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Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 67 Konsumkultur und Raumstruktur Wolfgang Christ Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien 1 Handel und Stadt: Eine topologische Konstante Die Geschichte der Stadt ist eine Geschichte des Handels. Es ist eine Gleichung mit bekannten Werten: Marktstraße, Marktplatz, Kaufhaus und Markthalle oder temporär stattfindende Messen sind noch heute ein lebendiges Abbild der historischen Kernkompetenz eines Stadttyps, der im 21. Jahrhundert eine starke Renaissance erlebt. Ohne den Handel ist die europäische Stadt substanzlos. Gleichwohl deuten ernst zu nehmende Anzeichen darauf hin, dass in dem Moment, in dem das Leben in der Innenstadt wieder mit dem Privileg verbunden wird, einen urbanen Lebensstil mit nachhaltiger Lebensführung verbinden zu können und zahllose innerstädtische Quartiere nach jahrzehntelangen Sanierungsmaßnahmen die „Stadt der kurzen Wege“ populär gemacht haben, ausgerechnet der Handel als Dienstleister für das Notwendige und Schöne des Alltags, wegzubrechen droht (Hansen/Hielscher/Steinbuch 2013: 64 ff.). Der Indikator dieser Entwicklung ist die vom Verfasser sogenannte topologische Konstante in der Beziehung von Handelskultur und Stadtkultur. Es wird dabei unterstellt, dass die Verbindung beider Welten in der Vergangenheit immer physisch (be-) greifbar ist. Alles, was sich um Angebot und Nachfrage, um Verkaufen und Kaufen, um Kommerz und Kultur dreht, benötigte einen adäquaten Ort und Raum. So ist der mittelalterliche Marktplatz ein Maßanzug für die zeitgenössische Kaufmannschaft, ebenso wie das Shoppingcenter für die Handelsindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Handel ist bis zum Anbruch des Maschinenzeitalters der materielle Träger im Prozess der Stadtentwicklung. Stadt ist die exklusive Plattform und kulturelle Infrastruktur für die absolut notwendige persönliche Kommunikation „Face-to-Face“ der Akteure am Markt. Die kommunikationsstiftende Rolle des Handels ist ein wesentliches Merkmal der topologischen Konstante. Topologie bezeichnet die Lage und Anordnung geometrischer Gebilde im Raum. Dieser Zusammenhang kommt auch da zum Tragen, wo Stadt im traditionellen Sinn schon nicht mehr existiert. Dort, auf der „grünen Wiese“, in Suburbia, ist es die Shoppingmall, die eine Ersatzmitte stiftet. Die Mall ist in der Evolutionsgeschichte des Handelsstädtebaus die vorläufig letzte Station einer topologischen Kette, auf deren Fortsetzung Projektentwickler, Handels- und Immobilienwirtschaft, Banken, Politiker, Architekten und Planer, Bürgerinnen und Konsumenten auch im digitalen Zeitalter bauen. Sie sehen sich in Deutschland – im gravierenden Unterschied zu Großbritannien – immer noch auf sicherem Grund agieren, denn Handelsformate und Stadtformate kommen erfahrungsgemäß zusammen, wie zwei Seiten einer Medaille. Auch da, wo man es eher nicht vermutet: Die Zwischenstadt besitzt mit den Discountern an Ortsrändern und in Gewerbegebieten, den Fachmarktagglomerationen und den momentan zu Hybrid-Centern aufgerüsteten Fachmarktzentren an regionalstrategisch zentralen Standorten genau die Handelskultur, die zu ihr passt: autogerecht, extensiv energie- und flächenverbrauchend, frei von öffentlichem Raum, funktional segregiert und dazu gestalterisch, sozial und baukulturell unqualifiziert. Nach allem, was wir heute wissen können, wird daraus ein Sanierungsfall für die „Wissensgesellschaft“ werden (Bölling/Christ 2006: 266 ff.). Dennoch ist die topologische Konstante auch in der Zwischenstadt intakt. Waren und Dienstleistungen kommen noch gemeinsam mit Kundinnen und Kunden jeweils an einem Ort und in einem Kontinuum aus Raum und Zeit zusammen. Es ist zwar in der Regel nicht schön und der Aufenthalt macht wenig Spaß, aber es gibt sie noch, die kollektiven Knoten im Versorgungsnetz des Alltagslebens einer Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland. Wird ein Aldi oder REWE eröffnet, ist das stets ein Grund zur Freude. Die Architektur des Online-Handels wird die analoge Einheit von Stadt und Handel Prof. Wolfgang Christ Urban INDEX Institut GmbH Goebelstraße 21 64293 Darmstadt E-Mail: [email protected] 68 Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien beenden. Die Kombination aus Internet mit PC, Laptop oder Smartphone, E-Commerce-Firmen, Logistikzentren, „Same Day Delivery“ (SDD), Bewertungs- und Beratungsplattformen, virtuellen Bezahlsystemen und sozialen Netzwerken, setzt den vorläufigen Schlusspunkt im Prozess der Handelsmoderne. Die Wirkkräfte der Digitalisierung schaffen eine neue Welt. Raum und Zeit sind darin voneinander getrennte Dimensionen. Sie werden jeweils auch für sich allein nur noch als eine Aneinanderreihung von isolierten Fragmenten wahrgenommen. Die soziale und kommunikative Vermittlerfunktion von Mensch und Raum im Medium des Ladens, des Hauses, der Straße, des Quartiers – egal ob in, vor oder ohne Stadt – wandert ins Netz. Der Paradigmenwechsel in der Entwicklung des Einzelhandels wird für die Analyse und Bewertung aktueller Phänomene wie z. B. das „De-Malling“ von Centern in den USA, oder die „Retail-led Regeneration“-Strategie britischer Städte, zugrunde gelegt. Der Verfasser vertritt die Hypothese, dass sich anstelle der topologisch geprägten Kultur des Handels zukünftig eine medialisierte Technologie des Konsums in den verstädterten und urbanen Räumen etablieren wird. Der Umbruch im Verhältnis von Stadt und Handel wird als so tief greifend eingeschätzt, dass es sinnvoll ist, die analytische Betrachtung neuer urbaner Typologien der Handelskultur in den USA, Großbritannien und in Deutschland mit einem Blick zurück auf die strukturellen Veränderungen der Vergangenheit zu eröffnen, die von den Zeitgenossen immer als dramatisch empfunden werden. Auf diese Weise sollte klarer sein, wo die Trennungslinien zwischen Gestern und Morgen verlaufen, welche Merkmale oder Eigenschaften den Paradigmenwechsel überdauern werden, bzw. welche Qualitäten auch in Zukunft eine Rolle spielen sollten. Die topologische Entwicklungslinie setzt selbstverständlich mit der Gründungswelle der Städte im ersten Drittel des vorletzten Jahrtausends ein, die im Takt von vier bis fünf Wochen den mitteleuropäischen Raum mit einem eng geknüpften Marktnetz überzieht. Mauer, Markt und Platz bilden eine symbiotische Mitte (Humpert/ Schenk 2001). Städte wie Brügge, Lübeck oder Augsburg sind die starken Knoten im ansonsten schwachen und von vielerlei Ge- fahren bedrohten Netz der Handelswege bzw. Handelsrouten. Die strategische Partnerschaft zwischen Stadt und Handel findet ihre erste industrielle Prägung in den Passagen von Paris. Die Französische Revolution macht auch mithilfe der Guillotine den Weg für die Konfiszierung des adligen und kirchlichen Immobilienbesitzes frei. Mit dieser Ressource an Grundstücken und Immobilien beginnt der Aufbau einer bürgerlichen Parallelwelt inmitten der labyrinthisch verbauten Altstadt. Technologische Innovationen wie Gusseisen, großformatiges Glas und Gaslicht werden im industriellen Stil zur rationellen Erschließung moderner Handelsflächen eingesetzt. Eine bis dato unbekannte Welt des Luxus und der Moden nistet sich entlang schnurgerader Privatstraßen unter Glasgewölbe in den Hinterhöfen von Paris ein: Die alte Stadt und der moderne Handel werden sich fremd (Canac/Cabanis 2011: 4 ff.). In den nachfolgenden Jahrzehnten wird das Warenhaus den Abstand vergrößern und dies nach innen und nach außen selbstbewusst demonstrieren. Es beendet die Vorherrschaft der noch in einer Zunfttradition gefangenen Kaufleute, die in ihren unzähligen kleinen Läden eine einzige Warengruppe anbieten und führt auf allen Ebenen kapitalistische Standards ein (Sombart 1928: 77 ff.). Es setzt den „Superblock“ an die Stelle kleinteilig parzellierter, historisch gewachsener Gebäudeensemble. Zeitgenössische Assoziationen wie „Kaserne“, „Tempel“, „Stadt in der Stadt“ vermitteln einen Eindruck von der Sonderstellung des Warenhauses. Das Warenhaus isoliert und konzentriert potenziell „alles unter einem Dach“. Es kommuniziert mit der Stadt in der Architektursprache öffentlicher Großbauten. Es nutzt den technischen Fortschritt vom Skelettbau über den Fahrstuhl und eine geschosshohe Verglasung bis zur Leuchtreklame. Und Warenhausunter nehmer liefern um 1900 Waren selbstverständlich mit dem Elektro-LKW aus. Idealerweise sitzt das Warenhaus wie eine Spinne im Netz der neuesten Stadttechnik. Eisenbahn, U- und S-Bahn, Straßenbahn und mit ihnen das neue Maß der getakteten Zeit, überlagern den Raum als Maß und Medium der Integration in die Stadt. Das Warenhaus implantiert die industrielle Moderne in das feinnervige Herz von Stadt Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 69 und Gesellschaft. In Paris wächst es aus den Trümmern der alten Stadt, die Napoleon III. und sein Pariser Präfekt Haussmann von 1853 an abreißen lassen. Die Totaloperation am Bestand markiert den bis heute fortdauernden Konflikt um Mitte und Moderne. Für nahezu ein Jahrhundert ist das Warenhaus der Inbegriff von „Angriff auf die City“. In Deutschland wird der Schutz vor der Moderne von Anfang an von einer Mischung aus Antikapitalismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus begleitet (Diner 2002: 61 ff.). Die Topologiegeschichte der Mall beginnt dort, wo die Wirkungsgeschichte des Warenhauses endet: im boomenden Suburbia, Mitte der 1950er-Jahre in den USA. Die Aufhebung der Warenpreisbindung, immer effizientere Einzelhandelsformate wie Discount und Supermarkt begünstigen einen Wildwuchs an schnell gebauten Läden entlang der Hauptverkehrsstraßen zwischen den neuen Vororten und der City. Für die Stadtplanung ist das Konzept des Shoppingcenters die nachhaltige Antwort auf eine ungeordnete Siedlungsentwicklung und für die Warenhauseigentümer im Stadtzentrum ist es die letzte Chance, die Kunden zukünftig dort zu erreichen, wo diese, mit wachsender Kaufkraft ausgestattet, ihren Lebensmittelpunkt hin verlegen (Gruen/Smith 1960: 46 ff.). In der Typologie des aus Wien stammenden Architekten Victor Gruen ist das Shoppingcenter eine autofreie Insel mit urbanem Flair. Stattdessen setzt sich das Center als fordistische Verkaufsmaschine durch. 1985 wird von Jon Jerde in San Diego ein neuer urbanistischer Anfang gemacht, indem er für das Warenhaus typische Elemente wie repräsentative Treppenanlagen und die Stapelung von drei und mehr Geschossen mit den für das Center charakteristischen Wege-, Platz- und Flanieratmosphären kombiniert. Das „Horton Plaza“ verzichtet auf die klimatisierte Mall. Es öffnet sich zur Stadt, reproduziert bauliche Vielfalt durch bunt collagierte Baukörper und wirkt bald als Impulsgeber für die Revitalisierung der von gut verdienenden Bewohnern und Investoren gemiedenen Downtown (Christ 2003: 121). Vor allem aber deutet sich schon atmosphärisch ein grundlegender Wandel des Geschäftsmodells der Projektentwickler und Centerbetreiber an, indem der Nebeneffekt des Shoppings, das Sehen und Gese- Horton Plaza: Shoppingcenter in der Downtown San Diego (USA) Foto: Wolfgang Christ henwerden, sich zwanglos treffen, Neues erleben oder „in der Menge baden“, die primäre Funktion des Centers als Ort des schnellen Warendurchlaufs verdrängt. Die immer noch präsenten Großflächenmieter genügen nicht mehr als Frequenzbringer. Der neue Anker ist Aufenthaltsqualität, die Jon Jerde mithilfe der Designstrategie des „Placemaking“ schafft (Bradbury 1999). Zwischenfazit: Im 19. Jahrhundert etabliert die Passage als eigenständig konzipierter, aus einer Hand entwickelter und von einem Management der Eigentümer kontrollierter Schau- und Verkaufsraum die erste urbane Typologie des modernen Handels. Die Zurschaustellung der Waren erreicht im Warenhaus eine neue Quantität und Qualität. Warenangebot, Warenvielfalt und Warenmenge begründen die Konsumkultur der Massengesellschaft (Baumann 2009: 7 ff.) Das Warenhaus befördert Versorgung zu Shopping und qualifiziert Handelsarchitektur zum öffentlichen Interesse. Die Mall verwandelt die typisch (groß-)städtische Einkaufskultur des Shoppings Schritt für Schritt in ein künstlich reproduzierbares Lifestyle-Produkt. In den Hintergrund treten Ort und Kontext. In den Vordergrund drängen Bilder und Emotionen (Klein 1999: 112 ff.). Das feste Band zwischen Stadt und Handel, das mit dem Shoppingcenter in vieler- 70 Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien lei Hinsicht schon weit gedehnt wird, muss unter den Bedingungen der Digitalisierung reißen. Wenn Verkaufen und Kaufen zu jeder Zeit und an jedem Ort und von allen, die über einen Netzzugang verfügen möglich ist, dann löst sich die topologische Bindung auf. Damit wird all das, was für Standort, Fläche, Raum und Sortiment an staatlichen Regulierungs- und Steuerungsinstrumenten zur Verfügung steht, strukturell wertlos. Die entscheidenden „zentralen Orte“ befinden sich im Nirgendwo der Internetcloud. Die neue Ausgangslage ist einfach zu beschreiben: Der Handel hat sich von analogen Zwängen emanzipiert und kann sich nun mehr denn je frei entscheiden wo, wie, mit wem und mit welchem strategischen Ziel Waren- und Dienstleistungsangebote platziert werden sollen. Eine erste Konsequenz ist das „Multi Channel“-Konzept, das Unternehmen befähigt, sämtliche Verkaufsplattformen zu nutzen, diese miteinander zu vernetzen und das sie in die Lage versetzt, deren jeweils spezifische Begabungen optimal zu entwickeln und effizient auszuschöpfen. Im Grunde spielt es keine Rolle mehr, an welchem „Point of Sale“ (POS) Umsatz und Rendite erwirtschaftet wird – Hauptsache, es bleibt im eigenen Haus (De Kare-Silver 2011). Damit wird ein weiterer tief greifender Wandel ausgelöst: das Ende der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Formaten an ein und demselben Standort, z. B. der eigen tümerbetriebenen Läden gegen ein geplantes oder benachbartes Shoppingcenter. Der Markt verlangt die Kooperation aller zugunsten des gemeinsamen Standortes oder das Scheitern ist vorprogrammiert (Christ/Pesch 2013: 126 ff.). Schon heute und generell in wenigen Jahren, treten drei Basislagen des Einzelhandels untereinander in den Wettbewerb um Kundinnen und Kunden: Die „Fahrlage“ der autoeffizienten Fachmarktzentren tritt gegen die „Lauflage“ für Fußgänger in den Innenstädten, den Stadtteilzentren oder in den Ortsmitten an. Und beide konkurrieren vor Ort und nach außen mit der „Surflage“, bei der die Kunden nicht mehr selbst zur Ware kommen und das Internet alle Marktteilnehmer virtuell vereint (Christ 2011: 8 ff.). Die dritte absehbare Konsequenz ist nicht weniger gravierend: Fahrlage und Surf lage zeichnen sich als professionell gema- nagte Handelsensembles mit tendenziell unbegrenztem Zugang zu internationalem Know-how und globalen Kapitalressourcen aus. Vor allem aber sind sie als privates Eigentum hervorragend steuerbare Einheiten, die schnell und flexibel sowohl auf neue Trends als auch auf eventuell tief greifende Umbrüche in der Zukunft reagieren können. Für die Stadtplanung und den Städtebau der öffentlichen Lauflage heißt das entweder: „Accept that […] bricks and mortar retailing can no longer be the anchor to cre ate thriving high streets and town centers.” (Grimsey 2012a: 6) Oder aber: „[...] help to create an authentic experience that reinforces the unique aspects of the place. This is particularly important today when retail has become so homogenized and banal.“ (Rusin/Slater/Call 2013: 74) Aktuelle Beispiele in den USA und in Großbritannien lassen erkennen, dass die Emanzipation des Handels die Chance eröffnet, eine grundlegend neue topologische Beziehung mit der Stadt einzugehen. Dabei stehen nicht mehr die materiellen technischen oder infrastrukturellen Kennziffern und der Schutz bestimmter Einzelinteressen im Fokus der Debatte, sondern das gemeinsame Interesse an nachhaltiger Innenentwicklung: an einer langfristig sicheren guten Rendite für das investierte Kapital ebenso, wie an stabilen sozialen und kulturellen Verhältnissen in einer ökologisch intakten und ästhetisch hochwertigen Umwelt. Alles läuft darauf hinaus, dass der Stadtwert den Handelswert bestimmen wird. Von der urbanen Wertentwicklung wird es abhängen, ob und wie Handel noch im analogen Medium des Raumes funktioniert (Christ 2014). 2 Stadt und Handel USA: Labor der Moderne Die USA gelten bis heute als Avantgarde der Handelswirtschaft. Innovationen gelangen auf kurzem Weg von der Idee zur Marktreife. Eine staatliche Regulierung von Standort-, Flächen- und Sortimentsforma ten findet nicht statt. Die Marktkräfte treten daher besonders sichtbar in Erscheinung. Sie formen Handelstypologien, die weltweit kopiert werden. Jüngstes Beispiel sind die „Flagship-Stores“ in den Haupteinkaufsstraßen auch deutscher Städte, die als gebaute Botschaften exklusiver Markenwelten auftreten. Studienreisen in die USA Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 gehörten schon vor mehr als 100 Jahren zur Ausbildung der Führungskräfte eines Warenhauses und sind heute eine Pflicht für Projektentwickler (Ditchett 1925: 11 ff.) Wissensnetzwerke wie das „International Council of Shopping Centers“ (ICSC) und das „Urban Land Institute“ (ULI), die ihre Heimat in den USA haben, versorgen auch die deutschen Einzelhandelsexperten mit Entscheidungsgrundlagen in Form von Daten, Informationen, Trendberichten, Kongressen und Workshops, liefern Handreichungen für die Praxis, loben Preise für vorbildliche Projekte aus und verbreiten nicht zuletzt die neuesten Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. Da die deutsche Handelswirtschaft bei einem Gesamtumsatz im Jahr 2011 von 421 Mrd. € praktisch nicht in Forschung und Entwicklung investierte, ist sie komplett auf Wissenstransfer und da vor allem aus den USA, angewiesen. Deutsche Handelskonzerne wie die Otto Group oder die Hornbach Holding weisen in ihren Geschäftsberichten keine FuE-Aufwendungen aus, z. B.: „Anders als produzierende Unternehmen betreibt die METRO GROUP als Handelskonzern keine Forschung und Entwicklung im engeren Sinn. Deshalb sind hierzu keine nennenswerten Aufwendungen zu berichten.“ (METRO AG 2012: 119) Dabei wächst die Knowhow-Lücke rapide mit der Akademisierung des Einzelhandels durch das Auftreten der Online-Firmen. Auf Industrialisierung folgt Verwissenschaftlichung. Amazon und eBay sind für die Wissensgesellschaft gerüstet. Allein diese beiden Unternehmen investierten 2012 zusammen 4,7 Mrd. $ und damit 7,5 % bzw. 11,3 % ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung (Microsoft 25.11.2013). Zum Vergleich: Der „Stifterverband für die deutsche Wissenschaft“ weist für alle Einzelhandelsunternehmen im Jahr 2011 einen FuE-Etat in Höhe von 14,1 Mio. € aus, eine Summe, die statistisch mit 0,0034 % kaum noch nachweisbar ist (Wissenschaftsstatistik 2013). Die zukünftigen Konturen und Merkmale des Einzelhandels zeichnen sich in den USA immer klarer dort ab, wo Stadt radikal im Umbruch ist: in der Mitte und in der Peripherie, also an den Antipoden der Stadtkultur. Downtown erlebt eine eindrucksvolle Renaissance und zugleich werden neue Mitten am Rand aufgebaut. „Greyfields“ werden zu „Goldfields“, wenn ein brach gefallenes Centerareal mitten im „Sprawl“ 71 Town Center: Americana at Brand, Glendale (USA) Foto: Wolfgang Christ zum Neuland für „ersatz-city space“ (Kiger 2013: 57) wird. Nach dem Vorbild traditioneller amerikanischer Innenstädte entstehen Blockstrukturen, die Läden, Büros, öffentliche und kulturelle Institutionen und natürlich Wohnen mischen. Die Qualifizierung der suburban codierten Moderne ist in vollem Gang. Sie reicht von rein privat wirtschaftlich orientierten Projektentwicklungen wie z. B. in der Stadt Rancho Cucamonga, 60 Meilen östlich von Los Angeles, die das Unternehmen Forest City Inc. beauftragt hatte‚ ihre „Victoria Gardens“ genannte Downtown als offenes Center in privater Hand zu bauen, bis zum aktuellen Projekt einer Downtown für die Stadt Westminster in Colorado, die die Konversion einer ca. 50 ha großen Fläche der stillgelegten „Westminster Mall“ selbst in die Hand nimmt, welche dabei im öffentlichen Besitz bleibt (Westminster 15.11.2013). Kennzeichen des Paradigmenwechsels sind die Wanderungsbewegungen in die Städte und Stadtzentren der Metropolre gionen. Erstmals seit dem Ersten Weltkrieg wachsen die Städte dort stärker als in den umgebenen Suburbs (Frey 15.11.2013). In 34 der 51 größten amerikanischen Metropolregionen leben mehr Universitätsabsolventen in den städtischen Zentren als im suburbanen Gürtel. Mittlerweile lebt die Mehrheit der Universitätsabsolventen in den Stadtzentren und zwei Drittel des HighTech-Risikokapitals fließt an Unternehmen in Städten. Spektakulär ist der Umzug von Twitter aus dem Silicon Valley nach Downtown San Francisco (Florida 2013: 107 f.). Es 72 Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien bilden sich „Creative-Class Cluster“ in der urbanen Mitte, umgeben von den Wohnquartieren der „Service-Class“ und einer an den Rand der Stadt gedrängten „WorkingClass“. Die unmittelbare Folge einer Renaissance der Mitte sind hohe Immobilienund Mietpreise. Im Durchschnitt liegen sie beim Dreifachen dessen, was im autoabhängigen Suburbia gezahlt wird (Anderson 2010: 69 ff.). Core-Immobilien werden auch von der sogenannten Subprime-Krise der Jahre nach 2008 nicht betroffen. Mississippi mit dem Namen „Villa Italia“ das Herz der Kommune. 2004 eröffnete die neue Downtown als “Mixed use Rede velopment”, aufgebaut aus 22 drei- bis viergeschossigen Blöcken, 100 000 m² Ein zelhandel, 85 000 m² Bürofläche, 1 300 Wohn einheiten und diversen Parkanlagen: „The street levels on both main streets are lined with retail stores and restaurants, while the upper floors of the buildings include residential units, office spaces, and parking in concealed structures.“ (Charles 2007: 6) Die neue Attraktivität der städtischen Zentren rückt das Quartier in den Mittelpunkt der Stadtentwicklung: „[...] the focus is more on location – a place, providing convenient access to the workplace, as well as to a complete urban neighborhood with places to eat, meet, and enjoy life.