PolisX Auszüge PDF - Klaas Jarchow Media
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PolisX Auszüge PDF - Klaas Jarchow Media
polisx in guter gesellschaft # 1 MAI 2010 www.polis-x.de INTERVIEW ARMIN NASSEHI Der Soziologe erklärt, warum die Politik längst überfordert ist thema der ache hw c s staat reportage ErSTmal LEHREN Teach First schickt Absolventen verschiedener Fächer von der Uni in die Schulen. Dort helfen sie zwei Jahre aus, bevor die eigene Karriere startet BILDSTRECKE Einmal um die Welt Auf vier Kontinenten haben renommierte Fotografen Menschen in ihren Ehrenämtern getroffen polisx in guter gesellschaft # 1 MAI 2010 www.polis-x.de INTERVIEW ARMIN NASSEHI thema Der Soziologe erklärt, warum die Politik längst überfordert ist der ache hw c s staat reportage ErSTmal LEHREN Teach First schickt Absolventen verschiedener Fächer von der Uni in die Schulen. Dort helfen sie zwei Jahre aus, bevor die eigene Karriere startet BILDSTRECKE Einmal um die Welt Auf vier Kontinenten haben renommierte Fotografen Menschen in ihren Ehrenämtern getroffen zitat » ein Staat, der seinen Bürgern vertraut und sie innovative Lösungen entwickeln lässt, käme mir sehr stark vor. « ARMIN NASSEHI Soziologe und Systemtheoretiker Gespräch zum Thema „Der schwache Staat“ auf Seite 54 polisx #1 MAI 2010 EDITORIAL »Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sind längst nicht mehr voneinander zu trennen« ROBERT JACOBI ist Chefredakteur von PolisX. Als mehrfach ausgezeichneter Journalist und Buchautor beschäftigt sich der HarvardAbsolvent seit vielen Jahren mit Themen der Zivilgesellschaft. Dieses Magazin ist der Versuch, eine Lücke zu schließen. Unzählige Zeitungen, Zeitschriften und Internetseiten beschäftigen sich mit politischen Themen, und noch mehr mit der Wirtschafts- und Finanzwelt. Der große Bereich dazwischen – manche nennen ihn Zivilgesellschaft oder Bürgergesellschaft, andere sprechen vom gemeinnützigen oder „dritten“ Sektor – kommt darin kaum vor. Wenn doch, dann wegen missbrauchtem Spendengeld oder finanziellen Schiebereien, die vor allem die Steuerlast reduzieren sollen. So entsteht ein schiefes Bild eines Gebiets, das nicht nur wächst, sondern auch immer wichtiger wird für ein funktionierendes Gemeinwesen. Der Staat kann viele Anforderungen nicht mehr erfüllen, die eine alternde, dem Druck der Globalisierung ausgesetzte Gesellschaft an ihn stellt. Die Privatwirtschaft taumelt spätestens seit der Finanzkrise durch eine Sinnkrise, die oftmals durch viel beworbenes Engagement überdeckt wird, das mehr der Imagepflege als einem gesellschaftlichen Zweck dient. Was liegt dazwischen? Dieses Magazin will diese Frage mit positiven Beispielen beantworten, ohne den kritischen Blick auf Misstände zu verlieren. Es soll die Bedeutung gesellschaftlichen Engagements für den Zusammenhalt nicht nur unserer Gesellschaft, sondern auch für den weltweiten Ausgleich sichtbar machen. Dabei wählt es keinen isolierten, sondern einen ganzheitlichen Ansatz, denn längst sind Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft nicht mehr klar voneinander zu trennen. Wir setzen bewusst einen hohen Anspruch: Unsere Autoren sind erfahrene Journalisten, die sich mit ihren Themen einen Namen gemacht haben. Unsere Fotografen sprechen eine eigene, moderne Bildsprache. Das Ziel ist, unsere Leser zu unterhalten, zu informieren und anzuregen. Bitte lassen Sie uns wissen, ob uns das gelingt! ANNA-CLEA SKOLUDA hat die Optik von PolisX entworfen. Sie arbeitet für Designer, Agenturen und gestaltet das Hamburger Obdachlosenmagazin Hinz&Kunzt. JAKOB SCHRENK ist Autor des Buches „Die Kunst der Selbstausbeutung“. Der Soziologe hat Armin Nassehi an dessen Lehrstuhl in München besucht. ALISSA JUNG ist als Schauspielerin aus „Tatort“ und vielen Serien bekannt. Sie baut Schulen in Haiti und schildert uns ihre Idee, die Welt zu retten. mehr infos zum