Reproduktionsmedizin in Deutschland
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Reproduktionsmedizin in Deutschland
Reproduktionsmedizin in Deutschland – Besonderheiten und Dilemmata H. Michelmann1 W. Himmel2 Reproductive Medicine in Germany – Peculiarities and Dilemmas Abstract Hintergrund: Technische Fortschritte und Erfolge der Fortpflanzungsmedizin knnten zu einer problematischen Ausweitung der Behandlungsindikation bei ungewollter Kinderlosigkeit fhren. Unter den derzeitigen rechtlichen Gegebenheiten in Deutschland (Verbot der selektiven Blastozystenkultur) ist mit negativen Folgen fr die reproduktive Gesundheit, das heißt weder mit einer Steigerung der Schwangerschaftsrate noch mit einer Senkung der Mehrlingsschwangerschaften zu rechnen. Methode: Auf Basis einer gezielten Literaturrecherche werden drei Themen gesundheitswissenschaftlich fokussiert: (1) der Zusammenhang von Bevlkerungsentwicklung und Reproduktionsmedizin, (2) Erfolgskriterien der knstlichen Befruchtung sowie (3) neue Behandlungsoptionen und ethisch-juristische Probleme. Ergebnisse: Parallel zur steigenden Kinderlosigkeit in Deutschland (und anderen Industrienationen) etablierte sich die Reproduktionsmedizin, die mittlerweile zu knapp 2 % aller Geburten beitrgt. Das Ausmaß tatschlich ungewollter Kinderlosigkeit – oft als Begrndung fr die Notwendigkeit einer frhzeitigen reproduktionsmedizinischen Intervention genannt – ist allerdings weit geringer (unter 8 Prozent) als hufig behauptet (zwischen 10 und 15 Prozent). Ein Erfolg der Reproduktionsmedizin realisiert sich fr Patienten oft nur nach einer Serie von Behandlungszyklen und ist – insbesondere in Deutschland – von einer hohen Rate an Mehrlingsschwangerschaften begleitet. Erfolg in der Kinderwunschbehandlung sollte daher an der Rate gesunder, nicht frhzeitig geborener Einlinge und einer verbesserten Lebensqualitt gemessen werden. In diesem Sinne knnte die in Deutschland bisher verbotene selektive Blastozystenkultur den Behandlungserfolg steigern und die Belastung fr die betroffenen Paare sen- Background: Technological progress, as well as increasing success, of reproductive medicine may lower the threshold for childless couples to initiate infertility therapy. However this development may aggravate unsolved problems (e. g. multiple births) and may not increase the pregancy rate, due to the present unsatisfactory legal situation in Germany (e. g. ban on selective blastocyst culture). Methods: Based on a systematic review of the literature, we studied actual problems of German reproductive medicine under three public health-related topics: (1) the decline in population in Germany, (2) criteria for success in reproductive medicine and (3) new treatment options in the light of legal and ethical aspects. Results: In Germany (and other industrial nations), reproductive medicine has emerged parallel to an ever-increasing rate of childlessness. Today, 2 % of all births result from treatments using the techniques of reproductive medicine. Nevertheless, the actual extent of involuntary childlessness is lower (below 8 %) than commonly suggested (between 10 and 15 %). Frequently, the success of treatment depends upon a series of treatment cycles and is, especially in Germany, accompanied by a high rate of multiple births (more than 30 %). Hence, a more adequate success rate may be the healthy, i. e., term, singleton baby. The use of selective blastocyst culture, currently not permitted in Germany, could further improve therapy or, at least, reduce patient stress and discomfort. Conclusion: Reproductive medicine, as seen from a public health perspective, needs to pursue patient-oriented requirements more in-depth. An open discussion of new technologies which could improve reproductive health but are at present not permitted, would be imperative. 1 Institutsangaben Univ.