EmilyBrontë - Neue Zürcher Zeitung

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EmilyBrontë - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 3 | 27. März 2016
NZZ am Sonntag
Emily Brontë
«Sturmhöhe»
in pfiffiger
Übersetzung
10
Fabulierfreude
Opulenz prägt
Florescus
neuen Roman
4
Wer kriegt was?
Einblicke ins
Funktionieren
von Märkten
16
1956
Das Jahr, das
die Welt
veränderte
19
Bücher
am Sonntag
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Lies Biografien und
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NEU
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(1888–1980),
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Die Biografie von
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Monique
Barbier-Mueller,
C
Cäsar
Menz,
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Gertrud
Dübi-Müller
1 S., 118 Abb.,
176
F 58.–* / € 58.–
Fr.
ISBN 978-3-03810-139-0
U
Urs B. Leu,
C
Conrad Gessner
((1516–1565)
4
456 S., 70 Abb.,
F
Fr. 48.–* / € 48.–
ISBN 978-3-03810-153-6
NEU
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Leidenschaftlich
ssammelte der glühende
Patriot
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und Secondo
historische Trouvaillen,
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Kunstwerke
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Miguel
Garcia,
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Bruno
Stefanini
1 S., 32 Abb.,
160
F 32.–* / € 32.–
Fr.
ISBN 978-3-03810-146-8
A
Auch
als E-Book erhältlich
NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected].
* Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop, Falkenstr. / Ecke Schillerstr., Zürich
G
Generationen von
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Hörerinnen und Hörern
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erinnern sich noch
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heute an ihre
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Sendungen und ihre
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Stimme. Die Biografie
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über die Radiopionierin
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Trudi Weder-Greiner ist
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ein Stück Medien- und
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Sozialgeschichte der
S
Schweiz.
T
Thomas Feitknecht,
D
Die Pionierin am Mikrofon
1
144 S., 24 Abb.,
Fr. 38.–* / € 38.–
F
ISBN 978-3-03810-107-9
Inhalt
Die Welt als
work in progress
Emily Brontë
(Seite 10).
Illustration von
André Carrilho
Manche Dinge ändern sich nie. Wie jedes Jahr sind heuer zahllose Varianten
bunter Schokoeier im Angebot, wie immer sind die blau-grün gepunkteten
die besten, und wie üblich werden sie übermorgen zum halben Preis zu
haben sein. Das Leben ist voller Routinen, und gerne geht darob vergessen,
dass auch das Ewiggleiche einen Anfang hat. Jener der gepunkteten Eier
liegt in einem Glauben, der uns zum Ritual geworden ist, den Menschen
vor 2000 Jahren aber noch ziemlich wunderlich erschien – Emmanuel
Carrère berichtet davon und zeigt ein making of des Christentums (S. 7).
Neues entstand freilich nicht nur in alten Tagen. Auch unsere vermeintlich
nachgeschichtliche Zeit ist dem Wandel unterworfen, und zuweilen erfasst
er selbst Dinge, die wir als naturgegeben erachten – sei es die Machtstellung
Deutschlands (S. 18) oder die Bindung zwischen Mutter und Kind: In einem
Essay zu diversen neuen Büchern rund ums Thema «Mutterschaft» (S. 12)
geht Nicole Althaus unter anderem der Frage nach, ob das Gebären obsolet
wird, wenn sich moderne Medizintechniken weiter ausbreiten.
Denn natürlich macht der Wandel auch vor der Wissenschaft nicht Halt.
Dank Forschern wie Alvin E. Roth (S. 16) paart sich die Ökonomie mit der
Psychologie, und dass die Naturwissenschaft zu einer literarischen Gattung
mutiert, ist durchaus keine abwegige Science-Fiction-Phantasie (S. 9, 23).
Wie auch immer sich die Welt verändert, es bleibt dabei: Wir wünschen
anregende Lektüre. Claudia Mäder
Belletristik
Kurzkritiken Sachbuch
4
15 Paul Veyne: Palmyra
Von Kathrin Meier-Rust
Philipp Schönthaler: Survival in den
80er Jahren
Von Claudia Mäder
Hubert Reeves, Yves Lancelot: Wie kommt das
Blau ins Meer?
Von Simone Karpf
Hannah Arendt: Sokrates
Von Kathrin Meier-Rust
Nr. 3 | 27. März 2016
NZZ am Sonntag
Emily Brontë
«Sturmhöhe»
in pfiffiger
Übersetzung
10
Fabulierfreude Wer kriegt was? 1956
Opulenz prägt Einblickeins
Das Jahr, das
Florescus
Funktionieren die Welt
neuen Roman von Märkten
veränderte
4
16
19
Bücher
am Sonntag
Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der
das Glück bringt
Von Manfred Papst
6 Donald Antrim: Der Wahrheitsfinder
Von Martin Zingg
7 Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes
Von Claudia Mäder
8 Eshkol Nevo: Die einsamen Liebenden
Von Stefana Sabin
9 Anita Siegfried: Steigende Pegel
Von Charles Linsmayer
Chagall bis Malewitsch. Hrsg. v. Evgenia
Petrova, Klaus Albrecht Schröder
Von Gerhard Mack
10 Emily Brontë: Sturmhöhe
Von Janika Gelinek
11 Etgar Keret: Die sieben guten Jahre
Von Manfred Koch
Kurzkritiken Belletristik
11 Marjaleena Lembcke: Wir bleiben nicht lange
Von Claudia Mäder
Erica Jong: Angst vorm Sterben
Von Manfred Papst
Ernst Augustin: Der Kopf
Von Manfred Papst
Friedrich Christian Delius: Die
Liebesgeschichtenerzählerin
Von Gundula Ludwig
Essay
12 Das vergessene Kapitel der Emanzipation
Nicole Althaus schreibt über Mütter und
ihren bedrohten Wirkungsraum in unserer
Gesellschaft
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Konfuzius
Sachbuch
16 Alvin E. Roth: Wer kriegt was und warum?
Von Sebastian Bräuer
18 Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum
Von Florian Bissig
Hans Kundnani: German Power
Von Victor Mauer
19 Simon Hall: 1956
Von Kathrin Meier-Rust
20 Hartmut Rosa: Resonanz
Von Walter Hollstein
21 Klaartje de Zwarte-Walvisch:
Mein geheimes Tagebuch
Von Klara Obermüller
Frances Borzello: Wie ich mich sehe
Von Simone Karpf
22 Katja Gentinetta, Heike Scholten: Haben
Unternehmen eine Heimat?
Von Susanne Ziegert
Harry G. Frankfurt: Ungleichheit
Von Urs Rauber
Christoph Ribbat: Im Restaurant
Von Berthold Merkle
23 Elmar Schenkel: Keplers Dämon
Von Angela Gutzeit
24 Gernot Wagner, Martin L. Weitzman:
Klimaschock
Von Michael Holmes
Rainer Erlinger: Höflichkeit
Von Manfred Koch
Nobelpreisträger Alvin E. Roth schreibt in seinem Buch
über die gesellschaftliche Relevanz von Ökonomen (S.16).
25 Johannes Fried: Dies irae
Von Michael Fischer
26 Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit
Von Silke Mertins
Das amerikanische Buch
Robert J. Gordon: The Rise and Fall of American
Growth: The U.S. Standard of Living
since the Civil War
Von Andreas Mink
Agenda
27 Picasso, Fenster zur Welt. Hrsg. v. Ortrud
Westheider und Michael Philipp
Von Manfred Papst
Bestseller März 2016
Belletristik und Sachbuch
Agenda April 2016
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Catalin Dorian Florescu breitet mit barocker Fabulierlust die Geschichte zweier Familien aus.
Sein neues Buch spielt in New York sowie im Donaudelta und spannt sich über ein ganzes Jahrhundert
Lebenspralles
Erzählfeuerwerk
Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das
Glück bringt. C.H. Beck, München 2016.
327 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 17.–.
Von Manfred Papst
Dieser Mann ist ein Naturereignis. Wer
schon einmal erlebt hat, wie Catalin Dorian Florescu – fast nie ohne seine Dächlikappe – aus seinen Büchern vorträgt,
kann das bestätigen. Er liest nicht einfach das Eingangskapitel vor wie die
meisten seiner Kollegen, sondern präsentiert eine dramatisierte Strichfassung. Zumindest will er das tun. Er ist
akribisch vorbereitet. Aber schon nach
wenigen Sätzen fällt er sich selber ins
Wort. Extemporiert, improvisiert. Es
trägt ihn aus der Kurve. Florescu liest so,
wie Sonny Rollins Saxofon spielt. Und so
schreibt er auch. Das ist mitunter zeitraubend. Vor allem aber ist es ein Glück
für uns Leser. Denn an Autoren, die wie
dieser sprachmächtige Fabulierer aus
dem Vollen ihrer Phantasie schöpfen
können und wollen, herrscht in unseren
skeptischen Zeiten kein Überfluss.
Besonders deutlich wird Florescus Erzählfreude in seinem neuen Roman. Es
ist sein insgesamt sechster und nach
«Zaira» (2008) sowie «Jakob beschliesst
zu lieben» (2011, verdientermassen ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis) der dritte, der im renommierten
Verlag C.H. Beck erscheint. Über mangelnde Resonanz kann der Autor sich
nicht beklagen: «Jakob beschliesst zu lieben» ging rund 80 000mal über den Ladentisch. Für Schweizer Verhältnisse ist
das eine geradezu sensationelle Zahl.
Und als Schweizer Autor darf Florescu
inzwischen gelten. Er wurde 1967 im rumänischen Temeswar geboren und kam
als Fünfzehnjähriger nach Zürich, wo er
seither lebt. Er hat sich das Deutsche als
Sprache für sein literarisches Schreiben
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
erobert und die hiesige Literatur wie
zahlreiche andere Secondos und Secondas enorm bereichert. Bisweilen merkt
man Spurenelementen in seiner Prosa
an, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist – doch das wirkt nicht störend,
sondern so charmant wie ein leichter Akzent, ein Silberblick, ein Lispeln.
Märchenhafter Stil
Grosses hat sich Catalin Dorian Florescu
in seinem neuen Roman vorgenommen.
Die Handlung spannt sich über ein Jahrhundert, über drei Generationen und
über zwei Kontinente. In den ungeraden
Kapiteln sind wir zunächst im brodelnden New York um 1900, in den geraden
im verschlafenen Donaudelta. Mit Geduld und Geschick führt der Autor die
beiden Erzählstränge schliesslich zusammen: Uns dämmert allmählich, dass
der erfolglose Künstler Ray und die
Fischerstochter Elena, die sich just am 11.
September 2001 in New York kennen lernen, einander die Geschichten ihrer Eltern und Grosseltern erzählen – um sich
zu erklären und um ungeachtet aller
Schwierigkeiten ein gemeinsames Glück
zu finden.
Dass Elena genau an dem Tag die
Asche ihrer Mutter von den Twin Towers
streuen will, als diese unter der Attacke
islamistischer Terroristen zusammenbrechen, mag reichlich konstruiert anmuten. Aber Florescu liebt solche Unwahrscheinlichkeiten, sie gehören zu
seinem Märchenstil, und sie tun seiner
erzählerischen Improvisationskunst so
wenig Abbruch, wie das Thema einer kitschigen Ballade den musikalischen Entdeckungsreisen eines Sonny Rollins im
Wege steht.
In diesem Roman geht es nicht um die
– zugegebenermassen manchmal wacklige – Architektur des Ganzen, sondern
um die Fülle des Erzählens. Und darin ist
Florescu ein Meister. Wie er aus der Per-
spektive eines jungen, armen Zeitungsverkäufers, der unter der Brooklyn
Bridge steht und vom Vaudeville träumt,
das New York in der Neujahrsnacht von
1898 auf 1899 schildert, ist hinreissend.
Wir lieben diesen kleinen Kerl, der ein
Sänger wie Caruso und ein Entfesselungskünstler wie Houdini werden will.
Er ist eine Gestalt, die einem Roman von
Dickens entstammen könnte. Wir leiden
und fiebern mit ihm. Aber auch die Geschichten aus Rumänien lassen uns nicht
kalt. Da herrscht eine ganz andere Zeitmessung, ein ganz anderer Zeitsinn. Im
hektischen New York zerfallen die Sekunden in ihre Bruchteile. Im Donaudelta ist ein halber Tag die kleinste Einheit.
Und dem zyklischen Weltbild entsprechend heissen Grossmutter, Mutter und
Tochter alle Elena. Die mittlere Elena
hofft auf eine gute Partie in Amerika.
Doch ihre Geschichte geht böse aus. Die
junge Frau erkrankt und landet 1937 in
der letzten Leprakolonie Europas. Es ist
ergreifend, wie Florescu diese vergessene Welt schildert.
Ohnehin beeindruckt, wie der Autor
Phantasie und Recherche verbindet. Rumänien kennt er aus seiner Erinnerung
und aus Familiengeschichten. Immer
wieder ist er in seinen Büchern in das
Land seiner Kindheit zurückgekehrt. Bisweilen konnte einem die Verklärung dieser von Mythen und Sagen geprägten archaischen Welt fast zu viel werden. Man
fürchtete künstliche Folklore, auch das
schematische Gegeneinandersetzen von
reicher, aber kühler Zivilisation im Westen und malerischer Armut im Osten.
Dieser Gefahr des in der Schweizer Gegenwartsliteratur sehr verbreiteten Secondo-Klischees ist Florescu nicht erlegen. Er macht zwar aus seinem Herzen
keine Mördergrube. Einmal mehr
schwelgt er in Märchen, Mythen, Sagen.
Aber es gibt da ein Gegengewicht. Der
Roman ist geerdet in unserer Gegenwart
HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES
von gewaltigen Migrationswellen. Wir
empfinden sie vielleicht als Ausnahme.
Hier lernen wir sie als Regel kennen. Die
Geschichte wiederholt sich. Das zeigt
uns Catalin Dorian Florescu in starken
Bildern.
Auf dem Bazar der Worte
Sprachskepsis prägt unsere Moderne,
und sie tut das nicht ohne Grund. Wir
haben gelernt, unseren Worten und Ge­
schichten zu misstrauen. Aber wir soll­
ten diese Haltung nicht zum Dogma
erheben. In der Gegenwartsliteratur
braucht es die Reduktionisten, die Kriti­
ker, die Zweifler. Aber es braucht eben
auch unverdrossene Erzähler wie Catalin
Dorian Florescu. Einen, der sich nicht
nur in ratlose Intellektuelle versetzen
kann, sondern auch in versoffene Vet­
teln, Coiffeusen, Ganoven, Magier, Ha­
fenarbeiter und Störmetzger.
Ein entscheidendes Stilmittel dieses
begnadeten Autors ist die Aufzählung.
Wie ein Händler auf dem Bazar breitet er
seine Waren aus. Da leuchtet und riecht
alles durcheinander, in sinnlicher Fülle.
Ungeduldige Leser mag das antiquiert
anmuten. Wer sich aber auf Florescu
einlässt, wird in seinen Büchern – und
ganz besonders in seinem neuen Roman
– genau das lieben. Die lebenspralle
Fülle, den Reichtum an Details. Nur ein
Beispiel für viele: Der Teufel, erzählt
Florescu, hat in Rumänien neunzehn
Namen. «Avizua, Abaroca, Oarda, Nes­
cua, Muha, Aspra, Hluchica, Sarda,
Vinita, Zoita, Ilinca, Merana, Feroca,
Fumaria, Nazara, Hlubic, Nesatora,
Gentia, Samca.» Wenn Schwangere
einen Zettel mit diesen Namen auf sich
tragen, sind sie gegen die Dämonen ge­
schützt. Aber wenn sie sie ignorieren,
dann stirbt das Neugeborene.
In seinem grossen Essay über Charles
Dickens hat George Orwell sein Urteil auf
eine griffige Formel gebracht: «Scheuss­
liche Architektur, aber wunderbare Was­
serspeier». In seiner trockenen Art mein­
te er den Satz als hohes Lob. Wir zitieren
es hier ebenfalls in diesem Sinn. Bei Ca­
talin Dorian Florescu gibt es so viele
wunderbare Wasserspeier, dass uns die
Geometrie des Romans gar nicht be­
schäftigt. Wir lassen uns forttragen von
diesem Erzähler und hoffen, dass seine
Geschichten niemals aufhören. ●
Einer der Schauplätze
in Catalin Dorian
Florescus neuem
Roman: das
wimmelnde New
York um 1900 (hier:
Williamsburg Bridge).
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Der New Yorker Autor Donald Antrim erzählt von einem Pancake-Essen unter Psychoanalytikern
WennSeelenklempnersichbelauern
Donald Antrim: Der Wahrheitsfinder.
Aus dem Englischen von Brigitte
Heinrich. Rowohlt, Reinbek 2016.
224 Seiten, Fr. 17.90, E-Book 12.–.
Von Martin Zingg
Ob das gut enden wird? Der Psychoanalytiker Thomas hat den Einfall, seine Kollegen vom «Krakower Institut» einzuladen in ein Pfannkuchen-Restaurant. Hier
sollen sie sich unterhalten über ihre therapeutische Arbeit, über Theorien, Patienten, Kollegen. Thomas selber ist an
diesem Institut zuständig für das Programm «Starke Junge Frauen». Allerdings machen ihm die Kinderpsychologen im Haus die Arbeit schwer, er hätte
der Runde an diesem Aprilabend also allerhand zu berichten. Und zugleich ist
Tom, wie ihn seine Freunde nennen,
auch der Erzähler des höchst ungewöhnlichen Romans «Der Wahrheitsfinder».
Natürlich wird das Treffen der psychoanalytischen Belegschaft irgendwann
aus dem Ruder laufen. Alle belauern und
belagern alle. Am Anfang sind es noch
kleine Bosheiten, die ausgetauscht werden, aber bald schon geht es um mehr.
Immer stärker geraten unterschiedliche
Theorien aneinander, «Melanie Klein»
versus «Lacan» versus «Winnicott» versus «untröstliche Post-Freudianer», es
sind fast schon Markenartikel, die ins
Feld geführt werden. Zugleich knistern
da und dort abgelegte und neu aufkeimende Liebschaften, und die liebestolle
Atmosphäre färbt die mitunter ziemlich
eitlen Kommentare auf doppeldeutige
Weise ein. Und natürlich wissen alle in
dieser Runde Bescheid über die tiefsitzenden Gründe ihres Handelns, kontrollieren können sie es dennoch selten.
Von Tom stammt die Idee zur Einladung – «Der Pfannkuchen symbolisiert
Essen als eine Form infantilen Spiels, die
Süsse unserer Kindheit und unsere grosse, verlorene, frühkindliche Omnipotenz» –, und von ihm stammt der Bericht,
den wir lesen. Er selber kommt darin
nicht gut weg. Auffallend ist seine Mühe
mit dem Älterwerden: «Ich bin im richtigen Alter, um ein Mann zu sein, aber
macht mich das zu einem?». Nein, leider
nicht. Tom ist im Grunde noch gar nicht
erwachsen. Zwar ist er verheiratet mit
Jane, die sich ein Kind von ihm wünscht,
aber er kann sich nicht dazu entscheiden. Tom kann sich nie entscheiden:
«Das Problem ist, dass ich nicht weiss,
wie ein Mann zu sein hat.»
Dieses Problem analysiert er nicht
bloss, er führt es durch sein Verhalten im
«Pancake House & Bar» auch gleich vor.
