextbezogen modifiziert, andernfalls werden sie aufgegeben. So auch im Falle des Arabischen Frühlings. Abgesehen von eher traditionellen Märschen, Demonstrationen und Sit-ins wurden zwei maßgebliche Strategien verwendet. Erstens ist die bereits oben angesprochene professionelle Nutzung der neuen Medien zu nennen, hier vornehmlich durch die junge urbane Bildungselite. Sie wird auf vielen Abbildungen sichtbar. Das Handy ist allgegenwärtig, für die jungen Aktivisten ist es zum selbstverständlichen Accessoire geworden.21 Eine Aufnahme aus Kairo macht das Zusammenspiel von Fernsehen, Internet und Mobiltelefon zum einen und dem Geschehen auf der Straße zum anderen ganz deutlich:22 Ein Mann, der von den Umstehenden auf die Schultern gehoben wurde, hält einen Laptop in Händen, auf dem eben derselbe Protestzug gezeigt wird. Eine solche sichtbare Rückkoppelung mit der massenmedialen Öffentlichkeit in Jetztzeit bestätigt den Teilnehmern den erweiterten Wirkungsradius des eigenen instrumentellen Handelns und dient somit der Stärkung des emotionalen Wir-Gefühls 23, aber auch der Selbstvergewisserung des Einzelnen wie des Kollektivs, Teil eines bedeutenden Ereignisses zu sein. Die Selbstverbrennung des Tunesiers Muhammad Bouazizi am 17. Dezember 2010, die mehrheitlich als Initialzündung für den Arabischen Frühling 20 Vgl. die 198 Methoden des gewaltlosen Widerstandes, die von Gene Sharp (The Politics of Nonviolent Action, 3 Vols., bes. Vol. 2: The Methods of Nonviolent Action, Boston: Sargent, 1973) genannt werden. 21 Zu den Schätzungen über die (je nach Land stark variierende) Zahl der Handy-, Internet- und Facebook-Nutzer siehe z.B. die landesspezifischen Angaben in dem vom DOI herausgegebenen Sammelband (Der Arabische Frühling: Auslöser, ...). Das Mobiltelefon steht in allen Ländern an absoluter Spitze. 22 Foto von Reuters mit der Nummer: 45POY2011RTR2IH4E. Vgl. auch Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 318742 (Personen bei Protestkundgebung, die ihre Handys hochhalten, um das Geschehen zu dokumentieren). 23 Dazu z.B. Fahlenbrach, Protest-Räume Medien-Räume ..., S. 102 (im Allgemeinen); oder (im Besonderen) J. Butler, Bodies in Alliance and the Politics of the Street, European Institute For Progressive Cultural Policies (eipc), Sept. 2011: http://eipcp.net/transversal/1011/butler/en (Zugriff am 10.12.2012), bes. S. 8. 12 Roswitha Badry gewertet wird, unterstreicht ebenfalls die Bedeutung der digitalen Medien. Diese extremste und ultimative Form der physischen Intervention24 aus Protest fand zwar in der Öffentlichkeit vor dem lokalen Regierungsgebäude statt; der Verzweiflungsakt konnte jedoch erst durch die Verbreitung von Fotos von der Selbstaggression über das Internet25 zum Inbegriff für soziale Ungerechtigkeit, Machtlosigkeit gegenüber staatlicher Willkür und Korruption sowie für die Perspektivlosigkeit der jungen arbeitslosen No-Future-Generation insgesamt werden. Weitere Beispiele für Selbstverbrennungen sind belegt26, zeitigten aber nicht dieselbe Wirkung wie die von Bouazizi, da sie nicht online dokumentiert wurden. Bei jener ersten und zugleich letzten Demonstration menschlichen Handlungsvermögens (agency) sind zumindest zwei Aspekte bemerkenswert. Erstens erfolgte die Selbstverbrennung allem Anschein nach nicht, wie im Falle der so oft diskutierten Selbstmordattentate, aus religiösen Gründen, sondern aus Verzweiflung, Machtlosigkeit und Demütigung. Was Letzteres betrifft, so wird in vielen Berichten27 herausgestellt, dass die Ohrfeige einer Polizistin auf der Wache einer Entehrung gleichkam. Zweitens stellte Bouazizi von seiner Herkunft und Tätigkeit aus betrachtet eher einen Anti-Helden dar ein junger Mann der Unterschicht, der erst durch seine Tat posthum zum Helden und Märtyrer für die gerechte Sache stilisiert wurde. Ein weiteres Markenzeichen der jüngeren arabischen Protestkultur bildete die physische und sinnbildliche Inbesitznahme zentraler öffentlicher Plätze der Hauptstadtmetropolen in unmittelbarer Nähe zu Gebäuden, welche die staatliche Macht verkörpern.28 Berühmtheit erlangten der Tahrir (wtl. Befreiung) in Kairo oder der gleichnamige, von den Protestlern allerdings in Taghyir (Veränderung) umbenannte Platz in Sanaa. 29 Die Raumaneignung strategischer und symbolischer Orte im Machtzentrum, ob nun durch das Marschieren durch wichtige Zufahrtsstraßen und Boulevards oder Massenversammlungen auf öffentlichen Plätzen, zählt zu den bewährten 24 Cf. Self-immolation: the ultimate symbol of protest?, The Guardian, 07.03.2012: www.guardian.co.uk/world/shortcuts/2012/mar/07/self-immolation-ultimate-symbol-protest (Zugriff am 27.12.2012). 25 Axford, Talk About a Revolution , S. 684; Khondker, Role of New Media , S. 676. 26 Meines Wissens waren darunter aber keine Selbstverbrennungen von Frauen, obwohl diese aus anderen Ländern der MENA-Region (Iran, Pakistan, Afghanistan) durchaus belegt sind siehe R. F. Worth, How a Single Match Can Ignite a Revolution, The New York Times, 21.01.2011: http:// www.nytimes.com/2011/01/23/weekinreview/23worth.html (Zugriff am 10.12.2012), wenngleich sie aus anderen Gründen und Motiven und selten öffentlich erfolgten. 27 Sebastian Sons, Vorwort, in: Der Arabische Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Dt. OrientInstitut (Hg.), Berlin: DOI, S. 2; Samira Akrad und Tugrul von Mende, Tunesien, in: Der Arabische Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Dt. Orient-Institut/DOI (Hg.), Berlin: DOI, 2011, S. 9; oder auch ein über YouTube einzusehender Videoclip auf Arabisch: Fîdiyû muaththar jiddan an Bûazîzî wa-thawrat Tûnis (Ein sehr wirksames Video über Bouazizi und die tunesische Revolution): www.youtube/com/watch?v=CyxtAQ3bmXO (Zugriff am 08.02.2013). 28 S. Rosiny, The Arab Spring: Triggers, Dynamics and Prospects, GIGA Focus International Edition / English, No. 1, 2012: http://www.giga-hamburg.de/giga-focus (Zugriff am 05.09.2012), S. 56. 29 In beiden Ländern wurden übrigens auch in anderen größeren Städten Zeltdörfer errichtet. Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 13 Strategien von SB. Die politische Botschaft einer solchen Selbstermächtigung ist offenkundig: Die Demonstranten stellen durch ihre massive körperliche Präsenz und die Umgestaltung des Territoriums mit ihren eigenen Symbolen, Ritualen, Verhaltensweisen und Aussagen die Legitimität der etablierten Macht in Frage. Mitgeführte Flaggen oder das Absingen der Nationalhymne inserieren, dass die Teilnehmenden sich als der Nation zugehörig, gleichzeitig aber als deren wahre Repräsentanten fühlen.30 Das außergewöhnliche und von globalisierungskritischen SB (z.B. Occupy Wall Street) im selben Jahr übernommene Moment der Besetzung öffentlicher Plätze betraf aber das Errichten von Zelten im Herzen der Metropole. Tausende strömten auf die Plätze, und viele verbrachten dort Tage und Nächte trotz der Gefahren für Leib und Leben. Die hiermit einhergehende Vermischung von privater und öffentlicher Sphäre implizierte in mehrfacher Hinsicht eine provokante Grenzüberschreitung, einen Tabubruch, eine Chance wie eine Herausforderung. Sich sichtbar im Zentrum der Macht zu platzieren und auszuharren, signalisierte auf Seiten der Aktivisten Selbstbewusstsein, Entschlossenheit, Furchtlosigkeit und Durchhaltevermögen; für die staatlichen Autoritäten bedeutete es das Eindringen in das von ihnen beanspruchte und mit ihren Emblemen ausgefüllte Territorium, eine Bedrohung und einen Regelverstoß. Es überrascht deswegen nicht, dass der König von Bahrain nach der militärischen Intervention des Golfkooperationsrates den Perlenplatz in der Hauptstadt Manama samt Zelten gewaltsam räumen und das Monument zerstören ließ, das der Protestbewegung als zentraler Versammlungsort gedient hatte.31 Dass Frauen und Männer von unterschiedlicher Alters-, Religions-, Schicht- und politischer Gruppenzugehörigkeit zusammen die öffentlichen Plätze bevölkerten und als eine Art Kommune umgestalteten und umfunktionierten, stellte ein Novum dar. Bezeichnenderweise versuchte der ehemalige Präsident des Jemen, Ali Abdallah Saleh, die konservativen Kräfte für sich zu gewinnen, indem er den Frauen in der Zeltstadt unmoralische Verbindungen zu den dortigen Männern unterstellte ein Schuss, der nach hinten losging. Die Diffamierten wiesen die Anschuldigungen strikt von sich, erachteten jene als Ehrverletzung, reagierten mit Demonstrationen und erhielten unerwartete Schützenhilfe durch ein Rechtsgutachten, das ihr Verhalten mit einer religiös30 Siehe generell z.B. Bernd J. Warneken, Die Straße ist die Tribüne des Volkes. Ein Vorwort, in: Massenmedium Straße: zur Kulturgeschichte der Demonstration, Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Frankfurt, Main und New York: Campus, 1991, S. 1012; David Sittler, Die Straße als politische Arena und Medium der Massen: St. Petersburg 18701917, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 113, 119, 127, 134; Kaschuba, Von der Rotte zum Block ..., S. 80f., 83, 84 (zur Schaffung einer Gegenöffentlichkeit, eines Gegenentwurfs zur alten Ordnung). 31 A. Baker, Disappearing Dissent: How Bahrain Buried Its Revolution, Time, 29.11.2011: http://world.time.com/2011/11/29/disappearing-dissent-how-bahrain-buried-its-revolution/ (Zugriff am 27.12.2012). Zur Zeltstadt in Manama und der Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik des Regimes s.a. Jakob Pupke, Bahrain, in: Der Arabische Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Dt. OrientInstitut (Hg.), Berlin: DOI, 2011, S. 174176. 14 Roswitha Badry -rechtlichen Legitimation versah.32 Ein weiterer Tabubruch bezog sich auf die zuweilen demonstrierte ausgelassene Atmosphäre: Volksfeste im urbanen Zentrum mit Musik, Tanz, Theater und anderen kulturellen Darbietungen und Angeboten haben in arabischen Großstädten keine Tradition. 33 Das gemeinsame Gebet war demgegenüber zwar eindrucksvoll, nicht aber innovativ, wenn man einmal von dem gegenseitigen Schutz der muslimischen und koptischen betenden Gemeinde in Ägypten absieht. Die riesigen Menschenansammlungen auf den zentralen Plätzen boten den Aktivisten dank des internationalen Medieninteresses zwar einerseits eine zusätzliche Möglichkeit zur Selbstdarstellung und -ermächtigung, stellten sie jedoch andererseits vor enorme Herausforderungen. Mehr noch als bei Großdemonstrationen waren Disziplinierung des Körpers, Anpassungsfähigkeit und organisatorisches Können erforderlich. Mit der Bereitstellung einer rudimentären Infrastruktur (mit sozialen Dienstleistungen für die Sicherheit, Verköstigung, medizinische Erstversorgung der Demonstranten oder für die Straßenreinigung34) bewiesen sie nicht nur Einfallsreichtum und logistisches Talent, sondern vor allem, dass eine alternative Gesellschaft mit einfachen Mitteln erreicht werden könnte. Judith Butler hat in einem Vortrag in Venedig (2011) diesen Aspekt des gesellschaftlichen, teilweise geselligen Miteinanders mit Ansätzen zu einer gendergerechten Arbeitsteilung als besonders beeindruckend bzw. zukunftsweisend hervorgehoben. 35 Gleichwohl deutet das Fotomaterial darauf hin, dass dieses innovatorische und kreative Potential in erster Linie dem Engagement eines Segments der städtischen Jugend (bzw. den Bewegungsunternehmern36 in der Anfangsphase der Erhebung) zu verdanken war. Falls Passanten auf den Bildern zu sehen sind, z.B. bei der Müllbeseitigung, so wirken diese eher desinteressiert oder wenig beeindruckt. Zuweilen ist ein bewusster Inszenierungscharakter nicht auszuschließen. Wie dem auch sei: Die Schaffung eines Gegenentwurfs in Mikroformat zum maroden staatlichen System, zu dessen Sturz eindringlich aufgerufen wurde, war für die jugendliche Bildungselite auch mit dem Wunsch verbunden, sich als Teil einer kosmopolitisch orientierten, globalen Jugendkultur zu präsentieren und als solche wahrgenommen zu werden.37 Eine Mischung aus konventionellem und unkonventionellem Repertoire ist ebenfalls für die Demonstration der WUNC festzustellen. Die Würdigkeit des Unterfangens Dazu ausführlicher: Roswitha Badry, Still a Useful Tool of Official Rhetorical Counterinsurgency? Remarks on the Recent Re-emergence of the fitna-fasâd Topos, Paper read in Basel, UEAI 26, 14.09.2012 (eingereicht für die Proceedings der Konferenz). 33 Zumindest nicht in der Moderne. Man denke aber z.B. an das Kairo der Fatimiden-Ära. 34 Siehe dazu mehrere Fotos der Aktivisten, darunter: Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 166600 (Patrouille bei Nacht im eigenen Wohnviertel), 168661, 179626, 308712 (Straßenreinigung), 282134 (Friseur der Revolution); Othman, Facebook, Foto-Nr. 283728, 598914 (medizinisches Komitee); 550875, 556647 (Straßenreinigung). 35 Butler, Bodies in Alliance , S. 6. 36 Unter Bewegungsunternehmern werden in der SB-Forschung die Schlüsselpersonen verstanden, die für Organisation, Kooperation und Wahl der Strategien zuständig sind. 37 So auch Ardiç, Understanding the Arab Spring , S. 19. 32 Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 15 manifestierte sich u. a. in den weitgehend friedlich verlaufenden Massenaufmärschen, bei denen die Hauptforderungen (darunter ein Leben in Würde, karâma) skandiert oder auf mitgeführten Transparenten und Plakaten (zum Teil mehrsprachig für das internationale Publikum) angezeigt wurden; in der alles in allem bewusst dezent gehaltenen Kleidung; in der Teilnahme von Müttern, aber auch Vätern mit ihren Kindern sowie von Prominenten, darunter Hochbetagten38 , aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen. Außergewöhnlich waren insbesondere folgende Aspekte: Wie Butler unterstreicht, gehörten dazu die ständigen Appelle, den friedlichen Charakter der Demonstrationen trotz gewaltsamer Übergriffe, Provokationen und Bedrohungen durch die Staatsgewalt und gedungene Handlanger (thugs, baltajiyya) des Regimes zu bewahren. Die entsprechenden Aufrufe sind für Butler deswegen so bezeichnend, da sie nicht etwa zu Aktionen anstacheln, sondern sie vielmehr vermeiden wollten, also Selbstkontrolle einforderten und Zurückhaltung anmahnten.39 