Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch von

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Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch von
Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller
Missbrauch von Kindern
Jörg M. Fegert & Nina Spröber
„Misshandlungen von Kindern
und Jugendlichen sind eine
Erscheinung unserer Zeit,
früher gab es das kaum.“
„Wenn ein Kind/ Jugendlicher
einem Erwachsenen
anvertraut, dass er/ sie sexuell
missbraucht wird, sollte man
nicht überstürzt reagieren,
sondern bedacht vorgehen.“
„Täter bei sexuellem
Missbrauch sind vor allem
Pädophile .“
„Kinder/ Jugendliche, die
misshandelt wurden, benötigen
auf jeden Fall eine Therapie.“
„Eine körperliche Züchtigung ist
viel schlimmer als psychische
Misshandlung/
Vernachlässigung“
Gliederung
• Einleitung,
Historische Entwicklung,
• Politische Debatten
• Definitionen
• Häufigkeit
• Folgen
• Umgang mit der Problematik / rechtlicher
Rahmen
• Take-Home-Message
Historische Entwicklung: Verelendung von
Arbeiterkindern: Verwahrlosung
1889 verabschiedete das britische Parlament ein
Gesetz, das Kinder vor Mißhandlung schützen sollte
1895 erhielt die Gesellschaft zur Verhütung von
Kindesmißhandlungen ihre königliche Gründungsurkunde
Entstehung der Fürsorgeerziehung in Deutschland:
„Rettungshäuser“ für verwahrloste Kinder und
Jugendliche
Anfang des 19. Jahrhunderts (Don Bosco, Wichern
1833: Rauhes Haus)
Ärztlicher Kinderschutz
C. Henry Kempe
1958 Child Protection Team (Denver)
Kempe CH et al. (1962)
The battered child syndrome. JAMA
282:107-112
Meldepflicht =>Child protective
services
1968 Kempe CH & Helfer RE (Eds.)
The Battered Child, 1st Ed., Chicago
1972 National Center for the
Prevention and Treatment of Child
Abuse and Neglect
1977 International Journal: Child
Abuse and neglect
Deutschland
-
1896: BGB §1631 Abs.2
väterliches Züchtigungsrecht
- 1989: UN-Kinderrechts-konvention Art. 19 „Schutz vor
Misshandlung, Verwahrlosung oder Vernachlässigung,
Ausbeutung einschl. sex. Missbrauch“
- 2000: BGB §1631 Abs.2 „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie
Erziehung“
- 2009 Entwurf Bundeskinderschutzgesetz gescheitert
- 2011 Bundeskinderschutzgesetz beschlossen: tritt 2012 in Kraft
Kindliche Basisbedürfnisse in der UNKinderrechtskonvention
Basic need
UN-Kinderrechtskonvention
Liebe und Akzeptanz
Präambel, Art. 6;
Art. 12, 13, 14
Ernährung und Versorgung
Art. 27, Art. 26, Art. 32
Unversehrtheit, Schutz vor
Gefahren, vor materieller
emotionaler und sexueller
Ausbeutung
Art. 16, Art. 19,
Art. 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40
Bindung und soziale
Beziehungen
Art. 8, 9, 10, 11;
Art. 20, 21, 22
Gesundheit
Art. 24, 25, 23, 33
Wissen und Bildung
Art. 17;
Art. 28, 29, 30, 31
Besondere Verletzlichkeit von Säuglingen
und Kleinkindern
abrupte Übergänge von dezenten Hinweisen bis zur
akuten Gefährdung:
- Gefahr raschen Austrocknens bei unzureichender
Flüssigkeitszufuhr
- Gefahr lebensgefährlicher Verletzungen aufgrund
unbeherrschten Handlings
