Europäische Heilpflanzen in den Wandlungsphasen der TCM

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Europäische Heilpflanzen in den Wandlungsphasen der TCM
TCM
Anne Lohmann
Europäische Heilpflanzen
in den Wandlungsphasen der TCM
...alles andere als chinesisch!
Bei aller Besinnung auf die Schätze der westlichen Naturheilkunde geht es der Heilkunde heute wie der Menschheit insgesamt. Wir wachsen in ein Miteinander hinein,
in dem die Grenzen und Unterschiede in unserer Wahrnehmung zurücktreten und in
dem das Verbindende und das Gemeinsame bestimmend wird für unseren Umgang
miteinander und für unsere Zukunft. Gemeinsam war und ist allen Menschen zu allen Zeiten das Streben nach Heilung von Krankheit und Not und die immer wieder
neu zu realisierende Sehnsucht nach Ganzheit, Geborgenheit und Einklang mit den
Gesetzmäßigkeiten der Natur und des Lebens.
Das vielleicht größte Geschenk des Ostens
an den Westen in diesem Kontext ist das geniale Bezugssystem der Wandlungsphasen
und der Fünf Elemente. Die Synthese aus Philosophie, Religion und Medizin eröffnet uns im
Westen einen Horizont, schafft eine Verbindung von dem, was auch bei uns vielleicht nie
hätte getrennt werden sollen. Gepaart mit unendlich kluger Beobachtung und gesättigt mit
Jahrtausenden bestätigender Erfahrung ist
das System der Wandlungsphasen eine Kostbarkeit, die uns hilft, Mensch und Welt besser
zu verstehen. Sie hilft dem Therapeuten, den
Patienten zu der immer angestrebten Ganzheit sinnvoll und wirksam zu begleiten.
Die Erscheinungsformen des Lebens, das wir
nie als Ganzes, sondern immer nur bruchstückhaft in seinen Ausdrucksformen erkennen können, sind hier „sortiert“, so dass un-
ser Verstand und unsere Intuition aus den Einzelteilen ein Puzzle zusammenstellen können,
aus dem auch erkenntlich wird, was noch
fehlt.
Mir persönlich geht es so, dass auch Jahre
nach meiner Ausbildung in TCM und QiGong
das schlichte Lesen in den Wandlungsphasen
mich immer wieder begeistert, mir Aspekte
erhellt und mir hilft, Zusammenhänge herzustellen, die mir sonst entgangen wären. Vielleicht geht es Ihnen auch so, wenn Sie einen
Blick auf Tabelle 1 werfen, die einige Zuordnungen aus den Fünf Elementen darstellt.
Das Studium dieser Beziehungen ist eine unvergleichliche Hilfe, den Blick über den Tellerrand eines Symptoms auf den ganzen Menschen zu richten. Es ist ein senkrechtes Weltbild, das uns Brücken baut, dort wo man
sonst an therapeutische Grenzen stößt. Auch
Der ernährende Kreislauf
Der bändigende Kreislauf
Feuer
Holz
Holz
Erde
Wasser
Metall
Holz ist die Mutter vom Feuer
Feuer ist die Mutter der Erde
Erde ist die Mutter vom Metall
Metall ist die Mutter vom Wasser
Wasser ist die Mutter vom Holz
Erde
Wasser
Feuer
Holz bedeckt die Erde
Erde saugt das Wasser auf
Wasser löscht Feuer
Feuer schmilzt Metall
Metall zersägt Holz
Abb. 1: Der nährende und der bändigende Kreislauf der Fünf Elemente
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Metall
helfen die Wandlungsphasen, intuitive Verhaltensweisen des Menschen in ihrer tiefen Sinnhaftigkeit zu erfassen.