Er provoziert die Anwesenden, die ihn
längst als einen kennen, der gelegentlich
ausrastet und auch mal Toastbrötchen in
die Runde wirft – was seine Kollegen und
Kolleginnen selbstverständlich verstehen, nicht aber billigen können. Kollege
Richard wird ihn mit aller Kraft an weiteren infantilen Aktionen hindern. Er packt
Tom von hinten, hält ihn hoch, und aus
unfreiwilliger Höhe wird Tom fortan die
Entwicklung des Abends erzählen und
halluzinieren. In seiner Nähe ist die Kellnerin Rebecca, mit der er erzählenderweise auch schnell mal Schauplätze
des amerikanischen Bürgerkriegs aufsucht. Vor seinen Augen ist das nahe Spital, unter ihm das psychotherapeutische
Personal der Klinik, das zu ihm hochblickt – und wir haben vor unseren verblüfften Augen einen ziemlich schrägen
und unberechenbaren Roman.
Dessen Autor, Donald Antrim (*1958),
lebt in Brooklyn. Er hat einige Romane
und einen Band mit Erzählungen publiziert, das meiste ist nun auch auf Deutsch
greifbar, darunter der Erzählband «Das
smaragdgrüne Licht in der Luft». Und
eben: «Der Wahrheitsfinder», von Brigitte Heinrich elegant ins Deutsche gehoben, voller Slapstick und Ironie, ziemlich
verrückt. ●
Emanuel
Bergmann
Der Trick
Roman · Diogenes
400 Seiten, Leinen,
sFr 30.–*
Der große Zabbatini
war im Berlin der
30er-Jahre ein berühmter Zauberkünstler. Am Ende seines
Lebens hat er in Los
Angeles nochmals einen großen Auftritt –
dank eines kleinen
Jungen, der felsenfest
an seine Zauberkräfte
glaubt.
* unverb. Preisempfehlung
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
John Irving
Straße
der Wunder
Roman · Diogenes
784 Seiten, Leinen,
sFr 35.–*
Ein Buch über
Wunder, die uns
widerfahren, und
Wunder, die wir selber
bewirken. Verführerisch bunt, magisch
und spannend erzählt:
ein Buch über die
Suche nach einer
Heimat in der Fremde
und in der Literatur.
Foto: © Bogenberger / autorenfotos
Foto: Philipp Rohner / © Diogenes Verlag
Foto: © Basso Cannarsa / Opale / Leemage / laif
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Benedict
Wells
Vom Ende
der Einsamkeit
Roman · Diogenes
368 Seiten, Leinen,
sFr 30.–*
Ein berührender
Roman über drei
Geschwister, die früh
ihre Eltern verlieren.
Über das Überwinden
von Verlust und
Einsamkeit und die
Frage, was in einem
Menschen unveränderlich ist. Und vor allem:
eine große
Liebesgeschichte.
BRITISH MUSEUM / BPK
Ermittlung Emmanuel Carrère geht den Ursprüngen
des Christentums nach und legt ein gewaltiges erzählerisches Werk vor, das in keine Schublade passt
EinUngläubiger
aufderSpurdes
Unglaublichen
Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes.
Aus dem Französischen von Claudia
Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2016.
524 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 21.90.
Von Claudia Mäder
«Was sucht ihr den Lebenden bei den
Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.» Lukas 24,5–6. Zwei schlichte Sätze.
Geschrieben zwischen 60 und 80 n. Chr.,
sind sie dafür mitverantwortlich, dass
wir an diesem Wochenende wahlweise
nach Osternestern suchen oder im Stau
stehen. Was einst der Wunderglaube
einer kleinen Sekte war, taktet heute
jede Agenda und verwirrt so manchen
Kopf: Wie kann es sein, dass sich das
Christentum wider alle Wahrscheinlichkeit derart durchgesetzt hat, dass noch
in aufgeklärten Zeiten etliche «ansonsten nicht verrückte» Leute an Vorgänge
wie die Auferstehung Jesu glauben?
Das ist die Frage, die Emmanuel Carrère umtreibt. Ihr nachzuforschen, ist er
umso besser in der Lage, als er in den
1990ern selber eine «christliche Phase»
durchlaufen hat. Auf dem Höhepunkt
einer Lebens- und Schaffenskrise wandte sich der Autor von der Pariser
Bücherszene ab und dem Heiligen Evangelium zu. Während drei Jahren, die er
am Anfang des Buches schildert, wähnte
sich Carrère «von der Gnade berührt» –
erstmals gespürt hatte er sie in einem
Satz von Johannes, der ihn auf geheimnisvolle Weise von der Bürde des Lebens
zu entlasten versprach: «Ein anderer
wird dich gürten und dich dorthin führen, wohin du nicht gehen wolltest.»
Umkehr der Werte
Zwar nahm Carrère die Zügel bald wieder
selber in die Hand und verlor seinen
Glauben. Geblieben aber ist eine Faszination für den Gegenstand – und mit dem
Johannes-Zitat ein Satz, der sich gleichsam als Motto über das Œeuvre des Franzosen setzen liesse: Wer ein Buch von
Emmanuel Carrère liest, gibt sich einem
gewieften Autor hin und folgt ihm atemlos in Gefilde, die auf der Landkarte der
Interessen zuvor weisse Flecken waren –
seien es französische Konsumentenschutzgesetze («Alles ist wahr», dt. 2014),
der russische Nationalbolschewismus
(«Limonow», dt. 2012) oder das Urchristentum, mit dem «Das Reich Gottes» im
Hauptteil aufwartet.
Nach 100 Seiten im
Pariser Intellektuellenmilieu steht man
mitten im Gewimmel
der globalisierten Welt
des Römischen Reiches. Ähnlich wie heute wandten sich dort
im ersten Jahrhundert
viele Leute neugierig
einer östlichen Religion zu: Das Judentum
faszinierte weitum, u. a. auch in Makedonien, wo Lukas lebte, der spätere
Verfasser der Apostelgeschichte sowie
des nach ihm benannten Evangeliums – und die eigentliche Hauptfigur
des Buches. Oder vielmehr: eine von
zwei Hauptfiguren. Denn Carrères
«Ich», das vorher als Gottessucher
aufgetreten ist, ist weiterhin präsent,
und zwar als – nunmehr agnostischer –
Erzähler und reflexives Zentrum, das der
Lukas-Figur Gedankengänge eingibt und
Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Der
Evangelist ist so etwas wie Carrères urchristliches Alter Ego; ihm folgt er von
Troas, wo Lukas auf Paulus trifft und
vom Freizeitjuden zum Christen wird,
über Jerusalem bis nach Rom.
Dieser Lukas erlebt hautnah nicht nur
alle Entwicklungen und Spannungen im
Lager der frühesten Christen, sondern
insbesondere auch die Umkehr der
Werte, die der neue Glaube vornimmt.
Arm sein statt reich, dumm statt weise,
krank statt gesund – dieses Programm, so
der Erzähler, stellt alles antike Denken
auf den Kopf. Zur Veranschaulichung
ruft er uns und Lukas während der Überfahrt nach Syrien eine Szene der Odyssee
in Erinnerung: Die Nymphe Kalypso bietet Odysseus an, in ewiger Jugend auf
ihrer fernen Insel zu leben. Doch der antike Held wählt die Heimkehr zu seiner
Frau und mit dem realen Leben das langsame Sterben. Paulus und die Seinen
haben sich für die andere Seite – das
«ewige Leben» – entschieden, und das
erzählende Ich kommt nicht umhin, sich
vorzustellen, wie sein menschlicher
Lukas auf hoher See und mit Odysseus
im Kopf von Zweifeln beschlichen wird:
Begeht nicht eine «Riesendummheit»,
wer sein Leben etwas Irrealem weiht
«und dafür dem, was wirklich existiert,
den Rücken zukehrt: der Wärme der Körper, dem bittersüssen Geschmack des
Lebens und der wunderbaren Unvollkommenheit des Wirklichen»?
Die Frage ist, wie die
Figur, erklärtermassen
erdacht. Über Lukas
ist wenig bekannt und
Carrère folglich «einerseits frei und andererseits gezwungen, etwas
zu erfinden». All diese
Erfindungen bewegen
sich aber in einem
engen Raum, den eine
Fülle von Quellen aus
und über Lukas’ Zeit absteckt – der Erzähler phantasiert keine Geschichten
zusammen, sondern stellt sich eine
Figur mit menschlichen Gedanken
vor, die bestenfalls auf faktischem
und in jedem Fall auf «nichtunmöglichem» Terrain agiert. Was dabei
entsteht, ist ein Buch, das sich jeder
Schublade entzieht; von einer «Ermittlung» ist einmal die Rede, und tatsächlich trifft dieser Begriff einen Kern.
Erkennungssymbol
des Christentums
schlechthin: das
Kreuz. Hier eine
byzantinische Reliquie aus dem frühen
11. Jahrhundert.
Literarische Glanzstücke
Das Geheimnis des Glaubens vermag
selbstredend auch diese grosse Untersuchung nicht aufzudecken. Aber wenn
sich Carrère an Lukas’ Fersen heftet, geht
nicht nur ein einst Gläubiger einem neu
Gläubigen nach, sondern auch ein jetziger Schriftsteller einem antiken Autor.
Die Fahndung ist also auch eine literarische, und auf diesem Gebiet lässt sich
einiges dingfest machen: «Das Reich Gottes» zeigt Lukas als Informationensammler, Quellenleser, Kopist, Neuformulierer und Geschichtenmonteur,
und je tiefer man in das Buch eintaucht,
desto deutlicher wird, dass Carrère seinem Alter Ego bis in die Schreibverfahren hinein ähnelt . . . Wenn der Autor am
Ende «im Namen der Romanschriftstellerzunft» den Hut vor Lukas’ Glanzstück – der Weihnachtsgeschichte – zieht,
so muss man, im Namen der lesenden
Zunft, dasselbe auch vor Carrères Meisterwerk tun. Denn nichts anderes ist sein
«Reich Gottes». ●
Global Times
Der packende Roman von Toni Stadler
zur weltweiten Mobilität von
Menschen, Ideen, Kulturen, Religionen
und Gewalt.
buch.ch | thalia.ch | exlibris.ch | tonistadler.com
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Bei Eshkol Nevo fügen sich Einzelschicksale zu einem magisch-realistischen Gesellschaftsbild
Liebeswirrenim
jüdischenTauchbad
Von Stefana Sabin
Eine Mikwe, früher Judenbad genannt,
ist in der jüdischen Tradition ein Tauchbad, das der rituellen Reinigung und
Läuterung dient – kein Ort der Hygiene,
sondern ein kultischer Ort, dem in einer
jüdischen Gemeinde eine hohe Bedeutung zukommt. Deshalb beschliesst ein
amerikanischer Wohltäter, in einer israelischen Wüstenstadt, die wegen der vielen archäologischen Funde eine besonders fromme Bevölkerung angezogen hat
und «Stadt der Gerechten» genannt wird,
zum Gedenken an seine verstorbene
Frau eine Mikwe bauen zu lassen. Der lokale Bürgermeister macht sich auf die
Suche nach einem geeigneten Bauplatz
und findet ihn in einer Neubausiedlung
am Rande der Stadt, wo nur russische
Einwanderer wohnen und die deshalb
herablassend Sibirien genannt wird. «Die
Mikwe in Sibirien» heisst im hebräischen
Original der Roman, in dem Eshkol Nevo
von den Schicksalen erzählt, die sich in
dieser Mikwe kreuzen.
Von fromm bis atheistisch
Der Bürgermeister dieser fiktiven «Stadt
der Gerechten» und sein Assistent, der
neu eingewanderte russische Schachmeister und sein Enkel, die israelische
Neubekehrte und ihr amerikanischer
Mann, der palästinensische Bauunternehmer und der israelische Offizier – es
sind allesamt einsame Gestalten: «Die
einsamen Liebenden», wie der Titel der
deutschen Übersetzung ankündigt.
So werden mehrere Liebesgeschichten
miteinander verwoben, und immer wieder wird die Mikwe in Sibirien zu einem
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8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
zentralen Ort der Handlung gemacht.
Der Assistent des Bürgermeisters, der für
den Bau verantwortlich ist, erlebt an der
Mikwe ein unerklärliches Wiedererwachen der Sehnsucht nach seiner Jugendliebe, die er dort dann auch tatsächlich
trifft. Das unerwartete Wiedersehen der
früheren Liebenden ist eine Schlüsselszene im Roman. Sie zeigt, wie die Protagonisten ihre Selbstbeherrschung aufgeben und sie sich gleich wieder zurückerkämpfen, wie sie sich nach einem Neubeginn sehnen und dennoch den Mut
dafür nicht aufbringen. Denn Nevos
Thema ist nicht nur der Schatten, den die
Vergangenheit auf die Gegenwart wirft,
sondern auch der mögliche Schatten,
den die Gegenwart auf die Zukunft werfen würde. Weil sie sich stets an ihren
Träumen reiben, suchen Nevos Figuren
Halt in einem Glauben, dem sie dann
doch nicht ganz trauen.
Den frommen und halbfrommen Einwohnern der «Stadt der Gerechten» setzt
Nevo die Neueinwanderer entgegen und
inszeniert ein Aufeinanderprallen der
Kulturen, dem er satirisch-komische
Szenen abgewinnt. Nevos Neueinwanderer werden von pragmatischen Überzeugungen geleitet, und da sie nicht wissen, was eine Mikwe ist, glauben sie,
dass ihnen die Stadtverwaltung ein Gesellschaftshaus gebaut hat. So besetzen
sie das neue Gebäude, um dort Schachturniere abzuhalten. Erst als der Bürgermeister sie überredet, die Mikwe ihrer
Bestimmung entsprechend zu benutzen,
fangen die Einwanderer an hinzugehen
– und als sie erkennen, dass ihnen dort
ihre jugendlichen Kräfte wiederkehren,
mutiert die Mikwe zu einem begehrten
Treffpunkt der Siedlung: allerdings nicht
wegen eines religiösen Umbesinnens
der atheistischen Einwanderer, sondern
wegen ihrer neu erwachten erotischen
Energien. Als der amerikanische Wohltäter mit seiner Klarinette spielenden Be-
Habis-Center – Zufahrt A
Waldau 1 | 9230 Flawil
gleiterin die Mikwe besucht, ist er von
dem lebhaften Treiben so überrascht,
dass ihn der Schlag trifft. Aber als er im
Krankenhaus wieder erwacht, kann er
sich an nichts erinnern.
Tatsächlich scheint die Mikwe in Sibirien eine magische Aura zu haben. Verborgene Leidenschaften leben wieder
auf, neue Sehnsüchte erwachen – und
damit neue Zweifel. Auch deshalb befinden sich Nevos Figuren in einem anhaltenden existenziellen Selbstgespräch,
das sie einsam macht – sie sind wie jene
Vögel, die «plötzlich alleine weitab ihrer
üblichen Zugrouten auftauchen, weit
weg von ihrem Schwarm, als habe sich
etwas in ihrem inneren Kompass verschoben». Wie diese Vögel sind auch
Nevos Romanfiguren «verlorene Einzelgänger», die die Orientierung zu behalten und einen lebbaren Weg zwischen
Glück und Unglück zu finden versuchen.
Ganz und gar originell
Dass trotz der unglücklichen Liebesgeschichten der Roman keineswegs traurig
ist, verdankt sich Nevos sicherem Gespür
für die ausgewogene Mischung aus Realismus, Phantastik und Satire. Wie David
Grossman verankert Nevo seine Handlungen in der israelischen Realität; wie
Abraham Yehoshua verleiht er dem Geschehen eine magische Dimension; wie
Etgar Keret reichert er die Geschichten
mit satirischen Episoden an – und ist
dennoch ganz und gar originell. Das hat
nicht zuletzt mit einer geschickten narrativen Technik zu tun: Nevo verknüpft
mehrere Handlungsfäden, wechselt die
Erzählperspektiven und unterbricht
immer wieder die Chronologie durch
Rückblenden und Reflexionen. Dabei
hält er den epischen Rhythmus konstant.
So gelingt es ihm, die Empfindungen seiner Figur nachvollziehbar zu machen
und aus Liebesgeschichten ein Sozialgemälde zu zeichnen. ●
Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch
Eshkol Nevo: Die einsamen Liebenden. Aus
dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
dtv premium, München 2016. 304 Seiten,
Fr. 21.90, E-Book 16.90.
Roman Die Archäologin Anita Siegfried macht aus der verrückten Vision des Bündner Ingenieurs
Pietro Caminada eine packende Sience-Fiction-Story
ZuSchiffvonGenuanachBasel
Anita Siegfried: Steigende Pegel.
Bilgerverlag, Zürich 2016. 221 Seiten,
Fr. 34.–.
Von Charles Linsmayer
Am Montespluga soll eine Staumauer,
über der Rofflaschlucht ein vermoostes
Zementrohr stehengeblieben sein . . .
Nicht anders als bei ihren Jugendromanen von 1993 und 1994, die auf den Ausgrabungen auf dem Üetliberg beruhten
und die Zeit von 500 v. Chr. evozierten,
könnte die studierte Archäologin Anita
Siegfried auch diesmal auf Spuren einer
vergangenen Epoche gestossen sein.
Sie entwickelt daraus den Roman eines
transalpinen Kanals, der von Genua über
Thusis nach Basel führte und das Gefälle
mittels
röhrenförmigen
geneigten
Schleusen überwand. Darin wurden die
aufwärts fahrenden Schiffe vom steigenden Pegel der einen Schleuse hoch- und
vorwärtsgetrieben, weil die in der parallel verlaufenden zweiten Röhre abwärts
fahrenden Schiffe den nötigen Auftrieb
erzeugten.
Im Prolog von «Steigende Pegel» wird
uns der Erfinder des Projekts, der Bündner Pietro Caminada, präsentiert, wie er
Roms Politik und Wirtschaft 1908 an
einem Neujahrsempfang vergeblich für
seine Idee gewinnen will, immerhin aber
mit einem Kompliment des Königs hausieren kann: «Man wird noch lange von
Ihnen reden.» Dann, nach einem Zeitsprung ins Jahr 1933, sind wir mitten im
Geschehen drin. Auf der «Rachele»,
einem von 150 Kanalschiffen, machen
wir die Fahrt von Genua nach Thusis mit,
werden mit dem Funktionieren des
Schleusensystems vertraut und teilen
den Alltag des Capo Sergio und des
Schiffsjungen Riccio. Alle Schiffer weisen irgendeinen Makel auf, sind behindert oder kriegsversehrt, Alkohol wird in
Strömen konsumiert, und der Albtraum
aller ist das «male della montagna», das
bei der Fahrt durch den 15 km langen
Splügentunnel all die Unglücklichen
herumgeistern lässt, die beim Bau des
Kanals starben. «Wer in diesen Abgrund
geschaut hat, für den gibt es kein Entrinnen», erkennt Riccio und ergreift wie andere vor ihm die Flucht, ehe er das Loch
nochmals passieren muss.
Der zweite Teil führt zurück zu den
Anfängen des Projekts, als Caminada
nach 1886 in Rio Hafenanlagen und
Strassenbahnen baut und mit vielem
Schiffbruch erleidet, bis er mit seiner
Frau, einer Brasilianerin, nach Rom zurückkehrt, um sich, während er auch da
mit fast allen Projekten scheitert, bis zu
seinem Tod 1923 nicht von der Idee des
Alpenkanals abbringen zu lassen.
Der dritte Teil, ein Artikel aus der New
York Times von 1930, verrät schliesslich,
dass sein Assistent Filippo Balzani, ein
gläubiger Faschist, Caminadas Vision
von 1924 bis 1931 als Teil von Mussolinis
Modernisierungswahn ohne Rücksicht
auf Verluste umgesetzt hat und die
Schiffsverbindung 1931 eröffnet wird.