(http://www.buergerschaft.bremen.de/dateien/9fc6731510da9c66a
94c.pdf)
extrem enges Zeitraster für die Planung von Hilfen
und Notwendigkeit schnellen Einschreitens
Zusammenfassung Kapitel 2
Stichprobe
1.1.2007 – 17.4.2008: 133 Kinderschutzfälle
203 Kinder von Vernachlässigung oder Misshandlung betroffen
Geschlecht der betroffenen Kinder
88 Jungen
88 Mädchen
(in 27 Fällen fehlende Angaben)
Alter der betroffenen Kinder
Median: 2 Jahre
Mittelwert: 3 Jahre 11 Monate
Minimum: neugeboren
Maximum: 17 Jahre
Zusammenfassung Kapitel 2
Betroffene Kinder in Altersgruppen
Altersgruppe
Anzahl
Prozent
Neugeborene
35
18,2
unter einem Jahr
38
19,8
ein Jahr bis zwei Jahre
32
16,7
über zwei bis vier Jahre
22
11,5
über vier bis acht Jahre
33
17,2
über acht Jahre
32
16,7
192*
100
Gesamt
* bei 11 Kindern war das Alter nicht zu ermitteln
Zusammenfassung Kapitel 2
Art der Misshandlung
Art der Misshandlung
Anzahl
Prozent
Tötung unmittelbar nach der Geburt
34
16,7
Vernachlässigung/ Verwahrlosung
83
40,9
7
3,4
Misshandlung
30
14,8
Misshandlung mit Todesfolge
18
8,9
gezielte Tötung
31
15,3
203
100
Vernachlässigung/ Verwahrlosung mit
Todesfolge
Gesamt
Zusammenfassung Kapitel 2
Täter der Misshandlung
(mutmaßlicher) Täter
Anzahl
Prozent
leibliche Mutter
73
58,4
leiblicher Vater
21
16,8
neue Partnerin des Vaters
1
0,8
neuer Partner der Mutter
14
11,2
Vater und Mutter
14
11,2
2
1,6
125*
100
sonstige Personen
Gesamt
*Keine Angaben in 8 Fällen
Schwierigkeiten einer
Misshandlungsdefinition
Keine einheitlichen Standards, was als vertretbare
elterliche Erziehungspraktiken gelten darf und wo die
Schwelle zur Misshandlung überschritten ist
=>Schwelle ändert sich in Abhängigkeit der
historischen und kulturellen Rahmenbedingungen
akzeptabler elterlicher Erziehung
Uneinigkeit darüber:
– ob Kindesmisshandlung basierend auf den
Handlungen der Verursacher, auf dem Einfluss auf das
Kind, den Bedingungen im Umfeld oder irgendeiner
Kombination dieser Elemente definiert werden soll
– ob eine tatsächliche Schädigung des Kindes oder auch
eine potentielle, in Kauf genommene Schädigung als
Misshandlung gilt
Schwierigkeiten einer Misshandlungsdefinition
Das amerikanische National Center for Diseases
Control and Prevention hat in einem umfangreichen
Konsultationsprozess Empfehlungen entwickelt, die
einen entscheidenden Schritt zur Bewältigung vieler
Schwierigkeiten einer Misshandlungsdefinition
darstellen (Leeb, Paulozzi, Melanson, Simon, & Arias,
2008). www.cdc.gov
Unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen
Diskurses wurde erstmals ein Konsens bezüglich
operationalisierbarer Definitionen erreicht, der von der
Medizin bis hin zur Sozialarbeit für statistische
Angaben verwendet wird.
Misshandlungsdefinition
Unter Kindsmisshandlung werden einzelne oder
mehrere Handlungen oder Unterlassungen durch Eltern
oder andere Bezugspersonen verstanden, die zu einer
physischen oder psychischen Schädigung des Kindes
führen, das Potential einer Schädigung besitzen oder die
Androhung einer Schädigung enthalten.
