(Erweiterter) Suizid von Piloten: Faktenlage und

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(Erweiterter) Suizid von Piloten: Faktenlage und
(Erweiterter) Suizid von Piloten:
Faktenlage und Prävention
Unglaublich, unbekannt, unvorhersehbar?
27.03.2015 pf – Die Medien sind auf Overdrive, seit der ermittlungsleitende Staatsanwalt in
der Pressekonferenz am Morgen des 26. März die ersten Ergebnisse zur Auswertung des
Stimmenrekorders im Cockpit von Flug 4U9525 öffentlich machte. Seitdem scheint fest zu
stehen, dass der Copilot die Maschine in den französischen Alpen absichtlich zum Absturz
brachte.
Zweifellos ein Schock und schwer zu erklären, ganz sicher „unglaublich“ in einem tragischen
Sinne, aber sicher nicht „unbekannt“! Und ob „unvorhersehbar“, werden monatelange Ermittlungen zu klären haben. Voreilige Spekulationen verbieten sich an dieser Stelle.
Bleiben wir bei den Fakten
Was wissen wir über Suizid von Piloten bzw. erweiterten Suizid im Flugverkehr, also die Fälle,
in denen in einer Suizid-Handlung der Tod weiterer Personen an Bord mit in Kauf genommen
wird?
Da ist zum einen ein Bericht der US-amerikanischen Flugaufsichtsbehörde FAA vom Februar
2014 unter dem Titel „Aircraft-assisted pilot suicides in the United States, 2003-2012“, der
selbst wiederum die Folgestudie einer ersten Erhebung für die Dekade von 1993 bis 2002
darstellt.1

Im Untersuchungszeitraum werden 8 von 2.758 Abstürzen in den USA als Suizid-Handlungen eingestuft. In sieben dieser Fälle war der Pilot (Median Alter: 46 Jahre, alle
Fälle männlich) die einzige Person an Bord.

Bei vier Piloten fanden sich Alkoholrückstände im Blut, bei zweien Hinweise auf die
Einnahme von Antidepressiva.

Sechs der Piloten hatten vorher Aussagen zu persönlichen Problemen oder depressiver Verstimmung gemacht und alle verfügten über eine gültige Fluglizenz. Diesbezügliche Einschränkungen bei einigen von ihnen bezogen sich lediglich auf das Tragen von Kontaktlinsen.

In den beiden Fällen, in denen die Piloten therapeutische Begleitung wegen depressiver Episoden in Anspruch nahmen, war die Aufsichtsbehörde darüber nicht in Kenntnis gesetzt worden.
Die Autoren des Berichts weisen berechtigterweise darauf hin, dass mögliche Einschränkungen der Flugtauglichkeit durch die Aufsichtsbehörde es unwahrscheinlich machen, dass Sorgen über psychische Beschwerden und Belastungen offiziell adressiert werden und deshalb
– wenn überhaupt – nur den Weg in private Praxen und das allgemeine öffentliche Gesundheitssystem finden.
„Tragisch und extrem selten“
Auch wenn diese Schlussfolgerung der Autorengruppe berechtigt erscheint, gehen die Verfasser der zweiten Expertise, die im August 2014 im Fachmagazin „Aviation, Space, and Environmental Medicine“ veröffentlicht wurde, einen wesentlichen Schritt weiter!
Sie untersuchen einen deutlich längeren Zeitraum (1956 – 2012) und nehmen dabei einerseits die USA, Großbritannien, Deutschland und Finnland in den Blick und legen andererseits
einen besonderen Schwerpunkt auf den kommerziellen Luftverkehr, u.a.:

1
Silk Air MI 185 (19. Dezember 1997): 97 Opfer mit konkurrierenden Berichte US-amerikanischer und indonesischer Untersuchungsbehörden (keine Erwähnung eines
möglichen Suizids im indonesischen Bericht).
Russell J. Lewis, Estrella M. Forster, James E. Whinnery and Nicholas L. Webster (2014). Aircraft-Assisted
Pilot Suicides in the United States, 2003-2012. Report DOT/FAA/AM-14/2. Office of Aerospace Medicine:
Washington, DC 20591.
Das Phänomen „Aircraft-assisted suicide“ ist extrem selten, aber keinesfalls unbekannt.
Die Beratungspraxis im Bereich
Personalrisikomanagement
belegt, dass gesundheitliche
Probleme von Arbeitnehmern
wie psychische Beschwerden
und Belastungen im beruflichen Umfeld der Patienten nur
selten offiziell adressiert werden.
Spätestens nach dem tragischen Absturz von Flug 4U9525
werden Methoden, Verfahren
und Instrumente der Prävention derartiger Katastrophen
neu beurteilt und überarbeitet
werden müssen.

Mozambique Airlines TM 470 (29. November 2013: 33 Opfer). Die Folgerung der Verfasser wirkt im Licht der aktuellen Ereignisse fast prophetisch: „Dieser Vorfall trägt zur
Sorge um zukünftige Fälle erweiterten Suizids in zivilen Luftverkehr bei“ 2.