MAGAZIN UNTER www.polis-x.de polisx #1 MAI 2010 BLINDTHEMA inhalt INHALT polisx #1 AUFTAKT 5 10 UMSCHAU 72 EDITORIAL Jeff Rubin verkleinert die Welt, Gunter Dueck mahnt zum dringenden Aufbruch und Dambisa Moyo sieht den Westen längst schon untergehen PANORAMA Die Zukunft des Pflegens in Deutschland 14 76 ÜBERsicht I Das weltweite Netz der Goodwill-Promis – Oscar für den Tierschutz – Projekt Benevides 16 AbREUS ERBEN Nach dem Vorbild des venezoleanischen Komponisten fördern prominente Musiker weltweit Jugendorchester, die Kindernn aus den Slums eine unerwartete Karriere verschaffen ÜBERsicht II Mutmacher Jochen Zeitz – Der Boom des guten Firmengewissens – Transparent oder nicht? REZENSIONEN 84 KOLUMNE Hier spricht der Herausgeber 18 TECHNIK Smarte Hilfe: Wie Handy-Applikationen dabei helfen, die Welt besser zu machen 20 86 KURZSTUDIE 96 KARRIERE BILDSTRECKE Das Ehrenamt ist keine westliche Erfindung. Aufd er ganzen Welt bauen Kulturen auf persönlichem Engagement. Eine Fotoreportage Nach amerikanischem Vorbild boomen auch in Deutschland die Studiengänge für Public Management. Wir haben sie getestet. THEMA 104 Der schwache Staat – Wenn Bürger die Lücken füllen 70 Fellows der Stiftung Neue Verantwortung haben einen neuen Gesellschaftsvertrag entworfen WETTBEWERB IN EIGENER SACHE 107 IMPRESSUM 109 AUsBLICK KURZVORSTELLUNG 110 Die Entstehungsgeschichte dieses Magazins und die Beweggründe seine Macher MEINE IDEE Wie ich mit einer Million Euro helfen würde, die Welt zu retten ROBERT JACOBI ist Chefredakteur von PolisX. Als mehrfach ausge 54 THEMA Der schwache Staat – Wenn Bürger die Lücken fülleN 96 Vom Leben lernen: Eine Reportage über Teach First Deutschland (Seite 36) Gastbeitrag von Udo di Fabio: Der Wert der Freiheit (Seite 46) Was tut der Staat denn überhaupt noch? Und warum? Eine Analyse (Seite 50) Warum die Politik überfordert ist: Ein Gespräch mit Armin Nassehi (Seite 54) Devolution: Wenn der Staat sich aus der Verantwortung stiehlt (Seite 60) 18 Der Wert von bürgerlichem Engagement. Eine Hochrechnung (Seite 64) polisx #1 MAI mai 2010 polisx #1 MAI 2010 AUFTAKT AUFTAKT betterplace.org HILFE FÜR DIE MÜLLSAMMLER VON BENEVIDES FREIZEITHELDEN Hollywood-Stars kämpfen mehr denn je gegen Klimawandel und Hunger. Dafür ernten sie nicht nur Anerkennung Zwei Tage lang half der Hip-Hopper Wyclef Jean nach dem Erdbeben in Haiti beim Verteilen von Lebensmitteln, grub mit Spaten und Schaufel nach Verschütteten. Am dritten Tag fiel dem gebuürtigen Haitianer auf, dass er keine besonders große Hilfe war. Also machte der Weltstar das, was er am besten konnte: Er stellte sich vor die Fernsehkameras und warb um Spenden. Innerhalb weniger Tage kamen über 20 Millionen Euro zusammen. George Clooney hat dafür gesorgt, dass über Darfur nicht nur im Kleingedruckten unserer Zeitungen zu lesen ist. Bono und Herbert Grönemeyer schaffen ein Bewusstsein dafür, wie absurd es ist, wenn westliche Staaten sich in Afrika als Wohltäter inszenieren und gleichzeitig über die Zinsen der hochverschuldeten Staa- ten ein Vielfaches der angeblich so großzügig gewährten Entwicklungshilfe abkassieren. Aber nicht alle sind von den schönen und reichen Freizeithelden begeistert. „Es scheint Afrikas Los zu sein, als Bühne für hohle Phrasen und theatralische Gesten herhalten zu müssen“, kritisiert der US-Schriftsteller Paul Theroux. Er weist daraufhin, dass das Engagement von Bono, Pitt und Jolie negative Effekte habe, etwa wenn fremde Lehrer nach Malawi geschickt werden, statt mit einheimischen Kräften das Bildungssystem aufzubauen. Die Folge: Viele fähige malawische Akademiker finden keine Jobs und wandern aus. „Wir müssen lernen, kritisch hinzuschauen“, sagt Theroux. „Wenn Bono eine schlechte Platte aufnimmt, applaudiert auch nicht die ganze Welt.