Unterscheidung von vier Formen der Misshandlung:
körperliche Misshandlung
psychologische Misshandlung
Vernachlässigung
sexueller Missbrauch
Definition: Vernachlässigung
Mangel an:
Pflege, Ernährung, Bekleidung, Gesundheitsförderung,
sozialen Kontakten, emotionaler Zuwendung, Schutz und
Aufsicht durch Erwachsene, erzieherischer Leitung und
Anregung Entwicklungsstörungen
von emotional zurückgezogenem und unterstimulierendem
Verhalten bis hin zur körperlichen und gesundheitlichen
Vernachlässigung:
– Heimkinder / rumänische Waisenkinder:
42 % Sterblichkeit
– „anaklitische Depression“ (Spitz 1945)
– Bindungsstörungen (O‘Connor et al., 2003; Chisholm,
1998)
Bucharest Early Intervention Project
• 136 Kinder, 6-30 Monate, aus Waisenheim in Rumänien
• Randomisierte Zuordnung zu Pflegeelternschaft für Hälfte der
Kinder
• Vergleich ca. 3-4 Jahre später (Alter M= 55 Monate)
Bucharest Early Intervention Project
Körperliche Misshandlung eines Kindes ist jede
Ausübung von physischem Zwang oder Gewalt gegen
ein Kind durch einen Elternteil, eine Betreuungs- oder
Erziehungsperson, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu
erheblichen körperlichen oder seelischen Schäden des
Kindes und seiner Entwicklung führt oder die ein
erhebliches Risiko solcher Schäden birgt. (HagemannWhite, Kelly, Römkens, Meysen 2010)
Definition: Körperliche Misshandlung
Chronische Erfahrungen im Beziehungsalltag:
häufig impulsive Aggression in
Stresssituationen; wie z.B. Schläge, Schütteln (vgl.
Matschke et al.2009),
Festhalten, Würgen, Verbrennungen …
differentialdiagnostische Plausibilitätsprüfung:
Verletzungsmuster vs. Schilderung der Eltern
radiologische Diagnostik: häufig intracranielle
Verletzungen (Blutergüsse, Einblutungen) bei
Schlägen/ Stößen gegen den Kopf vs.
Verletzungen bei Stürzen aus dem Klinikbett
(Nimityongskul 1987, Oates1997) oder
akzidentellen Treppenstürzen (William, 1991)
Körperliche Misshandlung
Veränderung elterlicher Einstellungen bzgl.
Gewaltanwendung in der Erziehung (Bussmann, 2002):
•
Anteil der Erziehungsberechtigten, die leichte körperliche
Strafen für rechtlich zulässig hielten:
1996: 83%
2001: 61%
•
Anteil der Erziehungsberechtigten, die es für rechtlich
zulässig hielten dem Kind den Po zu versohlen:
1996: 35%
2001: 19%
Psychische Misshandlung ist ein kontinuierliches oder
wiederholtes feindseliges Verhalten gegenüber einem
Kind durch ein Elternteil, eine Betreuungs- oder
Erziehungsperson, von dem angenommen werden
kann, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit nachteilige
Auswirkungen auf die seelische Gesundheit und
Entwicklung des Kindes hat, wie etwas
Herabsetzungen, Demütigungen, Verspottung des
Kindes, Einschüchterung und Ablehnung. (HagemannWhite, Kelly, Römkens, Meysen 2010)
Definition: Sexueller Missbrauch
Def.: „Beteiligung an sexuellen Handlungen, die Kinder und
Jugendliche nicht verstehen, dazu kein wissentliches
Einverständnis geben können, die sexuelle Tabus verletzen und
zur sexuellen Befriedigung eines Nichtgleichaltrigen oder
Erwachsenen dienen“ (Schechter & Roberge 1978)
überwiegend Familientäter, Strafanzeigen eher gegen Fremdtäter
selten spez. körperliche Befunde(Schwangerschaft,
Geschlechtskrankheit, Sperma) => gyn. (Über-) diagnostik?