-Frauenklinik, Arbeitsgruppe Reproduktionsmedizin, Georg-August-Universitt Gttingen 2 Abt. Allgemeinmedizin, Georg-August-Universitt Gttingen Korrespondenzadresse Prof. Dr. H. W. Michelmann · Univ.-Frauenklinik, Georg-August-Universitt Gttingen · Robert-Koch-Str. 40 · 37099 Gttingen · E-mail: [email protected] Bibliografie Gesundheitswesen 2005; 67: 605 – 612 Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York DOI 10.1055/s-2005-858578 ISSN 0941-3790 Originalarbeit Zusammenfassung 605 ken. Schlussfolgerung: Die gesundheitswissenschaftliche Betrachtung der Reproduktionsmedizin zeigt die Notwendigkeit einer strkeren Bercksichtigung von Patientenbedrfnissen und einer offenen Diskussion ber neue Verfahren, die wahrscheinlich zu einer besseren reproduktiven Gesundheit beitragen, bisher aber aufgrund eines mglicherweise falsch verstandenen juristischen Schutzes des frhen Embryos nicht zur Anwendung kommen drfen. Key words Infertility · reproductive behaviour · reproductive techniques · attitude of health personnel · ethics Schlsselwrter Ungewollte Kinderlosigkeit · reproduktives Verhalten · assistierte Reproduktion · Einstellung von rzten · Ethik Originalarbeit 606 Einleitung Die Geburt von Louise Brown, dem ersten „Retortenbaby“, im Jahre 1978 lste eine kontroverse Debatte ber das Verhltnis von Ethik, konomie und Machbarkeit der Fortpflanzungsmedizin aus. Die Techniken der extrakorporalen Befruchtung (assistierte Reproduktionstechnologien; ART) gehren zwar heute zum akzeptierten und mittlerweile auch hufig angewandten Repertoire medizinischer Behandlung, dennoch tauchen Argumente der damaligen Debatte immer wieder, z. T. in neuer Gestalt auf [1]. Viele Fragen sind nicht gelst, wie sich am prominentesten an der hohen Rate von Mehrlingsschwangerschaften, an der Kontroverse ber die Primplantationsdiagnostik (PID) und vor allem in Deutschland an der Diskussion um die selektive Embryokultur zeigt. Ziel dieses Beitrages ist es, die Reproduktionsmedizin und ihre Folgen unter dem Aspekt reproduktiver Gesundheit zu beleuchten. Hierbei erweisen sich drei Aspekte von besonderer Bedeutung: 1. das Verhltnis zwischen nachfrage- und angebotsinduzierter Ausweitung der Reproduktionsmedizin; 2. die Definition von Behandlungserfolg in der Reproduktionsmedizin sowie 3. Risiken der Reproduktionsmedizin und neue Behandlungsoptionen. Gerade weil sich ein zentrales Thema der Reproduktionsmedizin (das Verbot der selektiven Blastozystenkultur) aufgrund einer speziellen Gesetzeslage heute in Deutschland zu einem Konflikt zwischen juristischen Normen und Patientenperspektive zu entwickeln droht, sind Gesundheitswissenschaften und Public Health dazu aufgerufen (und prdestiniert), die Komplexitt dieser Thematik nachzuzeichnen und Lsungsstrategien zur Diskussion zu stellen. Methode Eine Literaturrecherche sollte einen berblick zum Stand der Reproduktionsmedizin unter epidemiologischen, medizintechnischen und – fokussiert auf Deutschland – unter ethisch-juristischen Aspekten verschaffen. Als ein wesentliches Kriterium der Literaturauswahl diente der Begriff der „reproduktiven Gesundheit“. In internationalen Zeitschriftendatenbanken tauchen nur wenige Beitrge ber die spezielle Situation der Reproduktionsmedizin in Deutschland auf. Eine gezielte Recherche in PubMed mit den Suchwrtern „reproductive medicine“ AND „Germany“ ergab lediglich 23 Treffer (Stand: Mai 2005). Es werden in diesen Beitrgen hauptschlich Fragen des Embryonenschutzes (Embryonenschutzgesetz), der PID und daraus resultierend Fragen einer speziellen „deutschen Ethik“ behandelt. Die nicht in englischsprachigen Datenbanken verzeichneten deutschsprachigen Zeitschriften (Reproduktionsmedizin; Fertilitt) wurden ab 1995 bis heute auf Beitrge zu ethischen Problemen der Reproduktionsmedizin, zur Bevlkerungsentwicklung sowie auf Kommentare zur Gesetzgebung durchsucht. Dabei fllt auf, dass Beitrge ber die