So geschickt und fast schon glaubwürdig all das inszeniert und beschrieben ist:
Es hat den transalpinen Kanal natürlich
nie gegeben. Was es gab, sind Caminadas
originale Pläne, und die hat Anita Siegfried so gekonnt und überzeugend in die
Erzählung eingebaut, dass man ihrer Science Fiction nur allzu leicht auf den Leim
gehen könnte. Was nicht zuletzt damit
zu tun hat, dass Figuren wie der unglückliche Caminada, seine Frau Luiza und der
clevere Balzani, aber auch die Kanalschiffer Sergio und Riccio genau so lebensecht gezeichnet sind wie das Zeitko-
lorit im kolonialen Brasilien oder im faschistischen Italien.
«Man muss nicht der liebe Gott sein,
um Unvorstellbares zu verwirklichen»,
verkündet Caminada 1908, und indem er
den Satz ad absurdum führt, führt der
Roman, mit dem Anita Siegfried nach
dem im England des 19. Jahrhunderts
spielenden Roman «Die Schatten ferner
Jahre» von 2007 ein weiteres Beispiel
ihrer eigenwilligen historischen Erzählkunst vorlegt, zugleich auch die menschliche Hybris als solche ad absurdum.
Jene Hybris, die, Gott sei’s geklagt, schon
Bedenklicheres hervorgebracht hat, als
eine alpine Wasserstrasse es hätte werden können . . . ●
Russische Avantgarde Künstlerische Kraftpakete
Man glaubt es kaum, aber die Künstler der russischen
Moderne waren Saftwurzeln, die sich auch nicht scheuten, den Körper einzusetzen. Sport war teilweise so angesagt wie Malerei, vielleicht weil zu Beginn des 20.
Jahrhunderts Wettkämpfe zur Kultur der russischen
Grossstädte gehörten. Die Ringkämpfer, die Natalia
Gontscharowa 1908 bis 1909 malte, sind eines der wenigen Beispiele, in denen diese Leidenschaft auch in der
Kunst ihren Ausdruck fand. Das Bild war 1910 in der
skandalträchtigen Moskauer Avantgarde-Ausstellung
«Karo Bube» zu sehen. Die Künstlerin zeigt weder die
selbstgefälligen Posen der zahlreichen Gruppenfotos,
noch fängt sie reportageartig den Kampf ein. In kühner
Vereinfachung steigert sie die Dynamik der beiden
Kämpfer zu existenzieller Expressivität. Das ist damals
sonst nur Malewitsch vor seinen abstrakten Bildern gelungen. Entdeckungen wie diese hält der Band (Ausstellung: Albertina, Wien, bis 26. Juni) in Hülle und Fülle
bereit. Gerhard Mack
Chagall bis Malewitsch. Die russischen Avantgarden.
Hrsg. v. Evgenia Petrova und Klaus Albrecht Schröder.
Hirmer, München 2016. 312 S., 194 Abb., Fr. 52.–.
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Emily Brontës Klassiker «Sturmhöhe» erscheint in einer höchst eigenwilligen Neuübersetzung
SchlampenundLahmärsche
In «Wuthering
Heights» aus dem
Jahr 1847 schuf Emily
Brontë kraftvolle
Figuren. Hier auf
einer Zeichnung von
Balthus: Catherine
und Heathcliff.
Emily Brontë: Sturmhöhe. Aus dem Englischen von Wolfgang Schlüter. Hanser,
München 2016. 640 S., Fr. 46.90.
Wegen technischer Probleme erscheint der
für März angekündigte Titel erst im Mai.
Von Janika Gelinek
Es sei eine «abstossende Geschichte»,
schrieb einer der ersten Rezensenten bei
Erscheinen von «Wuthering Heights»
1847 – und das lässt sich auch 170 Jahre
später, wo an der Identität der unter
Pseudonym schreibenden Emily Brontë
und am Weltrang ihres Romans keine
Zweifel mehr bestehen, nur schwer bestreiten. Massive verbale und physische
Gewalt begleiten die Vorgänge rund um
das einsam gelegene Landhaus in Yorkshire, ferner, wie der Übersetzer Wolfgang Schlüter im Nachwort zutreffend
zusammenfasst, «bekommt man geboten: Spielsucht und Alkoholismus, Kindesmisshandlung, Tierquälerei, Krankheiten in extenso, unterlassene Hilfeleistung, Sterbeszenen, Rachephantasien,
Grabschändung, Freiheitsberaubung».
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
AKG - IMAGES
Kritik am Hang zum Braven
Das, was sich über drei Generationen
hinweg zwischen Wuthering Heights
und Thrushcross Grange, zwischen den
Familien Earnshaw und Linton und insbesondere zwischen Catherine Earnshaw
und dem Findelkind Heathcliff an Liebe
und Hass, Rachsucht und Vergeltung abspielt, ist im kollektiven Gedächtnis fest
verankert und hat, neben Musikerinnen,
Dramatikern und Regisseuren, immer
wieder auch Übersetzerinnen herausgefordert. Es zeugt von Schlüters philologischer Akribie und seinem Selbstbewusstsein, dass er im hervorragenden Anhang
des Buches nicht nur alle der 13 bislang
vorliegenden deutschen Übersetzungen
angibt, sondern anhand des 17. Kapitels
auch einen detaillierten Übersetzungsvergleich unternimmt.
Insgesamt sieht er hier bei seinen Vorgängerinnen eine zu grosse Scheu und
reflexhaft glättende Bravheit am Werk,
die den Ausgangstext in «glattpolierte
Belletristik» überführt und gerade die
wörtliche Rede zu einer «Sprache aus
dem Deutschunterricht viktorianischer
Gouvernanten» gerinnen lässt. Dieser
Verzagtheit im Hinblick auf die atemlose
Syntax, die groben Kraftausdrücke und
Dialektpassagen des Originals setzt
Schlüter seine «Plädoyers für Wagnisse»
entgegen, die sich etwa so anhören,
wenn Heathcliff in Beisein des überraschten und entsetzten Erzählers Lockwood seine Schwiegertochter anfährt:
«Da machste dir wieder ’n faulen Lenz!
Die andern verdienen sich ihr Brot – und
du? Lebst von meiner Fürsorge! Schmeiss
deinen Schund weg und such dir was zu
arbeiten! Für die Pest, dich ständig vor
Augen zu haben, sollste mir bezahlen –
hörste? Verfickte Schlampe!»
Wer hier zusammenzuckt, wird auch
mit dem Rest des Romans wenig Freude
haben, doch damit durchaus Wolfgang
Schlüters Intention entsprechen, der in
einer «wirkungsadäquaten Wiedergabe»
dem «anno 2016 verrohten Leser» das
verstörende Potenzial des Romans für
die viktorianische Leserschaft nahebringen will.
Diese Intention ist wesentlich befremdlicher als vereinzelte «Tussis»,
«Vollkoffer» und «Lahmärsche», über die
man sich geschmäcklerisch ereifern mag.
Und das nicht nur, weil die englische Leserschaft ja auch ohne wirkungsäquivalente Übersetzung auskommen und sich
mit «damnable jade» zufrieden geben
muss, sondern vor allem, weil Schlüter
keinerlei historische Erwartungshaltung
bei seinen Lesern voraussetzt und überdeutlich markieren zu müssen glaubt,
dass ein heute moderat erscheinender
Kraftausdruck damals einen veritablen
Konventionsbruch darstellte.
So wie Heathcliff später über seine
ihm verhasste Ehefrau Isabella Linton
berichtet, welche «Herkulesarbeit» es gewesen sei, sie davon zu überzeugen, dass
sie ihm «mit ihrer Vernarrtheit auf den
Sack» gehe, bietet Schlüter sein grosses
übersetzerisches Können dafür auf, den
Leser keinesfalls jener Illusion zu überlassen, die darin besteht, für die Dauer
der Lektüre einer fremden Welt anzugehören. Im arroganten Irrglauben, der
Leser sei ohnehin der artifiziellen Operation der Übersetzung gewahr, schafft er
eine bewusst aufrüttelnde Differenz zum
womöglich fälschlich einlullenden Klassiker, ohne zu berücksichtigen, dass
doch eine Übersetzung zumeist nicht als
Interpretation herangezogen wird, sondern weil man das Original nicht lesen
kann oder will.
Voll brausenden Lebens
Wenn also der Bediente Robert von
Thrushcross Grange, der sich im Original
eines schlichten Hochenglischen bedient, plötzlich nur aus dem Grund mit
einem Hamburger Dialekt ausgestattet
wird, um ihn sozial vom grässlichen Faktotum Joseph von Wuthering Heights abzugrenzen, hat man es mit einer sehr
freien Fortschreibung des Originaltextes
zu tun. Für die werden zwar ebenso ausführlich Gründe angegeben wie für
Josephs irritierendes Wienerisch, das
Schlüter dessen Verschlagenheit und Misogynie am besten abzubilden scheint, in
sprachlicher, inhaltlicher oder gar ästhetischer Hinsicht vermag sie jedoch nicht
zu überzeugen.
Catherine und Heathcliff aber stürmen weiter durch den einzigen Roman
der Pfarrerstochter Emily Brontë, seltsamerweise unabhängig davon, ob sie «Kanaille», «Bestie» oder «Schlampe» sagen.
Es ist ihnen eine Kraft eigen, die, obgleich so kraftvoll in Sprache gefasst, jenseits von ihr spürbar bleibt, oder, wie Virginia Woolf 1916 über den Roman schrieb:
«Es ist, als könnte Emily Brontë alles,
woran wir menschliche Wesen erkennen, null und nichtig machen und diese
unerkennbaren Schemen mit solch brausendem Leben erfüllen, dass sie die Realität übersteigen.» ●
Erzählungen Der israelische Autor Etgar
Keret beschreibt sein Leben so, dass man
abwechselnd lachen und weinen muss
Pastrami
mitAmeisen
Kurzkritiken Belletristik
Marjaleena Lembcke: Wir bleiben nicht
lange. Nagel & Kimche, 2016. 188 Seiten,
Fr. 27.90, E-Book 16.90.
Erica Jong: Angst vorm Sterben. Aus dem
Englischen von Tanja Handels. S. Fischer,
2016. 366 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–.
Zwei Finninnen, zahllose Zigaretten und
literweise Wodka – das ist die Hauptausstattung von Marjaleena Lembckes Roman. Er spielt in einem Spital in London,
wo die 49-jährige Sisko mit Krebs im
Endstadium liegt und Besuch von ihrer
Schwester erhält. Die beiden reden nicht
viel, doch das Gesagte ist genug, eine
schwierige Beziehung zwischen ersehnter Nähe und gefühlter Distanz zu skizzieren. Die Angst vor dem Alleinsein
spitzt sich im Angesicht des Todes nur
weiter zu, und die Stärke des Buches besteht darin, dem Sterben unverstellt ins
Auge zu blicken. Wenn es aber ums Leben geht, beginnen die Probleme: Sisko
säuft noch im Krankenbett, ihre Schwester tat es lange Zeit genauso, und auch
die in Rückblenden eingeführten Brüder
entflohen vor ihrem Verschwinden in
Räusche – Suizide, Aids und Süchte lasten wie Flüche auf der Familie und überfrachten das Gefüge der Geschichte.
1973 wurde die US-Autorin Erica Jong mit
dem Roman «Angst vorm Fliegen»
schlagartig weltberühmt. Er wurde zum
Kultbuch der weiblichen sexuellen
Emanzipation. An diesen Erfolg konnte
die Autorin mit ihren acht folgenden Romanen nicht mehr anknüpfen. Nun will
sie mit «Angst vorm Sterben» das Rezept
wiederholen. Das Buch erzählt von einer
60-jährigen New Yorkerin, die von ihrem
zwanzig Jahre älteren, schwerreichen
Mann nach wie vor verehrt, aber nicht
mehr sexuell befriedigt wird. Das will sie
nicht hinnehmen; deshalb setzt sie auf
Datings. Dazwischen besucht sie ihre gebrechlichen Eltern im Krankenhaus.
Auch ihr Mann muss nach einem Zusammenbruch hospitalisiert werden. Der
Kontrast von Sex und Verfall ist mitunter
witzig, wird aber sehr strapaziert. Zudem
ist das Buch sprachlich ohne jeden Reiz
und strotzt von Ratgeber-Platitüden.
Woody Allen preist es. Unbegreiflich.
Ernst Augustin: Der Kopf.
C.H. Beck, 2016. 538 Seiten,
Fr. 35.90, E-Book 22.–.
Friedrich Christian Delius:
Die Liebesgeschichtenerzählerin. Rowohlt,
2016. 208 S., Fr. 27.90, E-Book 19.–.
Als der 1927 im Riesengebirge geborene
Psychiater Ernst Augustin 1962 seinen
Romanerstling «Der Kopf» herausbrachte, staunte das deutsche Feuilleton. Da
betrat einer mit einem ganz neuen Ton
die literarische Bühne. «Türmann stand
auf seinem Balkon und fühlte sich bedroht»: So beginnt die Geschichte des
Freidenkers, der sich vor seiner eigenen
Phantasie fürchtet und sich darum,
gleichsam in einer Flucht nach vorn, die
grösstmögliche Katastrophe ausdenkt.
Diese ereignet sich dann auch prompt,
und sie hinterlässt eine wüste, leere
Welt, in der nur wenige in Kellern überleben. Erst allmählich belebt sich die
Erde wieder, und am Ende steht Türmann
wieder auf seinem Balkon. Hat sich die
ganze Geschichte nur in seinem Kopf
abgespielt? Jahrzehntelang war dieses
merkwürdige, vielschichtige Buch vergriffen. Endlich liegt es wieder vor.
2006 hat F. C. Delius mit der biografischen Erzählung «Bildnis der Mutter als
junge Frau» sein Meisterwerk vorgelegt.
Nun kehrt der Büchnerpreisträger von
2011 zu seiner Familiengeschichte und
zur Erzähltechnik von damals zurück: In
einem einzigen, in zahlreiche kurze Abschnitte gegliederten Langsatz lässt er
seine Erzählerin im Januar 1969 von Den
Haag über Amsterdam nach Frankfurt
fahren. Drei Liebesgeschichten gehen ihr
dabei durch den Kopf: ihre eigene, die
ihrer Eltern und diejenige einer Vorfahrin während der napoleonischen Kriege.
Die fünftägige Fahrt wird zu einer Zeitreise, in der sich die Biografien verflechten. Das ist ehrgeizig gedacht, aber nur
teilweise geglückt, weil Manierismen
sowie Klischees sich einschleichen und
weil Informationen für die Leser der Innenperspektive manchmal arg in die
Quere geraten.
Etgar Keret: Die sieben guten Jahre.
Mein Leben als Vater und Sohn. Aus
dem Englischen von Daniel Kehlmann.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2016.
223 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–.
Von Manfred Koch
Als der israelische Schriftsteller Etgar
Keret seine Frau zur Entbindung in ein
Krankenhaus bei Tel Aviv bringt, hat es
gerade wieder einen Terroranschlag gegeben. Keret sitzt vor der Geburtsstation;
die Ärzte und Krankenschwestern haben
indes alle Hände voll zu tun, um die Verwundeten zu versorgen. «Womöglich»,
schreibt er, «fühlt auch das Baby, dass die
Sache mit dem Geborenwerden gerade
nicht so dringend ist.» Ein Reporter, der
den prominenten Autor auf dem Gang
entdeckt hat, hält ihm ein Mikrofon
unter die Nase und ist bitter enttäuscht,
dass er keinen traumatisierten Augenzeugen, sondern einen glücklichen werdenden Vater vor sich hat. «Zu schade,
dass du nicht dort warst. Eine Reaktion
von einem Schriftsteller wäre gut für
meinen Artikel gewesen. Jemand Originelles.» Die Opfer sagten immer das Gleiche, alles voll Blut usw. Das sei, bescheidet ihn Keret höflich, nicht deren Fehler,
sondern liege daran, dass die Anschläge
immer gleich seien: «Was soll man schon
über eine Explosion und sinnloses Sterben Originelles sagen?» Er habe keine
Ahnung, meint der andere: «Du bist der
Schriftsteller.»
Dass in Israel Leben und Tod näher aneinander liegen als anderswo, ist bekannt. An Etgar Kerets Geschichten sieht
man, wie daraus auch eine unvergleichliche Mischung aus Trauer und Witz entstehen kann. Das Baby, ein Junge, kommt
ohne Komplikationen zur Welt, und
Keret schildert ihr gemeinsames Familienleben im Einzugsbereich des immer
mal wieder drohenden Todes. Der
Schriftsteller ist originell. Wenn sie auf
der Autobahn von einem Raketenangriff überrascht werden,
spielen sie am Strassenrand
«Pastrami-S andw ich»:
Mama unten, Papa oben,
das Kind als geschützte
Fleischscheibe
zwischen
ihnen. Liegt man lange, weil
die Raketen nicht aufhören,
gibt’s «Pastrami mit Ameisen». Als Lev, der Sohn, sieben
ist, stirbt Kerets Vater, ein polnischer Jude, der den Holocaust
in einem Erdloch überlebt hat.
Und Keret erzählt so wunderbar
von des Vaters Macke, seitdem viel
zu grosse und viel zu teure Wohnungen anzumieten, dass dem Leser
nichts anderes übrig bleibt, als Tränen zu lachen. ●
Claudia Mäder
Manfred Papst
Manfred Papst
Gundula Ludwig
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Gleich vier Bücher widmen sich dieses Frühjahr den Müttern und ihrem bedrohten Wirkungsraum in
unserer Gesellschaft. Es wurde langsam Zeit. Denn die mütterliche Kümmerarbeit ist nichts weniger als
der Lackmustest der Emanzipation. Von Nicole Althaus
Dasvergessene
Kapitelder
Emanzipation
Das Territorium der superreichen Alphamütter
ist vergleichsweise klein. Es reicht vom Central
Park im Westen bis zur Lexington Avenue im
Osten, von der 60. Strasse im Süden bis ungefähr zur 96. Strasse im Norden. Kein Herrschaftsgebiet, von dem grosse Einflüsse auf die
Gesellschaft zu erwarten sind, würde man denken. Und doch haben die mütterlichen Statuskämpfe und Machtrituale in diesem kleinen
Rechteck Manhattans im letzten Sommer die
ganze Welt bewegt.
Nicht weil die privilegierten Vollzeitmamas
der Upper East Side, welche die Anthropologin
und Autorin Wednesday Martin in ihrem soeben
auf Deutsch erschienenen Buch «Die Primaten
von der Park Avenue» beobachtet und minutiös
beschreibt, repräsentativ für den Rest der
Menschheit wären. Schliesslich leben die allermeisten Mütter nicht in Luxuswohnungen,
haben keine Ehemänner mit Millioneneinkommen, besitzen keine Birkin Bags im Wert
Mutterschaft im Fokus
Rund um den Tag der Frau ist im März eine ganze
Reihe von Büchern erschienen, die auf unterschiedliche Weise allesamt den Stand des «Mutterseins» in unseren postmodernen
Gesellschaften untersuchen:
• Alina Bronsky, Denise Wilk: Die Abschaffung der
Mutter. Kontrolliert, manipuliert und abkassiert
– warum es so nicht weitergehen darf. DVA, München 2016. 256 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 16.90.
• Esther Göbel: Die falsche Wahl. Wenn Frauen
ihre Entscheidung für Kinder bereuen. Regretting Motherhood. Droemer Knaur, München
2016. 224 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 20.–.
• Wednesday Martin: Die Primaten von der Park
Avenue. Mütter auf High Heels und was ich unter
ihnen lernte. Berlin Verlag, Berlin 2016.
320 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 14.–.
• Anne-Marie Slaughter: Was noch zu tun ist.
Damit Frauen und Männer gleichberechtigt
leben, arbeiten und Kinder erziehen können.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 352 Seiten,
Fr. 27.90, E-Book 20.–.