Ein Beispiel:
Eine 30-jährige Patientin mit chronisch-obstruktiver und asthmatoider Bronchitis beschreibt von sich „Ich habe ein riesiges Bedürfnis zu singen. Nur wenn ich im Chor singe, geht es mir wirklich gut. Und in die Kirche
gehe ich nur, weil ich dort regelmäßig und aus
vollem Herzen singen kann.“ – Was sollte ich
nach westlichem Anamneseverständnis mit
dieser Aussage anfangen? Wenn ich allerdings die Wandlungsphasen hinzuziehe, wird
deutlich: auf Grund biografischer, noch unbearbeiteter Ereignisse (Adoption, Trennung
von der Mutter, Vater unbekannt) trägt die Patientin eine tiefe Traurigkeit mit sich, die sich
in Schwächung von Lunge und Dickdarm äußert. Nach den Regeln der Hervorbringungssequenz nährt der Funktionskreis Erde den
Funktionskreis Metall. Die stimmliche Manifestation des Funktionskreises Erde ist das
Singen. Mit ihrem Gesang nährt die Patientin
den Funktionskreis Metall, stärkt also Lunge
und Dickdarm. Wenn sie eines Tages wird
weinen können, wenn es ihr gelingt, sich ihre
tiefe Traurigkeit bewusst zu machen und aufzulösen und als Teil ihrer einzigartigen Geschichte konstruktiv in ihr Leben zu integrieren, dann wird sich die Notwendigkeit zum
Gesang lösen können und in eine Freude am
Gesang wandeln.
Wie kann nun die Integration dieser Erkenntnisse in die eigene Arbeit auf der
Basis der abendländischen Heilkunde
gelingen?
Es kann ja nicht Sinn der Sache sein, dass wir
versuchen, durch Studium von Akupunktur,
QiGong, chinesischer Diätetik, chinesischer
Pflanzenheilkunde und Tuina-Massage die
besseren TCM-Therapeuten zu werden. Dazu
fehlen uns letztlich die geografische, die botanische und die kulturelle Einbettung in das
im Osten gewachsene System. Überdies ist
ein schlichtes Beobachten der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Strukturen im
Osten und im Westen geeignet, um zu erfassen, dass es auch bei uns offensichtlich Werte gibt, in denen der Westen dem Osten voraus ist. Unsere Gesellschaftsordnung ist geprägt von einer humanistischen Philosophie
und Weltanschauung, die sich an den Interes-
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TCM
Tab. 1: Einige Zuordnungen aus den Fünf Elementen
Holz
Feuer
Erde
Metall
Wasser
Funktionskreise
Leber
Gallenblase
Herz
Dünndarm
Milz-Pankreas
Magen
Lunge
Dickdarm
Niere
Blase
Regierte
Körperteile
Muskeln
Sehnen
Blutgefäße
Fleisch
Haut
Knochen,
Zähne,
Nerven
Körperliche
Ausdrucksform
Nägel
Nagelbett
Teint
Lippen
Körperhaar
Haupthaar
Sinnesorgan
Auge
Zunge
Zunge
Nase
Ohr
Sinnesfunktion
Sehen
Sprechen
Schmecken
Riechen
Hören
Körperöffnung
Augen
Ohren
Mund
Nase
Hören
Körperflüssigkeiten
Tränen
Schweiß
(Bauch-)
Speichel
Nasenschleim
Urin, Stuhl
Emotion
Ärger, Wut
Freude,
Lust
Nachdenken /
Sympathie
Trauer,
Sorge,
Kummer
Furcht /
Schreckhaftigkeit
Stimmliche
Manifestation
Schreien /
Rufen
Lachen
Singen
Weinen
Stöhnen
Tugend
Güte
Sittlichkeit
Vertrauen,
Heiligkeit
Redlichkeit,
Gerechtigkeit
Weisheit
Zum ersten die bewährten Indikationen der
Pflanzenheilkunde, die nach erkranktem Organ und organstärkender und -heilender Pflanze fragen. Dann die Möglichkeit der wesensgemäßen Pflanzenheilkunde, die darüber hinaus den Charakter und die innere Art von
Pflanze und Mensch in Übereinstimmung zu
bringen sucht. Das Bezugssystem der TCM
erschließt darüber hinaus noch weitere Möglichkeiten.
Einige Beispiele:
Die Mariendistel Wandlungsphase Holz
Fähigkeit
zur
Kontrolle
zur Trauer
Hartnäckigkeit
(Aufstoßen)
Ungewolltes ausscheiden
(Husten)
Spannung
loslassen
(Zittern)
Geschmack
Saures
Bitteres
Süßes
Scharfes
Salziges
Tageszeit
Früher
Morgen
Mittag
Früher
Nachmittag
Früher
Abend
Mitternacht
Jahreszeit
Frühling
Sommer
Spätsommer
Herbst
Winter
Klima
Wind
Hitze
Feuchtigkeit
Trockenheit
Kälte
Himmelsrichtung
Osten
Süden
Zentrum
Westen
Norden
Lebensalter
Pubertät
junger Erwachsener
gereifter
Erwachsener
Alter
Kindheit
Farbe
blau-grün
rot
gelb
weiß
schwarz
Pflanzen
Taraxac.