deutsche Dilemmasituation in der Reproduktionsmedizin in der Mehrzahl erst nach dem Jahre 2000 auftauchen. Von 32 zum Thema passenden Beitrgen befassen sich 8 mit ethischen Fragen zur Reproduktionsmedizin, jeweils 7 bzw. 6 behandeln die Kinderwunschbehandlung in Deutschland und das Reproduktionsverhalten kinderloser Paare. Der Rest betrifft rechtliche Fragen (4 Beitrge), die PID (3) sowie das Embryonenschutzgesetz (2), das Alter der Frau (1) und die Lebenszufriedenheit nach Kinderwunschbehandlung (1). Zum besseren Verstndnis und zur kritischen Beleuchtung der genannten Themen, besonders zur Frage des Erfolgs in der Reproduktionsmedizin und zu den Ergebnissen der selektiven Blastozystenkultur, haben wir internationale Studien herangezogen. Wir beschrnkten uns dabei auf neue empirische Arbeiten aus Peer-review-Zeitschriften. Ergebnisse Die (technisch orientierte) Reproduktionsmedizin erffnet durch einen progressiven Gesundheitsbegriff kinderlosen Paaren das Recht bzw. einen Anspruch auf ein Kind. In Anlehnung an die WHO definiert die European Society for Human Reproduction and Embryology [2, 3] reproduktive Gesundheit als: „state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity, in all matters relating to the reproductive system and to its functions and processes“. Damit kann ein ungewollt kinderloses Paar den Vorteil einer Krankheitsdefinition – im Sinne einer Entlastung – fr sich reklamieren. Potenzial und Grenzen dieses Gesundheitsbegriffs zeigen sich im Zusammenspiel von (1) Bevlkerungswachstum und Behandlungsangeboten, Michelmann H, Himmel W. Reproduktionsmedizin in Deutschland … Gesundheitswesen 2005; 67: 605 – 612 (2) Definition des Behandlungserfolgs bei Kinderlosigkeit sowie (3) neuen Behandlungsoptionen und ethisch-juristischen Konfliktlagen. Bevlkerungswachstum und Behandlungsangebote bei Kinderlosigkeit Frauen der Geburtsjahrgnge 1935 – 1945 blieben in Deutschland zu ca. 10 % kinderlos. In den folgenden Jahrzehnten steigt der Anteil kinderloser (verheirateter) Frauen bzw. Paare stetig auf mittlerweile fast 30 % (Abb. 1). Bemerkenswert ist die extrem ungleiche Entwicklung von DDR und Bundesrepublik und die Parallelitt der Entwicklung beider Staaten nach 1989 (abzulesen an den Geburtsjahrgngen 1960 ff.). Parallel zum Rckgang der Kinderzahl entwickelten sich immer mehr Mglichkeiten, Paare mit ungewollter Kinderlosigkeit (= Paare, die bei bestehendem Kinderwunsch nach einer zweijhrigen Periode ungeschtzten Geschlechtsverkehrs keine Schwangerschaft erzielt hatten) zu behandeln. Mit der Palette der Reproduktionstechniken wuchs auch die Zahl der Reproduktionszentren oder -kliniken in Deutschland sowie die Zahl Sterilitt bzw. Infertilitt als ffentlichkeitswirksames Thema gesellte sich etwa ab den 80er-Jahren zu der Debatte um die Ursachen von Kinderlosigkeit – zeitgleich zu den sich rasant und spektakulr entwickelnden Mglichkeiten ihrer Behandlung [8]. Zunehmend deutlicher und hufiger trat auch die seelische Belastung durch ungewollte Kinderlosigkeit ins ffentliche Bewusstsein und fhrte in Deutschland z. B. zur Einrichtung eines Forschungsschwerpunktes zu den psychologischen Folgen ungewollter Kinderlosigkeit [9]. Vermutlich infolge der technischen Entwicklungen und des gleichzeitigen Versuches einer Enttabuisierung ungewollter Kinderlosigkeit wurde die Rate ungewollter Kinderlosigkeit teilweise stark berschtzt. Heute gelten 10 – 15 % aller Paare als ungewollt kinderlos [10]. Dieser Schtzwert genießt aber nicht allgemeine Zustimmung. Eine schottische Untersuchung kommt auf nur 7 % ungewollt kinderlose Paare [11]. Nach Brhler u. Stbel-Richter [12] liegt fr Deutschland der Anteil kinderloser Paare zwischen 3 % und 4 %. Diese Diskrepanzen sind u. a. darin begrndet, dass man bei kinderlosen Paaren zwischen temporrer und dauerhafter Kinderlosigkeit unterscheiden muss. Paare mit temporrer Sterilitt stellen das Klientel in der Reproduktionsmedizin und fließen deshalb auch in die Schtzwerte mit ein, whrend fr demografische Erhebungen nur Paare mit dauerhafter Kinderlosigkeit gezhlt werden. Aber selbst eine Quote von wenigen Prozenten ungewollter Kinderlosigkeit wre immer noch ein relevantes Gesundheitsproblem – fr die betroffenen Paare allemal, aber auch fr die Gesundheitswissenschaften. Abb. 1 Anteil kinderloser verheirateter Frauen, nach Geburtsjahrgang ([42]; Dobrik, pers. Kommunikation 2004). 