Im Schatten der Erwerbsarbeit
Tatsächlich sind heute Vollzeitmütter eine vom
Aussterben bedrohte Spezies. Wednesday Martin ist bei weitem nicht die einzige Autorin, die
das Bemuttern als weibliche Last und Lust einer
genaueren Betrachtung unterzieht. Gleich drei
weitere Neuerscheinungen fragen nach den Voraussetzungen und Folgen mütterlicher Kümmerarbeit und beschreiben damit verbundenes
Glück und Unglück.
Da wären die Frauen, die sich in der Mutterrolle gefangen fühlen, die Esther Göbel im Buch
«Die falsche Wahl» thematisiert. Vor Jahresfrist
hatte eine wissenschaftliche Studie der israelischen Soziologin Orna Donath das Thema erstmals aufs Tapet gebracht und unter dem Hashtag #regrettingmotherhood für Zündstoff gesorgt. Denn auch wenn die Frau nicht mehr in
der Mutterschaft aufgehen will und muss, so ist
die weibliche Distanzierung vom eigenen Kind
doch noch immer ein grosses Tabu.
Da ist die Rechtfertigungsschrift mit dem
Titel «Was noch zu tun ist» von Anne-Marie
Slaughter, der Ex-Beraterin von Hillary Clinton.
Als Slaughter 2012 aus familiären Gründen ihren
Prestigejob gekündigt und in der amerikanischen Wochenzeitschrift «Atlantic» angeklagt
hatte, dass Frauen eben doch nicht alles haben
könnten, löste sie ein mittleres Beben in der Me-
Frauen, die sich nicht
entscheiden wollten zwischen
Job und Kind, sind heute der
emanzipierte Normalfall – sie
haben alles gewollt und
bekommen. Vorab alle Arbeit.
dienlandschaft aus, das bis nach Europa ausstrahlte. Und dann ist da noch das Buch mit dem
provokativen Titel «Die Abschaffung der Mutter», in dem die beiden deutschen Autorinnen
Alina Bronsky und Denise Wilk beschreiben,
wie Fortpflanzungsmedizin, Feminismus und
Fremdbetreuung die Mutter langsam, aber sicher obsolet machen.
So unterschiedlich die Titel sich dem Thema
annähern, eines steht fest: Im Frühling 2016
steht nicht die Mutter als Berufstätige im Mittelpunkt der Diskussion, sondern die Mutter als
Zentrum der Familie. Es geht den Autorinnen
nicht um die Frage, wie Kind und Karriere vereinbar sind, sondern um die Feststellung, dass
die weibliche Kümmerarbeit (in der Fachsprache «Carearbeit» genannt) auch nach einem halben Jahrhundert Emanzipation noch immer im
Schatten der Erwerbsarbeit steht und nicht die
Wertschätzung erhält, die sie verdient.
Uterus oder Hirn
Den Fokus auf die Gratispflegearbeit hat unser
rasant ergrauender Planet bitter nötig. Insofern
haben die vier Autorinnen die Zeichen der Zeit
erkannt. Viel zu lange hat es gedauert, bis das
Hegen und Pflegen endlich als menschliches Bedürfnis und gesellschaftliche Notwendigkeit erkannt und nicht mehr einfach als lästige Begleiterscheinung eines veralteten Rollenbildes ignoriert wurde.
Diese Verspätung hängt nicht zuletzt damit
zusammen, dass die Mutter bis heute das ungeliebte Stiefkind des Feminismus geblieben ist.
Die Frauenbewegung hat es zwar geschafft, ein
neues Frauenbild zu etablieren, aber die Frau
▲
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
eines Kleinwagens und erhalten für die erfolgreiche Aufzucht der Jungmannschaft keinen
Hausfrauen-Bonus. Doch sie teilen mit den
weiblichen Primaten der Park Avenue eine wichtige Erfahrung: Das Wirkungsfeld der Mutter ist
in unserer postmodernen Gesellschaft bedroht,
mütterliche Fürsorge und Hingabe ist keine
Selbstverständlichkeit mehr, sondern im Gegenteil zum Untersuchungsgegenstand mutiert, der
wahlweise belächelt oder überhöht wird. Dass
Wednesday Martin Feldforschung in der eigenen
Nachbarschaft betreibt und ihre Geschlechtsgenossinnen durch die Brille der Anthropologin
beschreibt, ist deshalb weniger originell als vielmehr symptomatisch für eine Zeit, in der Kinder
im Lebenslauf einer Frau kein Imperativ mehr
sind, sondern bloss noch eine immer weiter an
den Rand der Fruchtbarkeit gedrängte Option.
STOCK4B CREATIVE / GETTY IMAGES
Die Frau als Empfangende, Schwangere und Gebärende – wird sie, wie einige Autorinnen argumentieren, von der modernen Medizin entbehrlich gemacht?
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
als Mutter wurde auf dem steinigen Weg in die
Freiheit irgendwo aufs Abstellgleis gestellt.
Denn Fürsorge, Pflege und der Dienst am Nächsten passen so gar nicht zur propagierten Unabhängigkeit und Selbstermächtigung der Frau.
Hundertfach beschrieben Feministinnen die
Falle, in die Mütter nach der Geburt der Kinder
tappen. Simone de Beauvoir brachte es auf die
berühmt gewordene Formel: «Mutterschaft ist
die Versklavung der Frau durch die Gattung.»
Aber keine setzte sich zum Ziel, die Falle zu entschärfen. Wer Mutter ist, kann nicht frei sein – so
lautete die Bilanz der Frauenbewegung. Aushängeschilder wie Kate Millett, Germaine Greer,
Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer zogen
die Konsequenzen und blieben kinderlos. Wer
sich freiwillig in die Falle begibt, ist – besonders
seit Erfindung der Pille – selbst schuld.
So wurde die Frau zwar von der Mutterschaft
als Schicksal befreit, aber die Mutter nicht vom
Schicksal der statuslosen Gratisarbeitskraft. Die
Avantgarde des Feminismus hat den Bauch dem
Kopf geopfert und damit die Frau erneut auf ihr
Geschlecht reduziert. Sie darf jetzt zwar wählen:
Uterus oder Hirn. Beides aber geht noch immer
nicht. Als Mutter wird die Frau geköpft. Ganz
wie es Rousseaus Erben vormachten, als sie
während der Französischen Revolution Madame Roland guillotinierten, weil sie sich erdreistet hatte, nicht nur Kinder, sondern auch
politische Gedanken zu gebären. «Sie war Mutter, doch sie hatte die Natur vernachlässigt,
indem sie sich über sie erheben wollte», hiess es
in der Begründung ihrer Hinrichtung.
Koalition für die Fürsorge
Die Scharfrichter – meist sind es Richterinnen –
gibt es heute noch. Verbal köpften sie etwa unter
dem Hasthag #regrettingmotherhood die Frauen, die öffentlich gestanden, in der Mutterschaft
nicht die erhoffte Erfüllung gefunden zu haben.
Oder sie bezichtigen Mütter wie Anne-Marie
Slaughter des Hochverrats am Feminismus, weil
sie für das Wohl der Familie den Job an den
Nagel hängen. Es scheint, dass eine ganze Frauengeneration in der Leerstelle herumtappt, die
der Feminismus hinterlassen hat. Das Entweder-oder ist zur Falle für alle Frauen geworden.
Mutterschaft wird aus der
weiblichen Körperbiografie
verdrängt. Die unbefleckte
Empfängnis ist kein biblischer
Mythos mehr, sondern wird
zunehmend Realität.
Filmfestival Berlin
CiCae-Preis
Heiner-Carow-Preis
dings offen. Ihre Vorschläge gehen leider nicht
über das Einbeziehen der Väter und die Forderung nach einer Entzauberung des «Karrierewahns» als nächsten Schritt der Emanzipation hinaus.
Geburten als Dienstleistungen
Die superreichen Mütter Manhattans halten auch Einzug
ins US-Fernsehen: Bild aus der TV-Serie «Odd Mom Out».
Die Mütter, die zu Hause geblieben sind, tragen
heute als Fulltime-Entertainerinnen und
Frühestförderungsbeauftragte für jede Matheaufgabe die Verantwortung, an der das Kind
scheitert. Frauen, die lieber Karriere machen als
Kinder, werden zu Rentenprellerinnen gestempelt und müssen sich für ihren Gebärstreik permanent rechtfertigen. Die Frauen aber, die sich
nicht entscheiden wollten zwischen Job und
Kind, sind heute der sogenannt emanzipierte
Normalfall – sie haben alles gewollt und alles bekommen. Vorab alle Arbeit und allen Stress.
Das ist die Ausgangslage für die Neuerscheinungen dieses Frühjahrs. Sie alle machen sich
daran, das vergessene Kapitel der Emanzipation
wenn nicht zu Ende zu schreiben, dann doch zu
skizzieren. Für Anne-Marie Slaughter ist klar,
dass die Frau zwar befreit und unabhängig geworden ist, dass die Frauenbewegung damit
aber erst den halben Weg zurückgelegt hat.
Bauch und Kopf, so plädiert sie, müssen endlich
miteinander versöhnt werden, weil das Entweder-oder zu einem grossen Konflikt zwischen
Ehrgeiz und Fürsorge geführt habe.
Wie recht sie damit hat, zeigt ein simples Beispiel. Entscheidet eine Frau, für einen Job in
eine andere Stadt zu ziehen, gilt das als mutig
und neugierig. Dieselbe Entscheidung für einen
Mann und die Familie zu treffen, löst heute nurmehr ein Stirnrunzeln aus und wird als Abhängigkeit interpretiert. «Um die Frauen gleichzustellen, haben wir sie von der Betreuungsarbeit
als Lebensinhalt befreit und sie ins Berufsleben
geschickt. Leider haben wir unterwegs die Betreuungsarbeit als sinntragende wichtige Arbeit
entwertet», konstatiert Slaughter und fordert
eine grosse Koalition für die Fürsorge.
Wie diese konkret in unserem kapitalistischen System aussehen könnte, lässt sie aller-
Anerkennung der Kümmerarbeit fordern auch
Alina Bronsky und Denise Wilk in «Die Abschaffung der Mutter». Bloss fällt ihre Gesellschaftsdiagnose sehr viel düsterer aus. Für die beiden
Autorinnen, die zusammen zehn Kinder geboren haben, hat die Emanzipation die Mütter
nicht bloss links liegen lassen, sondern entbehrlich gemacht: Fortpflanzungsmedizin und Kaiserschnitt stellten die Mutter körperlich als
Empfangende und Gebärende in Frage und die
Fremdbetreuung verdränge sie als frühkindliche Bindungsfigur, argumentieren sie. «Die Reproduktionsmedizin etabliert Routinen, die
eine mütterliche Beziehung als Nebeneffekt
eines rein biologischen, geradezu veralteten
Vorgangs abtun, den man mit technischen Mitteln leicht umgehen kann. Systematisch werden
Familien geschaffen, in denen eine Mutter
grundsätzlich nicht vorgesehen ist. Um die mutterlosen (Anm. d. Redaktion: etwa die homosexuellen) Familien nicht zu benachteiligen, wird
die Mutter-Kind-Bindung zu einer Option unter
vielen bagatellisiert.»
Die Thesen von Alina Bronsky und Denise
Wilk sind gewagt und bewusst überspitzt –
manchmal schiessen die beiden Autorinnen
auch über das Ziel hinaus, doch ihre gesellschaftliche Diagnose stimmt: Die nährende
Mutter ist nicht mehr en vogue.
Innerhalb einer einzigen Generation ist die
Geburt von der Leistung der Frau zur Dienstleistung an der Frau umgewertet worden. Und die
nächste Generation ist gerade dabei, auch die
Schwangerschaft in ein Dienstleistungsverhältnis umzuformen: Die ersten Prominenten lassen
sich ihren Kinderwunsch von einer Leihmutter
verwirklichen und sorgen mit dem Portemonnaie für den Fortbestand ihrer Gene. Mutterschaft wird damit aus der weiblichen
Körperbiografie verdrängt. Die unbefleckte
Empfängnis ist kein biblischer Mythos mehr,
sondern wird zunehmend Realität. Und sie zeigt
das grosse und traurige Paradox der Emanzipation auf, das Esther Göbel in «Die falsche Wahl»
skizziert: Während die Schere zwischen den
Geschlechtern kleiner wird, vergrössert sie sich
unter Müttern. Verliererinnen sind die Immigrantinnen, die ihre eigenen Kinder in fernen
Ländern zurücklassen, um fremde Kinder zu
gebären, wickeln und trösten. Es wäre traurig,
wenn das vergessene Kapitel der Emanzipation
damit endete, dass Mutterschaft nicht integriert, sondern einfach outgesourct wird. ●
roSAlie THoMAss KAori MoMoi
GRÜSSE AUS
FUKUSHIMA
Ab
24. MäRz
iM Kino
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
der neue Film von
Doris Dörrie
www.filmcoopi.ch
Kolumne
LUKAS MAEDER
Charles LewinskysZitatenlese
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein neuer
Roman «Andersen»
ist im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Gegenüber einem jüngeren Menschen kann man
sich unsicher fühlen. Wie
wollen wir denn heute
wissen, ob er uns nicht in
Zukunft übertreffen
wird? Ist jedoch jemand
inzwischen vierzig, fünfzig Jahre alt geworden
und hat sich immer noch
keinen Namen gemacht,
dann braucht man vor
ihm keine Scheu zu
haben.
Konfuzius
Manchmal schreibt jemand sein allererstes Buch, und man denkt beim Lesen
die ganze Zeit: Das kann doch nicht
wirklich ein Erstlingswerk sein. Dazu
schreibt der Mann viel zu perfekt. Zu
souverän. Zu selbstsicher.
«Die Leiden des jungen Werthers»
(damals noch mit Genetiv-S) war so ein
Erstlingsroman. Wahrscheinlich betraf
die Selbstmordwelle, die das Buch ausgelöst haben soll, lauter MöchtegernAutoren, die den Vergleich mit ihren eigenen bescheidenen Talenten nicht ertrugen.
Oder die «Buddenbrooks». Ein gerade
mal Sechsundzwanzigjähriger bringt
sein erstes Buch heraus, und schon
schreibt Rainer Maria Rilke in einer Besprechung: «Man wird sich diesen
Namen unbedingt notieren müssen.»
Manchmal sind solche Erstlingsautoren nicht nur unverschämt gut, sondern
auch unverschämt jung. Der Débutroman von Benjamin Lebert – in mehr als
dreissig Sprachen übersetzt – erschien,
als der Autor noch nicht einmal den
Autoführerschein machen durfte. Kein
Wunder, heisst der Titel «Crazy».
Im Normalfall allerdings verläuft der
Entwicklungsweg eines Schriftstellers
weniger steil. Das erste Buch ist meistens noch mit unverdauten Empfindungen überladen, beim zweiten scheint
vielen Autoren bereits der Stoff auszugehen, und erst mit dem dritten oder
vierten entwickelt sich die handwerkliche Sicherheit, die zum Schreiben eben
auch gehört.
Ausser bei jenen Glückskindern, die
das alles nicht nötig zu haben scheinen.
Gerade habe ich wieder so ein Buch
gelesen. Sein Verfasser ist zwar kein
Teenager mehr, aber doch erst gerade so
alt wie mein Sohn, und er versichert
glaubhaft, dies sei tatsächlich ein Erstlingswerk. Dabei hat er die Stilsicherheit
eines erfahrenen Schreibers, spürt mit
professioneller Präzision, wann seine Geschichte einen Szenenwechsel braucht,
und weiss Pointen zu setzen, dass man
aus dem Staunen nicht herauskommt.
Entweder hat dieser Autor schon ein
halbes Dutzend Romane unter Pseudonym verfasst, oder die Muse hat sich
einfach in ihn verliebt. Wenn er nicht so
sympathisch wäre, würde ich neidisch
auf ihn werden.
Ach ja: Er heisst Emanuel Bergmann und sein
Buch «Der Trick». Sie
sollten es lesen.
Kurzkritiken Sachbuch
Paul Veyne: Palmyra.
Requiem für eine Stadt. C.H. Beck, 2016.
140 Seiten, Fr. 26.90.
Philipp Schönthaler: Survival in den 80er
Jahren. Der dünne Pelz der Zivilisation.
Matthes & Seitz, 2016. 280 S., Fr. 31.90.
Der Titel des schmalen Bändchens verheisst Trauer. Tatsächlich schreibt Paul
Veyne, der 86-jährige Doyen der französischen Althistoriker, mit diesem Porträt
der Wüstenstadt Palmyra eine Elegie.
Vergleichbar mit Venedig zeigte die Oasenstadt am Rande der syrischen Wüste
ein hybrides Stil- und Identitätsgemisch:
Man sprach aramäisch, kleidete sich persisch, die Statuen waren aus Bronze, die
Tempel hatten Fenster – und doch gehörte man gleichzeitig zur hellenistisch-römischen Weltkultur. Es geht um Luxushandel und Wüstenpisten, um Grabfiguren, eine Säulenstrasse, die keine war,
und um vieles mehr in einer viertausendjährigen Geschichte. Die Zerstörung
erwähnt Veyne mit keinem Wort. Nur gewidmet hat er sein Buch Khaled al-Asaad,
dem syrischen Archäologen Palmyras,
der im vergangenen August mit 81 Jahren vom IS ermordet wurde, weil er sich
«für Götzenbilder interessierte».
Die 80er: Das waren nicht nur Achselpolster und Föhnfrisuren, sondern auch
Wurmgerichte und Lianenschwünge.
«Survival» lautete das Wort des Jahrzehnts, das eine Unmenge von Überlebensratgebern aufkommen und eine beachtliche Zahl von halbnackten Männern
irrwitzige Trainingseinheiten im Urwald
absolvieren sah. Der Literaturwissenschafter Philipp Schönthaler geht in
einer breit angelegten Untersuchung der
Frage nach, wo der Survival-Boom jener
Jahre herrührte. Einleuchtend ist, dass in
Zeiten von Reaktorunfällen und Waldsterbeszenarien die Zivilisation zur Gefahr und Wappnung zum Gebot geredet
wird. Paradox oder bezeichnend bleibt,
dass sich die Survival-Manie in den
80ern parallel zu Sicherheit und Wohlstand ausbreitete und in Zeiten und an
Orten, da sich Menschen tatsächlich ums
Überleben sorgen, niemand an die Abfassung entsprechender Ratgeber denkt.
Hubert Reeves, Yves Lancelot: Wie kommt
das Blau ins Meer? C.H. Beck, 2016.
123 Seiten, Fr. 21.90.
Hannah Arendt: Sokrates.
Apologie der Pluralität. Matthes & Seitz,
2016. 108 Seiten, Fr. 16.90, E-Book 10.90.
Warum ist das Meer blau, das Rote Meer
viel salziger als der Atlantik und warum
gibt es im Mittelmeer keine Gezeiten?
Diesen und ähnlichen Fragen gehen der
Astrophysiker Hubert Reeves und der
verstorbene Ozeanograph Yves Lancelot
gemeinsam auf den Grund. Ursprünglich
gedacht als Antwort auf die vielen Fragen der eigenen Enkelkinder, bietet dieses Buch wohl auch so manchem Erwachsenen noch nicht bekannte Hintergründe und Informationen zu den grossen blauen Teichen dieser Welt. Die Faszination der beiden Wissenschafter für
die Phänomene rund ums Meer – Gezeiten, Tsunamis, Vulkane und nicht zuletzt
die Rolle der Ozeane in der Klimaentwicklung – ist ansteckend. Dies, weil die
beiden Forscher neben Fakten und Zahlen vor allem auch ihre persönliche Beziehung zu diesen geheimnisvollen Gewässern schildern.