“ JS Ein deutscher Arzt will die medizinische Versorgung verbessern KAUM MISSTRAUEN Laut einer repräsentativen Emnid--Umfrage halten 78 Prozent der Deutschen das soziale Engagement von Stars wie Clooney, Grönemeyer und Jolie für nachahmenswert. Nur 16 Prozent der Befragten glauben, dass es den Celebrities vor allem darum geht, das eigene Image zu polieren. Oscar für Delfine Participant Media feiert den Preis und bringt den nächsten Umweltfilm ins Kinos Für die einen Umweltpropaganda, für die anderen ein längst überfälliges Stück Aufklärung: The Cove, eine Reportage über die geheime Jagd auf Delfine und Wale in einer japanischen Bucht, hat den Oscar als bester Dokumentarfilm gewonnen. Hinter der Produktion steckt Participant Media, die Firma des Internetmiiliiardärs Jeffrey Skoll (links). Jeden ihrer Filme zu sozialen und ökologischen Themen begleitet sie mit Aktionen und Kampagnen. Zu den bisherigen Erfolgen zählen Al Gore‘s Klimadoku An Inconvenient Truth, Der Drachenläufer und Syriana. Nächster Filmstart: The Crazies, ein Spielfilm über Trinkwasservergiftung in Iowa (ab 27.5.). sozial society herbert grönemeyer popsänger, kämpft für entschuldigung gerhart baum fdp, botschafter der uno für den sudan madonna popsängerin, hat ein 3. weltkind adoptiert ber ät sp en de t ll ko t t det t er spen tm unterstü tz ri o ier r ur nk ko ber ä AUDREY HEPBURN erste prominente botschafterin der uno it ab bill gates Milliardär, kämpft gegen malaria STARAUFGEBOT bewundert zt tü t un george clooney schauspieler, kämpft für dafur et BRAD PITT schauspieler, engagiert im klimaschutz spend MAX hausschwein, clooneys öko-muse Große Namen beim Stiftungstag al gore aktivist, kämpft gegen klimawandel spen det s er angelina jolie schauspieler, hat zwei 3. weltkinder adoptiert Treffen unter dem hämmernden Mann: Bayern-Chef Uli Hoeneß, BundespräsidentenGattin Eva Köhler und die Schauspielerin Jutta Speidel zählen zu den Stargästen des Deutschen Stiftungstags 2010 im Kongresszentrum der Frankfurter Messe. Auf Einladung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen diskutiert die Branche vom 5. bis zum 7. Mai nicht nur über das Schwerpunktthema „Stiftungen in der Stadt – Impulsgeber für das Gemeinwesen vor Ort“. lie bt tützt hr fä t WYCLAEF JEAN popsänger, sammelt geld für haiti BONO popsänger, kämpft gegen den hunger credit: BLINDE AGENTUR unters TOYOTA PRIUS statusmobil der ökologischen elite JEFFREY SKOLL Der 45jährige Kanadier war der erste Präsidentr von Ebay. Er hat eine eigene Stiftung und ist zudem Gründer und Inhaber von Patricipant Media LISA SIMPSON vorbild aller gut- und best menschen polisx #1 mai 2010 polisx #1 MAI 2010 das proBLEM Rund um die Müllkippe von Benevides (Brasilien) leben rund 3500 Menschen in katstrophalen hygienischen Verhältnissen. Konzerne zahlen ihnen Armutslöhne dafür, dass sie im Müll nach recyclingfähigem Material wühlen. Die Folgen: Parasitenbefall, Vergiftungen, Hautkrankheiten das PROJEKT Zusammen mit der Kinderhilfe Brasilien (KIBRA) will der deutsche Arzt Norbert Lehmann eine Krankenstation einrichten Der BEDARF Zunächst geht es um Grundlagen wie Stethoskope, Krankenliegen, Mundspiegel und Sterilisationgeräte – schon kleine Beträge würden bei der Anschaffung helfen IN jeder Ausgabe stellt POLISX ein projekt vor, das Auf BETTERplace.org um spenden wirbt. STICHWORT: HILFE FÜR KINDER AUF DER MÜLLKippe TECHNIK TECHNIK Smarte Hilfe Jedes dritte in diesem Jahr verkaufte Handy wird ein Smartphone sein. Mini-Programme oder „Apps“ haben den Geräten zum Durchbruch verholfen – und unterstützen uns dabei, Gutes zu tun TOBIAS MOORSTEDT (Text) EVA HILLREINER (Illustration) DSCHUNGEL DER SYSTEME Nicht jedes Programm läuft auf jeder Plattform. Pionier und Marktführer ist Apple, das im iTunes-Store inzwischen mehr als 150.000 Applikationen fürs iPhone zum Download anbietet. Aufgeholt hat zuletzt Google, das Smartphones mit dem Betriebssystem Android bestückt und einen eigenen App-Store betreibt. Das Ovi-Store von Nokia und die App-World von BlackberryHersteller Research in Motion liegen weit dahinter. Mittelfristig werden die Systeme vermutlich zu einem gemeinsamen Standard konvergieren GUTE APPS Wer selbst eine kleine App entwickeln will, benötigt ca. 10 000 Euro. Kostenlose Apps haben mehr Erfolgschancen. Dem Nutzer sollte eine Interaktion ermöglicht werden. 