35 % Westdeutschland 30 Ostdeutschland 25 20 15 10 5 Geburtsjahrgang 0 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 Michelmann H, Himmel W. Reproduktionsmedizin in Deutschland … Gesundheitswesen 2005; 67: 605 – 612 Originalarbeit Neben den soziologisch verorteten, oft spekulativ diskutierten Grnden dieser Entwicklung, wie z. B. staatlich missglckte Familienpolitik oder Egoismus [4], hat sich ein biologisch eindeutiger Zusammenhang zwischen Alter und abnehmender Fruchtbarkeit der Frau durch das deutlich gestiegene Erstgravidittsalter bzw. den aufgeschobenen Kinderwunsch besonders in den letzten Jahrzehnten demografisch bemerkbar gemacht [5]: Noch im Jahr 1970 lag das Durchschnittsalter der Erstgebrenden bei 24,3 Jahren und stieg bis zur Jahrtausendwende auf 29 Jahre. Der Effekt des Alters auf die weibliche Fruchtbarkeit ist in erster Linie auf zytoplasmatische und chromosomale Abnormitten in der lteren Oozyte zurckzufhren. In einer Untersuchung mit Hilfe der PID zeigten sich bei 63 % der Embryonen von 36- bis 37-jhrigen Frauen chromosomale Aberrationen und sogar bei 81 % der Embryonen von 43-jhrigen Frauen [6]. der Behandlungen [7]. In den letzten 25 Jahren haben sich die In-vitro-Fertilisation (IVF) und die intrazytoplasmatische Spermatozoeninjektion (ICSI) als Substitutionstherapie bei Kinderlosigkeit durchgesetzt; 28 058 IVF- und 52 376 ICSI-Behandlungen wurden in Deutschland im Jahre 2003 in ber 110 Kliniken bzw. gynkologischen Praxen durchgefhrt (Abb. 2). Diese Verfahren tragen immerhin zu ca. 2 % aller Geburten in Deutschland bei. 607 90 000 140 N N Anzahl IVF/ICSI-Behandlungen (y1) 80 000 Abb. 2 Entwicklung der IVF-Behandlungszentren und der IVF-Behandlungen (nach [17]). 120 Anzahl Behandlungszentren (y2) 70 000 100 60 000 50 000 80 40 000 60 30 000 40 20 000 Originalarbeit 608 20 10 000 0 0 1982 1985 1988 1991 1994 1997 Die Zunahme der Zahl ungewollt kinderloser Paare hat sicher auch mit einer Verschrfung der Definition von Kinderlosigkeit zu tun. So wird heute in der Reproduktionsmedizin blicherweise von ungewollter Kinderlosigkeit gesprochen, wenn bei bestehendem Kinderwunsch nach einem Jahr ungeschtzten Geschlechtsverkehrs keine Schwangerschaft eingetreten ist. Im Gegensatz dazu hlt die WHO immer noch am frheren Zeitfenster von 2 Jahren fest [13]. Die Vernderung des Zeitfensters zur Definition ungewollter Kinderlosigkeit verschiebt die Definition von Gesundheit. Automatisch erhht sich die Zahl von Paaren, die – zumindest zeitweilig – zur Gruppe der „Kranken“ gehren. Doch nicht wenige Paare werden aber selbst nach 2 oder mehr Jahren erfolgloser Bemhungen in spterer Zeit ein Kind bekommen: ohne Behandlung. Der Prventionsgedanke – nmlich mglichst umgehend Ursachen und Behandlungsmglichkeiten fr einen noch nicht realisierten Kinderwunsch zu finden – impliziert eine frhzeitige Krankheitsdefinition und wird einen Teil der Paare veranlassen, auf ein natrlich gezeugtes Kind zu verzichten und sich den z. T. erheblichen Belastungen und Risiken der Reproduktionsmedizin auszusetzen [14]. Erfolg – und Risiko – in der Kinderwunschbehandlung Die Frage, was Erfolg sei, wird in der Reproduktionsmedizin unterschiedlich beantwortet. Aus medizinischer Sicht ist Erfolg zunchst die aufgrund von IVF/ICSI eingetretene klinische Schwangerschaft (= positive Herzaktion im Ultraschallbild), wobei Schwangerschaftsraten von derzeit