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LERNRAUM REGION
Nachgelesen
Im Slum stirbt
jede Hoffnung
Der 2004 veröffentlichte UN-Bericht Challenge of
the Slums betrachtet die Urbanisierung erstmals
in globalem Maßstab. Das erschreckende Fazit:
Bereits 2008 werden mehr Menschen in Städten
leben als am Land. Was diese „urbane Wende“
für die Zukunft bedeutet, schildert der Historiker
Mike Davis in seinem kürzlich erschienenen Buch
„Planet der Slums“.
Zum aktuellen Zeitpunkt leben rund eine Milliarde Menschen
in „unkontrollierbaren Wohnsümpfen, aus denen die Einfriedungen der Reichen wie Trutzburgen heraus ragen“, konstatiert Mike Davis. Diese Zahl könnte sich
laut UN-Bericht bis 2030 sogar verdoppeln, denn die Slumbevölkerung in den Favelas, Bidonvilles und
Gecekondus wächst um weltweit
Wer in die Großstadt ging,
geriet in die Wüste.
Pepe Kalle
25 Millionen Neugeborene und Zuwanderer pro Jahr. Angesichts dieser wuchernden „urbanen Geschwüre“ fordert Davis, das Phänomen der Slums nicht als gegeben hinzunehmen. Die Kernfrage
seines Werkes lautet: Wie verkraften die Städte an der Elfenbeinküste, im Kongo, in Südamerika, Indien, China und anderswo noch
immer ein jährliches Bevölkerungswachstum, obwohl die Wirtschaft
jährlich um zwei bis drei Prozent
schrumpft? Der Autor legt der LeserIn nahe, dass die massive Landflucht vor allem als Folge der Strukturanpassungsprogramme
von
Internationalem Währungsfonds
(IWF) und Weltbank zu sehen sei.
Denn sie führten durch Privatisierung, durch Aufhebung der Importkontrollen und Nahrungsmittelsubventionen sowie Kürzungen
im Gesundheits- und Bildungswesen aber auch im öffentlichen Sektor zu einer „weltweiten Agrarkrise“. Die Landbevölkerung hatte
nur die Wahl zwischen absoluter
Verelendung und Exodus. Als die
Regierungen der Dritten Welt angesichts dieser starken Landflucht
den Kampf gegen die Slums aufgaben, übernahmen der IWF und
die Weltbank unter dem Stichwort
„Hilfe zur Selbsthilfe“ die Gestaltung der Rahmenbedingungen.
Arme sollen „befähigt“ und
„aktiviert“ werden
Nicht mehr die Abschaffung
von Slums, sondern deren Verbesserung wurde seit den 70ern vom
IWF und der Weltbank propagiert.
Die Regierungen der Dritten Welt
vertraten die Ideen des Ökonomen
Hernado de Soto, wonach die
Slums selbst die Lösung seien.
Man müsse „lediglich die Besitzansprüche legalisieren“. Ab diesem Zeitpunkt waren Besetzungen
von unbebautem da unwirtlichem
Land in der Peripherie nur noch ge-
gen finanzielle Gegenleistungen
möglich. Illegales Wohnen wurde
dadurch kommerzialisiert resultierend in einer Erschließungspiraterie, welche die soziale Differenzierung unter den Armen noch weiter
vorantrieb. Die Bedingungen für
Modernisierungsdarlehen so genannter „Sites-and-Services-Projekte“1 konnten von den Ärmsten
unter den Armen nicht erfüllt werden. Die Regierungen hingegen
profitierten durch Wählerstimmen
und ein Mehr an Steuereinnahmen. Seit den Neunzigern wurden
die lokalen Regierungen vom IWF
und der Weltbank endgültig übergangen, indem sie sich ihre eigenen Interessensvertretungen an
der Basis in Gestalt von konservativen NGOs schufen. Diese „NGORevolution“ von großen Nichtregierungsorganisationen verwandelte sich letztendlich aber in eine
reine Projekt-Abwicklung ohne
Veränderungspotential.
Vermietung von Slums
„Die kostenlose Landnahme
ist ein zeitlich begrenztes Phänomen, weil private Organisationen
die Kontrolle über die Urbanisierung in der Peripherie übernehmen“, prophezeit Davis in Hinblick
auf die Besitztitelvergabe. Durch
die „Kommerzialisierung informeller Wohnmöglichkeiten“ kamen
korrupte Machenschaften auf einem unsichtbaren Grundstücksmarkt in Gang. Mieten müssen
nun in Form von Bargeld oder
Wählerstimmen oft für Jahre im
Voraus bezahlt werden – und das
für ein Leben abseits aller Versorgungseinrichtungen! Der Autor
belegt die Macht der Slumlords mit
anschaulichen Beispielen. In 16
südostasiatischen Städten liegen
rund 53 Prozent des Grund und
Bodens in der Hand von nur 5 Prozent der Grundbesitzer. In Ägypten
1) Sites-and-Services-Projekte: Neuansiedlungsflächen, Infrastruktur und Dienstleistungseinrichtungen am Stadtrand werden zur Verfügung gestellt.