Carduus
Cynara
Rosmarin
Calendula
Crataegus
Avena sat.
Urtica
Millefolium
Glechoma
Plantago
Sambucus
Solidago
Betula
Bursa
pastoris
sen, den Werten, der Würde und Freiheit des
Einzelnen orientiert. Dies wirkt über Politik und
Gesellschaft hinaus selbstverständlich bis in
die Medizin hinein. Der Respekt vor der Person und die Bereitschaft den Menschen und
Patienten in seinem Person-Sein zu erkennen
und zur Ausprägung seiner Einzigartigkeit hin
zu fördern, bedeutet und bedingt, den Menschen als ein offenes System zu betrachten.
Nur er selbst kann letztlich in sich finden, was
sein Sinn und seine Bestimmung ist – seinen
ganz persönlicher Beitrag zur Welt.
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kunde schafft schon an sich eine Hinwendung
zum Kosmos, vertieft die Einbettung und Anbindung an die Göttliche Ordnung. Der
Mensch, der auf der Suche nach Heilung die
Natur studiert, der in die Wälder geht und „seine“ Pflanze sucht, verbindet sich neu mit der
Erde und mit allem, was auf ihr lebt. Der Gang
in die Apotheke erleichtert uns dies heute vermeintlich, aber er nimmt uns dabei auch eine
vielleicht essenzielle Qualität. Wenn wir jedenfalls „unsere“ Pflanzen wieder einsetzen, nach
den in Jahrhunderten gefundenen Wirkungen,
so gibt es dafür verschiedene Bezugssysteme.
Inbegriff unserer Leberheilpflanzen ist Carduus marianus, die Mariendistel. Sie wirkt hepatoprotektiv, stimuliert die Leberzellregeneration und lindert funktionelle Gallebeschwerden.
In der Ganzheitlichen Pflanzenheilkunde ist sie
die Pflanze für Abgrenzung, Schutz und Individualität. Der Wandlungsphase Holz zugeordnet sind die Funktionskreise Leber und Gallenblase. Als Jahreszeit entspricht ihnen der
Frühling, als Lebensalter die Pubertät. Die Pubertät ist die Zeit, in der der Mensch sich aus
der Einheit mit dem Elternhaus löst und mit jugendlichem Sturm und Drang eine eigene Individualität erobert. Wenn dieser Prozess ge-
Es geht also nicht darum, sich
perfekt in ein bestehendes System
zu fügen.
Sondern es geht darum, das System der Gesetzmäßigkeit des Lebendigen zu kennen, zu
achten und zu nutzen, um neues Leben daraus hervorzubringen.
Damit ergänzen sich die abendländische und
die ganzheitliche Pflanzenheilkunde auf wunderbarste Weise. Die Uridee der Pflanzenheil-
Abb. 2: Die Mariendistel
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TCM
stört ist oder durch zu starke Kontrolle, zu
große Verantwortung oder durch Traumata unterbrochen wird, muss die Findung der eigenen Individualität im späteren Leben nachgeholt werden. Solche Menschen verschwimmen mit ihrem Umfeld und werden als Person
nicht erkennbar, oder sie zeichnen sich aus
durch übergroße Abgrenzungsnotwendigkeit
mit Reizbarkeit, Intoleranz und Zorn. Carduus
marianus hilft Versäumtes nachzuholen. Es
vermittelt die Fähigkeit zur Selbstkontrolle.
Aus der Gelassenheit und aus der Stärkung
der eigenen Individualität wächst die Tugend,
Andere und Anderes mit Güte betrachten und
lassen zu können.