ca. 28 % pro Embryotransfer, technisch gesehen, allemal ein großer Erfolg sind. Die fr Patienten einzig relevante Zahl, die Wahrscheinlichkeit einer Geburt pro Behandlungszyklus (Baby-take-home-Rate) liegt deutlich niedriger [15]: unter 20 % (Tab. 1). Anders formuliert: Entscheiden sich Mann und Frau fr eine IVF- oder ICSIBehandlung, mssen sie wissen, dass sie mit ber 80 % Wahrscheinlichkeit beim ersten Versuch keinen Erfolg haben und sie hufig eine Serie von Behandlungszyklen erwartet – und auch dann ohne Erfolgsgarantie. In den letzten Jahren sind mgliche Risiken der IVF- und ICSI-Behandlung fr die entstehenden Kinder diskutiert worden, ohne dass bis vor kurzem verbindliche Aussagen mglich waren [16]. 2000 2003 Tab. 1 Anzahl Geburten pro Anzahl der durchgefhrten Behandlungen (Baby-take-home-Rate) Baby-take-home-Rate pro Behandlungszyklus1 1 Jahr IVF % ICSI % 1998 13,6 15,1 1999 14,7 16,1 2000 14,8 17,1 2001 15,7 17,9 2002 17,5 19,8 auf Basis des DIR [17] Zwar ist eine hhere Rate an Missbildungen nach ART zweifelsfrei belegt, doch gelang es aufgrund der Stichproben in den bisherigen Studien nicht, die Missbildungen eindeutig und ausreichend differenziert auf das Verfahren selbst oder aber auf externe Faktoren (confounders), wie z. B. Alter der Mutter oder Mehrlingsschwangerschaften, zurckzufhren und gegeneinander abzugrenzen. Nun hat gerade eine niederlndische Arbeitsgruppe einen systematischen Review vorgelegt, in dem sie ausschließlich die Gesundheit von Einlingen mit oder ohne Reproduktionsbehandlung untersuchte [1]. Das Risiko fr Frhgeburten nach ART war – im Vergleich zur natrlichen Empfngnis – mehr als 2fach und die perinatale Sterblichkeit 1,7fach erhht. Seit Beginn der modernen ART mit IVF und ICSI besteht Konsens darber, dass Mehrlingsschwangerschaften ein Risiko – schrfer formuliert: ein unerwnschtes Ergebnis – von ART sind. Whrend die „natrliche“ Rate fr Zwillinge bei 1,2 % und fr Drillinge bei 0,013 % liegt, haben Frauen gemß des Deutschen IVF-Registers (DIR) [17] nach dem Transfer von 3 Embryonen ein Zwillingsrisiko von 26,7 % und Drillingsrisiko von 5,8 % (Frauen ber 35 Jahren 21,0 % und 1,3 %). Diese sehr hohen Mehrlingsraten kommen dadurch zustande, dass blicherweise bei ART 2, oft auch 3 Embryonen transferiert werden, um die Baby-take-home-Rate einigermaßen hoch zu halten. Durch die Reduzierung der Zahl bertragener Embryonen von 3 auf Michelmann H, Himmel W. Reproduktionsmedizin in Deutschland … Gesundheitswesen 2005; 67: 605 – 612 2 nimmt zwar die Schwangerschaftsrate bei Frauen unter 35 Jahren nur unwesentlich von 32,0 % auf 31,4 % ab, doch bleibt die Mehrlingsrate zwischen 20 % und 35 % unakzeptabel hoch [2, 17]. Nur wenn ein Embryo bertragen wird, ist das Zwillingsrisiko fast ausgeschlossen, dann aber halbiert sich fast die Schwangerschaftsrate und die Baby-take-home-Rate sinkt sogar auf unter 10 %. Erfolg in der Reproduktionsmedizin sollte sich auch in der Lebensqualitt kinderloser Paare zeigen. Die ist nicht automatisch durch die Herbeifhrung einer Schwangerschaft und Geburt ei- Zähler Schlecht Gut Follikel Zahl E2-Wert; späte Follikelphase Anzahl gewonnener Eizellen Befruchtungsrate Anz. sehr guter Embryonen Implantation Schwangerschaft Weiterführende Schwangerschaft Lebendgeburt Geburt am Termin Einlingsgeburt am Termin Altes Paradigma Neues Paradigma Nenner Schlecht Durchführung des Embryotransfers Anz. transferierter Embryonen Eizellgewinnung Begonnener Zyklus Begonnene Behandlung (ggf. mehrere Behandlungszyklen) Gut Vorgegebene Zeitspanne } Abb. 3 Bewertung des Erfolgs einer IVF-/ICSI-Behandlung: hin zum optimalen Zhler und Nenner (nach [19]). Neue Behandlungsoptionen und ethisch-juristische Probleme Die Diskussion ber eine vernderte Definition von „Erfolg“ korreliert mit der Diskussion ber einen Blastozystentransfer am Tag 5 nach Befruchtung statt eines frhen Transfers von 4- bis 