Texte von Hannah Arendt setzen oft einiges voraus und sind deshalb nicht ganz
einfach zu lesen. Dafür enthalten sie
immer höchst eindrucksvolle Passagen.
So verhält es sich auch mit diesem Vortrag über Sokrates, den die Philosophin
1954 an der University of Notre Dame in
Indiana hielt und der nun erstmals auf
Deutsch vorliegt. Er handelt etwa von
der sokratischen Unterscheidung zwischen Meinung und Wahrheit, vom Gespräch unter Freunden über das Wesen
der Freundschaft, von Platons Höhlengleichnis und schliesslich vom Staunen,
aus dem die grossen Fragen hervorgehen
und zu dem sie zurückführen. Wem der
griechischen Zitate zu viele werden, der
blättere zur vorzüglichen Einleitung von
Matthias Bornmuth oder zu zwei Aufsätzen von Arendts einstigem Assistenten
Jerome Kohn, der an ihre grosse Begabung zur Freundschaft erinnert.
Kathrin Meier-Rust
Simone Karpf
Claudia Mäder
Kathrin Meier-Rust
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Wirtschaft Alvin E. Roth, Schulabbrecher und Nobelpreisträger, tritt zur
Verteidigung seiner Zunft an: Moderne Volkswirte erstellen keine
abstrakten Modelle, sondern betätigen sich forschend als Lebensretter
DerÖkonom,
derdieWelt
verbessert
Alvin E. Roth: Wer kriegt was und warum?
Bildung, Jobs und Partnerwahl: Wie
Märkte funktionieren. Siedler, Hamburg
2016. 303 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 23.90.
Von Sebastian Bräuer
Fast jeder Mensch würde wohl eine Niere
spenden, um eine geliebte Person zu retten. Aber die Bereitschaft sinkt deutlich,
wenn er nur die Möglichkeit hat, das
Organ einer anonymen Datenbank anzubieten. Und selbst wenn ein Mensch seinem Arzt gegenüber signalisiert, er sei zu
einer Spende bereit, ist längst nicht gesagt, dass seine Niere ihren Weg zu einem
akut Bedürftigen in einer anderen Stadt
findet. Denn solange mit der Transplantation viel Geld zu verdienen ist, mit der
Vermittlung aber wenig, hat das Krankenhaus einen fatalen Anreiz, den potenziellen Spender zu verheimlichen: Es
könnte darauf setzen, die Transplantation zu einem späteren Zeitpunkt selbst
vorzunehmen. Die Folge sind vermeidbare Todesfälle.
Alvin Roth hat in den USA nachhaltig
Abhilfe geschaffen. Der Wirtschaftsprofessor, der heute an der Uni Stanford
lehrt, baute in enger Zusammenarbeit
mit Chirurgen eine Spenderdatenbank
auf. Das Projekt startete 2004 im Bundesstaat New England. Mittlerweile ermöglicht es landesweit jedes Jahr hunderte Transplantationen. Jetzt laufen
sogar Versuche, den Austausch zu internationalisieren. Roth löste ein Problem,
an dem zuvor die Politik gescheitert war
– auf Basis von spieltheoretischen Erkenntnissen. Schlüssel zum Erfolg waren
auch finanzielle Anreize: Spitäler müssen wissen, dass sie für jede Niere, die sie
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
infolge geteilter Informationen abgeben,
ausreichend Geld erhalten. Aber eben
nicht nur. Transparenz herzustellen, Kooperation zu ermöglichen und altruistische Motive zu fördern, hat nicht zwingend mit Geld zu tun.
Märkte so zu gestalten, dass Angebot
und Nachfrage tatsächlich zusammenfinden können, ist Roths Lebensthema.
In seinem Buch «Wer kriegt was und
warum?» erklärt er, warum Märkte häufig nicht wie gewünscht funktionieren
und wie sich das mit intelligentem Design verhindern lässt. Dabei sind «Märkte» in aller Regel mehr als Orte, an denen
eine Ware gegen Geld getauscht wird.
Roth geht beispielsweise auch der Frage
nach, wie Studenten mit möglichst geringen Reibungsverlusten an Hochschulen vermittelt werden können. Oder
wie sich Online-Partnerbörsen möglichst
erfolgsversprechend gestalten lassen.
Der Spieltheoretiker ist im Jahr 2012
mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Trotzdem ist er ausserhalb von
Fachkreisen weitgehend unbekannt geblieben. Er ist keiner der Ökonomen, die
sich permanent zu jedem Thema von der
Euro-Krise bis zum Klimawandel in den
Medien äussern.
Erfrischend unideologisch
Dabei wäre es wünschenswert, dass Forscher wie der 64-Jährige in Debatten präsenter wären. Denn sie beweisen, dass
Volkswirte tatsächlich praktische Ansätze zur Verbesserung der Welt bieten können – und nicht nur davon reden, was
anders sein sollte. Die Ökonomie hat seit
Jahren ein Imageproblem wie kaum ein
anderer Wissenschaftszweig, was damit
zu tun hat, dass die noch nicht einmal
korrekte Unterstellung, niemand habe
die Finanzkrise vorhergesagt, zum Allgemeingut geworden ist. Ähnlich häufig zu
hören ist die Aussage, Ökonomen entwickelten Modelle auf Basis der wirklichkeitsfremden Grundannahme, Menschen handelten ausschliesslich rational
und egoistisch, was ihre Schlussfolgerungen unbrauchbar mache. Dieser Vorwurf war eine Zeit lang auch durchaus
berechtigt.
Alvin Roth beweist mit seiner praxisnahen Forschung, dass es auch anders
geht, und fordert Kollegen auf, psychologische Erkenntnisse ebenfalls nicht länger zu ignorieren. Er schreibt in seinem
Buch: «In den letzten Jahren haben
Verhaltensökonomen traditionelle ökonomische Annahmen auf den Kopf gestellt, weil sie erkannten, dass Menschen
nicht gnadenlos berechnend und rein eigennützig handeln, und Marktdesigner
vergeben grosse Chancen, wenn sie dies
vergessen.» In der alten Ökonomie, die
langsam von neuen Ansätzen ersetzt
wird, gab es auf versagende Märkte allzu
oft zwei diametral unterschiedliche Ant-
DDP IMAGES
nen. Er habe sein Frühstück ausfallen
lassen, weil er befürchtete, durch Anblicke und Gerüche werde ihm schlecht.
Was aber unbegründet gewesen sei, so
fasziniert sei er gewesen.
Laien gibt «Wer kriegt was und
warum?» einen leicht lesbaren Einblick
in eine Wissenschaft, in der ein fundamentaler Wandel eingesetzt hat. An einigen Stellen hätte das Lektorat darauf
bestehen können, gewisse Wiederholungen zu streichen. Sie stören den Lesefluss aber nur minimal.
worten. Ein Lager sah darin eine Rechtfertigung für staatliche Interventionen.
Das andere Lager argumentierte, Preise
seien gerade wegen der staatlichen Einmischung verzerrt.
Roth entzieht sich der schlichten Kategorisierung. Marktdesign bedeutet für
ihn, Bedingungen zu schaffen, damit
Handel funktionieren kann. «Einige
Märkte funktionieren deshalb schlecht,
weil sie noch gänzlich unreguliert sind,
während andere unter nicht sachgerechter Regulierung leiden», schreibt er. Das
mag naheliegend tönen, ist für einen
Ökonomen aber bereits bemerkenswert
unideologisch.
Am Ende des Buches geht Roth auf die
oft erbittert geführte Debatte zwischen
Interventionisten und Laissez-faire-Kapitalisten ein, indem er süffisant den österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek zitiert, einen Vordenker
des Liberalismus. Schon Hayek sei der
Meinung gewesen, dass funktionierende
Märkte Eigentumsrechte voraussetzen,
hält Roth fest. Hayek habe 1944 in sei-
nem Manifest «Der Weg zur Knechtschaft» geschrieben: «Man könnte das
Verhalten des Liberalen gegenüber der
Gesellschaft mit dem des Gärtners vergleichen, der eine Pflanze pflegt und der
zur Schaffung der für sie günstigen
Wachstumsbedingungen möglichst viel
über ihren Bau und ihre physiologischen
Funktionen wissen muss.»
Das liest sich Jahrzehnte später wie
eine Begründung, warum spieltheoretische Experimente, in denen Verhaltensweisen von Menschen erforscht werden,
das Fundament der Wirtschaftslehre
sein sollten. Nobelpreisträger Roth, der
einst die High School abgebrochen hatte
(was seine steile akademische Karriere
nicht behindern sollte), verzichtet in seinem Buch vollständig auf fachspezifische Begrifflichkeiten und mathematische Formeln. Stattdessen erzählt er
unterhaltsam und anekdotenreich von
Projekten wie der Nierendatenbank. Beispielsweise beschreibt er den Stolz, den
er verspürte, als er die Möglichkeit erhielt, einer Transplantation beizuwoh-
Märkte funktionieren,
wenn Angebot
und Nachfrage
zusammenfinden.
Das gilt auch
im Bereich der
Transplantationsmedizin, den Alvin
Roth untersucht hat.
Vom Zahnarzt übertrumpft
Das Buch ist ein Plädoyer, die Ökonomie
wieder ernst zu nehmen. Platte Vorurteile, das Fach klammere sich an überholte
Modelle, ärgern Roth. Einmal schrieb er
dem britischen Wochenmagazin «The
Economist» einen erbosten Leserbrief,
als dieses behauptete, die Ökonomie sei
keine Wissenschaft. «Unsere heutige Medizin wird Ihren Enkeln primitiv erscheinen», sagte er im Januar im Interview mit
der NZZ am Sonntag. «Was nicht bedeutet, dass man nicht heute schon zum Arzt
gehen sollte, wenn man krank ist. Genauso sollten wir auch heute schon einen
Ökonomen um Rat fragen, wenn eine
Wirtschaftskrise ausbricht.»
Wie wichtig Alvin Roth für die Fachwelt werden könnte, verdeutlicht die Rezension des kanadisch-amerikanischen
Wissenschafters Alex Tabarrok im
«Wall Street Journal». «Es war schmerzhaft, als sich selbst meine Mutter zu fragen begann, ob Ökonomen weniger
brauchbar seien als Zahnärzte», schreibt
Tabarrok in dem US-Leitmedium. «Wer
kriegt was und warum?» ist das Buch, das
ich ihr zur Ehrenrettung meines Berufes
geben sollte.» ●
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Kultur Der Literaturwissenschafter Carlos Spoerhase würdigt die Dreidimensionalität der Bücher
Vom Wert der Wälzer
Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum.
Die drei Dimensionen des Buches in der
Diskussion der Gegenwart und der
Moderne. Wallstein, Göttingen 2016.
76 Seiten, Fr. 19.90.
Von Florian Bissig
Bücher nehmen Raum ein. Für diese
Wahrheit wird kaum ein Leser dieser Seiten Belege brauchen. Doch der Berliner
Literaturwissenschafter Carlos Spoerhase konstatiert, seine Zunft schenke ihr
zu wenig Beachtung.
Ausführlich zeigt er in seinem Essay,
wie die Modernisten die ersten zwei Dimensionen des Buchs untersucht hatten.
Für Paul Valéry verband sich bei der Rezeption eines Buchs die schrittweise, lineareLektüremiteiner«überblickshaften
Oberflächenlektüre» der Buchseite. Die
grafischen Innovationen der Werbebranche seiner Zeit sah er als Chance. Nicht so
Walter Benjamin, der im Gewimmel von
farbigen Schriftzügen im öffentlichen
Raum das Ende der Buchkultur sah. Der
dritten Dimension des Buchs schenkten
die Modernisten keine Beachtung, und
laut Spoerhase tut dies die Wissenschaft
bis heute nicht. Er geisselt einen «fundamentalen Zweidimensionalismus der
bisherigen Beobachtung des Buches».
Daher erstaunt es, dass Spoerhase
selbst nicht über das Offensichtliche hinausgeht. Er beschränkt sich auf den Hinweis, dass die besondere Dicke und
Schwere von grossen Romanen selbst
eine Botschaft ist. Das schiere Volumen
von Wälzern wie «Moby-Dick» oder «Infinite Jest» markiere den Anspruch der
Werke auf totale Welthaltigkeit. Gewiss
wahr, doch was ist mit der räumlichen
Dimension des Buchs überhaupt? Die
zeitliche Struktur der Buchlektüre, die
«Kulturtechnik» des Hantierens mit Büchern – das alles trifft ja nicht nur auf den
«Klopper» von 1000 Seiten zu.
Ob seiner Wälzerhuberei versäumt es
Spoerhase, an den aktuellen Kontext seines Themas anzuknüpfen: Was geht bei
der Überführung von Büchern in zweidimensionale Digitalisate verloren? Gemäss Spoerhase nichts weiter, könnte
man meinen, ausser der Tatsache, dass
man dicke Bücher als Türstopper verwenden kann. Es bleibt uns, seinen Essay
als Türstopper aufzufassen, der den
Durchgang zur von ihm geforderten
gründlichen Analyse des räumlichen
Charakters von Büchern freihalten soll.
Doch dazu könnte sich Spoerhases Bändchen als zu flach erweisen. ●
Zeitgeschichte Wie zwischen 1871 und 1945 hat Deutschland heute eine «halbhegemoniale» Stellung
inne, befindet Hans Kundnani. Er wirft dem Land vor, seine Machtposition schlecht zu nutzen
ZurückindieZukunft?
Von Victor Mauer
Ein wiedervereinigtes Deutschland, so
notierte Margaret Thatcher 1993 in ihren
Memoiren, «ist schlichtweg viel zu gross
und zu mächtig, als dass es nur einer von
vielen Mitstreitern auf dem europäischen Spielfeld wäre». Nicht ein «europäischer Superstaat», sondern eine klassische Politik des «Gegengewichts» sollte
die Deutschen deshalb einhegen. François Mitterrand teilte die Sorgen, hatte
aber eine andere Lösung parat. «Die
Macht Deutschlands», so hatte ihm sein
Berater Jacques Attali aufgeschrieben,
«beruht auf seiner Wirtschaft, und die DMark ist die deutsche Atombombe.» Die
«deutsche Atombombe» mit Hilfe einer
europäischen Währungsunion zu entschärfen, sollte nach französischen Vorstellungen dazu beitragen, das strukturelle Problem der materiellen Stärke
Deutschlands und seiner politischen
Rolle in Europa zu lösen.
Heute, ein Vierteljahrhundert später,
ist die «deutsche Frage» zurück auf der
europäischen Agenda. Die Währungsunion hat das Dilemma nicht gelöst, sondern verschlimmert. Wie zwischen 1871
und 1945, so die an den Historiker
Ludwig Dehio angelehnte These von
Hans Kundnani, hat Deutschland wieder
eine «halbhegemoniale» Stellung in Europa inne – allerdings nicht in geopolitischer, sondern in geoökonomischer
Form. Das Land ist zu schwach, um den
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
Schwarz-Rot-Gold
statt Sternenbanner:
In Hans Kundnanis
Augen drückt
Deutschland dem
vereinten Europa
den Stempel seiner
eigenen Präferenzen
auf.
PRISMA BILDAGENTUR
Kontinent zu beherrschen, und zu stark,
um sich einzuordnen.
Kundnanis Befund ist weder falsch
noch neu; aufschlussreich ist aber die
Begründung, die der Senior Fellow beim
German Marshall Fund in Berlin liefert.
Spricht er zunächst noch davon, die
Eurokrise sei durch die Interaktion von
Ländern im Rahmen einer schlecht konstruierten Gemeinschaftswährung verursacht worden, wird Deutschland zunehmend zum Universaljoker, um die
Malaise zu erklären. Anders als die USA
als westeuropäischer Hegemon nach
1947 habe es seine Macht in der Eurokrise
nicht klug genutzt. Statt den eigenen
Handelsbilanzüberschuss zu verringern,
Inflation zuzulassen und als «consumer
of last resort» zu fungieren, habe es anderen mit dem Schlachtruf nach Haushaltsdisziplin, Schuldenabbau und Strukturreformen die eigenen Präferenzen aufgezwung e n .
Hans Kundnani: German Power.
Das Paradox der deutschen Stärke.
Aus dem Englischen von Andreas
Wirthensohn. C.H. Beck, München 2016.
207 Seiten, Fr. 27.90.
Kurzum: Deutschland habe in Europa
nicht für Stabilität gesorgt, sondern Instabilität gesät.
Vor diesem Hintergrund verwundert
es kaum, dass der Autor mit therapeutischem Eifer auf paläo-keynesianische
Positionen und die Vergemeinschaftung
der Schulden setzt, um der vermeintlichen «Wettlaufdynamik der Koalitionsbildung» und der «gemeinsamen Front»
gegen Deutschland gerade noch rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Dass die
Eurozone aus eigenständigen Staaten
besteht, die sich im Rahmen der Gemeinschaft einmal verbindliche Regeln
auferlegt haben, wird dabei ebenso nonchalant beiseitegeschoben wie die Tatsache, dass die im Kontext der Krise erzielten Vereinbarungen durchaus das Bemühen widerspiegeln, die unterschiedlichen Bedürfnisse auszutarieren.
Die zentrale These vom Paradox der
deutschen Stärke ist eingebettet in den
Versuch, die grossen Linien der deutschen Aussenpolitik von 1871 bis heute
pointiert herauszuarbeiten. Das meiste
ist bekannt, manches originell, einiges
überholt, anderes verzerrt, wieder anderes schlicht falsch. Herausgekommen ist,
im besten Sinne des Wortes, eine Streitschrift. Zum Nachdenken regt sie an,
und Widerspruch ist garantiert. Dass die
deutsche Geschichte noch nicht zu Ende
ist, wie Kundnani in Anlehnung an einen
Bestseller von Francis Fukuyama festhält, hat die Aussagekraft einer leeren
Phrase. Gerade deshalb hätte man sich
aber gewünscht, er hätte seinen 2014
veröffentlichten Text für die deutsche
Ausgabe nicht nur um ein mäanderndes
Nachwort ergänzt. Ansatzpunkte liefert
die deutsche Aussenpolitik seit dem letzten Sommer jedenfalls zuhauf. ●
Geschichte Alabama, Ghana, Suez, Ungarn: Weltweit erhoben sich 1956 die Menschen für ihre Freiheit.
Simon Hall verbindet die Bewegungen zu einem packenden Buch
EinJahrdesinbrünstigen
Aufbegehrens
Simon Hall: 1956. Welt im Aufstand.
Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 487 Seiten,
Fr. 32.90, E-Book 28.90.
Von Kathrin Meier-Rust
KEYSTONE-FRANCE / GAMMA-KEYSTONE / GETTY IMAGES
«1946» (von Victor Sebestyen) erklettert
gerade die Bestsellerliste, «1913» (von
Florian Illies) war eines der bestverkauften Sachbücher der vergangenen Jahre.
Geschichtsschreibung pflegte sich immer
sowohl geografisch als auch zeitlich einzugrenzen, wie könnte sie sonst den
uferlosen Strom der Jahre und Fakten
bewältigen. Mit der Globalisierung der
Welt hat sich dieses Konzept aber in einer
merkwürdig paradoxen Weise verändert:
Die neue Ausweitung des geografischen
Raumes auf die ganze Welt geht einher
mit einer Verkleinerung des Zeitraumes
zu einem Punkt hin, zum Punkt eines
einzigen Jahres nämlich.
Auftakt mit Brandanschlag
Man spricht inzwischen vom «seitlichen
Blick» auf die Geschichte, von einer «horizontalen» statt der üblichen vertikalen
Darstellung. Wie in einem Brennpunkt
soll sich in einem breit dargestellten Jahr
der Lauf der Geschichte bündeln. Und
dieser Brennpunkt soll die historische
Entwicklung für Laien besser erhellen als
die überfordernde vertikale Längssicht.
