mein avatar ist besser als ich

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mein avatar ist besser als ich
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien
Curd Michael Hockel
„Mein Avatar ist besser als ich“
Mediale „Mehrfach-Leben“ im Jugendalter als Problem beim Entwickeln einer gesunden,
funktionstüchtigen „Patchworkidentität“
Der Brockhaus beschreibt „Avatara“ als „die Verkörperung eines Gottes auf Erden, besonders die Verkörperung des Vishnu. Er nimmt auf der Erde
Gestalt an, um die bedrohte Weltordnung (dharma) zu schützen oder wieder herzustellen…. Die Zahl der Avatara
schwankt; auch Buddha wird unter die
Avatara gerechnet.“
Curd Michael Hockel
[email protected]
Diplom Psychologe, Studium der Philosophie, eigene psychologische und
psychotherapeutische Praxis, Gesprächspsychotherapeut GwG, Gründungspräsident der Europäischen
Förderation der Berufsverbände von
Psychologen, EFPA, Lehrbeauftragter am Lehrstuhl Klinische Psychologie der LMU-München, Dozent und
Supervisor für mehrere staatlich anerkannte Psychotherapieausbildungsinstitute, Herausgeber des Handbuchs
der angewandten Psychologie (Ecomed)
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Als 1992 Neal Stephenson in seinem
Science-Fiction-Roman Snow Crash den
Begriff auf das Bild eines Avatar reduzierte und diesen Begriff populär machte, konnte er nicht wissen, dass er damit
den bündigen Leitbegriff für die inzwischen herangewachsene Konfiguration
einer künstlichen „Persönlichkeit/Identität“, einer Rollenspielfigur im Internet,
geprägt hatte. Innerhalb der Computerszene wird ein Avatar nicht so „psychologisch“ gesehen. Er kennzeichnet
nur ein vom User (Nutzer) selbst geschaffenes und animiertes Profil. Ein
Avatar ist also eine künstliche, virtuelle
Person oder ein grafischer Stellvertreter einer echten Person in der virtuellen
Welt, beispielsweise in einem Computerspiel. Im „Second Life“, einem auch
in Deutschland zunehmend populärer
werdenden Computerspiel, kann sich
jeder Spieler neu erfinden, sich seinen
Wunschcharakter verpassen. Ein „Verlierer“ im echten Leben kann im Spiel
zum großartigen Gewinner werden,
ein Unsportlicher darf sportlich sein, ein
Schwarzhaariger blondgelockt… Kurzum, jede/jeder kann die- oder derjenige sein, der er im realen Leben gerne wäre, aber nicht ist. Im Second Life
kann man Geschäfte machen, Grundstücke kaufen, lügen und betrügen, lieben und leiden. In Fantasiespielen wie
„World of Warcraft“, dem weltweit am
meisten gespielten „Massen-Multiplayer-Online-Rollenspiel“, können die Spieler in die mystischen Rollen von Tauren
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und Trollen, Schamanen oder waschechten Schurken schlüpfen. Sie können
alleine oder in „Gilden“ gegeneinander
spielen.
Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit der Vielfalt solcher animierter Profile haben diese den Rang von
„Experimentalidentitäten“. Und da ich
als personzentrierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit Identitätsentwicklung und Identitätssuche
stets konfrontiert bin, habe ich einige
der Erfahrungen hier zusammengestellt.
Eine Leitfrage der kinderpsychotherapeutischen Fachdiskussion war in den
letzten Jahren die Frage nach der Genese der Gewalt, dem Thema einer ersten
Expertenkonferenz der Hans Seidl Stiftung bereits 19941. Inzwischen wird diese Frage u. a. zentriert auf die (behaupteten/bewiesenen?) Gewalt fördernden
Auswirkungen von Medienkonsum.
Meine Ausführungen wollen hierzu einen erfahrungsbegründeten Zwischenruf darstellen.
1.Identitätssuche
Wenn einst ein Jugendlicher in den
Spiegel blickte um zu sehen „aus welchem Holz bin ich geschnitzt?“, so
machte er keinen großen Fehler. Noch
zu Goethes Zeiten wurde über die Eigenschaften von Werther und anderen
Figuren, ja sogar über wirkliche Persönlichkeiten so gedacht: Menschen haben
Charakter, und das ist etwas von Gewicht, messbar in seiner Qualität wie
andere Substanzen. Selbst die Psychologie hat in den ersten Entwicklungsjahren des Faches noch nach solcher dinghaften Identität geforscht. Ein Holzweg.
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Später begriffen sich junge Menschen als Teil eines Systems; in das Wurzelwerk ihres Herkommens, auf den
trüben Spiegel ihrer „unbewussten“
Konfliktgeschichte blickend versuchten
sie zu erkennen, was denn in der Tiefe ihrer Psyche sei. Das „Erkenne Dich
selbst!“ wurde zur reflektorisch–analytischen Detektivarbeit. Im System von
Es-Ich-Über-Ich seine eigene Systemkonfiguration, seine eigene „Zusammensetzung“, zu ermitteln, war leidvolles oder
lustiges Gedankenspielen. Aber auch
dieses Systemparadigma, dieser „Glaubenssatz“2 (obwohl heute noch herrschend) wird dem Menschen in seiner
Selbsterkenntnis nicht gerecht.
Identität als Prozess – Frage nach
Mut und Selbstvertrauen
Das Struktur-Paradigma, die Grundauffassung, nach der alles Seiende Prozess ist, lässt heute die Frage nach der
Identität zur Frage nach der ureigenen „Melodie“ eines Lebens werden.
Die Identität einer Melodie bleibt erhalten, wie auch immer sie gespielt wird,
ob laut oder leise, mutig oder ängstlich.
Hier zeigen sich die Eigenheiten jeweils
im Handeln. Identität wird zur Struktur handlungssteuernder Werte. Letztere sind selbst Qualitäten im Prozess :
beispielsweise Mut und Selbstvertrauen. Spätestens seit mit der Erforschung
des Mutes3 deutlich geworden ist, was
Mut ist, gewinnt in der Frage nach der
Identität junger Menschen – die Frage
nach der Werte-Sozialisation umfassend
– Bedeutung. Mut ist gelebte Wertfülle, Selbstvertrauen kennzeichnet solche
Fülle als Selbstwahrnehmung.
Die Frage nach dem wachsenden
Gewaltpotential junger Menschen kann
erschreckend sein, wenn die Motive der
Gewalt völlig rätselhaft erscheinen. Gehen wir jedoch davon aus, dass jeder
Mensch sich selbst vertrauen möchte
und sich als wertvoll erleben möchte, so
sind Mut und die Fülle der geachteten
Werte Ziele im Entwicklungsprozess. Im
Rahmen personzentrierter Psychotherapie werden hier die Begriffe „Selbstaktualisierung“ und der „Attraktor“ seelischer
Gesundheit, die organismische Selbstregulation wegweisend; authentisch zu
handeln meint, mutig und selbstvertrauend zu handeln. Erlebt sich ein junger Mensch kompetent in bestimmten
Fertigkeiten („Ballern“ oder „Dichten“),
so kann es dazu kommen, dass er seinen neu erworbenen Fertigkeiten mehr
vertraut als seinen erlernten Werten. Als
Rückseite der Mut – und Selbstvertrauensmedaille wird hier die Frage nach der
Selbststeuerungskompetenz zentral, der
Fähigkeit eigenes Handeln in Grenzen
zu halten, an bewussten, gelernten, geachteten Werten zu orientieren.
Moral als Kern einer Identität zu betrachten ist altmodisch – und falsch, solange Moral als Substanz gedacht wird.
Moral als System steuernder Über-Ich
Einschärfungen zu betrachten ist schädigend, da es die innere Beziehung zu
Werten wie eine Knechtschaft gestaltet
(insofern ist jedes „Über-Ich“ ein sadistisches Über-Ich, da es die Unfreiheit ins
Selbstbild des Menschen zementiert4).
Moralisch zu handeln – meint mit dem
Mut zu eigenen Werten zu handeln – ist
ein Prozess. „Wie soll ich lieben, wenn
ich nicht hassen darf?“ (Hockel, 1994)
war der Titel meines zweiteiligen Rundfunkvortrages zur Genese der Gewalt
bei Jugendlichen. Selbstvertrauen eines
Jugendlichen muss jenes Zutrauen sein,
das der eigenen emotionalen Steuerung
zu vertrauen vermag, weil die obersten
handlungsleitenden Werte dem entsprechen, was menschlich wertvoll ist.
Als Psychotherapeut
Nutzerkompetenz entwickeln:
Homepage, Spiele, Blogs
Als Angehöriger jener Generation, die
die Entstehung des Internets auf diesem
Planeten mitzuvollziehen hatte, erwarb
ich nur sehr langsam eine durchschnittliche „Nutzerkompetenz“ innerhalb dieser neuen Wirklichkeit. Ich war bereits
der „Senior“ in der Praxis als mir meine jüngeren Kollegen beibrachten, dass
ich einen „elektronischen Briefkasten“
und später eine „Homepage“ benötige.
Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut war ich kontinuierlich herausgefordert durch die Veränderungen in den
Lebenswelten der Kinder. Und so waren
manche meiner ersten Interneterkundungen Dienstleistungen an kleine Kli-
enten, die meine Zugangsmöglichkeit
ins Netz nutzen wollten, um sich Anregungen für Schularbeiten zu holen oder
die mir demonstrierten, welche bedeutsamen Inhalte für sie dort zugänglich
waren (von altmodischen Musikstar-FanClubseiten über „Lieblingscomputerspiele“ zu „Blogs“ und „chatrooms“).
Inzwischen verwalte ich meine Homepage selbst, nutze das unerschöpfliche (und teils sehr fragwürdige)
Wissensmeer des Internets alltäglich und
spiele ab und zu mal eine Runde. Was?
Verrate ich nicht. Als wer? Verrate ich
nicht. Diese Möglichkeit meinen Avatar (oder deren Vielzahl) Abenteuer erleben zu lassen, ist faszinierend und intim. Und in der Begegnung mit meinen
jugendlichen Klienten – oder mit Internetbekanntschaften – entfaltet sich ein
Kontakt- und Erfahrungsbereich, den es
eben einst nicht gab. Und diesen kann
und muss ich als Kinder- und Jugendlichentherapeut heute nutzen.
Eine andere Erfahrung: In meiner Jugend waren Deutschlehrer noch begeistert, wenn sie hörten, dass der eine
oder andere – und ich gehörte zu diesen – eine „Brieffreundschaft“ mit jemandem pflegte, der „bettlägrig“ oder
„hinter dem eisernen Vorhang“ lebte.
Heute wird in öffentlicher Debatte vor
allem gefragt, ob es vielleicht gefährlich
sei, wenn Kinder und Jugendliche in der
Internetnutzung versinken, ein „Second
Life“ leben oder auf virtuellen Kriegsschauplätzen mit ihrem „Clan“ zu siegen versuchen.
Konstruktive pubertäre Selbstfindung
durch virtuelle Welten?
Ich glaube, dass wir gegenwärtig
die Vielfalt der konstruktiven Entwicklungen, die sich mit dem Internet und
mit den Computerspielen und virtuellen
Welten auftun, noch nicht einmal ahnen können. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung stellten Heiner Keupp und Renate Höfer
(1998) zusammen; der dort entwickelte Begriff einer „Patchworkidentität“ ist
sicher fruchtbar in einer Zeit, in welcher
sich immer mehr Menschen als Glieder
von Patchworkfamilien begreifen. Noch
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bedeutsamer war mir jedoch die ebendort gegebene Reflexion von Bialas
(1998), der Identität im Zeitalter ihrer
technischen Simulierbarkeit betrachtete.
„Der Erfahrungsgehalt realer Welten, so
meine These, bleibt in seiner Wirkmächtigkeit zumindest tendenziell hoffnungslos hinter der kompositorischen Raffinesse simulierter Welten zurück.“ (Bialas,
1998, S.54) Obwohl die dort weiter ausgeführten Überlegungen sehr anregend
provozieren möchte ich sie doch nicht
zustimmend übernehmen.
Ich möchte zwei Seiten dieser Entwicklung beleuchten, eine die unzweifelhaft positiv bereichernd ist und eine die
entsprechend den Alarmrufen gefährdend ist. Wieweit die „Spielwiese“ der
Identitätsgestaltung, die mit der Möglichkeit, sich als „Avatar“ beliebig zu formen und zu erproben, eine konstruktive
Bereicherung der pubertären Selbstfindungswege darstellt, wird vermutlich
noch lange umstritten sein. Was mir jedoch heute schon deutlich ist: Sollte diese Diskussion beschränkt bleiben auf die
Frage nach der „Gewaltbereitschaft“, so
ist sie kurzsichtig und verfehlt das Phänomen.
2. Vom „Schwarzen Auge“5 zum
bunten Helden
Auf der Suche nach Anregungen zum
Stichwort „wofür lohnt es sich zu leben6
„ stieß ich eines Tages auf eine Internetseite (einen „Blog“), die den seltsamen
Namen hatte: „Gedanken im Glas“. Das
was ich gesucht hatte war dort eine
„Schublade“ und in diese hatte der Autor, dessen Blog es war, einige interessante Gedanken zum Thema „wofür es
sich zu leben lohnt“ abgelegt. So lernte
ich Marc kennen. Ich schrieb diesem Unbekannten eine Mail:
Betr.: Gesprächsangebot
Lieber Marc,
ich schrieb gerade aus gegebenem
Anlass den anhängenden Einstieg zu
einem Vortrag, den ich demnächst halten werde. Und da kam mir der Gedanke das, was ich denke und sagen
möchte, vielleicht vorher mit einem Angehörigen der Generation, über die ich
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sprechen werde (mit der ich auch arbeite -als Psycho – siehe meine Homepage www.hockel.net ), zu diskutieren.
So unterbreite ich Dir erst mal meinen Grundgedanken: Im reichen Norden wissen wir heute (wie einst die
Deutschen im Nazireich), dass täglich 30000 Kinder sterben, weil die
Menschen ihrer Umgebung entweder kein Interesse oder keine Möglichkeit haben, sie am Leben zu erhalten
(das findet eben heute nicht in Auschwitz statt, aber von Auschwitz wusste
ja angeblich auch niemand – es findet
in Afrika, Indien, Südamerika... und sogar vor unserer Haustüre statt). Und
wir haben die Chance, dennoch ein
unbeschwertes, glückliches, gebildetes,
wohl versorgtes Leben zu entfalten, zu
planen, zu realisieren und zu genießen. Dagegen habe ich nichts. Und
ich weiß auch, dass Jugendarbeitslosigkeit und andere Macken unser System durchaus nicht rund laufen lassen.
Aber ich sehe doch in der Chance allein ein Risiko: dasjenige nämlich seine
Ziele zu kurz zu stecken, wie Du so superkritisch Dich anklagend sagst „egomanisch“ zu sein. Ich glaube aber, unsere Chancen können wir nur nutzen,
indem wir egomanisch im richtigen
Sinne sind: authentisch unseren ganz
eigenen jeweiligen Weg als Menschen
suchen und finden – denn Menschen
brauchen Achtung und Beachtung...
Ich stoppe mich mal, denn noch weiß
ich nicht, ob Du an solch einem Gespräch-geschreibe interessiert bist.
Wenn ja, dann wäre ich für ein Signal
und für alle Fragen, die diese Mail bei
dir auslöste, herzlich dankbar.
Herzlich Curd Michael Hockel
Und er antwortete mir mit etwas Verzögerung:
Hallo Herr Hockel,
entschuldigen sie die späte Antwort,
aber ich war bis heute eben auf Studienfahrt. Ihre Mail habe ich mit großem Interesse gelesen und finde mich
in dem angehängten Text passend
beschrieben wieder. „Egomanisch im
richtigen Sinne“, ist eine sehr gute Bezeichnung für das, was man sich als
Ziel stecken sollte. Zu einem Gespräch
wäre ich bereit und hoffe, dass ich für
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meine Generation die Fragen so beantworten könnte, wie sie sich das vorstellen. In welcher Form soll dieses Gespräch denn stattfinden? Ich nehme
an per E-Mail, oder?
Viele Grüße, Marc B.
So ermutigt, stellte ich ihm Fragen,
die er ebenfalls mit großer Offenheit beantwortete. Da die Fragen in der Antwort aufgegriffen werden, hier nur die
Antwort von Marc:
Was ist eine Chance?
Eine Chance sehe ich als eine Möglichkeit, die man wahrnehmen kann
oder nicht. Das Leben ist voller Chancen, sie warten an jeder Ecke, man
muss sie nur sehen. Für die einen ist
es eine Chance, für die anderen nicht.
Oft denke ich jedoch, merkt man erst
im Nachhinein, was für eine Chance
man da hatte, denn zum damaligen
Zeitpunkt hat man diese Möglichkeit
noch gar nicht als eine Chance wahrgenommen, ist aber glücklich darüber,
diesen Weg eingeschlagen zu haben.
Welche Chancen und wie wir Chancen wahrnehmen, das bildet mit unsere Persönlichkeit. In gewisser Weise
ist unser Weg vorgezeichnet, da wir als
bestimmte Persönlichkeit eben auch
bestimmte Chancen wahrnehmen.
Eine Chance wird erst zu einer Chance,
wenn wir sie wahrnehmen. Davor ist es
eher ein Angebot, eine Möglichkeit. Es
kommt darauf an, wer diese Möglichkeit für sich in Betracht zieht. Chancen
sind keine zufälligen Konstellationen,
die uns zum Vorteil sind. Für Chancen
sind nämlich meine Mitmenschen verantwortlich. Sie geben mir die Chancen und bilden mein Leben.
Welches Beispiel für „eine Chance haben“ ist Dir aus Deinem Leben bekannt?
Als Christ, ist das die Chance mich für
meinen Glauben entschieden zu haben
und diesen frei ausleben zu können. Es
ist die Chance, eine erstklassige Bildung zu genießen und mich zu einem
die Umwelt achtenden und vorausdenkenden Menschen zu entwickeln.
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Beispiele von Gleichalten, die Chancen
hatten, die Du nicht hattest?
Das waren wohl hauptsächlich Auslandsaufenthalte, für die bei uns nie das
Geld da war. Nach längerer Zeit regte
ich mich nicht mehr darüber auf, dass
es andere besser hatten, dafür können
sie ja nichts und schließlich kann man
auch ohne Geld „reich“ sein. Irgendwie muss man nur genügend Geduld
haben, dann kommen einem die selben Chancen früher oder später auch
zugeflogen.
Chancen die Du gar nicht haben möchtest?
Viel zu viel Geld, das mir Privilegien eröffnet, aber auch eine große Verantwortung aufladen würde, von der Abgrenzung vom Umfeld mal ganz zu
schweigen. Die Chance, skrupellos
zu werden oder zu sein, die Chance,
Macht über andere Menschen zu erlangen, will ich nicht haben, eher die
Chance ihnen mit solcher Macht zu
helfen.
Was meint Risiko?
„Jedes gelöste Problem ist einfach.“
(Thomas Alva Edison) Jedes Risiko ist
im Nachhinein kein Risiko mehr. Risiko
gegenüber einem selbst ist in Ordnung,
Risiko gegenüber anderen Schicksalen
sollte gut überlegt sein.Wann ist etwas ein Risiko? Was manche als Risiko
sehen, sehen andere als langweilige,
schon tausendmal getroffene Entscheidung an. Die meisten Entscheidungen
werden erst zu Risikoentscheidungen,
wenn man sie als solche wahrnimmt.
Gibt es Risiken in Deinem Leben, die
Du „bewusst in Kauf nimmst“?
Ja, das sind hauptsächlich die typischen jugendlichen Kavaliersdelikte,
aber eigentlich bin ich in dieser Hinsicht eher ein Charakter, der ungern
alles auf eine Karte setzt sondern lieber
alles noch mal im Tresor liegen hat.
Wann hast Du begonnen Dich für
Computer zu interessieren?
Das Interesse an Computern wurde
durch meinen Vater sehr früh in mir geweckt. Ich dürfte so acht Jahre alt gewesen sein. Für mich waren dabei sehr
früh virtuelle Welten interessant. Als
ich damals von so etwas hörte, brann-
te in mir die Neugier durch eine virtuelle Stadt zu laufen. Ich weiß nicht
woher das kam, aber es könnte daran liegen, dass ich früher schon immer
der Typ von Kind war, der hoffte, man
könnte auf einem Foto in das Bild hineinschauen, hinter die Personen, wenn
man seitlich darauf schaut. Ich glaube,
ich habe den Computer immer als eine
mystische Maschine gesehen, mit der
man alles machen kann. Die Vorstellung von diesem Flug durch die Kabel
und Leitungen, vorbei an der Festplatte hinein in den Prozessor, war einfach
toll. Allerdings begannen meine ersten
Schritte am Computer nicht mit der
Zockerei, sondern eher mit dem Versuch Geschichten und Texte zu tippen.
Ich war so fasziniert von dem blinkenden Cursor und den erscheinenden und
verschwindenden Buchstaben, über die
man die totale Kontrolle hatte.
Welche Rolle spielen Computerspiele
heute in der Selbstentfaltung von Dir
und Deinen Mitschülern?
Persönlich sehe ich das so: Erstmal wird
der Spieldrang befriedigt, der noch aus
der Kiste mit Bauklötzen heraus kriecht.
Das Knüpfen sozialer Kontakte, quasi
das Finden „von deinen Leuten“, deiner „Crew“, deinem „Team“, treibt
die soziale Komponente ungemein
an. Das Gemeinschaftsgefühl ist einfach toll und es werden unendlich viele
Möglichkeiten und Aufgaben dafür angeboten. Ich vermute aber: Die Ur-Intention liegt im Drang zur Selbstprofilierung und in der Neugier – eben
typisch menschlich. Ist das dann verflogen, sieht man das Spiel entweder
wie den Sonntagnachmittags-Kick mit
den Kumpels auf dem Fußballplatz,
oder aber als eine Art Business, in dem
der Siegeswille seinen Platz findet und
der Erfolgs-Durst gestillt werden muss.
Man baut sich so sehr schnell und gerne ein „virtuelles Portfolio“ auf. Nicht
umsonst steht bei fast allen OnlineProfilen in Spiele-Communities und Ligen in der Selbstbeschreibung eine Historie der bisherigen Clans, bei denen
man Mitglied war. Ich habe viel Menschenkenntnis bei meiner damaligen
Mitgliedschaft in einem Counter-Strike
Clan gesammelt, auch wenn ich diese
Menschen fast alle nie in Wirklichkeit,
sondern nur über Headset und Chat
kennen gelernt habe. Mir war plötzlich
klar, dass die Menschen am anderen
Ende genauso sind wie ich, auch Eltern
haben, die über das unaufgeräumte
Zimmer schimpfen, und dass da Menschen sind, die dieselben Sorgen haben
wie ich. Ich entdeckte aber auch, wie
viele Menschen einem etwas vormachen können und wie wenig Menschlichkeit manchmal in Chat-Nachrichten stecken kann.
Dein „Blog“ ist das was man früher
ein Tagebuch nannte – wann hast Du
mit Tagebuch begonnen? Ist das etwas, was Deiner Auffassung nach viele
Gleichalte nutzen?
Vorweg: Es ist nicht richtig, ein Blog
ausschließlich mit einem persönlichen
Tagebuch gleichzusetzen, wie man es
von Jugendlichen früher kennt, aber
vielleicht mit solchen von Schriftstellern oder Dichtern und Denkern; eine
Art Briefwechsel mit der Umwelt. (Von
rein informativen und Nachrichtenblogs abgesehen; und sicherlich gibt
es auch die von ihnen beschriebenen
Blogs). Bei einem persönlichen Tagebuch ist beim Schreiben keine öffentliche Komponente vorhanden. Das
habe ich gemerkt, als ich begonnen
habe zu bloggen. Persönliche Dinge
preiszugeben, macht die Sache für den
Leser interessant, da er so sehen kann,
dass auch andere gleiche Sorgen und
Probleme haben oder sich gleich fühlen wie er selbst, dass er vielleicht gerade nicht der Einzige ist, der gelangweilt
vor seinem Rechner sitzt und über den
Sinn des Lebens nachgrübelt. Manches
ist aber einfach nur nachvollziehbar
wenn man den Text selbst verfasst hat.
Man ist sein eigener Film, ein Theaterstück, das man aber auch interessant
gestalten möchte um eine bestimmte
Atmosphäre zu übertragen. In meinem
Blog sind natürlich auch tagebuchähnliche Einträge, aber ich sehe dieses Blog
eher als eine Art Plakat an der Wand
einer Bahnhofsunterführung, an dem
die Menschen vorbeistreifen und an
dem sie kleben bleiben. Schlagworte,
Aphorismen, Bilder oder SchablonenGrafittis, die da prangen und uns
dazu aufrufen, zu denken. Das funktioniert auch, wie mir einige Resonanz
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aus meinem Bekanntenkreis zeigt. Einige finden die Texte ansprechend, einer meinte sogar, er sei geradezu verwirrt und depressiv, wenn er einzelne
Einträge gelesen hat. Es regt also wirklich zum Nachdenken an. Da ich nun
schon seit einiger Zeit blogge und so
viele Kontakte zu anderen Bloggern geknüpft habe, kann ich ziemlich sicher
sagen, dass dieses literarische, poetische oder einfach das Mitteilungsbedüfnis gegenüber der Umwelt und der
Fremde (eben die im obigen Absatz genannten Gründe), im Durchschnitt erst
in einem Alter zwischen 16 und 18 erwacht. Dann beginnt man erst wirklich
nachzudenken. Davor ist man noch zu
sehr mit sich selbst und kleineren Problemen, dem Entdecken der Welt auf
einer niedereren Ebene beschäftigt.
Differenziertes aufgeklärtes Denken
spielt hier sicher auch eine Rolle. Die
,,jungen Rebellen“ ab 20 und aufwärts
bloggen eher in meiner Art, die meisten
die so alt wie ich oder jünger sind, nutzen das Medium Blog vorrangiger zur
Kommunikation. Aber irgendwann demaskiert sich dann die Welt und man
wird zu einer Art jungem Werther. Ja,
das sollte die richtige Bezeichnung
dafür sein. Man wird emotional und
muss diese Emotionalität verarbeiten.
Bei manchen tritt diese Phase, habe
ich den Eindruck, auch auf, bei anderen nicht. Bloggen ist persönliche Therapie, bei der man seine Eindrücke und
Gedanken verarbeitet, neue Ideen oder
persönliche Weltbilder entwickelt. Es ist
ein Prozess, bei dem jeder Eintrag eine
Veränderung oder eine neue Ansicht
bringt. Man will damit die Welt mitgestalten oder auch sein eigenes Denken
mitteilen. So ich hoffe, ich konnte ihnen zufrieden stellende Antworten geben.
Auf bald und viele Grüße,
Marc
Bereichernde Facetten digitaler
Kommunikation
Die umfassenden Antworten waren nicht nur zufriedenstellend, sondern gaben mir ein sehr vertieftes Verständnis von der Funktion, die sowohl
das Computerspielen als auch das öffentliche Medium Internet im Leben von
20
Jugendlichen haben kann. Die Generation meiner eigenen Kinder, das waren
die „Schwarzes Auge“- Spieler, und sie
hatten mich natürlich einbezogen, denn
ab und zu durfte ich mal „Spielführer“
sein und auf diese Weise das Gruppenerleben, die lang anhaltende Faszination
und Vielfalt solchen Rollenspielens kennen lernen. Ich prüfte die durch Marcs
Antworten entstandene positive Vision mehrfach durch weitere Gespräche
mit Jugendlichen der heutigen Generation. Es wurde mir bestätigt, dass diese Nutzung von Computerspiel und Internet als eine bereichernde Facette der
sozialen (Spiel)welt gesehen wird. Vom
„Schwarzen Auge“ zum bunten Helden
– ansprüchliche jugendliche Selbstgestaltungen nutzen sowohl die „Sims“
als Übungswelten als auch das Internet
als Kommunikationsplattform. Und so
möchte ich diese Seite der Erfahrung in
folgende Thesen zusammenfassen:
2.1 Pädagogische Wirkung
abhängig vom Umfeld
Wie jede in das Leben von Kindern
und Jugendlichen hinein wirkende Wirklichkeit sind Computerspiele und der virtuelle Lebensraum Internet in ihrer pädagogischen Wirksamkeit mehr davon
abhängig, wie das Kind, der Jugendliche im Elternhaus „gehalten, gelassen,
begleitet“7 wird als von den Eigenarten
der Spiele und des Mediums.
2.3Avatar – vertragsfähiges zweites
Ich
In der Pseudoidentität eines Avatar
liegen über die mit „Rollenübernahme“
schon bekannten Spielmöglichkeiten
hinausreichende
Handlungsmöglichkeiten, da die jeweilige Pseudoidentität
von anderen Avataren („Mitspielern“)
ernst genommen wird als authentische,
innerhalb des Bezugssystems (z.B. second life) verantwortliche und sogar
„vertragsfähige“ Person. Ein Avatar ist
somit eine künstlich geschaffene Person
mit jenen Eigenschaften, die sein Schöpfer ihm mitgibt und/oder die dieser im
Spielverlauf erwirbt
2.4 Personzentrierte Unterstützung
In personzentrierten Begegnungen
können Jugendliche, die die fruchtbare
Vielfalt ihrer Patchworkidentität mit einer möglichen Vielfalt von „Persönlichkeiten“ (Avataren) experimentell nutzen,
eine Orientierung auf jene authentische
Identität erarbeiten, für die sie sich selbst
frei entscheiden.
Zocken und
Persönlichkeitsveränderung
2.2Identität fördernde Rollenspiele
Marc schrieb mir, als ich ihn anfragte, ob er mit einer Veröffentlichung
seiner Texte einverstanden sei, nicht nur
seine Zustimmung, sondern auch noch
folgende Ergänzung:
Die Möglichkeiten, sich in der Rollenidentität eines „Spielers“ (in Computerspielen) kennen zu lernen und diese
so entstandene Spielfigur handeln zu lassen entspricht dem, was Kinder immer
schon taten: dem Identität entfaltenden
Rollenspiel. Grausamkeiten hinter der
„Panzerglasscheibe“ des Bildschirmes
sind den Spielenden in jedem Moment
als „als ob“-Handlungen bewusst. Die
moralische Qualität solchen Rollenhandelns wird der moralischen Qualität des
sonstigen Handelns entsprechen. Sind
die Spielwelten gewaltverherrlichend so
kann der Jugendliche sich solchem Handeln nicht entziehen und benötigt starke moralische Unterstützung in der wirklichen Welt.
Als Anregung/These würde ich ihnen noch gerne ein paar Sätze zu der
Frage schreiben, ob aus Computerspielen entstehende virtuellen Realitäten Jugendlichen schade oder nicht. Ich bin
der Ansicht, dass Computerspiele, auch
solche mit expliziter Gewaltdarstellung
(Counterstrike, Unreal Tournament,
Quake etc.), also die „Ballerspiele“ nicht
automatisch einem Jugendlichen Schaden zufügen, wenn er einen gefestigten
Charakter, einen guten Draht zu Bezugspersonen und ein intaktes soziales Umfeld, sowie genügend ausgleichende Aktivitäten (Musikinstrument, Sport etc.)
zur Verfügung hat. Das wird gerne übersehen und auch von den deutschen Medien in Reportagen nicht beachtet. So
Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien
konnte ich das zumindest bei mir beobachten. Wenn etwas aggressiver macht,
dann ist es das Spielen an sich, dieser
erhöhte Adrenalinspiegel, die Nervosität und die Ungeduld – wenn man so
will der „Entzug“. Ebenfalls konnte ich
beobachten, dass Lernen mit anschließendem intensivem Zocken oft dazu geführt hatte, dass von dem Gelernten am
nächsten Morgen nicht mehr viel übrig
war.
Mit fortgeschrittenem Alter wird dann
der „Zocker-Nerd“, der sich von der Umwelt abkapselt, und von dessen Art es in
Schulzeit eine ganze Menge gab, als weniger selbstverständlich angesehen. Die
meisten haben dann, wenn man das so
drastisch formulieren will, „den Sprung
geschafft“. In der Schule und frühen Jugend gab es eben die Personen, die am
Wochenende nicht weggegangen sind,
sondern halt gezockt haben. Das Interessante ist aber, dass es sich bei diesen
Personen im mir bekannten Umfeld oft
um sehr intelligente, begabte Menschen
gehandelt hat, während die ganzen Klassenclowns und Schnellsten in Sport dem
„Zocken“ sehr rasch mit fortschreitendem Alter eine sehr geringe oder überhaupt keine Priorität mehr eingeräumt
haben. Vielleicht besteht da irgendeine
Verbindung.
3.
Besiegter Zwang wird Zwang
zum Sieg?
Die Schlussbemerkung von Marc bestätigte mich darin, neben seine Sicht
die eines anderen Jugendlichen zu stellen. Diese andere Seite der Erfahrungen
mit Computerspielen und Internetnutzung wurde mir in einer Fallgeschichte
deutlich. Ein Kind, das ich wegen einer
Zwangserkrankung (erfolgreich) behandelt hatte, kam einige Jahre später selbständig als Jugendlicher wieder zu mir:
Er hatte Angst in der Schule – beim Abitur – zu versagen. Wieder hatten wir das
Glück, erfolgreich miteinander zu arbeiten und der hochbegabte Knabe machte ein gutes Abitur und studiert heute.
Seither stehen wir in losem Internetkontakt und es entwickelte sich folgendes:
Betr.: update mal wieder
Hallo Herr Hockel,
Wie gehts ihnen so? Tut mir Leid, dass
ich so lang nichts hab hören lassen…
Ich mag meine Studienrichtung eigentlich ganz gern mittlerweile und find
alles sehr interessant, was wir da lernen, v. a. Programmieren und Modellieren. Ich mach viel mit andern Kommilitonen und hab mich für ein extra
Programmierprojekt in den Semesterferien gemeldet um ein bisschen Praxis zu kriegen. Letztendlich möchte ich
da soweit kommen, dass ich irgendwo einen kleinen Job als Programmierer annehmen kann, um mir vielleicht
ne Wohnung zu finanzieren. In der Uni
hängen oft viele Angebote aus für das,
was wir so lernen bei uns. Manchmal
sind auch Angebote für nen WG Platz
dabei. Bei einem hab ich’s schon versucht, war aber leider vergeben... Naja
je nachdem wies kommt. Generell hab
ich mir das so zurechtgelegt, dass ich
nur zur Uni geh weil’s mich interessiert
und ich später mal mit netten Leuten
interessante Fragestellungen bearbeiten möchte, wobei ich glaube dass der
zweite Punkt sehr viel Gewicht hat. Vor
allem beim Programmieren wird mir
das immer mehr bewusst. Ich hab früher schon versucht mir alle möglichen
Sprachen beizubringen aber bin irgendwann immer gescheitert. Es war
einfach niemand da, dem ich meine
Ergebnisse hätte zeigen können und
der sich mit mir daran gefreut oder gemessen hätte. Bei den Programmierpraktika ist das jetzt anders. Ich hab
nen Partner mit dem ich alles zusammen machen muss und hab nen recht
guten Betreuer bei dem ich auch mein
Zusatzprojekt angemeldet hab. In letzter Zeit beobachte ich an mir, dass ich
mir zwar weniger Druck mache bei
allem, und ich mich auch etwas freier fühle aber dafür bei allem zu spät
oder gar nicht komme wo ich nicht
zu mindestens 80% hin will... Das ist
vor allem bei Vorlesungen in der früh
schlimm, weil ich das ewige rumsitzen
und zuhören nicht immer aushalten,
vor allem wenn ich nicht ausgeschlafen bin. Da verpenn ich dann meistens
und ärgere mich danach weil mich das
Thema an sich schon interessiert hätte. Außerdem isses immer schlecht für
Klausuren wenn man alles zum ersten mal gehört hat. Naja „Alles gut“
ist leider trotzdem noch nicht.. wahrscheinlich wird’s das auch nie werden.
Aber manches wird sich bessern denke
ich. Ich hab oft noch Rückfälle, heute
z.B. haben wir die Noten einer Klausur rausbekommen, für die ich nach
dem System gelernt hab, das ich mir
ausgedacht hab, also immer das Buch
mitgelesen und Folien nachträglich angeschaut. Es ist leider nur ne 2,3 geworden, während ein anderer Kerl, der
nie in die Vorlesung geht und sich das
Zeug am Abend zwei Stunden vorher
angeschaut hat ne 1,7 hat. Ich versteh es einfach nicht, und so was zieht
mich immer sehr runter. Nicht das ich
ihm seine 1,7 missgönnen würde aber
ich hab dafür soviel gemacht und so
ein Ergebnis entwertet einfach meine
Arbeit. Mittlerweile bin ich auch der
Meinung, dass ich gar nicht so intelligent bin wie ich immer dachte. So
wies in dem Test, den ich bei ihrer Partneragentur gemacht hab, auch rauskam. Ab und zu ein bisschen über dem
Durchschnitt, aber mehr auch nicht.
Bei mir im Studiengang sind Leute,
die marschieren einfach so durch alles durch. Ich weiß echt nicht wie die
das machen. Ich hab mich auch mal
ein bisschen mit Lernpsychologie beschäftigt etc. aber dieses Niveau wird,
ich glaub, ich nie erreichen. Eine Freundin von mir meinte mal ich zweifle sehr
viel. Meinen sie, das hat was damit zu
tun? Ich möcht nicht wieder das alte
Spiel provozieren, dass sie mir sagen,
wie gut ich doch bin, aber mich zieht
das im Moment sehr runter. Ich hoffe ich find da irgendwann mal ne befriedigende Lösung. Sei’s nun dass ich
mich mit meinen mittelmäßigen bis
schlechten Noten abfinde oder dass ich
eine gute Lernstrategie finde, die „mit
mir im Einklang ist“... vielleicht auch
beides. Aber ich denke wenn es soweit
ist wird sich vieles ändern. Vielleicht
bleibts doch noch spannend mit mir.
On my way to freedom ;)
Robert
Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08
21
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien
Betr.: AW
Lieber Robert,
herzlichen Dank für dieses update. Das
klingt wunderbar. „On my way to freedom“ – genau. Ja, ich denke, dass sie
mit systematischem Selbstzweifel (und
ängstlicher Hemmung und spiegelnder
Selbstabwertung und....) ihr eigentliches Potential noch sabotieren. Andererseits: Wie wunderbar sich irgendwann im gehobenen Mittelmaß wahr
nehmen zu können und nicht immer
überragend sein „zu müssen“? Wie
dem auch sei – so optimistisch und entwicklungsoffen wie diese Mail hab ich
Sie noch nie schreiben gehabt. Da wird
das Lieben eines richtigen Tages in der
richtigen Gestalt dann auch noch auftauchen – und bis dahin hätte ich eine
Anfrage: Ich bin dabei zwei Themen zu
bearbeiten. Ich habe sie auf dem Anlageblatt genannt. Wenn Sie Lust haben
könnten wir „concreativ“ Ideen hier
zusammentragen? Was fällt ihnen zu
den Themen ein? Wenn Sie keine Lust
habe über so etwas nachzugrübeln,
sagen Sie es einfach.
Jedenfalls wünsche ich Ihnen weiter
diesen Aufschwung der Verselbständigung, Versachlichung und allen Erfolg
den Sie sich wünschen.
Herzlich Curd Michael Hockel
Und als Anhang sandte ich ihm zwei
von mir formulierte Vortragsthemen, an
deren Ausarbeitung ich saß. Eines zur
Problematik der Computerspiele und
eines zur Identitätsentwicklung. Er griff
vor allem den ersten Themenvorschlag
auf, in welchem ich die Frage gestellt
hatte, ob denn „Computerspiele“ wirklich Spiele seien. Er antwortete mir:
„Computerspiele sind keine Spiele sondern Trainingsabläufe“. Ich finde sie
haben mit dem Standpunkt eigentlich den Sachverhalt fast genauso getroffen, wie ich ihn mittlerweile auch
empfinde und an mir selber beobachtet habe: Wenn jemand sagen wir z.B.
„World of Warcraft“ spielt, dann tut
er im Prinzip nichts anderes als immer
wieder dieselben Tasten auf der Tastatur zu drücken um in „belohnende“
Spielsituationen zu gelangen. Deshalb
würde ich das ganze eigentlich nicht
nur als Trainingsablauf, sondern viel-
22
leicht sogar eher als Konditionierung
bezeichnen: Der Spieler führt bestimmte Aktionen aus und wird dafür durch
positive Ereignisse wie z.B. Gold, (Erfahrungs-)punkte oder auch einfach
nur mit dem Weiterführen der Spielstory durch Zwischensequenzen belohnt.
Das Schlimme daran ist, dass man regelrecht verarmt vor seinem Computer.
Nicht nur die körperliche Beweglichkeit
nimmt ab, sondern auch irgendwo die
geistige Beweglichkeit.
Sie haben mir mal erzählt, Computerspiele würden vom Einfluss auf die Hirnchemie her wie eine Droge wirken, insbesondere wegen des ständig erhöhten
Adrenalinspiegels. Letztens hab ich mit
paar Freunden, die vom Computerspielen einfach nicht loskommen (wollen),
eine kleine LAN Party veranstaltet, und
da seit langer Zeit zum ersten Mal wieder richtig gespielt. Vor allem während der Echtzeitstrategiespiele hatte ich wieder dieses Gefühl von starker
Nervosität und Anspannung, eben die
Anzeichen für einen hohen Adrenalinspiegel. Das hat auch oft eine erhöhte
Reizbarkeit zur Folge, wenn man den
Effekt nicht kennt und von vornherein
darauf vorbereitet ist.
Allerdings liegt hier vielleicht auch einer der ganz wenigen positiven Dinge, die ich der vielen Zeit, die ich mit
„Spielen“ verbracht hab, abgewinnen konnte. Ich hab damals nächtelang ein heute immer noch relativ populäres Echtzeitstrategiespiel mit dem
Namen „Starcraft“ gezockt. Das ZDF
hat damals einen Fernsehbeitrag ausgestrahlt, in dem die populärsten
(Online)Spiele nach ihrer pädagogischen Werthaftigkeit beurteilt wurden – auf Platz 1 gelandet ist letztendlich Starcraft, wegen seiner Schulung
des Durchhaltevermögens und der psychischen Ausdauer. Begründung war,
dass man bei jedem Spiel, ähnlich wie
bei Schach, immer wieder von vorn anfangen musste und dadurch auch das
verlieren gelernt hat (früher oder später). Ich für meinen Teil hab das Spiel
(zwangsweise, ich war ja süchtig) recht
intensiv geübt und konnte nach vielen Niederlagen auch irgendwann mal
entsprechende Erfolge vorweisen und
hab mich auch mal optimistischer an
größere Gegner getraut. Aber letztend-
Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08
lich stellt sich natürlich die Frage, ob
das nicht auch mit einem realen Spiel
möglich und vielleicht auch besser gewesen wäre...
Ich merke auch heute noch immer wieder, wie groß der Unterschied zwischen
realer und virtueller Welt bei mir ist. Sie
haben’s ja damals schon bemerkt: In
meinen E-Mails bin ich immer sehr offen zu ihnen und konnte mich auch einigermaßen artikulieren im Gegensatz
zu unsere Sitzungen, wo alles immer
Bröckchenweise aus mir herauskam.
Der Unterschied ist manchmal sogar so
groß, dass Menschen, die mich im Internet kennen gelernt haben, mich bei
der ersten Begegnung im realen Leben
ablehnen. Weit schlimmer ist allerdings
der Realitätsverlust. Ich kann nicht genau sagen ob’s an den Depressionen
oder an dem Dauercomputerspielen
liegt, aber ich nehme die Realität nicht
mehr so wahr wie früher, als ich noch
ein Kind war. Damals war alles irgendwie auf seine eigene Weise schön und
aufregend. Bis ich 11 oder 12 war, war
das Leben noch bunt und voller interessanter Dinge, auch wenn ich damals
schon leicht neurotisch war. Irgendwann kamen dann die ganzen psychischen Störungen und ich hab mehr
und mehr die Lebenslust verloren.
Aber ich hatte ja zum Glück die Computerspiele. Der einzige Lichtblick in
meinem Leben voller Schmerzen und
Enttäuschungen. Es kam recht schnell
der Punkt, wo’s eigentlich nichts gab,
was mir noch Spaß gemacht hätte, außer Computerspielen. Meine Mutter
war immer furchtbar wütend´, weil ich
nur noch vor „dem Kasten“ saß und
nichts mehr für die Schule gemacht
hab. Aber trotzdem hatte ich noch irgendwo ein Gefühl für die Realität, dafür, dass ich am Leben war und alles
um mich rum sich wirklich ereignete.
Irgendwann so zwischen 16 und 17
– ich hatte zwischendrin das Spiel gewechselt von „Starcraft“ zu „Warcraft
III“ – hatte ich gemerkt, dass die Phasen in denen mir alles unwirklich vorkam immer länger wurden. Ich hab
einen meiner damaligen Teamkameraden gefragt, ob er das auch so empfände. Er meinte zwar er würde denselben Effekt beobachen, aber bei ihm
wäre das nur temporär und würde
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien
sich wieder verflüchtigen; bei mir leider
nicht mehr. Mittlerweile hab ich den
Eindruck, die jahrelange Überflutung
mit Adrenalin und orgasmischen Hochgefühlen ausgelöst durch die Computerspiele, haben mich gefühlsmäßig
abstumpfen lassen, ähnlich Leuten
die jahrelang Heroin konsumiert haben und denen deshalb jedes alltägliche Glückserlebnis absolut nichts geben kann, weil einfach die Reizschwelle
nicht überschritten wird.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum mir nichts so recht Freude machen
will, nachdem ich mir das Computerspielen selbst verleidet habe. Ich bin
mir nicht sicher ob sich das jemals wieder reversieren lassen wird, mittlerweile
kann ich mich schon auf kleine Sachen
freuen, wie schlafen, wenn man sehr
müde ist oder auch wenn mal die Sonne scheint und ich rausgehen kann.
Was mir zur Zeit am meisten Freude macht ist eigentlich das Programmieren an einem der Winfo Lehrstühle in der Uni. Ich mag die Leute da sehr
gern, weil sie z. T. auch ähnliche Werdegänge wie ich haben, aber auch weil
es irgendwie schön ist, zusammen etwas Neues zu lernen oder Aufzubauen.
Abschließend zu dem Thema möchte
ich aber davor warnen Computer- und
Videospiele generell zu verteufeln.
Es verhält sich
da ein bisschen
wie mit dem Alkohol denke ich.
Computerspiele sind eine Droge, wenn auch
eine sehr subtile.
Es kommt jedoch
immer auf den
Umgang mit dieser Droge an und
auf die Persönlichkeit des einzelnen. Wer anfällig ist für so
was, der wird
früher oder später auch drauf
reinfallen.
In
dem Zusammenhang sind Computerspiele vielleicht sogar die „gesündere“ Droge im
Vergleich zu Alkohol oder härteren Alternativen.
Aus dieser Fallgeschichte und vielen weiteren beunruhigenden Begegnungen destillierte ich für mich die folgenden Thesen:
3.2 Langeweile und Einsamkeit
Auch in der virtuellen Welt sind die
großen Gefahren für Kinder und Jugendliche Langeweile und Einsamkeit.
Langeweile wird als Kernmotiv der Computernutzung und Einsamkeit als Zentralergebnis der „Spielstruktur“ gesehen10. Dagegen allerdings stehen die
oben unter eins berichteten positiven
Erfahrungen, die nicht vergessen werden dürfen.
3.3Empathie und Moral sinken
Computerspieler wollen Sieger sein
– ihre Mitmenschlichkeit klammern sie
beim Spielen aus11 – und das kann bei
einer übermäßigen Zeit vor dem Computer zur Selbstentfremdung in menschlichen Qualitäten (Empathie, Moralität)
führen.12
3.4Realitätsverlust
Die Entwicklung von virtuellen Identitäten (Avatar) ist dann gefährlich,
wenn solche „Selbstspiegelungen“ sich
ganz aus der Aufgabenbewältigung in
Computerspielen nähren, denn – siehe
Fußnoten – der „Dispens von Empathie“
ist gefährdend für die Entwicklung einer
reifen Persönlichkeit.
3.1 Suchtfördernde
Handlungstrainings
4.
Verbieten? Das Wünschenswerte
fördern!
„Computerspiele“, in welchen der
„Spieler“ in einer vorgegebenen Rolle
vorgegebene Handlungen reproduziert
und in solchem Tun vor allem psychomotorisch gefordert ist („Ballern“), sind
keine Spiele8. Es sind Wahrnehmungsund Handlungstrainings9, die in der Gefahr sind, süchtig zu machen und eine
„zwanghafte“ Tendenz zu entwickeln,
die trainierten Tätigkeiten möglicherweise auch „in echt“ einzusetzen. Sie
können somit als Spiel getarnt gerade
das hervorrufen, was in der Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutischen
Praxis als Spielunfähigkeit diagnostiziert
werden muss: den Verlust der inneren
Souveränität, der Freiwilligkeit des Tuns.