keine spezifischen Verhaltensauffälligkeiten (Fegert , 1987)
gehäuft sexualisiertes Verhalten (Friedrich 1993)
Aussage des Kindes/Jgdl.: Realkennzeichen (Steller et al. 1992,
Cave: Suggestionen
Häufigkeiten von
Kindeswohlgefährdung: Deutschland
Deutschland:
keine zuverlässige repräsentative Datenlage;
Angaben beruhen auf Schätzungen / Dunkelfeldstudien:
ca. 150.000 körperliche Misshandlungen/Jahr
ca. 100 Todesfälle/Jahr (Wetzels 1997)
2/3 Vernachlässigung (Aktenanalyse von Eingriffen in
das elterliche Sorgerecht; Münder et al., 2000)
Polizeiliche Kriminalstatistik:
Opfergefährdung durch Misshandlung und sexuellen
Missbrauch von Schutzbefohlenen
Prävalenz von Misshandlungen in Kindheit
und Jugend
Häuser, Schmutzer, Brähler & Glaesmer, 20111:
• Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der
deutschen Bevölkerung
• Auswertbare Daten von 2504 Personen (≥ 14 Jahre)
• Demographische Angaben
• Standardisierter Fragebogen (Childhood Trauma
Questionnaire)
______________________________________________________________________
1
Häuser W, Schmutzer G, Brähler E, Glaesmer H: Maltreatment in childhood and
adolescence - results from a survey of a representative sample of the German population.
Deutsches Ärzteblatt 2011; 108(17): 287–94.
Prävalenz von Misshandlungen in Kindheit und
Jugend
Schwerere Formen von Missbrauch und Vernachlässigung
in Kindheit und Jugend
(N=2504; Mehrfachnennungen möglich):
12,0%
10,8%
10,0%
8,0%
6,6%
6,0%
4,0%
2,8%
1,9%
1,6%
2,0%
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0,0%
Prävalenzstudien-Vergleich
Häuser
et al.
(2011)
Stichprobengröße
Altersspanne
Anzahl
Betroffene
sexuellen
Missbrauchs
2.504
14 - 90
Jahre
314 (12,5%)
16 - 39
Jahre
683 (6,0%)
Befragung
zu Opfererfahrungen
allg., u.a.
sex. Gewalt
16 - 59
Jahre
539 (16,4%)
Pfeiffer,
KFN
(2011)
11.428
Wetzels
(1997)*
3.289
* Daten des KFN aus dem Jahr 1992
Anzahl
Betroffene
kurzfristiger
leichter
Missbrauchsverläufe
Anzahl
Betroffene
fortgesetzter
schwerer
Missbrauchsverläufe
Verhältnis der
Missbrauchsverläufe
158 (50,3%)
156 (49,7%)
50:50
Mehrfachnennungen möglich!
Homepage der UBSKM
Kampagnenwebsite:
www.sprechen-hilft.de
35
Wirkung von Kampagne und Abschlussbericht auf
das Anruferaufkommen
Anzahl Anrufe pro Tag seit Beginn der TAL:
200
180
160
140
120
100
80
60
40
20
0
Kampagnenstart
21.09.2010
Präsentation des
Abschlussberichts
24.05.2011
Ergebnisse der politischen und wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit der Problematik „Sexueller
Kindesmissbrauch“
Schwere der Missbrauchsfälle im Vergleich
hell =
kurzfristiger/
“leichter“
Missbrauch
88,7 %
90,3 %90,3 %
61,0 %
52,3 % 47,7 %
39,0 %
39,0 %
50,3 %49,7 %
49,7 %
11,3 %
dunkel =
fortgesetzter
“schwerer“
Missbrauch
Angaben zum Missbrauchsgeschehen*
Art des Missbrauchs (Angaben von N=4.298 Personen)
- 96% mit Körperkontakt
Zeitpunkt des Missbrauchsgeschehens (Angaben von N=4.608 Personen)