Ist das wirklich so? Über ein Dutzend Bücher mit einer Jahreszahl als Titel sind
jedenfalls im vergangenen Jahrzehnt erschienen, und mit etwas Skepsis nimmt
man nun auch noch «1956» zur Hand.
Der
britische
Amerika-Historiker
Simon Hall rechtfertigt seine Wahl mit
dem «kollektiven Drama dieses Jahres»,
welches heute in Vergessenheit geraten
sei: Ganz im Gegensatz zum eher überdramatisierten Jahr 1968 gälten die
1950er heute generell als glanzlose, von
Konformität und Konsum erstickte Zeit –
während sich in Wahrheit gerade damals
die Menschen weltweit zu einem «monumentalen Kampf» erhoben, der «die
Nachkriegswelt von Grund auf verändern sollte».
In der Schweiz erinnert die Jahreszahl
1956 vor allem an den Ungarn-Aufstand.
Hall beginnt seine Schilderung des Jahres jedoch in Montgomery, Alabama, mit
einem Brandanschlag auf das Haus des
damals 27-jährigen Pfarrers Martin Luther King am 30. Januar. Die Anfänge der
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung
mit dem Busboykott in Montgomery und
dem gewalttätigen Widerstand gegen die
Integration von schwarzen Schülern in
den Südstaaten wird zu einem grossen
Strang dieses Buches. Kunstvoll verflicht
ihn Hall mit zwei anderen. Einerseits mit
dem Aufbegehren gegen die Sowjetherrschaft in den Ländern des Obstblockes,
Das Jahr 1956 war
u. a. geprägt von
Unabhängigkeitskämpfen gegen die
Kolonialmächte.
In Senegal (Bild
vom 8.1.1956) etwa
erhielten nach Streiks
und Revolten alle
erwachsenen Bürger
das Stimmrecht.
das durch die «Geheimrede» Nikita Chruschtschows vom 25. Februar in Moskau
ausgelöst und mit der brutalen Niederwerfung des Ungarn-Aufstandes im November (vorläufig) beendet wurde. Und
andererseits mit dem Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmächte in Afrika – insbesondere in Algerien, Ghana,
Ägypten und Südafrika –, der in der
Suezkrise, ebenfalls Anfang November
1956, einen ebenso dramatischen wie
symbolischen Höhepunkt fand.
Glänzender Erzähler
Ein schönes Kapitel widmet Hall auch
dem Rock’n’Roll, jener «Dschungelmusik», die damals zu ersten TeenagerKrawallen führte und den Angriff der
westlichen Jugend auf das Establishment einläutete. Und er beschliesst das
Buch in Kuba, wo am 2. Dezember 1956
ein völlig überladener alter Kahn namens
Granma ein paar seekranke junge Männer an Land brachte. Just im Jahr, als die
Sowjetunion durch ihr brutales Vorgehen in Osteuropa den Führungsanspruch
für jede idealistische revolutionäre Bewegung verlor, sollten diese Männer der
linken Utopie neuen Glanz und ungeahnte Attraktion verleihen.
Der Historiker Simon Hall ist ein glänzender Erzähler, der es immer wieder
aufs Neue versteht, einzelne dramatische Episoden in den Gang der Ereignisse einzuordnen und mit erhellenden
Rück- und Ausblicken zu erklären. Geschmeidig wechselt er zwischen den
Schauplätzen, folgt gleichzeitig der
Chronologie des Jahres und erhöht die
Spannung mit Cliffhangern, die einen
zum Weiterlesen zwingen.
Immer wieder zieht Hall jene erhellenden Querverbindungen und Parallelen,
um die es ihm letztlich in diesem Buch
geht, weil er sie für das zentrale Element
des Jahres 1956 hält: So wie King seinen
Kampf auch als Stärkung der amerikanischen Demokratie im Kalten Krieg verstand, sahen sich ungarische und algerische Freiheitskämpfer solidarisch mit
dem Bürgerrechtskampf. «Die Bemühungen um Unabhängigkeit in Afrika,
Ungarns Todeskampf gegen den Kommunismus und das entschiedene Drängen der amerikanischen Neger, als Bürger (…) anerkannt zu werden, sind untrennbar verbunden» – so bilanziert nicht
Simon Hall das Jahr, sondern schon Martin Luther King im Januar 1957.
60 Jahre danach erstaunt vor allem die
schier unglaubliche Antiquiertheit der
offen rassistischen und kolonialen Rhetorik, mit der machtpolitische Interessen
verteidigt und brutalste Gewalt damals
gerechtfertigt wurden. Auch wer politische Korrektheit nicht mag, steht heute
fassungslos vor diesem Reden und Denken. Ähnlich weit weg erscheint von
heute gesehen aber auch die idealistische Inbrunst, mit der damals die Demonstranten sangen: ob Marseillaise,
Internationale oder Gospel Song. Die
Desillusionierung, die seither stattgefunden hat, mag nötig gewesen sein, doch
«1956» führt uns auch die Entpolitisierung, den Zynismus, den Materialismus
und nackten Egoismus unserer eigenen
Zeit vor Augen. Ein Buch mit einer Jahreszahl als Titel kann also tatsächlich die
historische Entwicklung erhellen – wenn
es denn so mitreissend erzählt und analysiert wie «1956». ●
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Soziologie Hartmut Rosa analysiert den Menschen als Beziehungswesen und stellt fest, dass die
«Beschleunigung» den Aufbau von glücklichmachenden Bindungen behindert
WiedasLebengelingenkönnte
Hartmut Rosa: Resonanz.
Eine Soziologie der Weltbeziehung.
Suhrkamp, Berlin 2016. 816 Seiten,
Fr. 45.90, E-Book 37.–.
Von Walter Hollstein
Hartmut Rosa hat sich viel vorgenommen. Der Soziologe aus dem badischen
Lörrach, der seit längerem in Jena lehrt,
formuliert eine ganz neue «Soziologie
der Weltbeziehung». Dabei hat er den
Anspruch «einer umfassenden Rekonstruktion der Moderne» als gesellschaftstheoretischen Grossentwurf.
Aber es ist nicht nur das. Rosa verspricht auch Zukunft und Optimismus.
Das ist bemerkenswert. Die soziologische Debatte der Moderne wird von negativen Gesellschaftsbildern bestimmt.
Danach leben wir «im Niedergang», in
einer «Risikogesellschaft», sind «zugerichtete Menschen» in «Sklavenmentalität», unser Selbst ist erschöpft, und wäre
es nach Jean Baudrillard gegangen, hätte
schon «das Jahr 2ooo nicht mehr stattgefunden». Da will Rosa Kontrapunkte setzen, die wieder Orientierung und Sinn
ermöglichen sollen. Doch damit nicht
genug. Rosa offeriert das Heilsversprechen eines besseren Daseins: «Gelingendes Leben» will er skizzieren. Was wird
davon eingelöst?
Leiden am Leistungsdruck
Als Schlüsselbegriff zu allem präsentiert
Rosa die «Resonanz» – so auch der Titel
seines neuen Buches. Nun ist dieser Ansatz zunächst einmal nicht besonders
revolutionär. Der Volksmund wusste ja
schon immer: «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.» So simpel
ist es bei Rosa selbstverständlich nicht:
«Resonanzen sind Ergebnis und Ausdruck einer spezifischen Form der Beziehung zwischen zwei Entitäten, insbesondere zwischen einem erfahrenden Subjekt und begegnenden Weltausschnitten.» Das meint, dass sich «gelingendes
Leben» nicht in Form von Ressourcen
und Erworbenem messen lässt, sondern
von unserer Beziehung zur Welt abhängig ist. Von diesem Austausch leben wir
letztlich. Resonanz ist insofern eine Art
Gleichgesinnung mit der natürlichen
Aussenwelt und den anderen Menschen.
Rosa präsentiert ein beeindruckendes
Spektrum von Materialien, die diese
Weltbeziehungen belegen: angefangen
beim Atmen, Essen oder Lachen über Familie, Freundschaft, Politik und Konsum
bis zu Natur, Kunst und Geschichte.
Die derart vielfältigen Weltbeziehungen sieht Rosa nun aber auf fundamentale Weise gestört. Bei der Formulierung
dieser Diagnose greift er auf seine Gesellschaftskritik zurück, die er schon früher
in seiner ebenso wichtigen wie innovativen Kritik der «Beschleunigung» herausgearbeitet hat. Exakt diese Dynamik erschwere unsere aktuelle Weltbeziehung.
Die moderne Gesellschaft müsse sich
«immerzu ausdehnen, (...) wachsen und
innovieren, Produktion und Konsumtion
steigern (...), um ihren formativen Status
quo zu erhalten». Dieser kontinuierliche
Leistungsdruck beeinträchtige zunehmend die «Weltbeziehung» der Menschen, was sich für Rosa konkret «an den
grossen Krisentendenzen der Gegenwart» festmachen lässt: ökologische
Krise, Demokratiekrise und Psychokrise.
In ihrer Gesamtheit untergraben diese
Krisen die menschlichen Möglichkeiten
gelingender Resonanz: «Entfremdung
wird dann zum Grundmodus der
Weltbeziehung.»
Was tun? Bis Seite 725 entwirft Rosa
eine ebenso faszinierende wie stellenweise apokalyptische Gesellschaftskritik, in die er auch zum Schluss seines
grossen Werkes wieder zurückfällt. «Und
wo bleibt das Positive?», liesse sich mit
Erich Kästner fragen. Das Wenige, das
Rosa da skizziert, entbehrt des konkreten Gebrauchswerts. Symptomatisch
dafür ist denn auch Rosas Schlusssatz:
«Eine bessere Welt ist möglich, und sie
lässt sich daran erkennen, dass ihr zen-
traler Massstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das
Hören und Antworten.» Nach der facettenreichen und beeindruckenden Gesellschaftskritik, die Rosa vorlegt, mutet ein
solcher Satz ausgesprochen naiv an –
wenn nicht sogar ärgerlich. Die Versprechen eines optimistischen Gesellschaftsentwurfs und der Darlegung dessen, was
für die Menschen «gelingendes Lebens»
ist, bleiben damit unerfüllt.
Verarmung der Soziologie
Zudem stellt sich die Frage nach dem historischen Stellenwert von Rosas Theorie.
Rosa wirft der bisherigen Soziologie vor,
die «Bezogenheit» des Menschen nicht
zur Genüge zu berücksichtigen. Das mag
in gewisser Weise stimmen. Umgekehrt
lässt sich fragen, ob die «Radikalisierung
der Beziehungsidee», die Rosa vornimmt, nicht dazu führt, konkrete gesellschaftliche Bedingungen nicht ernst
genug zu nehmen, sie schliesslich auch
zu entpolitisieren. Zudem könnte die Reduktion auf die «wechselseitige Bezogenheit» von «Subjekt und Welt» eher
eine Verarmung der Soziologie bedingen
gegenüber «alten» und spannenden
Ansätzen von der Dialektik zwischen
menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen oder den «alltäglichen Lebenswelten», wie sie Schütz
und Luckmann beschreiben.
Diesen wirft Rosa vor, zu rationalistisch zu argumentieren. Das kann sein;
aber auch Rosa verbleibt letzlich in
einem recht engen Netz von Rationalismus. So nimmt er viele Resonanzansätze
– jenseits des Mainstreams – gar nicht
erst zur Kenntnis. Bei aller Hochachtung
vor Hartmut Rosas Werk wird man fragen müssen, ob er nicht ein wenig von
seiner Stoffflut erdrückt worden ist. Sein
Schlusswort als schon prophylaktische
«Verteidigung der Resonanztheorie gegen ihre Kritiker» wirkt jedenfalls nicht
sonderlich souverän. ●
Walter Hollstein ist emeritierter
Professor für politische Soziologie
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20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
Holocaust Das unlängst entdeckte Tagebuch einer jungen Jüdin protokolliert das Grauen in den Lagern
Unter Todesgefahr gegen das
Vergessen anschreiben
Klaartje de Zwarte-Walvisch: Mein
geheimes Tagebuch. Aus dem Niederländischen von Simone Schroth.
C.H. Beck, München 2016. 202 Seiten,
6 Abb., Fr. 28.90, E-Book 15.–.
Von Klara Obermüller
Ein Buch wie dieses hat 70 Jahre nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs wohl
niemand mehr erwartet. Autorinnen wie
Anne Frank und Etty Hillesum, wie Grete
Weil und Jessica Durlacher haben in Tagebüchern und Romanen eindrücklich
beschrieben, wie es den Juden erging im
besetzten Amsterdam und später in
Westerbrok, von wo sie direkt in die Vernichtungslager von Bergen-Belsen, von
Auschwitz und Sobibór deportiert wurden. Mit neuen Einsichten war kaum
mehr zu rechnen. So dachte man und
irrte sich gründlich.
Vor ein paar Jahren stiessen zwei holländische Forscher im Museum für jüdische Geschichte in Amsterdam auf das
Tagebuch einer unbekannten jungen
Frau, die am 22. März 1943 von «Judenjägern» aufgegriffen und am 4. Juli vom
Konzentrationslager Vught aus nach
Westerbrok gebracht worden war, wo
sich ihre Spur verlor. Das namenlose Dokument war dem Museum von der Tochter des Holocaust-Überlebenden Salomon de Zwarte übergeben worden.
Woher es kam, wusste sie nicht. Wie so
viele, die der Vernichtung entkommen
waren, hatte auch ihr Vater nie über seine
Vergangenheit gesprochen und das Geheimnis um das Tagebuch mit ins Grab
genommen.
Dank den Recherchen der holländischen Forscher konnte das Geheimnis
nun aber gelüftet werden: Die Tagebuchschreiberin war Klaartje de ZwarteWalvisch, geboren am 6. Februar 1911 in
Amsterdam, ermordet in Sobibór am 16.
Juli 1943. Vom Tag der Verhaftung bis
unmittelbar vor dem Abtransport nach
Polen hatte sie ihre Erlebnisse schriftlich
festgehalten und die Aufzeichnungen in
letzter Minute ihrem Schwager Salomon
de Zwarte übergeben, der sie in Westerbrok zum Zug begleitet hatte.
Das «geheime Tagebuch» der Klaartje
de Zwarte-Walvisch ist kein Dokument
subtiler Introspektion, sondern ein unter
Zeitdruck und Todesgefahr geführtes,
sprachlich recht ungeschliffenes, aber
dafür umso glaubwürdigeres Protokoll
des Grauens, geführt in der Hoffnung,
«dass alles, was ich hier aufgeschrieben
habe, einmal die Aussenwelt erreicht».
Lange sollte es dauern, bis der Wunsch
der Tagebuchschreiberin in Erfüllung
ging. Doch jetzt liegt das Buch nicht nur
in Holland, sondern auch im deutschsprachigen Raum vor und gibt einer
längst vergessenen jungen Jüdin aus
Amsterdam ihren Namen und ihre Stimme zurück.
Wie Ad van Liempt in seinem Editionsbericht und Leon de Winter in seinem Nachwort betonen, hatte die Tagebuchschreiberin Klaartje de ZwarteWalvisch keine literarischen Ambitionen. Ihre Eintragungen weisen weder die
Intimität des Tagebuchs von Anne Frank
noch die spirituelle Tiefe der Aufzeichnungen von Etty Hillesum auf, aber sie
sind von einer Schärfe der Beobachtung
und einer Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die sie einmalig machen. Historisch bedeutsam werden sie überdies dadurch, dass es über Vorgänge wie das
Verhalten der Judenjäger oder die Zustände im Lager Vught bisher kaum Berichte gab, und schon gar nicht so an-
schauliche, wie es derjenige der Klaartje
de Zwarte-Walvisch ist.
Eine Frau, die so schreibt wie sie, hat
nur zwei Ziele vor Augen: Sie will Zeugnis ablegen, und sie will am Leben bleiben. Obwohl von zarter Konstitution, ist
Klaartje de Zwarte-Walvisch bis zuletzt
eisern auf ihren Stolz und ihre Würde bedacht. Sie tut es, indem sie ihre Peiniger
mit Verachtung straft und sich ihren Leidensgenossen gegenüber die seltene
Gabe des Mitgefühls bewahrt. «Ich selbst
und tapfer» will sie bleiben, so heisst es
einmal. Das Überleben war ihr nicht
vergönnt. Der Wunsch aber, unter unmenschlichen Bedingungen ein Mensch
zu bleiben, der ging in Erfüllung. ●
Kunstgeschichte Selbstporträts von Frauen
Selbstbildnisse haben eine Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Die Kunsthistorikerin Frances
Borzello widmet sich im vorliegenden Buch den Selbstporträts von Frauen. Dabei geht sie der Frage nach, wie
sich Selbstbilder von weiblichen Künstlerinnen von
jenen ihrer männlichen Kollegen unterscheiden. Borzello erklärt, warum weibliche Selbstporträts im 16.
Jahrhundert v. a. in Form von Musikerinnenbildern entstanden und sich Ende des 18. Jahrhunderts als Mütterdarstellungen manifestierten. Ein tiefgreifender
Wandel fand im 20. Jahrhundert statt, das neue Themen
wie Sexualität oder Schmerz aufgriff. Neben Gemälden
zeigt das Buch auch fotografische Selbstporträts, die,
wie bei Vivian Maier, oft aus Spiegelungen entstanden.
Der Spiegel galt als Symbol für die Suche nach der Wahrheit unter der Oberfläche, und die Amerikanerin, deren
viele Fotos erst 2013 entdeckt wurden, drückte auf den
Auslöser, wann immer sie sich in Schaufenstern, Aussenoder Wandspiegeln entgegenblickte. Simone Karpf
Frances Borzello: Wie ich mich sehe. Frauen im Selbstporträt. Brandstätter, Wien 2016. 272 Seiten, 180 Farbabbildungen, Fr. 42.90.
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Wirtschaft Wie steht es um den Standort Schweiz? 25 Unternehmer beantworten heikle Fragen
Hohe Qualität, tiefe Verunsicherung
sophin Katja Gentinetta und die Sozialwissenschafterin Heike Scholten, beide
in der Politikberatung tätig, haben Vertreter von 13 Grossunternehmen, zehn
Kleinunternehmen und zwei Start-ups
aus verschiedenen Branchen zu ihrem
Verhältnis zur Schweiz befragt.
Dabei wollten sie ergründen, ob es
eine besondere Bindung zum Land gibt,
die über das rein wirtschaftliche Kalkül
hinausgeht. Noch schneidet die Schweiz
in den Rankings gut ab. Die Befragten
lobten Tugenden wie die hohe Arbeitsmoral, die Qualität der Arbeit, die Konsensbereitschaft und das liberale Denken. Doch die Wertepfeiler beginnen
Rost anzusetzen. Eine zunehmende
Kluft zwischen Stimmvolk, Wirtschaft
und Politik kommt zur Sprache. Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Arbeitskräften aus Europa könnten viele
Katja Gentinetta, Heike Scholten: Haben
Unternehmen eine Heimat? NZZ Libro,
Zürich 2016. 272 Seiten, Fr. 43.90.
Von Susanne Ziegert
Wird die Schweiz im Jahr 2050 nur noch
als «Weide voller Kühe» glänzen oder
weiterhin ein Innovationsstandort sein?
Dieser Gegensatz, den ein Schweizer Manager formuliert, ist überspitzt. Doch er
drückt die Sorge vieler Unternehmer
um die Zukunft des Standortes aus. Vor
allem die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und der Frankenkurs trüben die Wachstumsaussichten.
