Interpretation einer Kurzgeschichte: Wolfgang Borchert: „Das Holz

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Interpretation einer Kurzgeschichte: Wolfgang Borchert: „Das Holz
Interpretation einer Kurzgeschichte: Wolfgang Borchert: „Das Holz für morgen“ [1947]
Klasse 11: Interpretieren Sie!
Klasse 12: Erarbeiten Sie Interpretationsthesen zur formalen und inhaltlichen Seite (20 BE)
1. Aufbau:
- übersichtlicher Aufbau, Zeitraum von zehn Minuten
- Erzählzeit und erzählte Zeit fast deckungsgleich
- Handlung setzt mit einer ins Schloss fallenden Tür unvermittelt ein
- die Selbstmordabsicht eines noch schemenhaften „er“ sowie die Motive werden in der Einleitung mitgeteilt
Æ dieser Mensch befindet sich in einer inneren Krise
- Rückblick auf Kindertage
- Hintergründe für den Selbstmord werden in einer vertiefenden Betrachtung erklärt indem Todesart und
Überlegungen der letzten Nacht rekapituliert werden Æ 1. Retardierung
- Gang zum Boden nach oben Æ 2. Retardierung (indem er das Treppengeländer berührt)
Rückblick auf elf Jahre zurückliegende Kindheit wird eingeleitet mit dem Adverb „da“
Aufschub des Selbstmordes
Entschuldigungsbrief
- Versuch weiter nach oben zu gehen (Selbstmord)
- wankt inzwischen im Entschluss zum S.
Dehnung
- „unten ging eine Tür auf…“ Æ Wendepunkt (Mutter spricht mit der Schwester)
- Dynamik der Handlung steigt wieder an Æ nähert sich der Geschwindigkeit des Alltags an
2. Erzählverhalten und Sprache:
- Wechsel im Erzählverhalten:
1. u. 2. Satz: - neutrales Erzählverhalten in der Er-Erzählform (Außensicht)
3. Satz: Wechsel zum personalen Erzähler (eigene Perspektive)
- äußere Handlung eher spärlich, erzählte Vorgänge spielen sich eher im Inneren ab
- „Nein, das beste würde sein, man ginge auf den Boden.“ Æ erlebte Rede (Leser wir im schlimmsten Zustand
der Figur in das Geschehen hineingezogen)
- scharfe Übergänge und Wechsel zwischen neutralen und personalen Erzähler
- letzter Satz: auktorialer Standpunkt
- expressive Verwendung einfacher Sprachmuster
- dem Alltäglichen entlehnter Sprachgebrauch
Stilfiguren:
- poetische Verdichtung durch Stilfiguren
- vielen Wiederholungen (enges Geflecht, Entschlossenheit zum Selbstmord)
- in jedem Satz werden Teil des zurückliegenden Satzes wieder aufgegriffen Æ besondere Betonung der Motive
der Tat
- Neologismus „Aneinandervorbeisein“ übersensible Beurteilung der eigenen Familie
- Ausklang. Revision des übersteigerten Lebensgefühls
- Fürsorge der Mutter, viele Wh. , kein Pathos, liebt ihren Sohn, eindringliche Worte an die Schwester
- So, „ohne viel Aufhebens“ fügt sich der junge Mann wieder in das Leben ein (Ellipse: „Das Holz für
morgen…“)
- „für morgen“ Zuversicht
3. Die Figuren:
„er“
- Selbstmordabsicht eines jungen Kriegsheimkehrers (für ihn unerträgliche Welt)
- wer sind die, die er liebte (außer der Mutter)? – Lebensumfeld vage, keine Infos
- warum kann „er“ „mit den anderen“ lachen und ist „dabei einsamer…“
- scheinbar hat die Familie nicht bemerkt, wie ihn der Krieg oder andere Ereignisse verändert haben
- traumatische Erlebnisse?
- Gefühl nicht verstanden zu werden in einer Zeit, die zu Neuem aufbrechen möchte und die alten Erinnerungen
verdrängt (die anderen hören ihn nicht, wenn er nachts weint)
- Egozentrik: ständig kreisen seine Gedanken nur um sich – sein Selbstmord, ein Schrei nach
Aufmerksamkeit????
- die Worte der Mutter sind wie eine Erlösung für ihn – bringen ihn endlich zur Besinnung
Æ die Mutter wird ihn immer lieben!
* die Mutter braucht ihn (Holz)
* auch sein Vater liebt ihn („Vater sagt, dass wird ihm Spaß machen“)
Æ seine Einschätzung der eig. Situation war nicht nur falsch, sie war auch ungerecht!
Im „Holzholen“ zeigt sich: dass sich Liebe erst im Tätigsein, im Holzholen, bewährt.
4. Aussage der Kurzgeschichte
Die Aussage von „Das Holz für morgen" ist eng an den bereits beschriebenen Aufbau gebunden. Borchert
gestaltet einen Zeit-Raum, der alle wesentlichen Elemente zur Deutung enthält: Vergangenheit, Gegenwart,
Zukunft sowie das Oben des Himmels und das Unten des dunklen Treppenhauses. Dabei kommt dem Holz in der
Kurzgeschichte in ganz unterschiedlichen Verwendungen bzw. Zusammenhängen Bedeutung zu; in seiner
Funktion spielt es in dieser Kurzgeschichte fast dieselbe Rolle wie das Brot in der zuvor untersuchten.