8-Zellern am Tag 3 (Abb. 4). Durch eine In-vitro-Kultur aller befruchteten Eizellen bis in das Stadium der expandierten Blastozysten (Tag 5) knnen diejenigen Embryonen erkannt werden, die in der Lage sind, das Blastozystenstadium zu erreichen und deshalb gute Chancen haben, sich zu implantieren [23]. Dieses Erkennen ist am Tag 3 der frhembryonalen Entwicklung nicht mglich. Es besteht nur eine geringe Korrelation zwischen der Morphologie dieser Embryonen und ihrer Fhigkeit, bis zur Blastozyste weiterzuwachsen [24, 25]. Logischerweise schließt der Transfer nur einer Blastozyste Mehrlingsschwangerschaften weitgehend aus; strittig ist dagegen, ob dieses Verfahren zugleich die Schwangerschaftsrate verbessert – im Vergleich zum Transfer von 2 oder mehr unselektierten Embryonen am Tag 2 oder 3. Die Arbeitsgruppen um Gardner [26, 27] und Schwarzler [28] konnten nach Blastozystentransfer hhere Schwangerschaftsraten bzw. Geburten als nach herkmmlichen Transfers zeigen. Andere Arbeitsgruppen konnten diese Ergebnisse nicht besttigen [29]; auch ein Cochrane-Review [30] kann zumindest bisher einen statistisch signifikanten Vorteil des Blastozystentransfers nicht erkennen; eine fr das Jahr 2005 geplante berarbeitung dieses Reviews soll zu keinem anderen Ergebnis kommen (Blake, persnliche Mitteilung). Dies ist u. a. darauf zurckzufhren, dass in den Cochrane-Review auch Studien eingeflossen sind, in denen eine Blastozystenkultur ohne sequenzielle Medien durchgefhrt wurde. Da der wachsende Embryo in unterschiedlichen Entwicklungsstadien unterschiedliche Bedrfnisse an das Medium stellt [31], knnte der zuknftige Einsatz ausschließlich sequenzieller Medien (als Goldstandard) – zusammen mit dem Angebot einer Blastozystenkultur ausschließlich an bestimmte Patientengruppen – den biologisch plausiblen Vorteil dieses Verfahrens tatschlich auch klinisch realisieren. Obwohl der Blastozystentransfer in jedem Fall die Mehrlingsschwangerschaften begrenzt und – so vermuten viele Experten – in den nchsten Jahren auch seine berlegenheit in der Schwangerschaftsrate zeigen drfte, kann dieses Verfahren in Deutschland nicht zur Anwendung kommen, nicht einmal wissenschaftlich untersucht werden [32]. Das Embryonenschutzgesetz (EschG), gltig seit 1990, untersagt einen Transfer von mehr als 3 Embryonen und eine Kultur von mehr Embryonen als bertragen werden sollen („Dreierregel“). Dadurch besteht fr das Laborpersonal die Pflicht, aus allen befruchteten Eizellen (= Vorkernstadien) maximal 3 zur Weiterkultur auszuwhlen und alle anderen zu verwerfen oder zu kryokonservieren. Da es im Vorkernstadium unmglich ist, diejenigen Zygoten zu erkennen, die die Entwicklungspotenz haben, sich zu implantieren und eine Schwangerschaft zu initiieren, werden fast immer Michelmann H, Himmel W. Reproduktionsmedizin in Deutschland … Gesundheitswesen 2005; 67: 605 – 612 Originalarbeit In den letzten Jahren hat die Diskussion ber den Erfolg der Kinderwunschbehandlung international eine neue Richtung genommen. Als patientenbezogenes Outcome propagieren Min et al. [18] den gesunden, das heißt vor allem nicht frhzeitig geborenen Einling. Unter strikter Anwendung dieses Kriteriums wird der Erfolg von ART noch einmal deutlich geschmlert: auf ca. 10 % pro Behandlungszyklus. Dieser Ansatz wird von der niederlndischen Arbeitsgruppe um Heijnen [19] akzeptiert, aber dahingehend modifiziert, dass die Bezugsgrße fr die Berechnung der Erfolgsquote nicht mehr der einzelne Behandlungszyklus ist, sondern eine Serie von Behandlungen (wie sie Paare blicherweise durchlaufen) oder ein vorab definiertes Zeitfenster (mit ggf. mehreren Behandlungszyklen) [20]. Dieser Vorschlag zielt weniger darauf ab, die Erfolgsraten „schnzurechnen“, als vielmehr den Druck von Klinikern zu nehmen, pro Behandlungszyklus gute Erfolge zu haben und daher hufig „aggressiv“ zu stimulieren – mit erheblichen Nebenwirkungen fr die Frau und hufigen Behandlungsabbrchen [19, 21]. Abb. 3 zeigt, wie dieses neue Paradigma sinnvoll Outcomes („Zhler“) und Bezugsgrßen („Nenner“) fr die Berechnung einer realistischen und fr Patienten und rzte bedeutsamen Erfolgsrate von ART auswhlt. nes Kindes sichergestellt. Manchmal hat selbst eine erfolgreiche ART die gegenteilige Wirkung, worauf Hlzle et al. [22] in ihren Untersuchungen zum Verlauf von Sterilittsbehandlungen aufmerksam machen. 