Weitere Fälle beziehen sich etwa auf den Absturz einer ägyptischen Passagiermaschine im Oktober 1999 vor der US-Ostküste (217 Opfer).
Auch diese Verfassergruppe bestätigt, was zu erwarten war. „Aircraft-assisted suicide“ (und
erst recht erweiterter Suizid durch Piloten) ist ein extrem seltenes Ereignis: in Deutschland
sprechen wir für den Zeitraum von 1974 – 2007 von 0,29 % der bekannten Flugzeugunfälle!
Ihr Ansprechpartner:
Doch die Autoren nehmen zusätzlich ein weiteres Feld in den Blick, wenn Sie Fragen der Suizidprävalenz, der Prävention und deren Rahmenbedingungen näher untersuchen:

Zwar geben nur etwa 20 % der Betroffenen Suizidgedanken gegenüber professionellen Helfern zu erkennen, aber kasuistische Daten deuten darauf hin, dass in Ihrem sozialen Umfeld häufig derartige Überlegungen manchmal bekannt, oft jedenfalls im
Nachhinein als plausibel eingeschätzt werden.

Fast 80 % der US-Militärpiloten, die einen Suizidversuch unternehmen, kehren danach
in den aktiven Dienst zurück.
Sowohl arbeitsrechtliche, wie klinisch-forensische Überlegungen deuten darauf hin, dass Suizidgedanken, gerade in Hochrisikoberufen, kaum - jedenfalls kaum systematisch - den Arbeitgeber und die entsprechenden Entscheidungsgremien erreichen.
Wenn dazu eine weitgehende Tabuisierung des Themas und eine nicht immer umfassende
Aufklärung der ohnehin kleinzahligen Vorfälle tritt (international durch interkulturell oder
religiös negativ geprägte Einstellungen zum Suizid noch zusätzlich gefördert), ergibt sich
eine explosive Mischung!
Was tun?
Was nicht berichtet und dokumentiert wird, existiert nicht
Es sollte zur Routine von Vorfällen gehören, auch eine umfassende (nicht nur die bekannten
letzten sechs Monate), interviewgestützte klinische Anamnese im Umfeld eines Betreffenden
durchzuführen: diese psychologische Autopsie ist ein zentraler Beitrag zur Unfallforschung,
der nach wie vor ein Schattendasein führt: „While coroners tend to be willing to assist with
studies associated with suicide, there is considerable variation among coroners in the extent
of information that is included in their records. Some relatively important items often are not
recorded, for example contact with psychiatric services, date of last contact with health care,
blood levels for drug overdoses, etc.” 3
Was nicht ausgewertet und begleitet wird, macht „Risiko-blind“
Statistisch gesehen, stellt der Umgang mit extrem seltenen Ereignissen Prognose und Prävention vor besondere Herausforderungen.
Suizidhandlungen im Straßenverkehr werden überwiegend mit Anteilen von 2-4 % aller Unfälle beschrieben. Einzelne Studien beschreiben seit den 1970er Jahren eine deutliche Zunahme derartiger Unfälle.
Berücksichtigt man außerdem, dass der Pilotenberuf als psychisch extrem belastend gilt,
ergäbe sich hieraus einerseits ein deutlich größeres Risikopotential, als bisher vermutet und
andererseits die Notwendigkeit für ein umfassendes Präventions- und Monitoring-Programm, bei denen die Airlines deutlich in klinisch-psychologische und psychiatrische Testund Trainingsressourcen investieren müssten – nicht etwa, weil die Personalauswahl schlecht
wäre. Ganz und gar nicht. Aber selbst der beste Flugsimulator ist nicht dafür entwickelt worden, Depressivität oder den Einfluss kritischer Lebensereignisse zu messen.
Bisher noch überhaupt nicht absehbar sind überdies die arbeitsrechtlichen Implikationen, die
ein solches Programm hervorrufen würde.
Sicher bleibt jedoch eines: die Fragen, die der Absturz von Flug 4U9525 in forensisch-psychologischer Perspektive hervorruft, werden so schnell nicht wieder verstummen!
2
„This […] accident […] adds to the concern of future accidents in commercial civil aviation carried out as
aircraft assisted suicide“ (Alpo Vuorio, Tanja Laukkala, Pooshan Navathe, Bruce Budowle, Anne Eyre and
Antti Sajantila, 2014: Aircraft-Assisted Pilot Suicides: Lessons to be learned. Aviation, Space, and Environmental Medicine, 85 (8): 843)
3 Vgl.
Vuorio et al., 2014: 844.
SECURITY. INTELLIGENCE. STRATEGY.
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Dr. Pantaleon Fassbender
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Dr. Pantaleon Fassbender ist Führungskräfteentwickler/Coach und
Experte für investigative Psychologie. Nach Promotion und wissenschaftlicher Tätigkeit ist er seit fast
20 Jahren als Unternehmensberater und psychologischer Krisenmanager für nationale und internationale Unternehmen tätig. In der
PROTEUS SECUR Consulting & Solutions GmbH ist er verantwortlich
für die Felder Investigative Psychologie und die psychologische Beratung von Krisenstäben.