Neben der Zustimmung von Marc
erhielt ich auch die von Robert. Und
auch er ergänzte seine Mitteilungen
noch durch einen Text:
Also ich könnte ihnen vielleicht noch
mehr Fallbeispiele liefern, die ihre Thesen untermauern. Sie kennen ja bestimmt „Counterstrike“, das Killerspiel
von Robert Steinhäuser aus Erfurt. Ich
hab das auch mal lange Zeit gespielt und folgenden Sachverhalt beobachtet: Es gibt da ein (unter den Gamern
ziemlich verpöntes) Scharfschützengewehr, das beim ersten Treffer sofort tötet und deswegen auch dementsprechend unbeliebt ist (man ist sofort tot,
Spielspaß = 0). Die Schwierigkeit an
der Waffe ist, dass man kein normales Fadenkreuz hat, sondern immer in
Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08
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Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien
einen speziellen Zoom-Modus schalten
muss, um halbwegs zielen zu können,
was dann als Ausgleich zur Mächtigkeit der Waffe das Blickfeld einschränkt.
Es gibt spezielle Karten auf denen man
das Schießen mit dem Gewehr üben
kann. Der Handlungsablauf den ich
dabei gelernt hatte, war „Gegner gesehen – Zoom – Schuss“. Das hab ich
dann auch recht exzessiv betrieben.
Als ich dann einmal aus unserm Haus
auf die Straße gegangen bin, haben
die Straße weiter runter ein paar Kinder gespielt und ich hab eins von denen in Gedanken tatsächlich anvisiert...13 In Gedanken anvisiert klingt
ein bisschen abstrakt, ich glaube man
kann das so beschreiben, dass einfach
das Gehirn die Situation seinen vorherhigen Erfahrungen zugeordnet hat
und die entsprechenden motorischen
Reflexe auslösen wollte. Mit solchen Erfahrungsberichten werden die meisten
Spieler (ich eigentlich auch) aber eher
vorsichtig sein, denke ich. Die Sprengkraft von einem „Geständnis“ dieser
Art ist schon recht groß, vor allem wenn
man das vor dem gegebenen Hintergrund sieht („Alle Amokläufer spielen
gerne Doom und Counterstrike“). Wo
ihnen Gamer einen Strick draus drehen könnten, ist das Argument mit der
Einsamkeit und dem Fehlen von Empathie. Ich hab einen Freund, der recht
aktiv World of Warcraft spielt (und zunehmend verwahrlost). Dem hab ich
auch mal das vorgeworfen, was ich ihnen schon geschrieben hatte: Er verarmt geistig und körperlich auf allen
Ebenen. Allerdings hält er dann dagegen, dass je weiter man im Spiel fortschreitet, desto besser muss man sich
organisieren. Fortgeschrittene Instanzen brauchen schon mal mindestens 40 Spieler, damit man überhaupt
eine reelle Chance hat, durchzukommen. Da ist dann schon sehr viel Empathie, Verhandlungsgeschick und Autorität nötig um überhaupt die Leute
unter der Fuchtel zu halten. Allerdings
ist das dann auch kein wirkliches Gespräch, sondern alle sind fokussiert auf
das „Lösen der Aufgabe“ und wenn sie
miteinander reden, dann halt nur so
Insider-Trash-Talk wo es meistens auch
nur um Taktik geht („tank pullt aggro
auf den boss, priests rezzen wenn einer
24
down geht und immer schön die mobs
fearen“). Andererseits hat er in dem
Spiel auch eine Gilde gefunden und da
tatsächlich ne virtuelle Hochzeit(!) gefeiert (ich hab Screenshots davon...).
Generell ist das, denke ich, aber ein
Argument bei allen Multiplayer Spielen, wo es nicht um den Kampf „Einer
gegen Alle“ geht. Wenn sie in Counterstrike auf Pro-Gamer Niveau Erfolg
haben wollen, also an Turnieren und
Ligen teilnehmen, wo es z.T. auch um
Geld geht, dann müssen sie sich absprechen und wirklich vorher das Team
auf eine Strategie einstimmen die dann
durchgezogen wird. Das ist aber meistens eher die Ausnahme, zumindest
bei Counterstrike auf öffentlich Servern – da redet wirklich niemand mit
ihnen (außer wenn er grad tot ist und
dementsprechend die Händefrei hat).
Also ich hoff ich hab da nix überlesen,
aber was sie vielleicht noch reinbringen
könnten wenn’s zum Thema passt: So
komplexe virtuelle Welten mit vielen
Möglichkeiten sind 1A, wenn sie vor
irgendwas weglaufen wollen, egal ob
sie jetzt ein Jugendlicher sind oder ein
berufstätiger Mann. Es ist z. T. sogar
besser als Alkohol und Drogen weil sie
– ich denke mal um einiges vielschichtiger stimuliert werden. Na ja aber das
hatte ich ihnen ja eh schon geschrieben.
Wie soll also die Politik
reagieren?
Ich denke Untersuchungen der Medienwirksamkeitsforschung müssen weiter entfaltet werden. Dieser Beitrag versteht sich als Diskussionsbeitrag im Feld
der Therapieszene. Das Spielen zu verbieten ist dann akzeptabel, wenn es dem
Kind/Jugendlichen als ein erzieherisches
Verbot von Menschen, die für seine Erziehung verantwortlich sind, vermittelt
wird. Eltern können und sollten ihren
Kindern jene Spiele verbieten, in welchen sie selbst sich unmenschlich und
normverletzend wahrnehmen würden.
Personzentrierte Begegnungen finden
innerhalb dieser Spielwelten nicht statt
– umso mehr sind sie in der familialen
Umwelt der Kinder und Jugendlichen zu
fordern. Dazu müssten Eltern aber mit
Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08
den Kindern/Jugendlichen und deren
Spielen so vertraut sein, dass sie solche
begründeten persönlichen Urteile, solche orientierende Wertentscheidungen
fällen können.
Vorhandene Spiele gesetzlich zu verbieten scheint angesichts dessen, was
bereits produziert wurde, fast unvermeidbar. Es sollte daher Einfluss auf die
Hersteller genommen werden, um statt
einer gnadenlosen Gewaltspirale als
Umsatzdynamik eine Dynamik des Qualitätswettbewerbes zu erreichen.
Verboten werden müsste die Herstellung von menschenverachtenden Szenarien. Die Österreicher wählen den Weg
der „positiven Prädikatisierung“. Dies
wäre auch für Deutschland ein gangbarer Weg. Was spräche denn eigentlich
dagegen, wenn die Politik Preise für solche Spiele, virtuelle und digitale Welten
vergeben würde, in denen Kinder sich
mit wünschenswerten Inhalten beschäftigen, wie gewaltfreier Kommunikation, friedliche, kreative und menschliche
Problemlösungen u. a. m? Hier wäre ein
weites Feld, in dem Psychotherapeuten
und Spieleindustrie zusammenwirken
könnten.
Fußnoten
1 In: Politische Studien, Heft 337, 45. Jahrgang, September/Oktober 1994, ISBN 3928561-36-7 wurde diese Diskussion dokumentiert. Mein Beitrag war damals „Der
Zukunft beraubt – Wie soll ich lieben, wenn
ich nicht hassen darf?“ (S.50-64). Die Fachdiskussion setzte sich dort fort und wurde
erneut im Themenheft 1/2004 belegt: „Aggression und Straffälligkeit – Kinder und Jugendliche brauchen Struktur“, 55. Jahrgang, August 2004, ISBN 0032-3462. Dort
reflektierte ich „Krank oder Böse? Wertungskategorien bestimmen Reaktionsmuster, diese bestimmen Maßnahmen“. (S.5272)
2 Mit seiner erkenntnistheoretischen, wissenschaftsgeschichtlichen, philosophischen Arbeit „Substanz, System, Struktur“ hat Heinrich Rombach bereits 1981 Grund gelegt
für die später von ihm reich entwickelte
Sicht auf einen „Menschlichen Menschen“
(Rombach, 1987). Naiv begreifendes Substanz-Denken, abstrahierend funktionalistisches Systemdenken werden wissenschaftsgeschichtlich beschrieben. Das schließlich
entwickelte Struktur Paradigma gemeinsam
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien
3
4
5
6
7
8
mit der prozessorientierten Sicht auf die
Personen, wie sie mein Rogers-Verständnis mir ermöglicht, ist Hintergrund der folgenden Ausführungen.