Ein Foto aus dem Jemen40 mag dies bestätigen, gleichzeitig aber auf Betrachter von außerhalb der Gesellschaft irritierend wirken. Die Aufnahme zeigt einen Protestzug, bei dem ein Schild mit der Aufschrift silmiyya (friedlich) hochgehalten wird. Ein Mädchen geht voran, es folgen Jungen und Männer, Fahnen und Schärpen in den Nationalfarben stehen für ein Anliegen im Interesse des Allgemeinwohls. Während die Knaben Spielzeuggewehre mit sich führen, trägt der Mann mit dem Schild einen Krummdolch das traditionelle Kennzeichen der Mannesehre im Jemen, auf das keiner freiwillig verzichten würde, das aber heutzutage mehr als Accessoire dient denn zur Selbstverteidigung oder zum Angriff es sei denn, es handelt sich um junge Draufgänger. Das eigentlich Sensationelle an dem Foto ist deshalb, dass die Jungen keinen Dolch tragen, obwohl die Tradition ihnen dies zugestehen würde. Andere Aufnahmen, ebenfalls aus dem Jemen, sind eindeutiger: Eines41 zeigt die friedfertige Jugend, mehrheitlich Männer und Jungen, aber auch drei junge Frauen; sie sitzen vor einem Transparent, das an den Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolution und an einen der Hauptslogans (Das Volk will den Sturz des Regimes al-shab yurîd isqât al-nizâm) erinnert. Bei einer Aufnahme von Arwa42 ist es eine Gruppe tief So z.B. die bekannte Feministin und Buchautorin Nawâl al-Sadâwî, nunmehr über 80 Jahre alt. Butler, Bodies in Alliance , S. 67. 40 Foto von Abdulrahman Jaber mit dem Titel Silmiyya. Vgl. auch zahlreiche Bilder aus dem jemenitischen Frühling 2011, auf denen Frauen und Kinder mit Symbolen der Friedfertigkeit (Blumen, Herzen) abgelichtet sind. 41 Die Aufnahme findet sich unter mehreren Fotos, die Frauen und Männer gemeinsam bei Protestaktionen im Jemen zeigen: http://www.nabanews.net/upload/Image/Revolution%2520Ye/ tagheer%2520(4)jpg (Zugriff am 05.08.2013). Der dazugehörige Artikel in Nabâ Nyûz vom 17.04.2011 trägt den Titel: Bi-l-suwar ... thawrat al-ikhtilât wa-harq al-niqâb yufajjiruhâ islâmiyyû l-Yaman (etwa: In Bildern ... Die Revolution wider die Geschlechtersegregation und die Verbrennung des Gesichtsschleiers spaltet die Islamisten des Jemen). Zum Hintergrund (Ansprache von Ali Abdallah Saleh zum Verbot der Mischung der Geschlechter/man al-ikhtilat auf öffentlichen Plätzen während der Aufstände Anfang 2011, s.o. Anm. 32: Verweis auf Vortrag Badry, Still a Useful Tool...). 42 Othman, Facebook, Foto-Nr. 282956. 38 39 16 Roswitha Badry Verschleierter, die Gewaltlosigkeit einfordert. Ihre Hände sind zum Teil ineinander verschlungen und mit Bändern in den Nationalfarben versehen. Eine unsichtbare Person hält ein einfaches rosafarbenes Plakat hoch, auf dem zu lesen ist: Wir sind die Frauen der Freiheit. Unsere Revolution ist eine friedliche. Im Hintergrund sind Zelte und eine Reihe von Männern als stille Beobachter der Szene zu sehen. Dass trotz der prekären Situation und bei aller Nüchternheit würdevollen Auftretens auch der Humor nicht fehlen muss, belegen z.B. mehrere Fotos von Timur. Ägypten ist bekannt für seine politische Witzkultur. In den ersten Wochen des Aufbegehrens kamen Hunderte von Jokes über Mubarak in Umlauf, die nicht zuletzt über das Internet verbreitet wurden.43 Nachdem der Präsident in seiner zweiten öffentlichen Ansprache erneut einen Rücktritt abgelehnt hatte, kam die Idee auf, ihm die Forderung, zu gehen (Irhal! einer der berühmten Slogans der Revolution), auf andere Weise verständlich zu machen. Auf der entblößten Brust eines jungen Mannes (in einem auch sonst außergewöhnlichen Outfit) stand geschrieben: Das Papier ist ausgegangen! Was verlangst Du noch? Und auf seinem Rücken war zu lesen: Hau endlich ab! Mir ist kalt! 44 Ein anderer Mann mittleren Alters posierte als Fußballschiedsrichter mit Trillerpfeife45 und verwies gleich zweisprachig Mubarak vom Platz, denn das Volk entscheide. Und schließlich bot ein weiterer Mann etwa desselben Alters mit breitem Lächeln die Eilnachricht an: Mubarak bleibt im Palast der Republik hocken, bis das Volk abhaut!46 Ähnlich spielerische, ja karnevalistische Elemente fanden sich bei einigen ägyptischen Aktivisten, wenn es darum ging, das Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck zu bringen. Im Allgemeinen wird Einheit durch die Geschlossenheit der Reihen bei Demonstrationen, durch Abzeichen und Embleme, Kopf- und Stirnbänder, Flaggen und Banner dokumentiert bzw. suggeriert. Die Präsentation des symbolischen Kollektivkörpers47 bei Aufmärschen oder Menschenketten mit überdimensionaler Flagge48 zielt gemeinhin weniger auf die lokalen Zuschauer und Passanten auf der Straße als auf das Medienpublikum. Da dieser visuelle Protest-Kode unabhängig von Speziell zu Ägypten siehe den Aufsatz von I. Mersal, Revolutionary Humor, Globalizations, Vol. 8, No. 5, Oct. 2011, S. 669674. Zum kreativen und spielerischen Umgang mit Symbolen in Protestbewegungen im Allgemeinen vgl. z.B. Gottfried Korff, Symbolgeschichte als Sozialgeschichte? Zehn vorläufige Notizen zu den Bild- und Zeichensystemen sozialer Bewegungen in Deutschland, in: Massenmedium Straße: zur Kulturgeschichte der Demonstration, Bernd J. Warneken (Hg.), Frankfurt, Main und New York: Campus, 1991, S. 19, 30. 44 Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 168616, 180474, 180364. 45 Ibid., Foto-Nr. 167108. Es gibt noch weitere Aufnahmen dieser Art mit Fußballsymbolik. Diese Fotos können auch als Würdigung des Beitrags der Fußballfans von Kairo gedacht sein, die als jüngst Politisierte eine starke Fraktion unter den Protestlern bildeten. Zu den Fußballfans kurz Lim, Clicks, Cabs ..., S. 242. 46 Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 180353. 47 Zu diesem Begriff siehe Fahlenbrach, Protest-Räume Medien-Räume..., S. 98, 103; zur überdimensionalen Flagge: Ibid., S. 105. 48 Beispiele für Menschenkette mit überdimensionaler Nationalflagge: Hadidi, Facebook, FotoNr. 405647, 425915. 43 Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 17 Kultur und Sprache zu verstehen ist, wird er nicht nur von Organisatoren der Proteste gerne in Szene gesetzt, sondern ebenso gerne von internationalen Medienanstalten übernommen. Bilder dieser Art vom Arabischen Frühling sind dem Außenstehenden wohl vertraut. Einige Fotografien der lokalen Aktivisten geben dagegen erneut einen Eindruck vom Einfallsreichtum und der Ausgelassenheit beim Bekunden von Verbundenheit und Solidarität. Mehrere Bilder zeigen die Nationalflagge in verschiedenen Varianten auf Gesicht oder Händen in der Form eines Tattoo oder modischen Accessoires. Ein Ägypter (am Mobiltelefon) hat sich die drei Nationalfarben in Herzform auf die Stirn gemalt49, Kinder tragen sie wie beim Fasching auf das Gesicht verteilt50, Frauen bevorzugen die Dekoration der Hände. Zeitweise wurde es in einer Laune der Siegeszuversicht zur Mode, die Flaggen der Länder, in denen es bereits zum Sturz des Potentaten gekommen war, auf die Handflächen oder Handrücken zu malen.51 Ein Ägypter hatte sich als Kopfbedeckung einen quadratischen Aufbau aus