Das geht aus den Porträts in «Haben
Unternehmen eine Heimat?» hervor, die
aus Interviews mit 25 Unternehmern und
Managern verdichtet wurden. Die Philo-
Chefetagen zur Suche nach alternativen
Standorten motivieren. Einige der Unternehmer ziehen andere Schlüsse und wollen sich künftig stärker in der Schweiz
engagieren, um ihren Bedürfnissen
Gehör zu verschaffen. Dies ist ganz im
Sinne der Autorinnen, die von den CEOs
fordern, sich als «Citoyens» zu begreifen,
die aktiv in den Diskurs eingreifen.
Die Porträts bieten Einblick in die
Gedankengänge wichtiger Unternehmer.
Dabei mag der Leser aus Neugier bedauern, dass sie anonymisiert wurden. Dadurch konnten sich die Befragten jedoch
ungewohnt offen über heikle Fragen wie
mögliche Verlagerungen äussern. Besonders lehrreich ist der erste Teil des Buches, der den Heimatbegriff historisch
einordnet und daran erinnert, dass die
Schweizer «Heimat» bis ins 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland war. ●
Essay Der US-Philosoph Harry G. Frankfurt plädiert für weniger Gleichheit und mehr Suffizienz
Genug ist genug
Harry G. Frankfurt: Ungleichheit.
Suhrkamp, Berlin 2016. 109 Seiten,
Fr. 14.90, E-Book 12.–.
Von Urs Rauber
Harry G. Frankfurt, emeritierter Professor für Philosophie der Universität
Princeton, gilt als wissenschaftliches Enfant terrible. Seine Analyse des Begriffs
«Bullshit» wurde in den USA zum Bestseller. In seinem neuen Werk mischt sich
der Ethiker lustvoll in die durch Thomas
Piketty angeregte Debatte um ökonomische Ungleichheit ein. Seine Entgegnung
ist brillant und provokativ, seine These
schnörkellos: Ökonomische Ungleichheit als solche ist moralisch nicht verwerflich. Unerwünscht ist sie nur dort,
wo sie unannehmbare Ungleichheiten
anderer Art erzeugt. Deshalb sei es
schädlich, sich dem ökonomischen Egalitarismus als moralischem Ideal zu verschreiben. Die Beispiele dazu findet
jeder in seiner Umgebung: Wer kennt
nicht begüterte Personen, die zutiefst
unglücklich sind? Und anderseits Menschen, die bescheiden leben, andern helfen und dabei hochzufrieden wirken?
Als Alternative zum Egalitarismus vertritt Frankfurt das Suffizienzprinzip:
«Was ökonomisch zählt, ist, dass jeder
genug hat.» Ökonomische Umverteilung
bis hin zur materiellen Gleichheit sei vor
allem deshalb abzulehnen, weil sie stets
mit Zwang, also Freiheitseinschränkung,
verbunden sei. Das Prinzip der Gleichheit behindere die Menschen darin,
selbst ihre finanzielle Lage zu bestim-
men, und verleite sie dazu, ihre Aufmerksamkeit auf Wünsche und Bedürfnisse anderer zu richten. Das Gleichheitsprinzip trage zur «moralischen Orientierungslosigkeit und Seichtigkeit unserer Zeit» bei. Schliesslich gelte es, soziale Gleichheit von anderen Postulaten
zu unterscheiden, die der Autor selbstredend vertritt: Chancengleichheit, gleiche Achtung, gleiche Rechte usw.
Ausführlich philosophiert Frankfurt
über das Dilemma von Menschen zwischen Schadensvermeidung und Nutzenoptimierung oder darüber, warum
der Begriff «genug» auf das Optimum,
nicht auf das Maximum ziele. Auch wenn
die Polemik in einem dünnen Band daherkommt, wirkt einiges redundant. Im
Geiste des Autors möchte man rufen: Wir
haben verstanden, nun aber genug! ●
Gastronomie Im Restaurant stillt der Mensch nicht nur den Hunger, sondern auch seinen Geltungsdrang
Die Eitelkeit isst mit
Christoph Ribbat: Im Restaurant.
Suhrkamp, Berlin 2016. 228 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 21.–.
Von Berthold Merkle
Im Restaurant wird gegessen und geschlemmt. Stimmt das? Christoph Ribbat
belehrt uns eines Besseren. «Die Geschichte des europäischen Restaurants
Ende des 18. Jahrhunderts beginnt
damit, dass die Menschen keinen Hunger
haben», schreibt er. Und damit ist schon
das Wesentliche gesagt. Denn es geht
beim Restaurantbesuch nicht um das
Sattwerden, sondern um das Sehen und
Gesehenwerden. Nur am Rande und vielleicht auch als offizielle Begründung
geht es auch um den Genuss.
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
Mit derartigen Prämissen gewappnet,
kann der Paderborner Kulturwissenschafter ganz unbefangen untersuchen,
was sich alles im Restaurant abspielt –
vor den Augen der Gäste, vor allem aber
dort, wo es keiner sieht. Dabei kommt er
mit seinen Beobachtungen zu haarsträubenden Erkenntnissen. Als Faustformel
gilt: Je weiter weg vom Gast, desto
schlimmer. Ribbat belässt es aber nicht
bei vielen Beispielen von ekligen Szenen
im Umgang mit Lebensmitteln und Hygiene. Sein präziser Blick gilt vor allem
auch den sozialen und menschlichen
Umständen. Wenn die einen das Leben
geniessen wollen, müssen andere dafür
schwer schuften. Nirgendwo sonst sei
das Wesen des Kapitalismus so deutlich
und auf so engem Raum zu erkennen,
meint der Autor.
Das Rastlose, das Unmittelbare nimmt
Ribbat auch in seiner Erzählform auf. In
mannigfaltigen Episoden beschreibt er
die Entwicklung der Gastronomie in den
letzten 250 Jahren in allen ihren Arten:
ganz unten, ganz oben. Er erzählt von
Döner-Imbissen und Drei-Sterne-Tempeln, von Günter Wallraff als getarntem
Reporter bei McDonald’s und Ferra Adrià
als zeitweise bestem Koch der Welt.
Frappierend, was der Autor alles gefunden hat. Sogar die Tiefpunkte der Geschichte spielten (auch) im Restaurant:
die Diskriminierung und Verfolgung der
Juden in Deutschland und der Farbigen
in den USA. Dabei urteilt Ribbat nicht,
sondern vertraut auf die Kraft der Montage. Die Geschichten wirken richtig –
beim nächsten Restaurantbesuch wird es
der schöne Schein schwerer haben. ●
Wissenschaft Dichterische Imagination und naturwissenschaftliche Präzision gelten als getrennte
Sphären. Elmar Schenkel belegt ihre traditionelle Verwandtschaft
WoPhantasieundForschung
ihreSchnittmengehaben
literarischen Opus magnum wissenschaftskundig auf die astronomisch-kosmologischen Umwälzungen seiner Zeit
reagierte. Und dann der Sprung: In Dantes Höllen-Allegorie scheine schon das
auf, so Schenkel, was physikalisch erst
Stoff für das 20. und 21. Jahrhundert
wurde – das Schwarze Loch oder die
Dunkle Materie. Manchmal verliert sich
der Autor allerdings im PhantastischSpekulativen, wenn er mit Lust am Fabulieren die erhellenden Momente im Zusammenspiel von Wissenschaft und Literatur, von Traum und Wirklichkeit, von
Spiel und Forschergeist, von Dichtung
und Durchdringung von Wissenschaftstheorien ausmalt.
Elmar Schenkel: Keplers Dämon.
Begegnungen zwischen Literatur, Traum
und Wissenschaft. S. Fischer, Frankfurt
am Main 2016. 400 Seiten, Fr. 35.90,
E-Book 25.–.
Von Angela Gutzeit
Es gibt rhetorische Formeln, die so eingängig sind, dass sie sich vom Namen
ihres Schöpfers komplett lösen. Das trifft
beispielsweise auf den Begriff der «two
cultures» zu, den Charles Percy Snow im
Jahre 1959 kreiert hat. Der Engländer war
Physiker, verfasste aber auch etliche
Romane, die er unter anderem nutzte,
um seinen eigenen Wissenschaftsbetrieb
aufs Korn zu nehmen. Snows literarisches Werk dürfte heute weitgehend vergessen sein. Aber seine provozierende
These, die eine komplette Entfremdung
zwischen der geisteswissenschaftlichliterarischen Sphäre und dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich diagnostizierte, überlebte den 1980 gestorbenen Percy Snow.
Gegenwart kommt zu kurz
SCIENCE SOURCE / MAURITIUS IMAGES
Schutzraum für Gewagtes
Der 1953 geborene Anglist Elmar Schenkel kennt natürlich den englischen Intellektuellen. Und in mancher Hinsicht
wirkt sein jüngstes Buch «Keplers
Dämon. Begegnungen zwischen Literatur, Traum und Wissenschaft» wie eine
trotzige Replik auf Snows Diktum von
den zwei auseinanderdriftenden Kulturen: Auf rund 400 Seiten versammelt der
Autor eine beachtliche Menge von Beispielen, die die Verwobenheit von literarisch-künstlerischer Imagination und
wissenschaftlichem Denken belegen.
Elmar Schenkels Hauptinteresse richtet
sich dabei auf Menschen, die Heinrich
von Kleists Anspruch erfüllen, ein
Geistesmensch habe sich auf beides zu
verstehen – sowohl auf eine Metapher
wie auch auf eine Formel.
Sein Gewährsmann – oder wie Schenkel formuliert sein «Wappen» – ist dabei
Johannes Kepler. Der Astronom des
frühen 17. Jahrhunderts ist der Verfasser
der Schrift «Somnium sive astronomia
lunaris». Und da Schenkel einen eingängigen, lockeren Schreibstil pflegt, erklärt
er Keplers Schrift über eine fiktive
Mondreise kurzum zum frühsten Beispiel der Science-Fiction-Literatur. Noch
einem ganzheitlichen Denken verpflichtet, kleidete der Gelehrte hier seine Erkenntnisse über die Bewegungsgesetze
der Planeten in eine Traumvision.
Für Kepler, so schreibt Elmar Schenkel, sei die Literatur in dieser Anfangsphase der Wissenschaftsgeschichte eine
Der Astronom Johannes Kepler verpasste seinen revolutionären wissenschaftlichen Erkenntnissen ein literarisches Tarnmäntelchen.
Art Raumschiff für Gedanken und Erkenntnisse gewesen, die nicht anders
hätten ausgedrückt werden können.
Ganz abgesehen davon, dass es höchst
gefährlich war, das damals immer noch
gültige mittelalterliche Weltbild, das die
Erde als Zentrum des Universums ansah,
mit den neuen heliozentrischen Erkenntnissen zu konfrontieren. Literatur also
als Versuchs- und Schutzraum für neues
Denken.
Schenkel widmet dem Thema Kosmologie und Literatur drei Unterkapitel
unter wechselnden Gesichtspunkten.
Sein Prinzip ist dabei – wie übrigens im
gesamten Buch – das Spiel mit Querverbindungen über Jahrhunderte hinweg,
zwischen Entdeckungen, Ideen und
Schriften kluger Köpfe. Beispiel Dante
Alighieri: Schenkel charakterisiert den
Dichter der Göttlichen Komödie als frühprotestantischen Kritiker, der in seinem
Trotzdem – man folgt Schenkels Abzweigungen gern, die unter anderen zu Mary
Shelley, zu Edgar Allen Poe, E. T. A. Hoffmann und H. G. Wells führen, zu Autoren, die sich der dunklen Seiten des
menschlichen
Wissenschaftsstrebens
annahmen. Schön setzt der Autor auch
das Phänomen «Zeit» in Verbindung mit
der beginnenden Hirnforschung im 19.
Jahrhundert und den fiktiven Zeitreisen
und Schauergeschichten in der Literatur.
Und trotzdem klafft in diesem durchaus
kundigen Buch eine Lücke: Die Beschäftigung mit der Gegenwart kommt einfach zu kurz.
Schenkel verweist zwar auf Autoren
wie Daniel Kehlmann, Judith Schalansky
oder Durs Grünbein, die in ihren literarischen Werken den Graben zwischen der
Literatur und den Naturwissenschaften
immer wieder bewusst überspringen.
Man könnte weitere hinzufügen, wie
etwa den Dichter Raoul Schrott. Aber
worum geht es ihnen, wenn sie sich naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen? Und gibt es denn umgekehrt Einflüsse auf die Wissenschaft? Worin könnten die bestehen, ausser in einer vermittelnden Schreibweise?
Tatsache ist wohl doch, und Schenkel
deutet das in seiner Arbeit durchaus
auch an, dass der literarisch-naturwissenschaftliche Austausch im Laufe der
Jahrhunderte im Spezialistentum untergegangen ist. Siehe Charles Percy Snow.
Zumindest erweist sich das Interesse als
Einbahnstrasse. Und so ist Elmar Schenkels historisch kenntnisreiches Buch
wohl als Aufforderung zur Umkehr zu
verstehen. «Sinn und Sinnlichkeit», so
lesen wir bei ihm, «sollten wieder zusammenkommen». Ein Ruf nach Wiedergewinnung der verlorenen Einheit angesichts einer Menschheit, die alle ihre
Kräfte und Fähigkeiten brauchen wird,
um zu überleben. ●
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Klima Zwei Amerikaner warnen vor den Gefahren einer
extremen Erderwärmung
Spielmitdem
Feuer
Gernot Wagner, Martin L. Weitzman:
Klimaschock. Überreuter, Wien 2016.
256 Seiten, Fr. 35.90.
Von Michael Holmes
Der Klimabericht des Intergovernmental
Panel of Climate Change enthält über
2000 Seiten voller Daten und beruht auf
über 9000 Studien. Öffentliche Diskussionen zum Thema drehen sich meist um
die Zukunftsszenarien, denen die Experten die grösste Eintrittswahrscheinlichkeit zuschreiben. Die Prognose: Ohne
Gegenmassnahmen wird sich das Weltklima bis zum Jahr 2100 um 3,7 bis 4,8
Grad erwärmen, verglichen mit dem vorindustriellen Stand.
Gernot Wagner, Chefökonom des Environmental Defense Fund, und Harvard-Ökonom Martin Weitzman verfechten in ihrer fesselnden und faktenreichen Warnschrift «Klimaschock» die
These, dass wir die Gefahren der Klimaerwärmung unterschätzen, wenn wir das
Hauptaugenmerk auf die wahrscheinlichsten Entwicklungen legen. Ihre
grösste Sorge gilt der extremen Erderhitzung, deren Wahrscheinlichkeit zwar
niedrig, aber keinesfalls vernachlässigbar sei. Sie unterziehen die IPCC-Daten
gründlichen Risikoanalysen und gelangen zu dem furchterregenden Resultat,
dass die Chance einer globalen Erwärmung um mindestens sechs Grad bis
2100 ohne grossen Kurswechsel bei etwa
zehn Prozent liegt. Die Verteilungskurve
dieser «globalen Lotterie» besitze, was
Statistiker einen «Fat Tail» nennen. Das
bedeutet, dass Ausschläge auf der Negativseite extrem ausfallen. Zudem legen
die Autoren dar, dass aufgrund von
Umschlagspunkten eine exponentielle
Zunahme von oft irreversiblen Schäden
droht. So lassen sich Eismassen nicht
wiederherstellen. Wagner und Weitzman malen den fiebernden Plus-sechsGrad-Planeten nicht detailliert aus, äussern jedoch begründete Furcht, dass ein
solcher Extremwandel zur «Zerstörung
der Natur und Zivilisation, wie wir sie
kennen», führen würde.
Was tun? Die Autoren plädieren für
eine Emissionssteuer, deren Höhe den
negativen Auswirkungen entspricht.
Eine solche Sündensteuer schaffe starke
Marktanreize für Emissionsminderungen aller Art. Der Staat müsse den Rahmen sichern, die Märkte effiziente Lösungen finden. Herkömmlichen Studien
zufolge sollte die Steuer mindestens 35
Euro pro Tonne CO2 betragen. Für die
Autoren sollte sie aufgrund der gewaltigen Risiken deutlich höher ausfallen. Sie
betrachten das Klimaproblem als ein Versicherungsproblem ersten Ranges für die
gesamte Menschheit. Verantwortungsvolle Klimapolitik verlange globales und
langfristiges Risikomanagement.
Ausführlich widmet sich das Buch
dem Problem, dass die Emissionssteuer
die Bürger der partizipierenden Staaten
belastet, die erwünschten Effekte jedoch
600 Personen posierten 2007 nackt auf dem Aletschgletscher und machten so auf die
der ganzen Welt zugute kommen. So hat
jeder Staat ein Interesse daran, die Steuer zu meiden. Zudem sind die reichen
Länder die Hauptverursacher, arme Länder jedoch die Hauptleidtragenden des
Klimawandels. Wir hätten keine andere
Wahl, als an die Moral zu appellieren,
meinen die Autoren. Zwar könnten wir
den Planeten kühlen, indem wir reflektierende Schwefelpartikel in die Stratosphäre senden. Aber das «Geo-Engineering» käme wegen zahlreicher Risiken
nur als begrenzte Notlösung in Frage.
Das Buch ist frei von Polemik und Panikmache. Es zeichnet sich durch einen
Gesellschaft Rainer Erlinger rühmt die Höflichkeit und legt, höflich gesagt, ein nettes Buch vor
Lob einer unterschätzten Tugend
Rainer Erlinger: Höflichkeit.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2016.
348 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–.
Von Manfred Koch
«Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter
kommt man ohne ihr.» Das Sprichwort ist
witzig, weil es den Verstoss gegen das soziale Gebot, sich anständig zu verhalten,
als Grammatikfehler vorführt. Darin liegt
seine fast schon philosophische Doppelbödigkeit. Inhaltlich empfiehlt es Rücksichtslosigkeit als Karrieremittel, gibt
sprachlich aber listig zu verstehen, dass,
wer diesem Rat folgt, aus der gemeinsamen Sprache herausfällt. Das Sprichwort
besagt sein Gegenteil: Höflichkeit ist eine
Zier und weiter kommt man gut mit ihr –
zumindest als Mensch unter Menschen.
Rainer Erlingers Buch ist ein Plädoyer für
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
Höflichkeit als wertvolle humane Tugend. Zwar gilt sie vielen, wie der Untertitel andeutet, als «wertlos», weil die Zeit
der gepflegten Umgangsformen vorbei
sei. Wer so denkt, verwechselt nach Erlinger aber Höflichkeit mit Etikette. Deshalb lautet seine Ausgangsdefinition:
«Höflichkeit ist ein Verhalten, in dem
sich die Achtung für den Anderen ausdrückt.» Es geht demnach um eine altruistische Einstellung. Die Etikette wäre
dagegen selbstbezogen, sie dient nach
Erlinger allein dem korrekten Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit.
Mit diesem Kompass begibt sich
Erlinger ins Gewoge des Alltagslebens.
Der Mediziner und Jurist ist seit vielen
Jahren Autor der Kolumne «Die Gewissensfrage» im Magazin der «Süddeutschen Zeitung», in der er die kleinen ethischen Verwirrungen diskutiert, die wir
alle kennen. Sie entstehen meist aus Kol-
lisionen gleichberechtigter, aber unvereinbarer moralischer Ansprüche. Soll ich
meinem Ehemann, der ein Bäuchlein angesetzt hat, auf seine Frage, ob mir sein
Aussehen noch gefällt, ehrlich (und
somit brutal) oder höflich (und somit
verlogen) antworten? Drücke ich das
hässliche Weihnachtsgeschenk dem Geber gleich wieder in die Hand oder zeige
ich mich höflicherweise angetan?