–90% (N=4.133) Missbrauch in der Vergangenheit
Häufigkeit des Missbrauchsgeschehens (Angaben von
N=3.159 Personen)
–89% mehrfacher und wiederkehrender Missbrauch
Geschlecht der Täter/innen (Angaben von N=3.730 Personen)
– 88% (N=3.272) männliche Täter
– 6% (N=229) weibliche Täterinnen
– 6% (N=229) mehrere Täter/innen verschiedenen Geschlechts
_______________________________________________________________________________
* nach
Angaben von Betroffenen und Kontaktpersonen in Telefongesprächen und Briefen/E-Mails
Kontext des Missbrauchsgeschehens (N = 3.712)*
2500
2102
2000
1640
1500
gesamt
Frauen
1087
1000
Männer
666
500
390
413
311
212
205
124 84
99
0
Institution
Familie
Umfeld
Fremdtäter/innen
_____________________________________________
* nach
Angaben von Betroffenen und Kontaktpersonen in
Telefongesprächen und Briefen/E-Mails
Auswirkungen des Missbrauchs
Betroffene berichten unter anderem von bei ihnen
gestellten Diagnosen psychischer Erkrankungen als
Auswirkung von Missbrauch (N=2.208 Angaben):
– Posttraumatische Belastungsstörung (19,2%, N=425)
– Angst-/Panikstörung (19,2%, N=425)
– Persönlichkeitsstörungen (16,3%, N=361)
– Depression (14,3%, N=315)
– Depression mit Suizidalität (7,1%, N=156)
– Essstörung (13,4%, N=296)
– Alkoholabhängigkeit (2,3%, N=51)
– Medikamenten-/Drogenabusus (0,8%, N=18)
– Sonstiges (7,3%, N=161)
Auswirkungen des Missbrauchs
Betroffene berichten unter anderem von folgenden
Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Lebensgestaltung
(N=3.938 Angaben):
– Körperliche Folgen (43,1%, N=837)
– Beziehungs-/ Partnerschaftsprobleme (41,6%, N=808)
– Leistungsbeeinträchtigung (30,0%, N=582)
– Flashbacks, Intrusionen, Alpträume (29,9%, N=568)
– Probleme mit Körperlichkeit und Sexualität (17,3%,
N=337)
– Selbstwertproblematik (17,1%, 332)
– Minderung der Lebensqualität (13,2%, N=256)
– Orientierungs-/Hilflosigkeit (7,4%, N=144)
– Externalisierendes Verhalten (4,1%, N=79)
„Ich quäle mich durchs Leben.“
Risikofaktoren für die Entwicklung
Mehrfache Misshandlungen
Die Misshandlungssituationen treten selten völlig isoliert
auf, es werden kaum reine Unterformen der
Misshandlung in Populationen gefunden (z.B. Barnett,
et al., 1993).
Unterschiedliche Formen von Misshandlung treten
gleichzeitig oder auch zeitlich gestaffelt auf (Finkelhor,
Ormrod, Turner, & Holt, 2009)
Nicht selten sind sie mit anderen Entwicklungsrisiken
kombiniert (Ziegenhain & Fegert 2007)
Belastung und Traumatisierung nach
Misshandlung
• Sensitivierung der hormonellen und neuronalen
Stressreaktion
• Orientierung auf Bedrohungsreize
• Verkümmerung der Regulation von Emotionen
• Unsicher/Vermeidende Bindung
• Dosiseffekt: Erhöhte Wahrscheinlichkeit für verschiedene
psychische Störungen und Delinquenz
• Möglicherweise Interaktion mit genetischer Ausstattung
Was zeigen Längsschnittstudien?