Pappmaché in den Nationalfarben mit allerlei beschriebenen Zetteln obenauf gewählt, um die Forderungen der Entrechteten, dargestellt in Form von Händen, die aus dem Kasten hervorschauen, kundzutun.52 Dem Aufruf zu Toleranz und gegenseitigem Respekt zwischen Kopten und Muslimen dienten emblematisch Halbmond und Kreuz, darunter auf T-Shirts.53 Die große Zahl der an den Protestaktionen Beteiligten54 und das enorme Engagement wurden bereits im Zusammenhang mit der Raumaneignung öffentlicher Plätze und der Selbstorganisation angesprochen. Mit Blick auf das Commitment seien noch zwei Aspekte ergänzt, welche die körperliche Hingabe der Akteure, aber auch deren Verletzbarkeit veranschaulichen. Der erste betrifft das Ausharren trotz ungünstiger Wetterbedingungen, das besonders für die Proteste im Jemen galt, die sich über das ganze Jahr 2011 verteilt hinzogen. Aufnahmen zeigen die Zeltstadt unter Wasser und Demonstranten, die sich mit Hilfe von Schirmen vor extremer Hitze zu schützen wissen. Opfer von gewaltsamen Übergriffen staatlicher Sicherheitskräfte werden mit Ibid., Foto-Nr. 180468. Ibid., Foto-Nr. 294833; s.a. Jungen mit Gesichtsmasken (wie ein Musketier) in den Nationalfarben: Ibid., Foto-Nr. 167112. 51 Vgl. women-arab-spring-hands.jpg (Foto in Artikel von M. Khawaja, in Arabian Gazette vom 26.07.2011) und Women-Protesters-Flag-Hands.jpg (Foto in Artikel von A. Marwan, in Bulletin of the Oppression of Women vom 08.06.2012 beide: letztmaliger Zugriff am 07.08.2013). Andere Handflächen waren mit Slogans der Revolution (Irhal) oder solchen der Siegeszuversicht (sa-nantasir/Wir werden siegen; al-nasr li-l-shab/Der Sieg gehört dem Volk) beschrieben. 52 Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 300478. 53 Ibid., Foto-Nr. 167103, 168955. 54 Die Zahlen sind ohne Frage an der Gesamtbevölkerung zu messen. Waren es in Kairo (der Großraum der Hauptstadt wird von über 19 Mio. Menschen bewohnt) bis zu etwa einer Mio., so in Bahrain etwa 100.000 eine erstaunliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die einheimische Bevölkerung von Bahrain kaum 1 Mio. beträgt. Zu den Zahlenangaben für Bahrain: Katja Niethammer, Calm and Squalls: The Small Gulf Monarchies in the Arab Spring, in: Protest, Revolt and Regime Change in the Arab World: Actors, Challenges, Implications and Policy Options, Muriel Asseburg (ed.), Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), 2012, S. 15; für Kairo: Lim, Clicks, Cabs..., S. 235. 49 50 18 Roswitha Badry unterschiedlicher Dramatik ins Bild gesetzt. Internationale Medien, aber auch einige politische Gruppierungen über online gestellte Video-Clips, schrecken in der Regel weniger davor zurück, selbst Bilder extremer Brutalität zu übermitteln, um die Emotionen zu schüren. Unsere beiden Aktivisten erlegen sich hier größere Zurückhaltung auf. Geschundene Körper, Drohkulissen (z. B. Rauchschwaden, Panzer, Polizeisperren) oder Überbleibsel der gewaltsamen Zusammenstöße (Munitionshülsen o. ä.)55 werden zwar abgebildet, machen aber insgesamt nur einen Bruchteil der visuellen Dokumentation aus. Einige Aufnahmen aus Ägypten versuchen den Ernst der Situation zu überspielen, indem sie zeigen, wie die Protestler meinten, sich gegen mögliche oder tatsächliche Angriffe der Ordnungshüter schützen zu können: Mundschutz, Sprüh- und Wasserflasche, Gasmaske oder gar Schwimmbrille.56 All das bezeugt ein weiteres Mal das Bestreben, potentiellen Gefahren und Ängsten mit Persiflage, Parodie oder Überzeichnung zu begegnen. Furchtlosigkeit kommt auch an anderer Stelle zur Geltung. Ein Foto von Timur zeigt, wie in der Mehrzahl Frauen, aber auch einige Männer, schnurstracks und entschlossen auf eine Polizeisperre zulaufen.57 Die Abbildung steht in absolutem Gegensatz zur herkömmlichen Darstellungstradition, die Frauen eher die Rolle des passiven Opfers zuspricht. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Aufnahme aus Bahrain. Zu sehen sind zwei wagemutige junge Männer, der eine mit entblößtem Oberkörper, der andere mit T-Shirt, die sich mit ausgestreckten Armen unerschrocken den anrollenden Panzern (der vom Golfkooperationsrat entsandten Truppen) gegenüberstellen.58 Das Foto erinnert an den berühmten, aber gleichfalls namenlosen Tank Man in Peking 1989, der sich einen Tag nach der Zerschlagung der Proteste und dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz den entgegenkommenden Panzern in den Weg gestellt hatte. Die Szene erlangte wegen der Verbreitung über Internet außerhalb Chinas Berühmtheit; in China selbst gelang es der Regierung, mit Hilfe geeigneter Filter (Zensurmaßnahmen), die Erinnerung an den Tank Man aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen.59 Das Foto aus Bahrain belegt mithin die (potentielle) Transzendenz von Zeit, Raum und Ort, die für die neuzeitliche Globalisierung so kennzeichnend ist. Damit verbunden stellt sich die Frage, in welchem Maße überhaupt noch kulturspezifische Facetten in zeitgenössischen SB auszumachen sind. 3.2. Kulturübergreifende und kulturspezifische Protest-Kodes Das eingangs und gerade eben angesprochene Phänomen des beschleunigten transnationalen Wechselspiels60 bzw. transkulturellen Austausches lässt sich an einem Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 168178, 169054, 307412, 383231. Ibid., Foto-Nr. 375384, 383890, 386402. 57 Ibid., Foto-Nr. 168484. 58 Siehe Aufmacher-Foto unter: http://www.jadaliyya.com/pages/index/9539/call-forpapers_geographies-of-gender-in-the-arab- (Zugriff am 05.08.2013). 59 Parviainen, Choreographing Resistances , S. 317, 323. 60 Zu diesem Ausdruck siehe z.B. Sebastian Schröer, Die HipHop-Szene als Kultur der Straße?, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 64. 55 56 Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 19 weiteren Beispiel aufzeigen. Es bezieht sich auf eine ursprünglich im arabischen Raum angesiedelte Geste des Missfallens, der Beleidigung und Verachtung, die sich nach dem berühmt gewordenen Vorfall bei einer Pressekonferenz in Bagdad Mitte Dezember 2008 im MENA-Raum wie auch weltweit als Protestsymbol verbreitet hat. Gemeint ist das Werfen von Schuhen bzw. das Wedeln mit oder Zeigen der Schuhsohle.61 Während des Arabischen Frühlings wurde es als Unmutsbekundung gegenüber Mubarak oder Vater (Muammar) und Sohn (Saif al-Islâm) Gaddafi verwendet.62 Schließlich griffen sogar deutsche Demonstranten die Geste auf, als sie Anfang 2012 gegen den Verbleib von Christian Wulff im Amt des Bundespräsidenten vor dessen Amtssitz in Berlin protestierten.63 Andere Gesten, die von Europa aus ihre Reise in die Welt angetreten sind, umfassen Symbole der Siegesgewissheit (VZeichen), der Kampfbereitschaft, Solidarität und Unterstützung (geballte Faust) oder des Erwachens (Frühlingsmetaphorik, Verteilen von Blumen).64 Auch wenn sie im westlichen Kontext wegen der Beliebigkeit und Instrumentalisierung durch die Mächtigen (C. Wulff, J. Ackermann o. ä.) eher lächerlich wirken mögen während der Proteste im arabischen Raum hatten sie ihre Bedeutung als Zeichen der gegenseitigen Vergewisserung eines Großteils der Akteure und als Botschaft an die Außenwelt noch nicht verwirkt. Zumindest wird dieser Eindruck auf zahlreichen Aufnahmen der Involvierten vermittelt. Wenn überhaupt, so lassen sich kulturspezifische Momente am ehesten an Bekleidungs- und Verhaltensformen oder religiösen Ritualen erkennen, die aber ebenso als Spiegelbild des bzw. Anpassung an den gesellschaftlichen Kontext zu deuten sind. Dass sich Proteste während des Arabischen Frühlings oft im Anschluss an das Freitagsgebet oder im Zusammenhang mit Leichenprozessionen entwickelten, stellte in der Tat kein neues Phänomen bei SB dar; vielmehr sind sie als situationsbedingte Handlungsmuster65 zu werten. Erinnert sei z.B. an die Proteste in der ehemaligen DDR 1989/90. Die Verbindung politischer Aktionen mit sakralen Elementen dient in autoritären Systemen auch dazu, eigentlich untersagten Protestbekundungen eine schutzwürdige Aura zu verleihen. 