Der Weißdorn Wandlungsphase Feuer
Weißdorn ist in der abendländischen Medizin
das universelle Herzmittel. Die aktuelle phar-
positiv inotrop und negativ
bathmotrop. In der GanzheitliAnne Lohmann
chen Pflanzenheilkunde steht
ist seit neun Jahren Heilpraktikerin
die Impulshaftigkeit der Pflanin eigener Praxis mit den Theraze im Mittelpunkt; ihre Fähigpieschwerpunkten Ganzheitliche
keit zur Auflösung auch von
Pflanzenheilkunde, Ernährungsbeemotionalen Stauungen und ihr
ratung, Haptonomie, Qigong
Yangsheng, Psychosomatische
Bezug zu Herzensqualitäten
Medizin und Reflexzonentherapie.
von Weichheit, Zuneigung, VerAußerdem ist sie als Referentin für
trauen und Liebesfähigkeit. Die
Ganzheitliche Pflanzenheilkunde
Wandlungsphase Feuer enttätig. Ziel ihrer Arbeit ist die Anrespricht dem Lebensalter des
gung der Selbstheilungskräfte
jungen Erwachsenen. Es ist die
über die Wege der Ernährung, Berührung, Bewegung, die
Zeit, in der die Lehrjahre schon
Heilpflanze und das Gespräch.
bewältigt sind, aber noch nicht
Kontakt:
die volle Verantwortung für FaErnst-Menne-Weg 6, D-57072 Siegen
milie und Lebensaufgabe übernommen werden muss. Eine
wichtige Zeit, die wenn sie genossen und ausgekostet werden kann, seelische Kraft aufbaut, von der das ganze weitere Leben gezehrt werden kann. Ein zauberhaftes Beispiel für einen gut verlaufenden Prozess in diesem Sinne ist das aktuelle Buch von
Christian Siry: „Traum und Erwachen – eine
Seelenreise auf dem Jakobsweg“. Wohl kein
Zufall, dass dieser junge Wanderer auf seinem
Weg einen Weißdornstab als Wanderstab benutzt!
Unsere Zeit begünstigt diese Seelenphase
nicht. Mittzwanziger sind entweder schon voll
im Beruf oder in überaus stressgeprägten Studienabschlüssen und im Wettbewerb um die
weniger werdenden freien Stellen. Die Wanderjahre sind aus unserer Kultur verschwunden. Nur konsequent, dass damit auch das Lachen, die Freude, die Lust weniger wird, dass
Bitterkeit und Verbissenheit, Stresserkrankungen, Burnout-Syndrome und farblos-grau wirkende Menschen zunehmen. Das Fehlen an
Lebenswärme in unserer Kultur nimmt am
deutlichsten wahr, wer von außen hinzukommt. So beschrieb mir ein iranischer Patient seine Ankunft in Deutschland damit, dass
er zunächst geblendet war von all den Möglichkeiten, der Perfektion, der Fülle, der
Schönheit der materiellen Welt, in der wir leben. Nach einigen Monaten allerdings wurde
ihm schockartig klar, dass verglichen mit seiner Kultur das Miteinander der Menschen hier
„eiskalt“ ist.
So brauchen wir Weißdorn vielleicht mehr als
andere Pflanzen. Er hilft uns, wieder in Kontakt
mit der Sonne in uns selbst und in unserem Leben zu kommen.
Der Hafer Wandlungsphase Erde
Abb. 3: Der Weißdorn
makologische Betrachtung kann dies nur bestätigen: er steigert das Herzzeitvolumen und
die Koronar- und Myokarddurchblutung durch
Gefäßdilatation, er wirkt positiv dromotrop,
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Hafer ist der große Helfer bei nervöser Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Nervenschwäche. Auch in der Ganzheitlichen Pflanzenheilkunde sind es die Wesensqualitäten von Belastbarkeit, Auffangen von Erschütterungen
und Stabilisierung von Rhythmen, mit denen
Hafer bedrängten und von Zeitdruck gejagten
Menschen wieder ein Gespür für ihre innere
Abb. 4: Der Hafer
Mitte gibt. Nach dem Verständnis der TCM ist
das Haferstroh kühlend, die Früchte sind wärmend, das Kraut ist temperaturneutral. Seine
Eigenschaften sind trocknend, nährend, tonisierend und wirken beruhigend auf den Geist.