Die Grundstücke werden verkauft, vermietet oder verpachtet und die Unterkünfte darauf werden in Selbsthilfe gebaut.
umwelt & bildung 2/2007
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LERNRAUM REGION
Facts and Figures:
1. Mehr als 50.000 Hektar wertvolles
Agrarland gehen in Indien jedes
Jahr durch Urbanisierung verloren
2. 50% des städtischen Zuwachses
werden auf die Städte der Entwicklungsländer entfallen
3. 78,2 Prozent der Stadtbevölkerung
der Dritten Welt leben in Slums.
Das ist ein Drittel der globalen
Stadtbevölkerung.
4. Afrikanische Slums wachsen dreimal so schnell wie explodierenden
Städte des Kontinents
5. In den Slums von Kalkutta leben in
jedem bewohnten Zimmer durchschnittlich 13,4 Menschen
6. 90 Prozent des Grund und Bodens
von Bombay gehören den Reichen
Bevölkerung in den Mega-Citys
der Dritten Welt (1950–2004) in Mio
Stadt
1950
2004
2,9
22,1
Seoul-Injon
1,0
21,9
(New York)
12,3
21,9
São Paulo
2,4
19,9
Mumbai (Bombay)
2,9
19,1
Delhi
1,4
18,6
Jakarta
1,5
16,0
Dhaka
0,4
15,9
Kalkutta
4,4
15,1
Kairo
2,4
15,1
Manila
1,5
14,3
Karachi
1,0
13,5
Mexiko-Stadt
24
Lagos
0,3
13,4
Shanghai
5,3
13,2
Buenos Aires
4,6
12,6
Rio de Janeiro
3,0
11,9
Teheran
1,0
11,5
Istanbul
1,1
11,1
Beijing (Peking)
3,9
10,8
Bangkok
1,4
9,1
Gauteng
1,2
9,0
Kinshasa
0,2
8,9
Lima
0,6
8,2
Bogotá
0,7
8,0
umwelt & bildung 2/2007
hat beispielsweise der Immobilienmarkt die Landwirtschaft als drittgrößten nicht-ölbezogenen Sektor
abgelöst. Und 57 Prozent der
Unterkünfte in einem Slum von
Nairobi gehören PolitikerInnen
und StaatsbeamtInnen, weil Baracken die profitabelsten Wohnungen der Metropole sind. Doch
dort, wo die Slums stören, werden
sie binnen Stunden geräumt. Peking, Austragungsort der Olympischen Spiele 2008, ließ allein für
die Errichtung eines Stadions
350.000 Menschen umsiedeln.
Nicht selten werden Slums unter
dem Deckmantel der „Verbrechensbekämpfung“ dem Erdboden gleich gemacht.
Überlebensstrategien
Nicht nur die permanente
Angst vor Vertreibung, die starke
Gesundheitsgefährdung und der
elendige Gestank machen das Leben in Slums unerträglich, sondern auch die Natur trägt zum Sisyphos-Dasein der pauperisierten
Stadtmenschen bei. In Buenos Aires schreiben die Slumbewohner
die Hausnummern auf ihre Möbel,
da ihre Behausungen mindestens
einmal im Jahr weggeschwemmt
werden. Um von den urbanen
Nicht-Orten zu den Arbeitsstätten
zu gelangen, müssen die Tagelöhner zumeist stundenlange Fußmärsche in Kauf nehmen. Davis
beschreibt in seinem Buch aber
auch die erfinderischen Überlebensstrategien: Allein stehende
SlumbewohnerInnen in Hongkong werden „Käfigmenschen“
genannt, da sie ihre Habseligkeiten zum Schutz vor Diebstahl in
Käfigen über ihren Schlafstellen
aufbewahren. Dass selbst Gräber
als Behausungen dienen können,
beweist die Kairoer Totenstadt, ein
riesiger zum Slum gewordener
Friedhof, wo einst Sultan- und
Emirfamilien begraben wurden
und nun eine Million Arme lebt.