66 Einen ähnlichen Effekt verspricht man sich in der Regel von der Präsenz von Frauen und Kindern. Die besonders oft bei den Protesten in Sanaa abgebildete Ganzkörperverhüllung wäre auch als spezifische Form der Vermummung zu deuten, da eine eindeutige Identifizierung der Person ja schwerlich möglich ist. Aus Geschichte wie Zu diesem Phänomen ausführlich, wenngleich noch vor den Ereignissen von 2011: Y. Ibrahim, The Art of Shoe-throwing: Shoes as a Symbol of Protest and Popular Imagination, Media, War & Conflict, Vol. 2, No. 2, 2009, S. 213226. 62 Im Fall Libyen warf man die Schuhe während der Übertragung der Fernsehansprachen der Gadafis auf eine Großleinwand in Benghazi. 63 R. Roth, Vom Gelingen und Scheitern sozialer Bewegungen, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Vol. 25, No. 1, 2012, S. 30. 64 Vgl. u.a. folgende Fotos von Arwa (Othman, Facebook, Foto-Nr. 246566, 389744, 531036, 539874, 557615, 560635) und Timur (Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 302855, 403062). 65 Warneken, Die Straße ist die Tribüne ..., S. 10. 66 Ibid., S. 9. 61 20 Roswitha Badry Gegenwart 67 sind zumindest durchaus Fälle belegt, in denen sich Männer traditioneller Frauenkleidung bedienten, um sich in Sicherheit zu bringen. Eine solche Lesart widerspricht allerdings der Symbolik, die dem Schleier gewöhnlich im westlichen Islam-Diskurs zugeschrieben wird. Unabhängig davon haben die Ereignisse während des Arabische Frühlings verdeutlicht, dass der Verhüllungsgrad zwar je nach Kontext unterschiedlich war, aber keineswegs Frauen verschiedener Alters-, Schicht- oder Gruppenzugehörigkeit von der Beteiligung an der friedlichen Protestbewegung abgehalten hat. 3.3. Gender-spezifische Unterschiede? Zum Beitrag von Frauen am Arabischen Frühling Insgesamt betrachtet sind keine signifikanten Unterschiede zwischen der Beteiligung von Frauen und Männern am Arabischen Frühling festzustellen, auch wenn der jeweilige Anteil nicht genau zu beziffern ist.68 Frauen wie Männer waren gleichermaßen, ob nun erstmals politisch aktiv oder mit politischer Erfahrung, in das Geschehen involviert. Frauen haben an den verschiedenen gewaltlosen Protestformen partizipiert, diese mit organisiert, darüber berichtet, Interviews gegeben, mitdiskutiert, Ansprachen gehalten. Mehr als bei früheren SB in der MENA-Region (darunter nationale Befreiungsbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts oder Studentenrevolten in den 1970er Jahren) waren sie somit maßgeblich präsent und angreifbar. Viele riskierten, verbalen und physischen Angriffen ausgesetzt, inhaftiert, gefoltert oder gar getötet zu werden. Neben den vielen Namenlosen erlangte eine Reihe tatkräftiger Frauen lokale, regionale und sogar internationale Berühmtheit, u. a. weil ihr Engagement mit Preisverleihungen gewürdigt wurde. Erwähnt seien beispielhaft die Jemenitin Tawakkul Karman, die als zugleich jüngste und erste arabische Frau zusammen mit zwei Liberianerinnen mit dem Friedensnobelpreis 2011 ausgezeichnet wurde69; die tunesische Linguistikdozentin, Autorin und Menschenrechtsaktivistin Lina Ben67 So 2011 im Falle des libyschen Generalmajors und ehemaligen Innenministers Abd al-Fattâh Yûnis al-Ubaidi, bei seiner Flucht aus Tripolis, als er zu den Aufständischen überwechselte. Abd al-Fattâh wurde im Juli 2011 unter bis heute ungeklärten Umständen außerhalb Benghazis ermordet. 68 Zur Beteiligung von Frauen am Arabischen Frühling und ihrer späteren Marginalisierung oder Instrumentalisierung vgl. u. a. N. Al-Ali, Gendering the Arab Spring, Middle East Journal of Culture and Communication, Vol. 5, No. 1, 2012, S. 2631; Interview with Marieme Helie Lucas: No Spring for Arab Women, (Original) Feminists India, March 2012: http://www.wluml.org/news/ interview-marieme-helie-lucas-no-spring-for-arab-women (Zugriff am 18.12.2012); D. Gamil, A Revolution Deferred: Egyptian Women Demand Change, Equal Times, 09.10.2012: http:// www.equaltimes.org/in-depth/a-revolution-deferred-egyptian-women-demand-change (Zugriff am 10.12.2012); F. Naib, Women of the Revolution Features, Al Jazeera English, 19.02.2011: http:/ /www.aljazeera.com/indepth/features/2011/02/2011217134411934738.html (Zugriff am 21.01.2013); X. Rice und K. Marsh und T. Finn und H. Sherwood und A. Chrisafis und R. Booth, Women Have Emerged as Key Players in the Arab Spring, The Guardian, 22.04.2011: www.guardian.co.uk/ world/2011/apr/22/women-arab-spring (Zugriff am 05.09.2012); Badry, Ermächtigung von Frauen im Jemen? ..., bes. S. 8789 (s.a. weitere Aufsätze in eben diesem Sammelband, herausgegeben von Susanne Schröter). 69 Zu ihr (samt weiterer Verweise): Badry, Ermächtigung von Frauen im Jemen? ..., S. 8487. Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 21 Mhenni, deren Blog zu einem zentralen Medium der säkularen Opposition wurde70; die beiden ägyptischen Aktivistinnen und Bloggerinnen Asma Mahfûz71 und Gihân (Gigi) Ibrâhîm72 sowie die bahrainische Oppositionelle Zainab al-Khawâja73, die nach der Inhaftierung ihres Vaters Abdulhâdî (dem Gründer und Leiter des Bahrain Center for Human Rights) zur führenden Figur in der lokalen Protestbewegung avancierte und deswegen ebenfalls mehrfach festgenommen wurde.74 Mehrere interne wie externe Analysten haben betont, dass Frauen trotz ihres unbestrittenen und weithin anerkannten Beitrags in der dem Tyrannensturz folgenden Übergangsphase politisch marginalisiert wurden. Das ist richtig, gilt aber insgesamt für die jugendlichen Akteure, welche die wesentlichen Träger und Ideengeber in der Anfangsphase der Revolution waren.75 Langfristig gesehen ist meines Erachtens etwas anderes entscheidender. 70 Abgesehen von ihrem Blog (A Tunisian Girl) wurde sie für ihre Streitschrift Vernetzt Euch! (dt. Ausgabe Berlin: Ullstein 2011) bekannt, die in Länge und Aufmachung an Stéphane Hessels Empört Euch! erinnert. 71 Zu ihr z.B.: D. Simon, Sacharow-Preisträgerin droht in Ägypten Zwangsarbeit, Deutschlandradio 12.05.2012: http://www.dradio.de/aktuell/1780649/ (Zugriff am 22.01.2013); Arab Spring Activists Win Prestigious Europe Rights Prize (2011): http://www.eubusiness.com/newseu/rights-prize-arab.d6b (Zugriff am 28.12.2012). 