Solche Fallgeschichten bilden das
Rückgrat des Buchs, und es ist überwiegend erhellend, Erlingers Antworten zu
lesen. So erhält die Frau mit dem zunehmenden Mann den Hinweis, dass die
Debatte um den Bauch als Höflichkeitsspiel geführt werden könnte, in dem sie
ihm regelmässig versichert, nicht zu dick
zu sein. Und er, weil er das Spiel kennt,
wird gerade dadurch daran erinnert, dass
einige Kilo herunter müssen. Immer wieder zeigt sich, dass es in der jeweiligen
Kulturgeschichte Seit 2000 Jahren ist die Apokalypse ein Thema.
Johannes Fried geht der Langlebigkeit des Endzeitdenkens nach
Immer wieder Weltuntergang
Johannes Fried: Dies irae. Eine Geschichte
des Weltuntergangs. C.H. Beck,
München 2016. 352 Seiten, Fr. 38.90.
MICHAEL WÜRTENBERG / EX-PRESS
Von Michael Fischer
Auswirkungen der Erderwärmung aufmerksam.
meist nüchternen Ton, eine stringente
Argumentation und profunde Sachkenntnis aus. Unklar bleibt jedoch, wie
sicher die Zahlen zu den Extremszenarien sind. Woraus genau ergeben sich
die gewaltigen Unsicherheiten? Von welchen Faktoren hängt das Ausmass der Erwärmung ab? Die Wähler werden einschneidende Massnahmen nur akzeptieren, wenn sich Belege für die ernste
Gefahr einer dramatischen Erderhitzung
häufen. Dennoch nennt dieses wichtige
Buch mehr als genug Gründe für die Notwendigkeit zu raschem, entschlossenem
und wohlüberlegtem Handeln. ●
Krieg, Terrorismus, Tsunamis, Epidemien, Krisen, nukleare Katastrophen: Es
sind solche Ereignisse, die auch heute
noch bei vielen Menschen apokalyptische Ängste auslösen und das, obwohl
wir in Europa scheinbar in einer nahezu
vollständig säkularisierten Gesellschaft
leben. Ausgehend von dieser Beobachtung untersucht der deutsche Historiker
Johannes Fried in seinem Buch «Dies
irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs» die Wurzeln des apokalyptischen
Denkens in der europäischen Kultur.
Die apokalyptische Denkfigur des drohenden Weltuntergangs ist für Fried ein
typisches Merkmal der christlich-abendländischen Kultur. Von den biblischen
Propheten über die Aufklärung bis hin
zur Moderne hat das apokalyptische
Denken unser unbewusstes Weltbild
über 2000 Jahre hinweg entscheidend
geprägt. Den Ursprung der christlichen
Apokalyptik, deren religiöse Wurzeln in
der jüdischen Tradition liegen, sieht
Fried in der Zerstörung des Tempels und
der Stadt Jerusalem im Jahre 70 n. Chr.
Die christliche Apokalypse ist aus dem
jüdischen Messianismus hervorgegangen und hat deren apokalyptische Vorstellungen radikalisiert. Daraus entstand
die christliche Geschichtstheologie als
lineare Heilsgeschichte, die letztlich auf
einen Untergang der ganzen Welt hinausläuft. Der Weltuntergang als eine
alles zerstörende Katastrophe ist demnach für Fried eine Erfindung des frühen
Christentums.
In der Folge wurde die christliche Apokalyptik in der Spätantike und im frühen
Mittelalter zum theologischen Fundament zahlreicher sozialer und politischer
Utopien, welche die Erwartung des drohenden Weltuntergangs mit dem ethischen Appell zur Rettung der gefährdeten Welt verbanden. Die Drohung des
Weltendes und der Wille zur Weltrettung
sind in der christlichen Apokalyptik eng
miteinander verwoben. Auch heute noch
wohnt dem apokalyptischen Denken in
seiner säkularisierten Form dieser ethische Impuls zur Rettung der bedrohten
Menschheit inne.
Mit dem Aufkommen der modernen
Naturwissenschaften und der damit einsetzenden Säkularisierung in der frühen
Neuzeit verschwand das apokalyptische
Denken aber erstaunlicherweise nicht.
Vielmehr verwandelte es sich und findet
sich in säkularisierter Form auch heute
noch, etwa in den kosmologischen Theorien, die die moderne Physik über das
Ende des Universums aufstellt.
Frieds kulturhistorische Untersuchung legt plausibel dar, dass die prophetisch-visionäre Sprache der christlichen Apokalyptik in der europäischen
Kultur über 2000 Jahre hinweg zu einem
archetypischen Deutungsmuster historischer Ereignisse geworden ist. Dies zeigt
das Buch anhand zahlreicher Beispiele
aus Malerei, Musik, Literatur, Film und
zeitgenössischer Popkultur von Science
Fiction bis Heavy Metal. Die brillant geschriebene Studie stellt nichts weniger
als die erste umfassende Kulturgeschichte der Apokalypse dar. Sie überzeugt mit
originellen Ideen, einer Fülle faszinierender Beispiele aus der europäischen
Kulturgeschichte von der Antike bis ins
20. Jahrhundert sowie zahlreichen Bezügen zur politischen Gegenwart. ●
Apokalypse à la
Hollywood: Im
Film «2012» (Regie:
Roland Emmerich)
löst eine plötzliche
Kontinentaldrift
Erdbeben und
Tsunamis aus.
Situation auf ein ganzes Bündel von Fähigkeiten ankommt: Aufmerksamkeit,
Taktgefühl, Phantasie und nicht zuletzt
Formulierungsgeschick. Allgemeine Verhaltensregeln lassen sich nicht geben.
Das Problem ist, dass sich eine übergreifende Theorie der Höflichkeit aus
dieser Kolumnenkollektion nicht ergibt.
Wir lesen von der Unhöflichkeit im Internet oder der Überhöflichkeit der Ostasiaten, was oft vergnüglich ist, im Ganzen
aber beliebig bleibt. Nachteilig wirkt sich
aus, dass Erlinger nicht auf die Begriffsgeschichte von Höflichkeit/Zivilisiertheit/Manieren eingeht. Da hätte er allerdings auch referieren müssen, dass bedeutende Denker Zweifel an der einfachen Entgegensetzung von ‹äusserlicher
Etikette› und ‹echter Höflichkeit› hatten.
Entsteht die wahre Moralität im Herzen
der Individuen nicht auch durch das
blosse Training von gutem Benehmen? ●
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Reportage Navid Kermanis Bericht von der Balkanroute macht die neue Völkerwanderung fassbar
Reise gegen den Flüchtlingsstrom
Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit.
Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa.
C.H. Beck, München 2016. 92 Seiten,
12 Abb., Fr. 16.90, E-Book 10.–.
Von Silke Mertins
Navid Kermanis Blick auf die Welt ist wie
der eines Fotografen, der dasselbe vor
der Linse zu haben scheint wie alle anderen und doch ein ganz und gar einmaliges Foto schiesst. Der deutsch-iranische
Schriftsteller und Bestsellerautor hat die
Flüchtlingsroute über den Balkan bereist
wie so viele Reporter. Doch wie er das
Gesehene beschreibt und in einen grösseren Zusammenhang einbettet, ist unvergleichlich vielschichtig.
Kermani beginnt im Herbst 2015, begleitet von dem grossartigen MagnumFotografen Moises Saman, seine Reise
gegen den Flüchtlingsstrom – von Köln
aus über Ungarn, die Balkanstaaten und
die griechische Insel Lesbos bis an die
türkisch-syrische Grenze. Immer wieder
wird er von Saman gescholten, weil er
ein ums andere Mal erschöpfte Menschen in sein Auto lädt und zum nächsten Hafen fährt. Er kann nicht anders.
Navid Kermani erzählt einerseits, wie
junge Helfer nicht mehr dieselben sind,
wenn sie einmal von Flüchtlingsschicksalen berührt wurden. Gleichzeitig beschreibt er aber auch die bizarren Szenen
an den griechischen Stränden, wenn die
Flüchtlinge «von langhaarigen Männern
und knapp bekleideten Frauen, die
signalgelbe Westen tragen und ‹welcome
welcome› schreien», in Empfang genommen werden.
In der Türkei trifft der Schriftsteller
nicht nur auf die Flüchtlinge und ihre
Schleuser, sondern auch auf türkische
Polizisten am Strand, die gar nicht wissen wollen, wo die Schlauchboote los-
fahren, und auch ganz plötzlich kein
Englisch mehr verstehen.
Es sind vor allem die unauffälligen
Details, die Kermanis Büchlein so besonders machen. Da ist der kroatische Polizist mit dem teilnahmslosen Gesicht,
dem die Tränen kommen, als ein kleines
Mädchen ihm über die blaue Uniform
streicht, als sei er etwas besonders Wertvolles. Oder die Flüchtlinge, die sich ausschütten vor Lachen, als Kermani sie
fragt, warum sie eigentlich nicht in die
Golfstaaten gingen. «Der Schuh von Frau
Merkel ist mehr wert als alle arabischen
Führer!», ruft ein Mann. Und da ist auch
die Moschee im türkischen Basmane Gar,
die für jeden Toilettengang und jedes
Glas Tee bei den Flüchtlingen abkassiert.
Man begreift auf den nicht einmal
100 Seiten dieser literarischen Reportage
mehr über die nahöstliche Völkerwanderung nach Europa als in fünf Jahren
Zeitungslektüre. ●
Das amerikanische Buch Die US-Wirtschaft zwischen Sprung und Stolpergang
Stagnation ist das Schlagwort dieser politischen Saison in Amerika. Ökonomen
stellen ein seit Jahrzehnten stockendes
Wachstum fest. Dagegen will Donald
Trump auf der Rechten mit Handelskriegen und Grenzmauern vorgehen.
Während Trump Fremdenhass provoziert, macht Bernie Sanders auf der Linken gierige Milliardäre für stagnierende
Realeinkommen verantwortlich. In dieser gereizten Atmosphäre ist die seriöse
Kritik dem Wirtschaftshistoriker Robert
J. Gordon dankbar für ein wuchtiges
Werk. The Rise and Fall of American
Growth: The U.S. Standard of Living
since the Civil War (Princeton University Press, 762 Seiten) erklärt Amerikas
lahmende Konjunktur auf Grundlage
einer immensen Fülle von Daten. Doch
wie der Titel signalisiert, gibt der Professor der Northwestern University in
Chicago seinen Landsleuten kaum
Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. März 2016
AP PHOTO
Gordon zählt zu den Grössen seines
Fachs in den USA. Hier legt er eine Zusammenfassung seiner Forschungsarbeit vor. Dabei denkt der 75-Jährige in
grossen Epochen. Primär abhängig von
der Landwirtschaft, stagnierten Wohlstand und Produktivität der Menschheit
über Jahrtausende. Um 1750 setzen mit
der Industrialisierung Wachstum und
höhere Lebensstandards ein. Doch erst
ab 1870 machen die USA nach Ende
ihres Bürgerkriegs den «grossen
Sprung» in ein «ausserordentliches
Jahrhundert»: Amerika wird zur führenden Industrienation und zum Inbegriff
der technischen Moderne. Hohe Produktivitätsraten schaffen eine starke,
gut ausgebildete Mittelschicht. Doch
um 1970 endet der Sprung in einem
Stolpern. Obwohl das Jahrzehnt zwischen 1994 und 2004 nochmals ein
gleichkäme. Gordon belegt seine These
mit zahlreichen Grafiken und produziert damit eine moderne Wirtschaftsgeschichte Amerikas. Das Buch ist so
nutzerfreundlich, wie ein ernsthaftes
Opus dieses Genres es nur sein kann.
«The Rise and Fall» ist übersichtlich
gegliedert, liefert Zusammenfassungen
am Ende der einzelnen Kapitel und
macht Zahlen und Statistiken mit Einblicken in den Alltag anschaulich. So
bekommt die alte Weisheit «Geld stinkt
nicht» mit der Anekdote neuen Gehalt,
dass noch um 1900 zwei Meter hohe
Haufen von Pferdemist den Zugang zum
Bankenviertel an der New Yorker Wall
Street erschwerten.
Die Autoproduktion
(Fabrik in Detroit,
1920) war ein Treiber
des wirtschaftlichen
«special century»,
das Robert J. Gordon
(unten) beschreibt.
Zwischenhoch bringt, erlahmt ab jetzt
die Kraft der Volkswirtschaft.
Gordon führt das «special century» Amerikas auf epochale Innovationen in fünf
Feldern zurück: Chemie und Pharmakologie, Elektrizität, urbane Kanalisation,
Verbrennungsmotoren sowie Kommunikationsmittel wie Telegraph, Telefon
oder Radio. Die guten Zeiten um die
Jahrtausendwende betrachtet er als
Frucht der digitalen Revolution. Gerade
aus dieser leitet Robert J. Gordon aber
seinen Pessimismus ab. Obwohl Computer, Internet und Smartphones unsere
Lebenswelt revolutionierten, brachten
sie keinen Produktivitätsschub, der etwa
den Folgen der Motorisierung nach 1920
Das Buch wird deshalb weithin als Meisterwerk und Pflichtlektüre gelobt. Das
gilt auch für Kritiker wie einen Rezensenten im Fachjournal «Foreign Affairs», die auf Nanotechnologie, künstliche Intelligenz oder Genforschung als
Motoren zukünftiger Prosperität setzen.
Robert J. Gordon listet dagegen in
einem Nachwort «Gegenwinde» auf, die
seinen Pessimismus untermauern.
Demnach tragen eine alternde Bevölkerung, marode Infrastruktur und Erziehungssysteme, nicht zuletzt aber die
zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft zu der Stagnation von Wohlstand
und Produktivität bei. Auf diesen Feldern sieht der Wirtschaftshistoriker
zwar auch Möglichkeiten, den «Niedergang des amerikanischen Wachstums»
zumindest abzuschwächen. Aber in
dieser Wahlkampfsaison heizen Steuererhöhungen für Wohlhabende und Konzerne als Quelle für staatliche Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur die gereizte Atmosphäre nur
noch weiter an. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Pablo Picasso Die Welt im Fenster
Agenda April 16
Basel
Donnerstag, 7. April, 19 Uhr
Max Frisch: Ignoranz als Staatsschutz.
Überwachung damals und heute. Gespräch mit Markus Seiler und David
Gugerli, Moderation: Thomas Strässle,
Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3.
Info: www.literaturhaus-basel.ch.
Sonntag, 10. April, 19 Uhr
Sofalesung mit Meral Kureyshi: Elefanten
im Garten. Moderation:Maja Bagat, Fr.
18.–. Literaturhaus (siehe oben).
Donnerstag , 14. April, 19 Uhr
Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der
das Glück bringt. Moderation: Katrin
Eckert, Fr. 18.–. Literaturhaus (s. oben).
Bern
Das Werk Pablo Picassos ist so reich und vielfältig, dass
Ausstellungsmacher die verschiedensten motivischen
Ansätze wählen können, ohne jemals einen Horror vacui
fürchten zu müssen. Ein besonders ergiebiges Thema
hat sich Ortrud Westheider für eine Schau ausgesucht,
die noch bis zum 16. Mai im Bucerius Kunst Forum Hamburg zu sehen ist. Es geht um das Motiv des Fensters.
Dieses zieht sich durch Picassos gesamtes Werk. Wir finden es schon in mehreren um 1899/1900 entstandenen
«Interieurs», es begegnet uns aber auch auf einer Glückwunschkarte für Guillaume Apollinaire von 1905, in der
kubistischen Phase des Malers und nach deren Überwindung. Auf einem Exlibris für Alexandre Paul Rosenberg
von 1935 taucht es ebenso auf wie auf dem Ölgemälde
«Femme couchée lisant» (Bild) von 1939, das zur Sammlung Musée national Picasso in Paris gehört. Der Katalog
zur Ausstellung ist ein schön gestaltetes, schlankes
Schaubuch, enthält aber auch einige interessante Forschungsbeiträge. Manfred Papst
Picasso, Fenster zur Welt. Bucerius Kunst Forum. Herausgegeben v. Ortrud Westheider und Michael Philipp.
Hirmer, München 2016. 192 Seiten, Fr. 48.70.
Bestseller März 2016
Belletristik
Sachbuch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Peter Stamm: Weit über das Land.
S. Fischer. 224 Seiten, Fr. 25.90.
Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben.
Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 28.90.
Nicholas Sparks: Wenn du mich siehst.
Heyne. 576 Seiten, Fr. 20.90.
Dora Heldt: Böse Leute.
DTV. 368 Seiten, Fr. 18.90.
Tommy Jaud: Sean Brummel: Einen Scheiss muss
ich. Fischer. 320 Seiten, Fr. 23.90.
Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück
bringt. C.H. Beck. 327 Seiten, Fr. 25.90.
Jo Nesbø: Blood on Snow. Das Versteck.
Ullstein. 256 Seiten, Fr. 16.90.
Elke Heidenreich: Alles kein Zufall.
Hanser. 240 Seiten, Fr. 22.90.
Rita Falk: Leberkäsjunkie.
DTV. 272 Seiten, Fr. 23.90.
Robert Galbraith: Die Ernte des Bösen.
Blanvalet. 672 Seiten, Fr. 29.90.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90.
Jesper Juul: Leitwölfe sein.
Beltz. 216 Seiten, Fr. 21.90.
Silvia Aeschbach: Älterwerden für Anfängerinnen. Wörterseh. 176 Seiten, Fr. 26.90.
Ildikó von Kürthy: Neuland.
Wunderlich. 400 Seiten, Fr. 24.90.
Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass.
Lotos. 240 Seiten, Fr. 22.90.
Peter Wohlleben: Das geheime Leben der
Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 26.90.
Arno Renggli: Der Hund starb – was er nicht
überlebte. Wörterseh. 168 Seiten, Fr. 17.90.
Bertrand Piccard: Die richtige Flughöhe.
Piper. 320 Seiten, Fr. 32.90.
Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig.
Edel. 240 Seiten, Fr. 19.90.
Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu
tun? Kiepenheuer & Witsch. 256 S., Fr. 27.90.
Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 15.03.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Mittwoch, 6., bis Samstag, 9. April
Aprillen: Berner Lesefest.
Mit Dorothee Elmiger,
Aboud Saees, Christoph
Geiser u.a., Einzeleintritt
Fr. 15.–, Tages- und
Festivalpass Fr. 40.–
und 90.–. Schlachthaus Theater,
Rathausgasse 20. Info: www.aprillen.ch.
Locarno
Donnerstag, 14., bis Sonntag, 17. April
Eventi letterari: Utopia & Amore. Mit Ian
McEwan, Arno Camenisch, Patrizia Valduga u.a., Einzeleintritt Fr. 10.–, Tagesund Festivalpass Fr. 30.– und 90.–.
Verschiedene Veranstaltungsorte in
und um Ascona. Info und Tickets:
www.eventiletterari.ch.
Zürich
Donnerstag, 14. April, 20 Uhr
Charles Lewinsky: Andersen. Buchpremiere mit Lesung und Gespräch. Moderation: Moritz Leuenberger, Fr. 20.–.
Theater Rigiblick, Germaniastr. 99.
Tickets: www.theater-rigiblick.ch.
Dienstag, 19. April, 20 Uhr
Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit. Lesung und Gespräch, Fr. 25.–.
Kaufleuten, Pelikanstrasse 18.
Info: www.kaufleuten.ch.
Mittwoch, 20. April, 20 Uhr
David Grossman:
Kommt ein Pferd in
die Bar. Lesung
und Gespräch, Fr. 25.–.
Kaufleuten (siehe oben).
Donnerstag, 21. April, 19.30 Uhr
Joanna Bator: Dunkel, fast Nacht.
Lesung und Gespräch, Fr. 18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Kartenreservation:
044 254 50 00.
Bücher am Sonntag Nr. 4
erscheint am 24.04.2016
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
27. März 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
E
W
DIENSTAG 19.04.2016
20 UHR IM FESTSAAL
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