Wer braucht eine solche Pflanze? Der Wandlungsphase Erde zugeordnet ist der Spätsommer, die Zeit des gereiften Erwachsenenalters, die Zeit also, in der sich ein Mensch mit
ganzer Kraft in seine Aufgabe und seine Verantwortung stellt. Ein Unternehmen will geführt werden, Kinder wollen ernährt und ins Leben begleitet werden, die Existenz ist zu sichern, die Altersvorsorge zu leisten. Es ist die
produktivste Zeit, aber auch die anstrengendste. Nicht selten geht sie über die Kräfte
des einzelnen Menschen. Dann ist eine Pflanze nötig, die Kraft vermittelt. Eine Kraft, aus
der die Hartnäckigkeit erwächst, dem gesetzten Ziel treu zu bleiben. Die Himmelsrichtung
der Wandlungsphase Erde ist das Zentrum. Im
Zentrum zu bleiben, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, ist nie wichtiger als in dieser Zeit der mannigfaltigsten An-
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TCM
forderungen. Avena sativa hat diese zentrierende und stärkende Kraft.
Die Gundelrebe Wandlungsphase Metall
Abb. 5: Die Gundelrebe
Die Gundelrebe hat eine lange volksheilkundliche Tradition bei eitrigen Bronchialerkrankungen, Verschleimung der Lungen, zur Wundheilung und rheumatischen Erkrankungen. Nach
Sicht der TCM ist sie ein Spezifikum für den
Funktionskreis Metall. Ihre Eigenschaften sind
trocknend, kühlend, reinigend, ausleitend, adstringierend und antiphlogistisch. Die Ganzheitliche Pflanzenheilkunde sieht die Gundelrebe als Pflanze des Loslassens und der Erneuerung, sie verkörpert Gelassenheit und lebenserweckende Wärme. Wenn der Herbst
des Menschen kommt, also sein Alter, dann
trocknen die Schleimhäute aus, die Haut wird
trocken, dann wird das Haar dünner und weiß,
die Lebenswärme ist herabgesetzt. Liebe
Menschen sterben, von Vielem muss man sich
verabschieden.
„Hast du deinen Sommer gut
gelebt, so wird dein Winter gut
zu dir sein.“
So heißt es in einem Sprichwort. Das Alter ist
die Zeit, in der sich erweist, wie ein Mensch
sein Leben gelebt hat. War es ihm gegeben
oder hat er es verstanden, jeder Lebensphase mit ihren Aufgaben angemessen gerecht
zu werden. Wurde das Qi kultiviert oder verschleudert? Die Fähigkeit, Fehler zu kompensieren, ist jetzt nicht mehr durch Jugend und
Kraftüberschuss gegeben. Der Herbst ist
auch die Zeit, in der es gilt, das Erfahrene, Erworbene und Gelernte weiter zu geben. Zum
gesunden Durchgang durch den Herbst des
Lebens gehört es, zu erleben, dass die eigenen Ideale mit Leben gefüllt werden konnten
und von anderen weiter getragen werden. Die
Gundelrebe hilft auf diesem Weg, Verbissenheit, Angst und Trauer loszulassen. Schmerzhafte Erfahrungen, die zu Erstarrungen geführt haben, kann das Kraut lösen. Den alternden Menschen durchdringt die Gundelrebe mit
ihrer zwergenhaft spielerischen Art mit Lebenswärme. Dem jungen Menschen, der zu
früh und zu verbissen in seine Ideale hinein
lebt, hilft sie zu Gelassenheit, Geduld und Vertrauen.
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Die Birke Wandlungsphase Wasser
Wenn der Kreis sich schließt, wenn das Ende
mit dem Anfang zusammenkommt, wird die
Birke wichtig. Ihre Wesensqualitäten sind Anmut, Jugendlichkeit und Beweglichkeit, Polarität von Geburt und Tod, Jugend und Alter.
„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, …“ so
heißt es in der Bibel. Und so ist die Wandlungsphase für das hohe Alter, für die Weisheit und
für die Kindheit die Wandlungsphase Wasser.
Es ist der Winter des Lebens. Die Himmelsrichtung ist Norden, die Tageszeit Mitternacht
und der Geschmack der nach Salz. Die Birke,
die früher „Nierenbaum“ genannt wurde, und
die nierenfunktionssteigernd, harntreibend
und entzündungswidrig wirkt, lindert die rheumatischen Beschwerden der alten Menschen.