•
Methodische Probleme/ Herausforderungen
•
Studie über drei Generationen hinweg bei Frauen, 11 bis 25
Jahre (Trickett et al., 2011)
•
Neuseeländische Studie an Geburtskohorte (Fergusson et al., 2008):
N = 1000, untersucht bis zum 25. Lebensjahr; sexueller
Kindesmissbrauch erhöht die Wahrscheinlichkeit, eine
psychische Erkrankung im Jugendalter/ Erwachsenenalter zu
entwickeln um das 2.4- fache
„Gratwanderung“ bei der Risikoabschätzung
Anna Freud: „zu früh zu viel oder zu spät zu wenig“
Ungerechtfertigte
Eingriffe in das
Elternrecht
Ungenügende
Berücksichtigung
des
Kinderschutzes
Verlust von Vertrauen
Verschluß vor weiteren
Hilfsangeboten
Schadensersatzansprüche
Schädigung des Kindes
Strafbarkeit
Befugnisnorm in Bezug auf die Schweigepflicht im
Kinderschutzgesetz BaWü und ab 2012 Befugnisnorm im
Bundeskinderschutzgesetz
Abgestuftes Vorgehen im Rahmen der Güterabwägung
Bei Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung:
Stufe 3
Mitteilung an das Jugendamt
(Befugnis) wenn:
Stufe 2
Stufe 1
Prüfung der eigenen
fachlichen Mittel zur
Gefährdungsabschätzung
und Gefährdungsabwehr
Hinwirken auf die aktive
Inanspruchnahme von
Hilfen durch die
Personensorgeberechtigten
Tätigwerden dringend
erforderlich ist
Personensorgeberechtigte
nicht bereit oder nicht in
der Lage sind, an
Gefährdungseinschätzung
oder Abwendung der
Gefährdung mitzuwirken
Behandlung?
•
Nicht jeder benötigt eine Behandlung!
•
Nicht sofort detailliert ausfragen!
•
Direkt: Beratung, Schutz, Aufklärung, „Normalität“
•
Psychische Erkrankung (z.B. PTBS): Kognitiv- behaviorale
Verfahren (z.B. traumafokussierte kognitive
Verhaltenstherapie vgl. z. B. Cohen, Mannarino & Deblinger,
2005, deutsche Übersetzung von Goldbeck, 2009)
•
„Eye movement desensitization and reprocessing (EMDR)“,
das 1995 von Shapiro
•
Kontraindikationen beachten!
Take-Home
– Vernachlässigung, Misshandlung und Sexueller Missbrauch
sind relativ häufige Ereignisse, so dass nahezu jeder Arzt
und jede Ärztin/ jede Psychologin/ Psychologe im Laufe
seines/ihres Berufslebens damit konfrontiert wird
– Säuglinge und Kleinkinder sind am vulnerabelsten
– Vernachlässigung, Deprivation zieht über Bindungsstörung
langfristige Folgen nach sich und ist häufig mit anderen
Misshandlungsformen kombiniert
– Nicht alle potentiell traumatisierenden Ereignisse führen zu
einer posttraumatischen Belastungsstörung; Diagnose im
Kindes- und Jugendalter eher ungeeignet.
Entwicklungsabhängige Traumareaktionen
– Entscheidungen im Kinderschutz bedürfen einer
fallbezogenen Güterabwägung in Bezug auf die
Schweigepflicht
Wenn sich ein Kind Ihnen anvertraut ….
– Möglichst wenig nachfragen, aber aktiv zuhören und z. B.
durch Paraphrasierungen sicherstellen, dass sie richtig
verstanden haben.
– Suggestive Einflüsse vermeiden, keine emotionalen
Wertungen (cave Schuld und Schamgefühle bei den
Betroffenen)
– Möglichst wörtliche Dokumentation und Beschreibung der
Entstehungsgeschichte der Aussage
(wer, wann, wo, wie, was)
– Keine Dinge versprechen, die nicht gehalten werden können
– Kind/Jugendlichen über nächste Schritte informieren
„Misshandlungen von Kindern
und Jugendlichen sind eine
Erscheinung unserer Zeit,
früher gab es das kaum.“
„Wenn ein Kind/ Jugendlicher
einem Erwachsenen
anvertraut, dass er/ sie sexuell
missbraucht wird, sollte man
nicht überstürzt reagieren,
sondern bedacht vorgehen.“
„Täter bei sexuellem
Missbrauch sind vor allem
Pädophile .“
„Kinder/ Jugendliche, die
misshandelt wurden, benötigen
auf jeden Fall eine Therapie.“
„Eine körperliche Züchtigung ist
viel schlimmer als psychische
Misshandlung/
Vernachlässigung“
Vielen Dank für
Ihre
Aufmerksamkeit !
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie /
Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm
Steinhövelstraße 5
89075 Ulm
www.uniklinik-ulm.de/kjpp
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert