Dr. Niko Strobach, PS WS 97/98, Zentrale Passagen aus Platons
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Dr. Niko Strobach, PS WS 97/98, Zentrale Passagen aus Platons
Dr. Niko Strobach, PS WS 97/98, Zentrale Passagen aus Platons Dialogen, Mi 14-16 Platon: Der Staat, 1. Teil I Gespräch über die Gerechtigkeit Einleitung und Thema: Der alte Kephalos erwähnt im Gespräch mit Sokrates, daß angeblich Gerechtigkeit im Jenseits belohnt und Ungerechtigkeit bestraft wird (330d/331a). Dies bringt Sokrates darauf, nach der Definition von Gerechtigkeit zu fragen. Mehrere Definitionen werden durchgespielt: 1. Definition (Sokrates in Anlehung an Kephalos): Gerechtigkeit ist Auf richtigkeit und zurückgeben, was man bekommen hat. (331c) Gegenbeispiel: Einem amoklaufenden Freund eine geliehene Waffe wiedergeben ist offensichtlich nicht gerecht. [Definition zu weit] 2. Definition (Simonides): Gerechtigkeit ist, jedem das ihm Schuldige zu geben (331e) Das Gegenbeispiel zu 1. ist ist hier entkräftet, denn man ist dem amoklaufenden Freund offensichtlich nicht die Herausgabe der Waffe schuldig. Die Definition ist aber erklärungsbedürftig, da "schuldig" erläutert werden muß. Erklärung: Einem Freund ist man schuldig, Gutes zu tun, einem Feind, Böses zu tun (332a). Genauer heißt die 2. Definition also: Gerechtigkeit ist, Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses. (332d) Einwände: a) Freunden Gutes tun und Feinden Böses tun, kann man auch aufgrund von bestimmten Fähigkeiten, z.B. als Arzt oder Fährmann. Wozu ist Gerechtigkeit neben diesen Fähigkeiten dann überhaupt noch gut? [implizit: Definition offenbar zu weit] (332d-333d) b) Wahre Freunde und Feinde sind schwer zu erkennen. (333e-335b) c) Gegenbeispiel: Jemandem, egal wem, Böses zu tun, ist nicht, was wir intuitiv unter Gerechtigkeit verstehen. (335b-336a) 3. Definition (Der Sophist Thrasymachos): Gerechtigkeit ist, was dem Stärkeren nützt. (338c) Erklärung: Die Stärksten sind an der Macht, und sie können per Gesetz bestimmen, was gerecht ist. Dabei erklären sie für gerecht, was ihnen nützt. (338d-339b) Einwand Sokrates: Die Herrschenden können sich aber irren darin, was ihnen nützt (339c). Exkurs: Thrasymachos verläßt das Definitionsprojekt und polemisiert: Den Gerechten geht es immer schlechter als den Ungerechten (343a - 351d, bes. 343a - 344b) Einwände Sokrates: a) Das ist nicht gesagt, weil unter den Ungerechten immer wieder infighting ausbricht (351d/e). b) Analogieargument: Eine gerechte Seele erfüllt ihre Aufgabe, richtig zu leben, gut, eine ungerechte schlecht - so wie scharfe Augen ihre Aufgabe, richtig zu sehen, gut erfüllen und blinde Augen schlecht (351c-354a): also lebt, wer gerecht ist, richtig. Aporie: Allerdings ist damit Gerechtigkeit immer noch nicht definiert (354b). II Die Frage, was Gerechtigkeit ist, muß weiter geklärt werden. Glaukons Forderung: Die Gerechtigkeit soll etwas sein, was um seiner selbst geliebt wird, nicht der Folgen wegen (357b/358a). Problematisierung: a) (Sokrates) Normalerweise handelt man gerecht nur aus Angst vorm Erwischtwerden. Er erzählt die Geschichte vom Ring des Gyges, der unsichtbar macht, so daß dessen Träger nie erwischt wird. Auch der zunächst Gerechteste würde doch wohl durch einen solchen Ring korrumpiert. (359b-360d) b) Die Erfahrung lehrt, daß ein totaler Bösewicht weit kommen kann, der Gerechteste aber aber gefoltert und ermordet wird (362a)1 c) (Adeimantos):Auch die Götter gelten als durch Opfer bestechlich. Also ist auch von ihnen keine Belohung der Gerechtigkeit zu erwarten (363e-365a). Es muß also klar werden: Warum also sollte man überhaupt versuchen, gerecht zu sein? (366a), Ist Gerechtigkeit besser als Ungerechtigkeit? (367e) Methodische Wende: Gerechtigkeit gibt es an Individuen wie auch an ganzen Stadtstaaten. Was einen gerechten Staat ausmacht, ist wegen der Größe des untersuchten Gegenstandes, leichter zu erkennen als, was einen gerecheten Menschen ausmacht (368d/e). Deshalb soll in einem Gedankenexperiment eine ideale Stadt, also ein volkommen gerechter Staat, vorgestellt werden, um herauszufinden, was Gerechtigkeit ist (369b). Die ideale Stadt In der Stadt leben Bauern, Handwerker und Händler (368b-372c). Die Stadt wird prosperieren (372c/373a). Deshalb muß sie expandieren (373d/e), wozu man Krieger/Wächter braucht. Diese müssen tapfer sein (376c). Deshalb müssen sie besonders erzogen werden: Das Märchenerfinden muß den jungen Wächtern verboten werden (377b). Sie dürfen sich Götter nicht wie Menschen vorstellen, deshalb sollen sie keinen Homer lesen (377b-378e). Gott (singular) soll ihnen dagegen als Ursache des Guten und nur des Guten dargestellt werden (378e-382e)2, als unwandelbar und einfach in Wort und Tat (382e). III (Fortsetzung: Erziehung der Wächter) Der Tod darf ihnen nicht als schrecklich dargestellt werden (386a-387c). Götter dürfen nicht als emotional, unehrlich oder unbesonnen dargestellt werden, um kein schlechtes Vorbild abzugeben (387d-392a). Es dürfen keine Menschen dargestellt werden, die für ungerechte Taten belohnt werden (392a-c). Nachahmende Kunst, z.B. Theaterspielen, bei dem man sich in jemand anders hineinversetzt, ist schädlich (392c-398b). Nur Musik in bestimmten Tonarten und bestimmtem Rhythmus ist erlaubt: solche die tapfer macht, keine emotionale Musik (398c-403c). Die Wächter sollen viel Sport treiben, wenig trinken und einfach essen (403c-404d).3 Die Seelen der Wächter sollen durch Sport und (die richtige) Musik gebildet werden (410b-412b). Einige ältere Wächter sollen über die Stadt herrschen (412b-414b). Der ganzen Stadt soll ein zwar eindeutig falscher (414b-e), aber (nach einer Generation) staatstragender Mythos über die Stände erzählt werden, der... 1 Platon spielt hier vermutlich auf das Ende von Sokrates an, obwohl dieser nicht gefoltert wurde. Christliche Philosophen haben hierin eine Prophezeihung des Todes Jesu gesehen. 2 Resp. 379b/c enthält in diesem Zusammenhang die erste Erwähnung des Theodizée-Problems, d.h. der Frage, ob Gott für das Bösein der Welt verantwortlich ist. 3 Seitenhieb: Zuviele Ärzte und Anwälte zeigen die Dekadenz einer Stadt (404d-408c). Einige gute Ärzte braucht die Stadt aber. Metall-Mythos: (415a-d) Alle Einwohner der Stadt sind Brüder; Gott hat denen, die zur Herrschaft bestimmt ist, in die Seelen Gold beigemischt, ihren Helfern Silber, den übrigen Eisen. Es kann vorkommen, daß Silber-Eltern bloß ein Eisenkind bekommen. Dieses muß dann zurückgestuft werden an den natürlichen Platz; es kann aber auch vorkommen, daß Eisen-Eltern ein GoldKind bekommen, das dann