609 Originalarbeit 610 Abb. 4 Primplantatorische Embryonalentwicklung beim Menschen. nach zwei- bis dreitgiger Kultur mindestens 2 Embryonen in der Hoffnung bertragen, dass wenigstens einer sich implantieren und zu einer Schwangerschaft bis zur Geburt fhren wird. Auch ist eine genetische Diagnose der entstandenen Embryonen durch die PID nicht erlaubt [33]. Diskussion In der Behandlung der ungewollten Kinderlosigkeit vermischen sich demografische Entwicklung, technologische Innovationen, eine gestiegene Aufmerksamkeit gegenber Gesundheitsbedrfnissen und ethisch-juristische Normen. Bislang unangetastete („natrliche“) Vorgnge ffnen sich biotechnischer Verfgbarkeit. Das kann man als moralisches Risiko, aber auch als therapeutische Chance sehen [34]. Auseinandersetzungen um das anthropologische Leitbild der Medizin und die dadurch entstehenden ethischen Konflikte sind im Kontext einer Public-Health-Perspektive [8] leichter zu systematisieren: 1. Die nderung des reproduktiven Verhaltens in fast allen Industrienationen hat nicht nur zu einem Rckgang der Kinderzahl gefhrt, auch das Alter bei Erstgraviditt hat sich deutlich nach oben verschoben, womit automatisch ein altersbedingter Rckgang der Fertilitt verbunden ist. 2. Parallel dazu haben sich die ART entwickelt und in immer mehr Kliniken und Praxen etabliert. Es ist wohl kein Zufall, dass eine erweiterte Definition ungewollter Kinderlosigkeit und eine starke ffentliche Diskussion dieser Thematik – unter demografischen und psychologischen Vorzeichen – den potenziellen Empfngerkreis fr diese Techniken erheblich vergrßerten. Hierin spiegelt sich unserer Meinung nach weniger das Gebot reproduktiver Gesundheit wider als vielmehr die Frderung und Gestaltung von Gesundheitsbedrfnissen durch die Angebotsseite. 3. Gegenber den zweifellos großen Erfolgen der ART werden zwei Aspekte hufig nicht wahrgenommen oder bisher fast nur intern diskutiert: – der vergleichsweise geringe Erfolg des Verfahrens pro Behandlungszyklus, der viele Paare einer mehrfachen Behandlung mit vielfltigen seelischen Belastungen, z. T. krperlichen Risiken und hohen Kosten aussetzt; – die nicht akzeptabel hohe Rate von Mehrlingsschwangerschaften. Insoweit die ART fr ein bestimmtes Patientenkollektiv die einzige Mglichkeit darstellen, zu einem eigenen Kind zu kommen, sollten im Interesse der Patienten beide Aspekte entschrft und Lsungen gefunden werden. Michelmann H, Himmel W. Reproduktionsmedizin in Deutschland … Gesundheitswesen 2005; 67: 605 – 612 Aus dieser vielfltigen Konfliktsituation heraus, die gleichermaßen Patienten, rzte und ffentlichkeit bzw. Gesetzgeber vor schwierige Entscheidungen stellt, bieten sich folgende Empfehlungen an: – In Anbetracht der in Deutschland vergleichsweise geringen Erfolgsraten der Reproduktionsmedizin ist eine offenere Information und Diskussion mit Paaren whrend einer Kinderwunschbehandlung ntig, zumal die mittlerweile zahlreichen Erlebensberichte [36 – 38], insbesondere von Frauen whrend der Behandlung, die Gefahr deutlich machen, dass es zu einer Fixierung auf die technischen Krpervorgnge kommt – mit der Bereitschaft, immer wieder neue Behandlungszyklen auf sich zu nehmen und dem Verzicht selbst auf gedankliche Alternativen. Hier wre eine begleitende Beratung, auch ber Risiken und Belastungen, durch den niedergelassenen Gynkologen oder den Hausarzt hilfreich [39]. Dann wrde auch die manchmal pauschal geußerte