72 Nach ihrem Studium der Politologie an der AUC (American University of Cairo) war sie journalistisch tätig; 2011 wurde sie v.a. wegen ihres Blogs (http://theangryegyptian.worldpress.com) bekannt. 73 Zu ihr siehe u.a.: Bahrain activist Zainab al-Khawaja sentenced to jail, BBC News Middle East, 22.01.2013: http://www.bbc.co/uk/news/world-middle-east-20672153 (Zugriff am 10.12.2012); Interview with Bahraini Opposition Activist: Regime Using Formula One Race to Trick the World, International Spiegel online, 20.04.2012: http://www.spiegel.de/international/world/ interview-with-bahraini-human-rights-activist-zainab-al-khawaja-a-828407.html (Zugriff am 22.01.2013). S. Quatromoni, Zainab Al-Khawaja: Spreading Awareness of the Uprising in Bahrain, Human Rights First, 09.04.2012: http://www.humanrightsfirst.org/2012/04/09/zainab-al-khawajaspreading-awareness-of-the-uprisingin-bahrain/ (Zugriff am 23.01.2013). 74 Zu ihrer Festnahme im Dez. 2011 nach einem friedlichen Sit-in an dem ehemaligen Perlenplatz gibt es ebenfalls einen Video-Clip [www.youtube.com/watch?v=AwYzTrt_7C4] (04.02.2013), der mit Blick auf die Diktion und Musikuntermalung, aber auch mit Blick auf die Gestik der Beteiligten (Zainab, zwei Polizistinnen, umstehende Polizisten) bezeichnend ist. Das Video soll die Brutalität des Regimes dokumentieren. Zainab, die demütig mit erhobenen Händen im Schneidersitz auf dem Boden hockt, werden von der einen Polizistin Handschellen angelegt; die Person beugt sich dabei mehrfach mit einer eindeutig drohenden, autoritären Geste (ausgestreckter Zeigefinger) vor, um die Delinquentin zu ermahnen. Anschließend wird die Aktivistin mit Hilfe einer weiteren Polizistin gewaltsam weggeschleift wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Die anderen (männlichen) Sicherheitskräfte stehen während des Vorfalls etwas abseits und wirken teilnahmslos. Ein weiteres Beispiel für Widerstandschoreographie (zum Ausdruck und Konzept s. Parviainen, Choreographing Resistances ..., S. 311f.)? 75 Zu den Verlierern im Zuge der Machtkämpfe nach dem erfolgreichen Sturz des Präsidenten z.B.: I. El Masry, Der ,Arabische Frühling eine transformationstheoretisch orientierte Zwischenbilanz der Fälle Ägypten und Tunesien, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Vol. 25, No. 3, 2012, S. 78; Badry, Ermächtigung von Frauen im Jemen? ..., S. 89; zum Beitrag der gebildeten urbanen Jugend im Allgemeinen: Ardiç, Understanding the Arab Spring..., S. 2225. 22 Roswitha Badry Dank des veränderten politischen Bewusstseins sind viele Frauen, die während des Umbruchs Ermächtigung und agency76 erfahren haben, nun nicht mehr bereit, diese und andere Diskriminierungen stillschweigend hinzunehmen; sie prangern sie vielmehr öffentlich an, versuchen sich neu zu formieren und ihre Rechte einzuklagen. Als Indiz mögen die Reaktionen auf die gestiegene Zahl sexueller Übergriffe auf Frauen in Ägypten dienen, die zu mehreren Protestaktionen in der Folgezeit Anlass gegeben haben. Nur etwa einen Monat nach dem Rücktritt Mubaraks wurde ein friedliches Sit-in auf dem Tahrir-Platz von den Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst; einige Demonstrantinnen wurden festgenommen und demütigenden Jungfräulichkeitstests unterzogen. Diese perfide Form geschlechtsspezifischer Gewalt war, so die Aktivistinnen, dazu gedacht, sie einzuschüchtern und von weiteren politischen Aktionen abzuhalten. Eine der Betroffenen klagte vor Gericht, wenngleich erfolglos.77 Ein weiterer Vorfall im Dezember 2011 gelangte über Fotos78 und einen Video-Clip79 in die Schlagzeilen. Der sog. blue-bra-incident ereignete sich in der Nähe des Tahrir. Das Video zeigt, wie drei Polizisten eine unbewaffnete Frau an den Haaren ziehen, 76 Zu agency gibt es verschiedene Theorien in der Philosophie, Politikwissenschaft und den Geschlechterstudien. Einer der berühmtesten Ansätze in der letztgenannten Disziplin stammt von Judith Butler (subversive agency). In diesem Kontext verstehe ich unter agency ganz allgemein die Fähigkeit des Individuums, zu einer eigenen Entscheidung zu gelangen und diese in die Realität umzusetzen. 77 B. Trew, Breaking the Silence: Mob Sexual Assault on Egypts Tahrir, English Ahram Online, 03.07.2012: http://english.ahram.org.eg/News/46800.aspx (Zugriff am 21.01.2013). Zu den Vorfällen s.a.: Egyptian Women Protesters Sexually Assaulted in Tahrir Square, The Guardian, 09.06.2012: http://www.guardian.co.uk/world/2012/jun/09/egyptian-women-protesters-sexually-assaulted-intahrir-square (Zugriff am 21.01.2013); S. El-Sabbahy, Features: Sexual violence rises in Egypts Tahrir, AlJazeera 05.07.2012: http://www.aljazeera.com/indepth/features/2012/07/20127414100 955560.html (Zugriff am 21.01.2013). 78 Siehe z.B. das Aufmacher-Foto im Artikel der US-amerikanisch-ägyptischen Journalisten Mona Eltahawy Why Do They Hate Us? Foreign Policy, 23.04.2012: http://www.foreignpolicy.com/ articles/2012/04/23/why_do_they_hate_us (Zugriff am 21.01.2013) , die selbst 2011 in Kairo Opfer gewaltsamer Überbegriffe geworden war. (Man hatte ihr u. a. die Arme gebrochen und sie sexuell gedemütigt.) Ihr Artikel, der nicht mit Pauschalurteilen spart, aber anscheinend aus der ersten Wut über die Misshandlungen am eigenen Körper entstanden ist, machte sie ihrerseits zum Gegenstand von üblen verbalen Attacken (vgl. v.a. S. Zuhur, Women on the Ground vs. Women in the (Ivory) Tower: http://sherifazuhur.wordpress.com/2012/04/27/women-on-the-ground-vs-women-in-theivory-towers/ (Zugriff am 22.01.2013). Weitere Berichte zu dem Vorfall: L. Penny, Mona Eltahawy: Egypts angry young woman, The Independent, 17.05.2012: http://www.independent.co.uk/news/ people/profiles/mona-eltahawy-egypts-angry-young-woman-7758081.html (Zugriff am 21.01.2013); D. Schülbe, Mona Eltahawy misshandelt von der Polizei, Rheinische Post online, 25.11.2011: http://www.rp-online.de/politik/ausland/mona-eltahawy-misshandelt-von-der-polizei-1.2616153 (Zugriff am 15.01.2013). 79 M. Winter, VIDEO: Egyptian soldiers beat Tahrir women, couple, USA Today 19.12.2011: http://content.usatoday.com/communities/ondeadline/post/2011/12/video-egyptian-soldiers-beattahrir-women-couple/1#.UP1UP_J36yE (Zugriff am 21.01.2013). Es sei angemerkt, dass sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, während der Proteste 2011 in Ägypten auch als Folterinstrument gegen inhaftierte junge Männer eingesetzt wurde. Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 23 sie zu Boden reißen, sie schlagen, mit Füßen treten und ihren Oberkörper (mit dem blauen BH) entblößen. Gleich einen Tag später kam es zu Protestdemonstrationen von Frauen, an denen sich ebenfalls Männer beteiligten. Der schockierende Vorfall wurde auch zur Inspiration für Künstler: In dem Gemälde eines Marokkaners werden die Polizisten als Gorillas dargestellt, als stiller Beobachter ist das Konterfei von Van Gogh in das Bild eingefügt80; in einem Cartoon81 mutiert die Angegriffene zu einer Art superwoman, die sich an einem ihrer Peiniger mit Kung-Fu rächt. 