„Schlachtfeld der Zukunft?“
Slum in Johannesburg (SA), BewohnerInnen
Abschottung der
Wohlstandsinseln
Pure Ironie schlägt dem Leser
entgegen, wenn der Autor die
Gegenwelt der Slums, die Edge Cities, vor Augen führt. „Während
die Armen der Innenstadtslums
Widerstand gegen die Vertreibung
aus dem Stadtkern leisten, tauschen die Wohlhabenden freiwillig
ihre alten Viertel gegen befestigte
Neubausiedlungen mit ErlebnisCharakter an der Peripherie.“ Diese
„gated communities“ sind originalgetreue Nachbildungen der Küstenstädte Südkaliforniens. Die situierten Einwohner dieser abgeschotteten Städte erreichen ihre Arbeitsplätze über private Stadtautobahnen, die mitten durch die Slums
führen. Das indische Bangalore hat
beispielsweise den Lebensstil von
Palo Alto erschaffen. In den „befestigten Märchenpark-Enklaven“,
wie Davis diese Randstädte nennt,
spiegelt sich das Streben nach Sicherheit und sozialer Abschottung
in der Architektur der Angst wider.
Foto: Markus E. Langer
LERNRAUM REGION
Tipp
Nachgeschaut
Der Große Ausverkauf (The Big
Sellout), Dokumentarfilm (D),
R.: Florian Opitz, 94 Min.
www.dergrosseausverkauf.de
www.filmladen.de
In Lagos etwa wird der FestungsLifestyle vollends auf die Spitze getrieben. Denn dort sind die Reichen,
wenn sie sich von ihren Festungen
entfernen, mit einem Panikknopf
ausgestattet, der elektronisch mit
bewaffneten Sicherheitsdiensten
verbunden ist. In der brasilianischen
Reißbrettstadt Alphaville lebt die
Mehrheit nach den Regeln der
Selbstjustiz gegenüber kriminellen
und obdachlosen Eindringlingen.
Stadtplanet Erde
Auch die Nordhalbkugel ist
von der „Verslumung“ erfasst. Die
raschest wachsenden Slums befinden sich laut Stadttheoretiker Davis
in der Russischen Föderation. Sechzig Prozent der russischen Familien
leben in Armut, wobei in den Städten die neue extreme Ungleichheit
von über Nacht erworbenem Reichtum und plötzlichem Elend schockiert. Zwischen 1989 und 1996
stiegen die Einkommensunterschiede in St. Petersburg zwischen dem
reichsten und dem ärmsten Bevöl-
kerungszehntel um das Dreifache.
Wie raffiniert moderne Regierungen versuchen sich der Slums zu
entledigen, zeigt die Katastrophe
von New Orleans. „Die Bush-Regierung plante nach dem Hurrikan eine Stadt der Reichen“, erklärt Mike
Davis in einem Artikel für „die Zeit“.
Die Kurzsichtigkeit solcher radikaler
Maßnahmen unterstreicht er mit
dem Satz: „Das wirkliche Problem
ist nicht die Überbevölkerung, sondern die Ungleichheit in den Städten.“ Antworten auf Fragen des
Widerstandes in Squattersiedlungen gegen den globalen Kapitalismus wird jedoch erst das Folgewerk des Autors, „Government of
the Poor“ anbieten. Eines steht für
den radikalsten Urbanisten Amerikas aber schon jetzt fest: Die
Schlachtfelder der Zukunft liegen in
den Slums der neuen Mega-Citys.
Ute Mörtl
Mike Davis: Planet der Slums,
Assoziation A, Berlin 2007. 247 S.,
EUR 20,– ISBN 978-3-935936-56-9
In vier ineinander verwobenen
Erzählsträngen will Florian Opitz
in seinem Dokumentarfilm DER
GROSSE AUSVERKAUF dem Zuschauer das komplexe Phänomen
„Privatisierung“ über Porträts von
Menschen aus verschiedenen
Kontinenten nahe bringen, die
von den oft inhumanen und fehlgeleiteten Versuchen, das Wirtschaftswachstum zu steigern, unmittelbar betroffen sind. Menschen, die sich auf ihre ganz persönliche Art und Weise dagegen
zur Wehr setzen, z.B. Bongani. Er
ist mit seinem Team von „Guerilla-Elektrikern“ auf den Straßen
des südafrikanischen Townships
Soweto unterwegs, um die Häuser
derer wieder ans Stromnetz anzuschließen, die zu arm sind, ihre
Stromrechnung zu bezahlen. Seit
der Privatisierung der ehemals
staatlichen Stromversorgung sind
die Preise explodiert.
Kurzkritik: Manchmal beeindruckend, bisweilen aber etwas „altbacken“ und vorhersehbar in seinen Bildern. Für einen Dokumentarfilm eher zu tendenziös und
kaum ergebnisoffen recherchiert.
Insgesamt jedoch informativ.
W.S.
umwelt & bildung 2/2007
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