“ (Enlow 2013: 89). Für die Teilhabe am urbanen Lebensstil werden suburbane Komfortprinzipien – großes Haus, großes Grundstück, große Autos und ein homogenes soziales Umfeld – nicht nur von der jungen Generation erstaunlich schnell gegen städtische Qualitäten getauscht: „Americans [...] are willing to settle for less square footage in return for a carless commute, convenient access to shopping and entertainment des tinations, and that hard-to-define quality called ‚place’“ (Enlow 2013: 88). Ein paradigmatisches innerstädtisches „Re:Street-Projekt” existiert in Pasadena, Kalifornien: „Paseo Colorado, a three-squareblock ‚urban village’, replaces an inwardoriented enclosed mall with an open-air mix of retail space, restaurants, entertainment uses, and housing in an effort to return Pasadena to its walkable roots.“ (ULI 2008) 1980 eröffnete „Plaza Pasadena“ als „monolitic, climate-controlled retail mall“ (Reynolds 2000), überbaute 7 ha öffentliche Freifläche und kappte die Achse zwischen Rathaus und Stadthalle. Keine 20 Jahre später ist das Center gegenüber der historischen Downtown nicht mehr konkurrenzfähig. Es wird aufgegeben. „Developers of Paseo turned the mall inside out to make storefronts face the street [...]“(CNU 2005). Aus einem riesigen zweigeschossigen Flachbau entsteht ein sechsgeschossiges Blockmuster mit zweigeschossigen Läden, Büros, etc. und 387 aufgesattelten Wohneinheiten. Die ursprüngliche Integration in das Wegenetz der Stadt ist wieder hergestellt. (Christ 2003: 121) Die Stadtwende des 21. Jahrhunderts verändert zusehends die Strategien der Expansionsmanager großer nationaler und internationaler Handelskonzerne und Immobilienentwickler. So ist es nicht verwunderlich, dass nach einer Untersuchung des ICSC seit 2006 nur eine geschlossene Mall neu gebaut wurde. Existierende Malls gelten als Sanierungsfall: „ It’s not that malls are overbuilt, [... ] The problem is that they are under-demolished.“ (Myers 2013: 62) Town Center, Urban Entertainment Center oder Lifestyle Center haben mit revitalisierten Mainstreets und Downtowns sowie den in der Planung oder im Bau befindlichen “Walkable Communities” eines gemeinsam: „[...] the street as a focus of new development.“ (Rusin/Slater/Call 2013: 67) „Re: Street“ (MIG 2013) kennzeichnet ganz unterschiedliche Projekte: Etwa den Bau von Belmar, der neuen Stadtmitte von Lakewood, einer suburbanen Stadt mit ca. 145 000 Einwohnern in der Nähe von Denver, Colorado. Von 1966 bis 2001 ist die größte geschlossene Mall westlich des Die Rückkehr der traditionellen Straße ist sicher das auffälligste Phänomen in der wechselvollen Beziehung von Stadt und Han del. In der Metropolregion Los Angeles lässt sich die ganze Bandbreite des aktuellen „Re-Street-Prozesses“ beobachten (BUW/CPP 20.09.2013). Und der Wandel ist umso schärfer konturiert, je grundlegender die Orte von den Wirkkräften der Moderne geformt wurden. In Downtown LA ist das ganz sicher der Fall. Denn die „Stadt der Engel“ wird bereits in den 1920er-Jahren zur weltweit anerkannten „Stadt der Zukunft“. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Regeln der Charta von Athen radikal an ge wandt. Los Angeles ist das Exerzier feld technokratischer „Top-down“-Planung. Bun desstaatliche Gesetze und Programme für den Bau der Freeways und die Durchfüh Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 73 rung der Flächensanierung, der u. a. ca. 125 Down towns zum Opfer fallen, sowie zur massiven Förderung der Suburbanisierung‚ zerstören systematisch das gründerzeitliche Gefüge der Innenstadt. Ein Autobahnring löst die Mitte aus dem feinmaschigen, von Straßenbahnen und Boulevards geprägten Meilenraster und übrig bleibt ein isolierter, autogerechter „Central Business District“ (CBD) ohne Wohnen, Handwerk, Gewerbe, Handelsvielfalt, ohne Straßenleben und damit ohne Urbanität. (Christ 2013: 170 ff.) Ein typisches Produkt dieser Epoche ist der Broadway zwischen der 2nd Street und dem Olympic Boulevard. Heute eine sechsspurige Verkehrsader ohne Aufenthaltsqualität, aber mit noch sichtbaren Spuren einstiger Pracht und unübersehbaren Zeichen des Desasters der Moderne. Doch der Wiederaufbau ist besiegelt: „Bringing Back Broadway“ (BBB), unter diesen unmissverständlichen Motto verabschiedet die Stadt im Februar 2013 einen detailliert ausgearbeiteten, fachlich fundierten und grafisch anschaulich illustrierten Masterplan. Ziel ist die Straße als „[...] multi-modal, pedestrian-focused street that will support a thriving, revitalized historic theatre district.“ (LA DCP 2013a: 1–1). Es gilt, mehr als 100 000 m² Büroleerstand zu aktivieren, den hochwertigen Einzelhandel für den Standort zurückzugewinnen, Lager- und Büroflächen in Lofts und Stadtwohnungen umzuwandeln und Baulücken wieder mit urbanen Nutzungen, vor allem Wohnen, zu füllen. Los Angeles steuert die Stadtentwicklung mit dem „Central City Community Plan“. Aufbauend auf diesem Generalplan wächst seit 2009 ein Set an Planungs- und Gestaltungsrichtlinien, die sich stets um eine holistische Perspektive bemühen und private Investoren auf die historische Identität verpflichten. Nachhaltigkeit, Urbanität und ästhetische Qualität sind durchgängige Motive. Die Integration wissenschaftlicher Beratung und zivilgesellschaftlicher Akteure mit dem Fokus auf Praxis ist bemerkenswert. Beispiele sind der „Downtown Design Guide”, die „Downtown Street Standards”, der „Broadway Community Design Overlay” und der „Broadway Design District” (LA DCP 8.11.2013) oder für die benachbarte Spring Street der „2012–2013 Spring Street Public Life Survey“ und die „Spring Street Parklet Evaluation“, bei denen es um neue Streetscape Masterplan: Bringing back Broadway, Los Angeles Illustration: Westlake Reed Leskosky Angebote für die Straße als öffentlicher Raum geht (DLANC 8.11.2013). Projektentwicklungen sind ohne Gruppen wie „Streets for People”, „Project for Public Places”, „Los Angeles Neighbourhood Council” oder „LA Walks” kaum vorstellbar. Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern geschieht im Rahmen von „Open House“, „Let’s Talk“ und „Charrette“-Veranstaltungen, zu denen in der Regel die Stadt einlädt (NCI 14.07.2013). So hat die auf zahlreichen Schultern ruhende „Bringing Back Broadway“-Initiative Ende 2012 erreicht, dass die Einwohner der Downtown sich in einer Online-Abstimmung mit überwältigender Mehrheit für den Neubau einer ca. 6 km langen Straßenbahnstrecke auf den Broadway entschieden haben, obwohl sie dafür eine Sondersteuer in Höhe von 125 Mio. $ übernehmen müssen. Eine Machbarkeitsstudie prognostiziert für BBB einen Effekt von 1 Mrd. $ privater Investitionen, 50 Mio. $ jährlicher Steuereinnahmen und 9 000 neuen Jobs (Huizar 2013: 1). Los Angeles zieht die Lehren aus dem Scheitern der separierenden und homogenisierenden Stadtplanung. Die Stadt bündelt eine ganze Palette von Maßnahmen, die darauf hinauslaufen, „complete streets“ zum Rückgrat der Innenentwicklung zu machen. Die „Streetcar“ gehört wieder dazu. Das im Entstehen begriffene Straßenbahnnetz wird 500 km und 128 neue Bahnhofsstationen umfassen. Dafür stehen 30 Mrd. $ zur Verfügung. Parkanlagen sind ein weiterer Konzeptbaustein: Mit der „50 Parks-Initiative“ werden überall in der Stadt, die zwar grün 74 Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien ist, aber kaum über öffentliche Parks verfügt, neue öffentliche Grünflächen gestaltet. Seit 2006 sind mehr als 300 ha davon entstanden. Das spezielle „Downtown-getsanother-Park-Program“ konnte 2013 die 16. Anlage realisieren (DLANC 12.11.2013). Die Renaissance des Städtebaus wird von einer grundlegenden Revision des Planungsrechts begleitet. Die Stadt hat das Recht auf ein eigenes „Baugesetzbuch”: „We need to update the zoning code to reflect the changes in the city, the diversity and to reorganize the need to have development along transit corridors.” (Orlov 11.08.2013) Mit diesen Worten eröffnet Mayor Antonio Villaraigosa am 5. Juni 2013, auf den Tag genau 60 Jahre nach Inkraftsetzen des „Zoning-Codes“, einen auf fünf Jahre anberaumten Diskussions-, Planungs- und Entscheidungsprozess, der im Internet unter www.recode.la geführt wird. Mehr als 100 öffentliche Workshops und eine Reihe renommierter Architekten, Stadtplaner und Urbanisten begleiten das Verfahren. Die Fixierung des Codes auf radikale Funktionsstreuung, monofunktionale Optimierung und die Festschreibung von Nutzungen anhand numerischer Daten, wird als Teil des Problems aktueller Stadtentwicklung diagnostiziert. qualität anhand dreidimensional dargestellter Formkörper und Formprinzipien fest. Sie entwickeln ein Hierarchiesystem von „urban“ bis „rural“. Das „Transect“ genannte Instrument codiert den gebauten Raum in einem Regelwerk als Abfolge von sechs Schritten baulich-räumlicher Verdichtung. FBC gliedern ein Raumgefüge, ohne von vornherein eine bestimmte Nutzung vorzuschreiben oder auszuschließen. Sie verknüpfen Gebäudetypologien mit der für einen Standort festgesetzten städtebaulichen Typologie und entwickeln ein detailliertes Anforderungsprofil für explizit urbane Strukturen. So wird z. B. vermieden, dass – wie in Deutschland landauf landab üblich – Discounter oder Fachmärkte im kompakt bebauten Stadtbereich ihre Gebäude als Solitäre in rückwärtiger Lage errichten und den dazugehörigen Großparkplatz an der Straßenfront platzieren. Denn „[...] the code (does) require private buildings to shape public space through the use of building form standards with specific requirements for building placement.“ (PlaceMakers 11.08.2013) Im Mai 2013 hatten 279 amerikanische Städte ihren „Zoning-Code“ ersetzt. Weitere 200 Städte arbeiten daran. Zu den Städten, die „form-based codes“ anwenden, zählen Miami, Denver, Baltimore, Portland und Cincinnati. „Zoning-Codes“ werden in den USA mehr und mehr von „form-based codes“ (FBC) abgelöst: „Why form-based codes? Because our current laws tend to separate where we live from where we work, learn, and shop, and insist on big, fast roads to connect them all. Roads that are unfriendly to pedestrians, cyclists, and transit.” (Duany/ Sorlien/Wright 2012) FBC schreiben Raum- Ein zweites Zwischenfazit: Formbasierte Stadtentwicklungs- und Bebauungspläne sind die Antwort auf die zunehmende Austauschbarkeit der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Bildung und Versorgung. Eine verträgliche Mischung ist wieder möglich. Die Kompatibilität mit urbanen Standorten ist in der Regel heute gegeben. Die Straße ist dann das vermittelnde analoge Smart Code: Ein typischer Schnitt von der offenen Landschaft zur Stadtmitte (Transect) Illustration: Duany Plater-Zyberk & Company Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 Medium. Als „Shared Space“ ist sie zudem für alle Mobilitätsarten zugänglich. Der Markt verlangt in neuer Eintracht mit den Zielen des „Sustainable Development“ nach „Mixed use Development“, „Transit oriented Development“ und „Street oriented Retail“. „Form-based codes“ sind in der Lage, die Potenziale von Ökonomie und Technologie in der Wissensgesellschaft in die dafür adäquaten planungsrechtlichen Formen zu übersetzen: Komplexität kann wieder gestaltet werden und Planungsgrundlage ist das Bild der Stadt. Los Angeles und andere Städte in den USA sind dabei, die Grundregel moderner Architektur und Stadtplanung, die dem Architekten Louis Sullivan zugeschrieben wird – Form follows Function – umzukehren in „Function follows Form“. „Americana at Brand“ ist ein Shoppingcenter, das als solches aber nicht zu erkennen ist. Es folgt der „Function-follows-FormRegel“ und ist der Prototyp einer neuen Topologie von Stadt und Handel. „Americana“ befindet sich auf einem etwa 7 ha großen Areal am Rand der Downtown von Glendale, einer mit Los Angeles zusammengewachsenen Großstadt. Der Anker ist eine 1 ha umfassende offene Mitte mit Grünfläche, Wasserspielen, Plätzen und Fußgängerzonen. Eine Straßenbahn fährt auf und ab und wird demnächst auf Kosten des Eigentümers in das Stadtzentrum von Glendale verlängert. 50 Läden auf 56 000 m² Fläche gruppieren sich um „The Green“ und entlang der EG-Zonen von vier Stadtblöcken mit 342 Wohnungen. Das Ensemble aus Shops, Pavillons, Restaurants, Cafés, einem Kinopalast, Wohnungen und städtischen Büros fügt sich in eine gründerzeitlich anmutende städtebauliche Großform ein: „New and existing public streets have been brought through the site to provide connectivity and seamless continuity of the urban fabric.“ (EMA 2013: 1 f.) Die schamlose Reproduktion historischer Architekturstile darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter dem Fassadenzauber ein Paradigmenwechsel steckt: Handelsarchitektur und Stadtarchitektur können prinzipiell gleich codiert werden! Die städtebauliche Komposition entspricht einem konsum-strategischen Kalkül: Handel dockt wieder an die (Kauf-)Kraft der reurbanisierten Stadt an und zugleich ist diese unüber- 75 sehbar merkantile Mitte Anlass für mehr als 500 Menschen, gerade dort zu leben. Prototypisch ist auch der Entwicklungspro zess, denn „Americana at Brand“ ist das Ergebnis eines „Community based strategic planning process“, der 1992 einsetzt und “[a]fter years of community discussion about the best use for the 15-acre site [...]“ in den “Town Center Specific Plan” mündet. Die Stadt sucht sich einen Investor, der ihre Ziele und Werte teilt und Erfahrung mit „Mixed-Use-Projekten“ hat. „As the California Redevelopment Agency Award of Exzellence winner in the Mixed Use category, the ,Americana at Brand’ has come to serve as a gathering place for residents and visitors alike by integrating retail, restaurants, cinema, and high-end residential uses in a series of mid-rise buildings.“ (SCSS 2013) 3 Stadt und Handel Großbritannien: High Tech versus High Street In Großbritannien ist die Stadtwende des Handels eine Erfolgsgeschichte. Ausgelöst wird sie 1999 vom „Final Report of the Urban Task Force”. Unter Leitung des Architekten Richard Rogers – von Queen Elizabeth zum Lord Rogers of Riverside geadelt – entwickelt ein Expertenteam im Auftrag der Regierung Blair ein komplettes Programm „Towards an Urban Renaissance“ zur Rettung der britischen Innenstädte vor der Verslumung und dem drohenden Verfall. Vorbilder sind die „behutsame Stadter- Retail-led Regeneration: Straßendurchbruch anstelle des Arndale Centers, Manchester (UK) Foto: Wolfgang Christ 76 Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien neuerung“ der IBA Berlin, die Stadtgestaltung Barcelonas und der „New Urbanism“ in den USA. (DETR 1999) Als Symbol von Niedergang und „Rebirth“ gilt Manchester. Dort hat die IRA 1996 während der Fußballeuropameisterschaft, ohne Menschen ernsthaft zu verletzen, das größte und wahrscheinlich hässlichste innerstädtische Shoppingcenter Europas, das „Arndale Center“, in die Luft gejagt und mit diesem Gewaltakt den Schlusspunkt des „Urban-decline-Prozesses“ markiert. 20 Jahre später ist die City of Manchester die lebendige Mitte der Metropolregion. Mehr als 20 000 Menschen leben dort, wo noch in den 1990er-Jahren nur wenige Hundert Einwohner gezählt wurden. (Christ 2005: 128) In dem Ende 2013 erschienen Buch „StadtCenter: Ein neues Handelsformat für die urbane Mitte“ (Christ/Pesch 2013), wird anhand der drei Städte Liverpool, Bristol und Bath die Erfolgsgeschichte einer „[...] new vision for urban regeneration foun ded on the principles of design excellence, social well-beeing and environmental responsibility within a viable economic and legislative framework“ (DETR 1999: 1) unter dem Blickwinkel der damit einhergehenden integralen Entwicklung von Stadtmitte und Handelsmitte, untersucht. Insbesondere Bath mit dem Projekt „SouthGate“ und Liverpool mit „Liverpool ONE“ können als Repräsentanten der „Function follows Form-Regel“ interpretiert werden. In beiden Fällen wird mit einer vergleichsweise großen Masse an Verkaufsfläche städtebau- SouthGate Place, Bath (UK) Foto: Wolfgang Christ lich sowie immobilien- und handelsökonomisch erfolgreich Stadt gebaut. Alle drei Standorte sind vorbildlich für die von den Autoren des Buches vorgeschlagene Typologie des Stadt-Centers. „SouthGate“, „Cabot Circus“ und „Liverpool One“ würden gleichwohl heute nicht mehr gebaut werden können. Der Grund dafür bewegt eine ganze Nation, inspiriert eine TV-Serie der BBC zur besten abendlichen Sendezeit, bringt Banken, Immobilienverbände, Stadtverwaltungen und Einzelhändler in einer Notgemeinschaft zusammen und lässt die politischen Parteien nach radikalen Lösungen suchen. (Harrison 15.11.2012) Zwei aktuelle Publikationen, die sich bewusst an eine breite Öffentlichkeit wenden, bringen die neue Herausforderung, denen sich Stadt und Handel nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa und den USA gegenüber sehen, auf den Punkt. Michael De Kare-Silver veröffentlichte 2011: „e-shock 2020. How the Digital Technology Revolution Is Changing Business and All Our Lives“. Ein Jahr später legt Bill Grimsey seine Analyse der Lage unter dem reißerischen Titel: „Sold Out. Retail veteran lifts the lid on who killed the High Street. And it’s not who you think“ vor. (Grimsey 2012) In Großbritannien ist das verfügbare Einkommen der Bevölkerung seit 2008 um 6 % gesunken. 