Kritik, dass die moderne Reproduktionsmedizin die Kinderlosigkeit nur auf anatomisch-physiologische Fehlfunktionen beschrnkt, hinfllig werden. – Wnschenswert ist weiterhin eine Diskussion darber, ob nicht die hohen Raten an Mehrlingsschwangerschaften und eine vergleichsweise geringe Erfolgsquote die Zulassung, zumindest aber wissenschaftliche Untersuchung eines Verfahrens erfordert, das die Mehrlingsrate signifikant senkt, dabei aber die Baby-take-home-Rate steigert [40]. Statt sich hinter ein mittlerweile ber 10 Jahre altes Gesetz zu stellen, sind Lsungen fr die Dilemmasituation der deutschen Reproduktionsmedizin gefragt. – Ein Lsungsweg knnte die selektive Blastozystenkultur sein, d. h. die natrliche Selektion qualitativ schlechter Embryonen whrend einer In-vitro-Kultur bis zur expandierten Blastozyste. Dazu wre eine nderung der „Dreierregel“ im EschG notwendig. Dies htte jedoch weitere Regelungen zur Folge, um die Schutzwrdigkeit des menschlichen Embryos zu erhalten. Dazu gehren die Zulassung der Kryokonservierung berzhliger Blastozysten und die Mglichkeit einer sog. prnatalen Adoption (Embryonenadoption). – Die derzeit in Deutschland praktizierten Verfahren der Kinderwunschbehandlung sind fr jene Paare erfolglos, bei denen es nicht zum Entstehen von Embryonen kommt. Die bertragung eines fremden Embryos im Rahmen einer prnatalen Adoption (Embryoadoption) gbe diesen Paaren gute Chancen auf eine Schwangerschaft. hnlich den Untersuchungen ber die Akzeptanz zur PID [41] wre von Bedeutung zu wissen, ob sich Patienten fr die selektive Blastozystenkultur mit Kryokonservierung oder eine eventuelle Embryoadoption entscheiden wrden. Schon heute existieren kryokonservierte „berzhlige“ Embryonen, die nicht mehr auf die Spenderin der Eizellen transferiert werden knnen. Deren Zahl wird noch ansteigen, wenn der Gesetzgeber sich zu einer Lockerung vom ESchG vorgegebener Restriktionen entschließen wrde. Die unbefriedigende Situation in Deutschland zwingt Paare zu der Entscheidung, entweder durch den Transfer von nur einem Embryo geringere Chancen fr eine Schwangerschaft und eventuell mehrere Behandlungszyklen zu haben oder aber ein erhhtes Mehrlingsrisiko in Kauf zu nehmen – das widerspricht dem Postulat reproduktiver Gesundheit. Literatur 1 Helmerhorst FM, Perquin DA, Donker D et al. Perinatal outcome of singletons and twins after assisted conception: a systematic review of controlled studies. BMJ 2004; 328: 261 2 ESHRE. Prevention of twin pregnancies after IVF/ICSI by single embryo transfer. ESHRE Campus Course Report. Hum Reprod 2001; 16: 790 – 800 3 Diczfalusy E, Crosignani PG. Introduction: from reproductive endocrinology to reproductive health. The short history of a new departure by ESHRE. European Society for Human Reproduction and Embryology. 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Dadurch sind neue Verfahren wie die selektive Blastozystenkultur, zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung kaum absehbar, heute juristisch ausgeschlossen. In dem Bestreben, den menschlichen Embryo zu schtzen, wurde die Chance vertan, Abwgungsmglichkeiten im Sinne einer vertretbaren Reproduktionstechnologie zuzulassen. IVF und ICSI sind Verfahren, die in einem quantitativ erheblichen Umfang zur Regelversorgung geworden sind, ohne aber fr die Beteiligten bisher nachvollziehbar geregelt worden zu sein. 611 19 Originalarbeit 612 Heijnen EM, Macklon NS, Fauser BC. What is the most relevant standard of success in assisted reproduction? The next step to improving outcomes of IVF: consider the whole treatment. Hum Reprod 2004; 19: 1936 – 1938 20 Daya S. Pitfalls in the design and analysis of efficacy trials in subfertility. Hum Reprod 2003; 18: 1005 – 1009 21 Olivius C, Friden B, Borg G et al. Why do couples discontinue in vitro fertilization treatment? A cohort study. 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