befördert wird. Die Wächter sollen, mit Wachunden verglichen, gutausgestattet im Militärlager leben und (416b) weder Privatbesitz noch Geld haben (415d-417b) IV (Fortsetzung: Die Wächter und anderen Einwohner) Problematisierung (Adeimantos): Die Wächter wären aber so nicht glücklich (419a/420b). Sokrates' Antwort: Es kommt ja auch darauf an, daß die Stadt glücklich (eudaimon 420b4) ist. Das individuelle Glück unter möglicher Vernachlässigung der besonderen Aufgabe im Ganzen ist (und zwar in bezug auf Einwohner egal welchen Standes!) nicht das Ziel; sondern wenn jeder seine Aufgabe erfüllt, wird er am allgemeinen Glück des Staates teilhaben (420b-421c).4 Keiner soll zu reich oder zu arm werden, um noch zur Ausführung seiner Aufgabe motiviert zu sein (421c-422a). Die Stadt soll nicht zu groß und nicht zu klein sein, damit sie einig und gut zu verteidigen ist (422a-423d). Alle diese Regeln sind von den Wächtern zu überwachen, die maßhalten, weil sie gut erzogen sind. Die Erziehung muß immer gleich bleiben, z.B. dürfen keine neuen Musikstile erfunden werden, nur geregelte Spiele erlaubt sein (423e-425a). Entsteht dadurch aber bei den Wächtern die richtige Haltung, so muß nicht alles durch Gesetze geboten werden, sondern ergibt sich von selbst, z.B. Respekt vor Älteren; Verfahrensrecht ist daher ebenso unnötig wie ein detailliertes Wirtschaftsrecht (425a427a). In religiösen Sachen soll man in Delphi nachfragen (427a/b). Die so beschriebene Stadt stellt sich als vollkommen gut, weise, tapfer, besonnen und gerecht dar (427e). Reflexion: a) Warum ist die imaginäre Stadt weise eingerichtet? Nicht aufgrund eines technischen Einzelwissens, sondern aufgrund des Wissens der [herrschenden] Wächter [ums Ganze], der kleinsten [aber besten] Gruppe in der Stadt (428b-429a). b) Auch tapfer ist die Stadt aufgrund der Tapferkeit der [Hilfs-]Wächter in ihrer (sic!) "in der Wolle gefärbten" Prinzipienfestigkeit (429a-430c). c) Ein Gegenstand X ist besonnen gdw der rationale bessere Teil an X den schlechteren begehrenden beherrscht, wie das Beispiel einer besonnenen Seele (431a) zeigt. Analog ist auch die Stadt besonnen, wenn die Wächter die schlechter erzogenen Einwohner mit ihren Begierden beherrschen. Besonnenheit ist allerdings eine Systemeigenschaft der ganzen Stadt, keine Eigenschaft der Wächter; sie ist Harmonie zwischen Regierenden und den die Regierung akzeptierenden Regierten (430d-432b). d) Kann nun die Gerechtigkeit noch (sic) "durch die Lappen gehen"? Nein, sie lag schon unerkannt vor, als man eine wohlstrukturierte Stadt mit Aufgabenteilung entworfen hat : 4 Vgl. auch 461d-466d. TEXTAUSSCHNITT 1 Sich-Einmischen in fremde Geschäfte ist Ungerechtigkeit. Und es ist auch schlecht für die Stadt (434a-d). Die Analogie Stadt / Mensch (Seele) Die Definition der Gerechtigkeit ist plausibel, wenn sie sich von der Stadt auch auf den Einzelnen, das kleinere Untersuchungsobjekt, übertragen läßt (434d).5 Ein gerechter Mensch soll also der gerechten Stadt ähnlich sein. Deshalb muß die Seele wie die Stadt drei verschiedenartige Teile6 (genh, eidh) enthalten: etwas Mutiges, etwas Wißbegieriges und etwas Erwerbslustiges. (434d-436a) Zu zeigen ist also: Lernen, Mutig sein und Sich-umGrundbedürfnisse-kümmern gehören verschiedenen Teilen der Seele an. Begründung: Soll jemand verschiedene Tätigkeiten gleichzeitig ausführen, muß er aus verschiedenen Teilen bestehen (ebenso, wie er nur teilweise zugleich stillstehen und sich bewegen kann).7 Jemand kann gleichzeitig Durst haben und sich doch überwinden, nicht zu trinken. Also müssen das Begehrende8 und das Vernünftige (logistikon) verschiedene Teile sein (436a-439e, bes. 439 d/e). Außerdem ist da drittens der Mut/Eifer (qumoj) der das Gebot der Vernunft gegenüber dem Begehren durchsetzt - wie die unteren Wächter die Gebote der herrschenden Wächter im Volk (439e-441c). In Analogie zum Staat ist ein Mensch z.B. weise oder tapfer durch die entsprechende Eigenschaft eines Teils (441c/d). Er ist gerecht (dikaioj) wenn jeder Seelenteil das Seinige tut: die Vernunft befiehlt und der Mut ihre Befehle (mit der Vernunft zusammen durch Gymnastik und Musik in Harmonie gebildet) durchsetzt, damit das Begehrende nicht überhand nimmt (441c-442b). Im einzelnen ist ein Mensch a) tapfer, wenn sein Mut sich nicht durch Lust oder Unlust beirren läßt (442c); b) weise, wenn der kleinste Teil mit dem Blick aufs Ganze herrscht (ebd.); c) besonnen, wenn das Beherrschte sich dem Beherrschenden fügt (442d). Der lt. Definitionsvorschlag gerechte Mensch begeht auch genau die Verbrechen nicht, die im gerechten Staat nicht vorkommen, weil dieser gerecht ist (442d-443a). Gerechtigkeit ist also das Vermögen (dunamij), das Staaten wie Menschen gerecht macht (443b). Der gerechte Staat ist ein Abbild (eidolon) der Gerechtigkeit. In Wahrheit ist Gerechtigkeit aber etwas im Innern des Einzelnen: (443d-444a) TEXTAUSSCHNITT 2 Entsprechend ist Ungerechtigkeit (bzw. "Feigheit", "Unvernunft" und "Schlechtigkeit") Machtübernahme des Seelenteils, dem die Herrschaft nicht zukommt (444a/c). Gerechtigkeit ist somit auch in demselben Sinne Harmonie der Seele wie Gesundheit Harmonie des Körpers ist [denn Krankheit ist Herrschaft dessen im Körper, dem die Herrschaft nicht zukommt] (444c/d). Tugend [d.h. wohl: Das Verwirklichen von Gerechtigkeit] ist demnach Gesundheit, 5 Gelingt die Übertragung nicht, so muß an der Definition der Gerechtigkeit im Staat etwas geändert werden. Die Definitionen sollen gegeneinanderander gerieben werden, damit die Gerechtigkeit daraus entspringt wie ein Funke aus zwei Feuersteinen. (434e/435a). 6 Die drei Arten im Staat sind offenbar 1) die Herrscher unter den Wächtern, 2) die übrigen Wächter und 3) der Rest der Einwohner. 7 In diesem Zusammenhang formuliert Platon in 436b/c und 437a eine Vorform des Nichtwiderspruchsssatzes (Aristoteles Metaphysik 1005b13). 8 Die Benennung dieses Seelenteils scheint nicht ganz einheitlich. Möglich ist 439d7 epiqumhtikon. Schönheit und Wohlbefinden der Seele, Schlechtigkeit [d.h. wohl: Das Verwirklichen von Ungerechtigkeit] dagegen Krankheit, Häßlichkeit und Schwäche der Seele. (444e) Das läßt auch schon die Antwort auf die Frage erkennen, warum man (selbst unbemerkt, also nicht wegen etwas anderem) gerecht sein soll: Wer würde schon sagen, man solle so handeln, daß man ausgerechnet an der Seele, "durch die wir eigentlich leben" (445a7), krank ist (444e445c)? Fragen: 1. Zu TA 1 und 2 (mit Zusammenfassung): Ist Platons " Staat" ein Buch über den Aufbau eines Staates? 2. Wie weicht Popper von Platon ab? Wer von beiden hat Recht?