3.4. Anzeichen für versteckte Orientalismen bzw. Okzidentalismen? Trotz der Vielfalt innerhalb der weiblichen Protestgemeinde wurde im Rahmen der konventionellen Medienberichterstattung wiederholt die Verschleierte ins Bild gerückt. Das zeigte sich, wie erwähnt, besonders im Falle des Jemen. Gegen diese einseitige Repräsentation und Perzeption jemenitischer Frauen verwahren sich säkulare Jemenitinnen wie Arwa82, obwohl sie sich der zunehmenden Verbreitung der saudischwahhâbitisch-salafitisch beeinflussten Ganzkörperverhüllung durchaus bewusst sind.83 Ist eine solche, unabhängig von Thema und Valenz des Beitrags immer wiederkehrende Repräsentation als Orientalismus bzw. Okzidentalismus zu werten? Ich meine, ja. Im Anschluss an Fernando Coronil84 verstehe ich Orientalismen als westliche Repräsentationen von Andersheit, die implizit Konstruktionen des Selbst sind. Mit Okzidentalismen ist nach demselben Autor nicht etwa die Kehrseite der Orientalismen gemeint, sondern der hegemoniale Deutungs- und Machtanspruch des Westens. Abgesehen von der mangelnden Differenzierung, welche die Bekräftigung bestehender Vorurteile begünstigt, weist die Auswahl mancher Bildmotive darauf hin, dass zuweilen westliche Ästhetik-Maßstäbe zugrunde gelegt wurden, um den Kontrast zum Westen zu verdeutlichen. Zwei Aufnahmen, wiederum aus dem Jemen, sollen diese Vermutung veranschaulichen. Das erste wurde zum Weltpressefoto des Jahres 2011 gekürt, weil es, so die Begründung eines Jurymitglieds, für die gesamte Region steht. Es präsentiere einfach alles, was während des arabischen Frühlings Abbildung in Demerdash, Consuming Revolution , S. 10. Abbildung in: Scenes-Wed-Like-to-See-Revenge-of-the-Egypt-Unveiled-Women (der Künstler signierte mit Latuff 2011). 82 Siehe Othman, Facebook, Foto-Nr. 53825: Aufnahme von einem Poster (?) mit der Bildunterschrift Yemeni women are not only black!, welche einen Eindruck von der bunten Vielfalt jemenitischer Frauen vermittelt. 83 Vgl. Ibid., Foto-Nr. 543583, das in einer Art Fotomontage zwei Bilder kontrastierend gegenüberstellt: Das eine zeigt Absolventinnen der Universität Sanaa 1977, Männer und Frauen zusammen, letztere unverschleiert; die andere Einstellung zeigt Absolventinnen des Jahres 2012, uniformiert, mit Ganzkörperverhüllung ausgenommen der Augen. Anzumerken ist, dass Arwa wie Elham, die zu Beginn der Proteste vor Ort weilte, betonen, dass zumindest zu Beginn der Protestbewegung im Jemen die Verhüllten nicht unbedingt die alles dominierende Fraktion bildeten. 84 Jenseits des Okzidentalismus: Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien, in: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Sebastian Conrad und Shalina Randeria (Hg.), Frankfurt und New York: Campus, 2002, S. 177218, hier S. 183185. 80 81 24 Roswitha Badry geschah85! Der Fotograf arbeitet freiberuflich für die New York Times. Die Aufnahme, die mit dem Schwarz-Weiß-Kontrast arbeitet, soll eine Mutter zeigen, die ihren verletzten Sohn (anderen Angaben zufolge handelte es sich um ihren Verwandten) im Arm hält; allerdings sind die Gesichter nicht zu identifizieren. Das Foto wurde dem Fotografen zufolge in einer Moschee in Sanaa aufgenommen und soll die bewegenden Momente des Arabischen Frühlings symbolisieren. 86 Westliche Beobachter werden die Abbildung wohl sofort mit der Pietà bzw. Mater Dolorosa assoziieren. Das zweite Foto, das (ebenfalls im Oktober 2011) über internationale Sendeanstalten wie CNN verbreitet wurde87, präsentiert demgegenüber die Frau als Akteurin. Im Vordergrund ist eine Frau mit Sonnenbrille, aber enthülltem Gesicht zu sehen, die mit erhobenem Arm Stoffe ins Feuer wirft. Umstehend gruppieren sich (vor allem) mehrere Ganzkörperverhüllte, zum Teil mit Sonnenschirm, und einige schaulustige Männer. Die Bildunterschrift lautet: Jemenitische Frauen verbrennen ihre Schleier aus Protest, obwohl die Aufnahme alles andere als eindeutig ist. Ein westlicher Betrachter mag bei dem Foto unmittelbar an die Marianne, die Nationalfigur der Französischen Republik, denken. Ob die Szene von Fotografen oder Bewegungsunternehmern so arrangiert wurde, seit dahingestellt. Die selektive Wahrnehmung ist meiner Einschätzung nach überdies an der Vernachlässigung des Beitrags der arabischen Revolution zu einer globalen Protestkultur erkennbar, die auf wechselseitiger Beeinflussung basiert. Dieses Moment kommt wohl am besten in der Street Art88 zum Ausdruck, welche seit 2011 einen enormen Aufschwung erfahren hat und der Arwa und Timur einige Aufnahmen widmen. 3.5. Die kaum beachtete innovative, dynamische Komponente des Arabischen Frühlings: Die Straße als Bühne kommunikativ bespielen89 Der Arabischer Frühling hat zu einem Boom künstlerischer Aktivität und Kreativität auf der Straße geführt, der auch bereits in einigen Fachartikeln diskutiert worden 85 Zitat nach Focus Online vom 10.02.2012: http://www.focus.de/panorama/welt/pressefoto-desjahres-2011-die-private-seite-des-arabischen-fruehlings_aid_712770.html (Zugriff am 11.02.2013). 86 S. Phillips, Samuel Arandas Best Photograph: A Woman Protect her Son, The Guardian, 07.11.2012: http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2012/nov/07/samuel-aranda-best-photograph (Zugriff am 03.01.2013). Cf: Zahriyeh, World Press Photo of the Year award goes to picture of Yemeni woman with wounded relative amid protests, New York Daily News, 10.02.2012: http:// www.nydailynews.com/news/world/world-press-photo-year.award-picture-yemeni-womanwounded-relative-protests-article-1.1020597 (Zugriff am 03.01.2013). 87 http://edition.cnn.com/2011/10/26/world/meast/yemen-protest (Zugriff am 11.02.2013). Vgl. auch Othman, Facebook, Foto-Nr. 404054 (zeigt allerdings eine andere Einstellung; zudem stammt die Aufnahme nicht von Arwa selbst, die alle ihre Fotos mit ihrem Namen kennzeichnet). 88 Zum Begriff, den verschiedenen Formen und Fachausdrücken sowie den von den Künstlern anvisierten Zielen (u.a. Reclaim the streets) siehe Kai Jakob, Street Art. Kreativer Aufstand einer Zeichenkultur im urbanen Zwischenraum, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 7397. 89 Zu diese Formulierung siehe: Sandra Maria Geschke, Straße als kultureller Aktionsraum eine Einleitung, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 25 ist. 90 Dieser Effekt illustriert einerseits ein weiteres Mal den spielerischen, performativen91 Charakter im Umgang mit dem Geschehen; andererseits steht er für die innovative, dynamische Komponente, d.h. für den fundamentalen Neuanfang, den sich manche Akteure von der Protestwelle erhofft hatten. Mit ihren Bildern (Graffitis, große Wandbilder bzw. Murals) oder ihrer Musik (Rap, Hip-Hop, Shaabi), welche die politischen Geschehnisse reflektierten, an die Märtyrer erinnerten und zum kritischen Denken anregten, setzten die Künstler einen wichtigen und erfrischenden Kontrapunkt zur herkömmlichen Kulturszene. Sie repräsentierten damit Facetten einer Gegenkultur, sozusagen ein Komplement zum gesellschaftlichen Gegenentwurf, welcher partiell in den Camps auf den zentralen öffentlichen Plätzen vorgelebt wurde. Einige Vertreter dieser neuen Kulturszene haben bereits vor und gleich zu Beginn der Revolution mit ihren kritischen Text- und Bildbotschaften wachgerüttelt, ein neues Bewusstsein geschaffen und zur Mobilisierung bisher Unbeteiligter beigetragen. Als Beispiel für die ägyptische Graffiti-Szene sei Keizer92, an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 20. 