2012 schließen auch aus diesem Grund 1 800 Läden, zehnmal so viel, wie ein Jahr zuvor. Nationale Einzelhandelsketten verschwinden vom Markt. 15 % der Läden stehen in Großbritannien leer. Im Großraum London sind es weniger als 10 %, im Rest des Landes z. T. weit über 20 %. „There are now more than twice as many betting shops on British high streets as all the cinemas, bingo halls, museums, bowling alleys, arcades, galleries and snooker halls combined.“ (Labour 2013: 3) Sogenannte „payday loan companies“ sprießen wie Pilze aus dem Boden. Sie verleihen für einen Zinssatz von mehreren 100 % kleinere Geldsummen für wenige Tage. In der Stadt Chatham sind mittlerweile 23 solcher Loan Shops in der High Street vertreten. Während die High Street ums Überleben kämpft, prosperiert der Internet-Handel. 2012 wurden 17 % des Einzelhandelsumsatzes online erwirtschaftet. Selbst die Rettung eines Warenhauskonzerns ist dem Internet zu verdanken: Bei „John Lewis“ beträgt der Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 Anteil mittlerweile 25 %, mit einer Wachstumsrate von 40 %. Britische Einzelhandelsunternehmen haben ihre Flächenexpansion eingestellt, denn kein Land der Welt vereint mehr Handel im Netz als Großbritannien. In Deutschland waren es 2013 ca. 9 %. Für 2020 werden für Großbritannien 20 bis 25 % prognostiziert. Bill Grimsey geht davon aus, dass allein der technologische Fortschritt letztendlich dazu führen wird, dass der Online-Handel bei 50 % landen wird (Grimsey 2012: 213). Dessen Verdrängungsmacht wird auch Fachmarktzentren sowie kleinere und mittlere Shoppingcenter (secondary shopping malls) erreichen und das heißt auch: „No one gives a second thought to the fact that many of these sites are owned by pension giants such as AVIVA, Hendersons and Standard Life, and if they keep closing at such a rate, it could have a catastrophic affect on all our futures.“ (Grimsey 2012: 212) 2011 beauftragt der Premierminister die Einzelhandelsexpertin Mary Portas mit einem Gutachten zur Lage der High Street. Ende des Jahres liegt „The Portas Review“ vor. Es ist ihr persönliches Statement und basiert auf ihren Erfahrungen als TV-Retterin kleiner Einzelhandelsgeschäfte. Zur besten Sendezeit in BBC 2 hilft sie in Not geratenen Händlerinnen und Händlern, ihre Situation zu analysieren, ein Businesskonzept zu entwickeln und vor laufender Kamera den „Turn-around“ zu schaffen. (Portas 2011) Insgesamt 28 Empfehlungen sollen die High Street voranbringen. Vorgeschlagen wird z. B. ein „National Market Day“, die Berufung von „Town Teams“ als visionäres, strategisch denkendes Managementteam, Gesetzesänderungen zugunsten kommunaler Entscheidungsbefugnis, Banken sollen gezwungen werden, leer stehende Immobilien zu nutzen oder zu verkaufen, Handelskonzerne sollen kleine Läden unterstützen und „High Street Pilots“ sollen Best-Practice-Erfahrungen weitergeben. Diese Forderung wird unmittelbar umgesetzt und an einem nationalen Ausscheidungswettbewerb nehmen 371 Städte teil, von denen erst zwölf und dann noch einmal 15, als „The Portas Pilots“ staatliche Förderung für innovative Projekte erhalten. (Portas 10.08.2012) Bill Grimseys Buch ist eine Antwort auf Mary Portas Rettungsversuche. Er diagnos ti ziert eine nicht mehr umkehrbare Ent- 77 Manchester Cityrand: Leerstand und Verfall 2011 Foto: Wolfgang Christ wicklung des Einzelhandels weg vom alltäglichen Standort Stadt. Die Zukunft gehört den großen Lifestyle-Centern und wenigen großstädtischen Zentren mit einem konkurrenzlosen Mehrwert an Erlebnis und Authentizität. Nach dem Auszug des Einzelhandels sollen die Stadt- und Ortszentren der Zukunft die Mittelpunkte des gesellschaftlichen und sozialen Lebens sein und dies komplementär zu den sozialen Netzwerken des digitalen Zeitalters: „The UK’s High Streets have a real opportunity here to become the focal point for communities once again, but just in a different way. Community is important and the need for it will be greater than ever in the years to come.“ (Grimsey 2012: 219) Leerstehende Immobilen und Shops sollen in Schulen, Weiterbildungseinrichtungen, Kinderkrippen, Kunst-, Kultur- und Medienzentren und Treffpunkte für alle umgewandelt werden. Der demografische Wandel bietet die Chance, das Leben alter Menschen wieder mit dem Alltagsleben in der Mitte der Gesellschaft zusammenzubringen. Läden werden dazugehören, aber sie werden nicht mehr die Innenstadt prägen. Die Labour Party fordert: „Due to the rise of well managed shopping centers and the competition from the internet, high streets and town centers must be places people want to spend time if they are to survive.“ (Labour 2013: 4) 2012 wird das „Future High Streets Forum“ gegründet. Ihm gehören alle relevanten staatlichen, kommunalen, zivilgesellschaftlichen sowie handels- und immobilienökonomischen Akteure an (Crown 23.10.2013). 78 Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien Das Forum soll die Regierung Großbritanniens wie einst die „Urban Task Force“ in einer offensichtlich dramatisch empfundenen Lage beraten und Lösungswege aufzeigen. In Großbritannien wird am offenen Herzen der europäischen Stadt operiert. Der Ausgang ist ungewiss. Fest steht allein, dass die Stadtzentren der Zukunft nicht mehr viel gemein haben werden mit denen, die wir noch besitzen. 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