Der junge Mann begibt sich auf den Dachboden des Mietshauses, um dort den geplanten Selbstmord auf die am
wenigsten Aufsehen erregende Weise durchzuführen: Das Holz der „Querbalken vom Dachstuhl" bietet die
Gewähr für einen geräuschlosen Tod durch Erhängen, auf den sich der junge Mann vorbereitet hat. Da es zu
dieser Tat nicht kommt, bleibt das Holz des Bodens im Folgenden unerwähnt und hat für den Verlauf der
Geschichte keine weitere Bedeutung. Als ungleich wichtiger im Fortgang der Handlung erweist sich das Holz
des Treppengeländers, das ihn eigentlich „nach oben",- seinem tödlichen Vorhaben entgegenführen soll und ihn
stattdessen aufhält. Zunächst ist es der mit dem Finger kaum fühlbare hellere Strich auf dem Geländer, der seine
Aufmerksamkeit erregt. Er ruft jene Kindheitsepisode ins Gedächtnis zurück, die der junge Mann längst hinter
sich gelassen und vergessen hat. In diesem Augenblick, der im Hinblick auf die Tragweite der Freitodabsicht
ganz anderen Gedanken gehören müsste, wird das Holz des Geländers plötzlich zum stummen Zeugen längst
vergangener Schuld. Der Junge hatte einst unbedacht und in kindlichem Übermut das Holz beschädigt und war
den Konsequenzen dafür, der Bestrafung durch die Eltern, aus dem Weg gegangen, indem er seine Tat geleugnet
hatte. Der Verantwortung, in die er durch sein Tun gestellt war, hatte er sich damals entzogen und war feige
geflohen. Im Augenblick seines neuerlichen Fluchtversuches wird der Lebensmüde an seinen früheren, in der
Zwischenzeit erfolgreich verdrängten Fluchtversuch erinnert, und er möchte ihn nun nachträglich
wiedergutmachen. Hielt das Holz des Treppengeländers den jungen Mann in seinem Vorhaben nur auf, so hält
ihn das Holz, von dem anschließend die Rede ist, schließlich davon ab. Die auch vom Titel der Kurzgeschichte
als entscheidend zu erkennende Funktion des Holzes für die Umkehr ist das „Holz für morgen", von dem die
Mutter spricht. Wieder muss der junge Mann erst erinnert werden („Ich muss das Holz holen, sagte er, natürlich,
das hab ich ja ganz vergessen"). Das Holz wird hier zum Stichwort für die Erkenntnis, dass das Vorhaben, sich
das Leben zu nehmen, eine erneute Flucht vor der Verantwortung bedeuten würde, diesmal allerdings nicht vor
der Verantwortung für das Vergangene, für das, was er getan hat, sondern für die Zukunft, für das, was er „für
morgen" noch zu erledigen hat. Dabei sollte die von der Mutter angesprochene Verwendungsweise des Holzes
nicht unbeachtet bleiben: Sie benötigt es zum Erhitzen des Waschwassers, weshalb die kleinere Schwester auch
so eindringlich dazu angehalten wird, das Seifenpulver nicht zu vergessen. Die Mutter bereitet sich auf den
Waschtag vor, der vordergründig als eine alltägliche Angelegenheit, daneben aber durchaus symbolisch gesehen
werden kann: Sie gibt das Signal für die Reinigung der „schmutzigen Wäsche", d. h. von all dem, was vordem
das Zusammenleben der Familie belastet haben mag. Ihr Blick ist dabei nach vorn gerichtet. Von hier aus wird
auch der zuvor wie nebenbei eingestreute Hinweis auf das „saubere hellbraune Treppengeländer" verständlich.
Die alte Schuld, die mit dem leichtfertigen Zerstören des Geländers verbunden war, ist wirklich längst vergessen,
ist gleichsam abgewaschen. Die Bewährung liegt deshalb nicht darin, für die Beschädigung des Holzes von
gestern einzustehen, sondern die Mühe für das „Holz für morgen" auf sich zunehmen. Der Schluss der
Geschichte „Das Holz für morgen" steht in einem scharfen Kontrast zu Borcherts Drama „Draußen vor der Tür".
Der Heimkehrer Beckmann erhält nicht die Gelegenheit, sich wieder einzugliedern. Die Etagenwohnung bleibt
ihm verschlossen, und sein Leben mündet in den erschütternden Aufschrei „Gibt denn keiner, keiner Antwort?".
Die vorliegende Kurzgeschichte hingegen stimmt versöhnlich und zeigt, daß auch ein anderer Schluss des
Heimkehrerschicksals möglich ist: Der Zustand der Verzweiflung kann durch das Licht der Liebe unten auf der
Erde überwunden werden. [Quelle: Könecke, Rainer. Interpretationshilfen. Deutsche Kurzgeschichte. 1945-1968, Klett]