90 Zu den angesprochenen neuen Trends in der Kulturszene siehe neben Demerdash, Consuming Revolution , S. 117 (zu Graffiti Murals, Ölgemälden v.a.): A.M. Agathangelou, Making Anew an Arab Regional Order? On Poetry, Sex, and Revolution, Globalizations, Vol. 8, No. 5, Oct. 2011, S. 591594 (v.a. zu ,lyrics); S. Morayef, We Are the Eight Percent: Inside Egypts Underground Shaabi Music Scene, Jadaliyya, 29.05.2012: http://www.jadaliyya.com/pages/index/5738/we-arethe-eight-percent_inside-egypts-underground (Zugriff am 15.01.2013); (zu Murals in Ägypten) S. Morayef, The Seven Wonders of the Revolution, Jadaliyya, 22.05.2012: http://www.jadaliyya.com/ pages/index/4776/the-seven-wonders-of-the-revolution (Zugriff am 15.01.2013). Zu verschiedenen Graffiti-Darstellungen, nicht nur in Ägypten, sondern auch in Tunesien oder Libyen: No Fear, The Rabble Writing on the Walls, Another Africa, 03.11.2011: http://www.anotherafrica.net/art-culture/ no-fear-the-rabble-writing-on-the-walls (Zugriff am 21.01.2013); C. Hebblethwaite, Is Hip Hop Driving the Arab Spring?, BBC News Middle East, 24.07.2011: http://www.bbc.co/uk/news/worldmiddle-east-14146243 (Zugriff am 28.12.2012). Aus der Sicht von Aktivisten vor Ort: Interview: Azza Balba, Afropop Worldwide, 25.04.2012: http://www.afropop.org/wp/1955/azza-balba/ (Zugriff am 21.12.2012); Revolution als Lernprozess: Eine Zwischenbilanz der ägyptischen Demonstranten Nadine Kreitmeyer (FJSB) im Gespräch mit Laila El-Balouty, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Vol. 25, No. 3, 2012, S. 63f. (zur Rolle der Künstler). Siehe auch u. a. folgende Abbildungen in Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 281852, 283327 (Der Schrei nach Freiheit Street Art, Kreide), 402150 (Graffiti zu Lügen, die aus den staatlich kontrollierten Medien überbracht werden); und Othman, Facebook, Foto-Nr. 206208, 319730, 398358, 463495, 485715, 564843, 576445, 601893 (Bemalen von Mauern, darunter von Männern und Frauen gemeinsam); 428905, 598757 (Musikdarbietung im Zelt). 91 SB werden mittlerweile verstärkt als performativer Akt untersucht. Siehe dazu z.B. P. Wiegmink, Performance and Politics in the Public Sphere, Journal of Transnational American Studies, Vol. 3, No. 2, 2011, S. 140; oder Hank Johnston, Protest Cultures: Performance, Artifacts, and Ideations, in: Culture, Social Movements, and Protest, Hank Johnston (ed.), Surrey and Burlington: Ashgate, 2009, S. 329. 92 Eines seiner Stencils, sog. Schablonengraffiti, lautete: Your Fear is their Power (Aufnahme in No Fear, The Rabble Writing ...), weitere seiner Arbeiten finden sich auch z.B. bei Hadidi (Facebook, Foto-Nr. 418235, 431292). 26 Roswitha Badry ein anonymer Straßenkünstler, erwähnt, als Beispiel für die Rap-Szene der Tunesier El Général, der in seinem Song Rais Lebled (Präsident des Landes), den er eine Woche vor dem Ausbruch der Erhebung im Dezember 2010 ins Netz gestellt hatte93, die Missstände in seinem Land anprangerte und damit die Hymne der Revolution in Tunesien und Kairo schuf: Mr. President, your people are dying/ People are eating rubbish/ Look at what is happening/ Miseries everywhere Mr. President/ I talk with no fear/ Although I know I will only get troubles/ I see injustice everywhere.94 Diese und andere Künstler werden mittlerweile von der internationalen Szene umworben. Im Falle einer erfolgreichen Vermarktung könnte allerdings die Gefahr bestehen, dass der revolutionäre Geist abhanden kommt. Zudem bemerkt Demerdash: Institutions across the world are problematically couching these cultural phenomena within discourses of authenticity (asâla or turâth) on the basis of their ethnographic otherness.95 4. Vorläufiges Resümee und Hypothesen Fassen wir abschließend die vorläufigen Ergebnisse zusammen. Dass unmittelbar Beteiligte und externe Beobachter die Geschehnisse unterschiedlich wahrnehmen und abbilden, war zu erwarten. Dennoch erscheinen mir folgende Diskrepanzen zwischen den Bildern unserer beiden Aktivisten vor Ort und der globalen Rezeption recht deutlich hervorzutreten: a) Von den konventionellen Nachrichtensendern wird in erster Linie das Kollektiv ins Bild gerückt, während bei der Dokumentation der Aktivisten auf Facebook Porträtaufnahmen dominieren. Zeigen die einen mit Vorliebe dicht gedrängte Massen bei Großdemonstrationen oder betende Muslime auf den zentralen Plätzen der Kapitalen, sind die anderen bestrebt, die Heterogenität innerhalb der Bewegung darzustellen. Dabei lassen sie den Blick auch auf die Nebenschauplätze (Nebenstraßen des Tahrir o. ä.) und dortige Aktivitäten schweifen. b) Darüber hinaus überwiegt bei den auf Spektakuläres ausgerichteten Nachrichtenkanälen die Darstellung wütender, aufgebrachter, zuweilen chaotisch oder fanatisch wirkender unkontrollierbarer Menschenmengen; Konflikte, Blutvergießen, Zerstörung werden beinahe schonungslos, zuweilen pietätlos abgelichtet. Dagegen zeigen die beiden Aktivisten die ganze Bandbreite an Mimik und Gestik. Im Vordergrund stehen der Ausdruck der Freude über und des Stolzes auf die Teilhabe an den historischen Ereignissen, das bunte Treiben, der Festival-Charakter und die spielerischen Elemente; aber auch auf das Einfangen skeptischer, ängstlicher Blicke wird ebenso wenig verzichtet Agathangelou, Making Anew an Arab Regional Order? , S. 587. Engl. Übers. übernommen aus: V. Walt, El Général and the Rap Anthem of the Mideast Revolution, Time, 27.12.2012: http://www.time.com/time/printout/0,8816,2049456,00.html (Zugriff am 22.01.2013), S. 2. 95 Demerdash, Consuming Revolution , S. 7. 93 94 Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs 27 wie auf Drohkulissen bzw. Gewaltanwendung. Die Anzeichen einer Gegenöffentlichkeit und einer Gegenkultur werden voller Optimismus, wenngleich keineswegs naiv, illustriert. Diese innovativen, kreativen, dynamischen Momente werden in den konventionellen Medien weitgehend ignoriert, mithin wird der transnationale Aspekt der Protestkultur sowie die Verbindung und Vernetzung zu globalen Bewegungen unterschlagen. c) Soweit der erste Eindruck. Zieht man allerdings die von anderen Aktivisten online gestellten Video-Clips und Fotos hinzu, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Denn hier bedient man sich anscheinend ebenso oft wie in den konventionellen Medien einer stark vereinfachenden audio-visuellen Diktion. Bedenklich stimmt außerdem, wenn die Verletzbarkeit des Körpers geplant in die Widerstandschoreographie eingebaut wird. 28 Roswitha Badry