Sie zeigt eine starke Durchsaftung und beeindruckt mit ihrer jugendlichen Beweglichkeit,
ihrem enormen Samenreichtum und mit ihrer
Fruchtbarkeit. Sie hilft dem alten Menschen,
geistig und körperlich elastisch und „im Saft“
zu bleiben. Manche Menschen brauchen hier
die Hilfe der Birke. Andere nicht. Warum? Eine
mögliche Antwort ist, dass so wie der Anfang
war, auch das Ende sein wird. Wenn die Zeit
der eigenen Kindheit geprägt war von Zuverlässigkeit, Treue und Stabilität, wenn die Erfahrung von Konstanz und Beständigkeit im
Kleinen gemacht werden konnte, dann kann
sie für ein ganzes Leben reichen. So wie der
Winter in der Kälte alles auf die kleinste Einheit
reduziert, so braucht der Samen eines Menschenlebens am Anfang die Erfahrung, im
kleinsten Kreise zuverlässig gehegt, gepflegt
und behütet worden zu sein. Dann kann der
Mensch am Ende nach dem Durchgang durch
die Fülle der eigenen Lebenserfahrungen zu
wirklicher Weisheit reifen. Wo es nicht ganz
dazu gereicht hat, kann die Birke mit ihrer Geschmeidigkeit und Sanftheit den Reifungsprozess abrunden helfen.
Fazit
Welche Pflanze in welche Wandlungsphase gehört und auf welchen Funktionskreis sie dämpfend oder anregend wirkt – dieses Wissen im
Einzelfall auf den Patienten anzuwenden ist eine hohe Kunst. Diese Ausführung erhebt nicht
den Anspruch, jene Kunst zu vermitteln. Von
der Pulsdiagnose bis zum Klang der Stimme,
von der Zungendiagnose bis zum Teint der
Haut kann für den Therapeuten jedes Detail
wegweisend sein, um für den einzelnen Patienten das richtige Mittel zu finden. Die vorausgegangenen Ausführungen dienen nur als Anregung, auch in der Pflanzenheilkunde den
Blick über unsere Grenzen hinaus zu weiten.
Wir können aus der Medizin des Ostens lernen, dass wir mit einer Pflanze nie nur ein Organ ansprechen, sondern einen ganzen Menschen mit all seinen Ausdrucksformen und in
seiner gesamten Einbettung in den Kosmos.
Auf dem Weg zu dem gemeinsamen Ziel des
Westens und des Ostens, die Krankheit und
auch die seelische Not der Menschen zu lindern, ist es gerade diese Qualität der Anbindung und Einbindung in das Ganze, die wir im
Westen über dem Anschauen der Details aus
dem Auge verloren hatten. Diese Qualität wieder zu finden und zu integrieren, ist das Geschenk des Ostens an eine zusammenwachsende Welt. Das wir nicht Zustände behandeln
(Leber-Yin-Mangel, Nässe-Ansammlung in MilzPankreas), sondern Menschen, die auf dem
Weg sind zu sich selbst, das kann vielleicht
einmal das Geschenk des Westens an den Osten werden.
Literaturhinweise
Abb. 6: Die Birke
Ursel Bühring: Praxis-Lehrbuch der modernen
Heilpflanzenkunde. Sonntag Verlag, Stuttgart
2005
Dianne M. Conelly: Traditionelle Akupunktur:
Das Gesetz der fünf Elemente. Verlag Endrich,
Heidelberg 1986
Jiaou Guorui: Qigong Yangsheng. Medizinisch
literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen, 5.
Auflage 1997
Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der
Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau 2002
Dr. Roger Kalbermatten (CERES AG Schweiz),
Dr. Thomas Rau (Paracelsus Klinik, Lustmühle,
Schweiz): Wandlungsphasen, Funktionskreise
und Pflanzensignaturen. Fortbildung in Würzburg, Haus Franken, 7.-9.10.2005
Joachim Schrievers: Durch Berührung wachsen. Shiatsu und Qigong als Tor zu energetischer Körperarbeit. Verlag Hans Huber, Bern,
2004
Rita Traversier, Kurt Staudinger, Sieglinde
Friedrich: TCM mit westlichen Pflanzen. Sonntag Verlag Stuttgart 2005
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