Die Emotionsforschung der Psychologie hat
hier einiges beigetragen, jedoch nenne ich
„Mutforschung“ vor allem jene Forschung,
die versuchte zu begreifen, welche Qualität
es ausmachte und ausmacht, dass in Diktaturen Einzelmenschen solidarisch unter Einsatz ihrer Existenz gegen die Vorschriften
der jeweiligen Diktatur handeln. Am Beispiel jener Menschen, die im dritten Reich
Verfolgte (vor allem Juden) retteten, ist solche Forschung ausgearbeitet und bei Fogelmann (1995) dokumentiert. „Wir waren keine Helden“ ,sondern Menschen, die
eine tragende Wertfülle erlernt hatten und
mit dieser inneren Stabilität zu handeln
vermochten.
Peter Bieri (2001) hat mit seinem „Handwerk der Freiheit“ eine allgemein leserliche
Alternative entwickelt, eine gegenwartsnahe Phänomenologie und „handwerkliche“ Nutzbarkeitsanwendung für Freiheit
und Selbstverantwortung.
Ein seit 1984 entwickeltes Papier und StiftRollenspiel, das sich in einer ausgedachten
Welt, vorwiegend im Land „Aventurien“
bewegt. Die Spielanleitungen („Abenteuer“) sind als Textbücher gestaltet und müssen von einem Spielführer zur Vorbereitung durchgearbeitet werden. In kleinen
Gruppen kann ein Abenteuer dann Szene um Szene durchgespielt werden und
die Gruppe selbst kann das Spielgeschehen
mit dem Spielführer jederzeit ändernd aushandeln. So entstehen hier gruppendynamische Interaktionen, die ein „Teamerleben“ auch als zusammenarbeitendes Team,
das die Spielregeln zu ändern vermag, umfassen. Es kann wochenlang weitergespielt
werden, die Spielenden entwickeln Talente
und Erfahrungen und suchen sich gemeinsam neue Abenteuer.
F. Wurst, H. Rothbucher, R. Donnenberg,
Hrsg. (1991) Wofür lohnt es sich zu leben?
Werte und Wertfindung in der Erziehung.
Salzburg: Otto Müller
Dieser Dreiklang fasst für mich die Kenntnisse der Entwicklungspsychologie in ihrer
Anwendung auf Erziehung zusammen. Eine
ausgezeichnete Veranschaulichung des damit gemeinten Erziehungsstils gibt die interaktive CD-Rom „Freiheit in Grenzen“
von K.A.Schneewind, 2005 (zu beziehen
über www.freiheit-in-grenzen.org). Die von
der GwG geforderte Medienbildung statt
Medienkompetenz und entsprechende Elternschulung kann nur unterstützt werden. Eine weitere konstruktive Vorgabe ist
in dem bestehenden Programm www.familienteam.org zu sehen.
Zu spielen ist eine Tätigkeit, die grundsätzlich freiwillig ist, offene Regeln umfasst
usw. Die persönlichkeitsförderliche, ja heilsame Wirkung vom Spiel wurde insbesondere im Kontext von spieltherapeutischen
9
10
11
12
13
Prozessen ausführlich dokumentiert (Hockel, 1996, 2003, Weinberger 2001)
Als solche Trainings zum Herabsetzen der
Hemmschwelle für Tötungshandeln wurden sie zum Teil entwickelt.
In einer Darstellung durch Jürgen Fritz und
Wolfgang Fehr (www.bpb.de/themen/
YCK0P5,3,0,Virtuelle_Gewalt%3A_Modell_
oder_Spiegel.html#top) wird unter dem
Stichwort „Dispens von Empathie“ ausgeführt: „In der virtuellen Welt des Computerspiels ist Empathie unangemessen.
Das vom Computer generierte „Gegenüber“ lässt sich nicht empathisch erschließen, sondern nur einschätzen hinsichtlich
seiner programmierten Reaktionsmuster.
Nicht Empathie wird verlangt, sondern
strategisch-taktisches Verhalten im Rahmen eines festgelegten Regelsystems, das
für die jeweilige virtuelle Welt Gültigkeit
hat. Die Figuren im Computerspiel sind nur
Handlungsträger in funktional bestimmten
Abläufen und keinesfalls Objekte, denen
man emotional getönte Empathie entgegenbringen müsste – obwohl es bei Jüngeren dazu kommen kann, dass sie bestimmte Comic-Figuren im Computerspiel süß
und niedlich finden und auf Beeinträchtigungen dieser Figuren empathisch reagieren. Ein virtuelles Gegenüber kann nur Objekt im Rahmen funktionaler Denk- und
Handlungsprozesse sein, nie Subjekt.“
Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (s.O.)
schreiben auch: „Erfahrene Computerspieler zeigen sich … irritiert und verwundert,
wenn man ihre Spiele und damit ihre virtuellen Aufenthaltsorte nach Kriterien der
Menschlichkeit und Moralität kritisiert.
Sie wollen gewinnen und keine Belege für
ihre moralische Integrität schaffen. Darauf weist auch Leu hin, indem er betont,
dass Kindern und Jugendlichen die Vorstellung, „bestimmte Darstellungsformen als
Ausdruck von Leiden bzw. von ‚gut‘ oder
‚böse‘ in einem moralischen Sinne wahrzunehmen, fremd ist.“
Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (s.O) : Immer längere Aufenthalte in der virtuellen
Welt können schädigen, weil sich dadurch
die Zeit vermindert, in der sich diese Empathie ausbilden könnte.
Hervorhebung durch den Autor.
LITERATUR
Hockel, C. M. (1994). Der Zukunft beraubt –
Wie soll ich lieben, wenn ich nicht hassen
darf? In Hanns Seidel Stiftung (Hrsg.), Politische Studien (Bd. 45, Sept/Okt, S. 50-63).
Grünwald: Atwerb Verlag.
Hockel, C. M. (1994). Wie soll ich lieben, wenn
ich nicht hassen darf? Sendung des Bayrischen Rundfunks in 2 Teilen: 1. Gewalt Ergebnis der Versachlichung, 2. Gewalt –
Antwort auf die Hoffnungslosigkeit. In N.
Matern (Hrsg.), Forum der Wissenschaft.
München: Manuskript BR.
Hockel, C. M. (1996). Das Spielerleben als Entwicklungsraum. In C. Boeck-Singelmann
et. (Hrsg.), Personzentrierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (Bd. 1, S.
155-177). Göttingen Bern Toronto Seattle:
Hogrefe.
Hockel, C. M. (2002). Kindheit in der virtuellen
Welt – Müssen Technikkenntnisse früh vermittelt werden? In Hanns-Seidel-Stiftung
und VDE (Hrsg.), Der Mensch und die Zukunftstechnologien (S. 109-122). München:
Hanns-Seidel-Stiftung.
Hockel, C. M. (2003). Angstbewältigung und
ein Fall von Zwangserkrankung im Jugendalter. In C. Boeck-Singelmann et. (Hrsg.),
Personzentrierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (Bd. 3, S. 202-236).
Göttingen Bern Toronto Seattle: Hogrefe.
Hockel, C. M. (2004). Krank oder Böse? Wertungskategorien bestimmen Reaktionsmuster, diese bestimmen Maßnahmen. In
Hanns Seidl Stiftung (Hrsg.), Politische Studien Themenheft 1/2004 (Bd. 55/1, S. 5272). München: Atwerb Verlag.
Keupp, H., Höfer, R. (Hrsg). (1998). Identitätsarbeit heute – Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Rombach, H. (1981). Substanz, System, Struktur, Zwei Bände (Bde. 1-2). Freiburg München: Karl Alber.
Rombach, H. (1987). Strukturanthropologie.
Der menschliche Mensch. Freiburg München: Karl Alber.
Schneewind, K. A. (2003). Freiheit in Grenzen
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(Hrsg.). (1991). Wofür lohnt es sich zu leben? Salzburg: Otto Müller.
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Heiner Keupp, Renate Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute- Klassische und aktuelle
Perspektiven der Identitätsforschung (S. 4065). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bieri, P. (2001). Das Handwerk der Freiheit.
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Fogelmann, E. (1995). ‚Wir waren keine Helden‘
– Lebensretter im Angesicht des Holocaust.
Frankfurt/Main New York: Campus Verlag.
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