10 polisx #1 MAI 2010 polisx #1 MAI 2010 1. BÄUME PFLANZEN Die Tropen brauchen mehr Bäume, aber um die Welt zu fliegen, um einen zu pflanzen, lohnt sich nicht. Die App A Real Tree ermöglicht es deshalb den Nutzern per Knopfdruck, einen Keimling in Honduras, Sambia oder auf den Philippinen zu setzen. Das Programm kostet 99 Cent, dafür pflanzt man einmal auf einer Weltkarte. Auch auf dem Handydisplay blüht dann ein Baum, den man mit einem Vogel virtuell erkunden kann. Das Klima rettet man so sicher nicht, aber das Umweltprogramm der Vereinten Nationen und seine Partner liefern gute Infos zum Thema. Verfügbar nur fürs iPhone. 2. HAITI HELFEN Die Erdbebenopfer in Haiti sind aus den Schlagzeilen verschwunden. In den App-Stores gehört die Anwendung Support Haiti aber weiterhin zu den nach Downloads populärsten Programmen im Bereich „Nachrichten & Politik“. Die App liefert zum einen aktuelle News und Updates aus dem Katastrophengebiet, zum anderen ist sie so etwas wie eine Kontaktbörse für Geld und Engagement. Support Haiti wird von einem überparteilichen Forum betrieben, das viele Organisationen unterstützt, die in der Region aktiv sind. Entwickelt wurde Support Haiti von Programmieren, die ihre Kenntnisse angesichts der schlimmen Bilder und Nachrichten mal nicht für Spiele oder Shopping-Portale nutzen wollten, sondern für einen guten Zweck. Verfügbar für iPhone, Android 3. KARMA SAMMELN Das amerikanische Startup Shopkick widmet sich nach eigenen Angaben der Verbindung von mobiler Software und dem Einkaufserlebnis in der physischen Welt. Es bietet noch kein Produkt an, erregt aber mit der App CauseWorld bereits Aufsehen. Nutzer, die das Mini-Programm auf dem Mobiltelefon installiert haben und die Filiale einer teilnehmenden Handelskette betreten, werden automatisch in deren lokalem Netzwerk registriert. Dadurch sammeln sie so genannte Karma-Punkte, die Konzern-Partner wie Kraft Foods oder CitiBank dann in reale Dollar umtauschen. Der Nutzer entscheidet, ob er mit den Karma-Punkten lieber ein Brunnen-Projekt in Afrika oder den Schutz des brasilianischen Regenwaldes unterstützen möchte. Für Datenschützer ist die App ein Alptraum, aber gerade weil sie das Spenden so einfach macht, hat sie offenbar Erfolg. Das Gute daran: CauseWorld verlangt keine Kaufhandlung, sondern nur einen Moment Zeit für die Registrierung. Verfügbar für iPhone, Android, Nokia/Ovi 4. PINGUINE RETTEN Greenpeace wurde bekannt durch spektakuläre Aktionen, meterhohe Buchstaben auf den Außenwänden eines AKWs oder die Hochseeregatten mit japanischen Walfängern. Die iPhone-App der Organisation kommt dagegen spielerisch daher. Auf dem Bildschirm erscheint Pinguin Alex, der auf einer Eisscholle in der Antarktis steht. Wenn man den Touchscreen berührt, lacht er oder schüttelt sich. Ist das nur infantil, oder sensibilisiert der Comic-Vogel wirklich für Themen wie Klimawandel und Artensterben? Nach dem Spiel wird der Nutzer auf eine Seite weiter geleitet, auf der Alex sagt: „Meine Freunde sterben auf Grund des Klimawandels. Kannst Du uns helfen?“. Greenpeace weiß, dass ein Online-Hype, der sich in sozialen Netzwerken verbreitet, heutzutage mehr Menschen erreicht als das größte Protest-Plakat an einem Schornstein. Verfügbar nur fürs iPhone. 5. PROFIL ZEIGEN Nicht jede NGO oder Hilfsorganisation kann sich die Entwicklung einer eigenen App leisten. Spenden-Plattformen wie Giveabit oder UGive lösen dieses Problem, in dem sie die Charities mit den Smartphone-Nutzern verbinden und deren Spenden einsammeln. Giveabit und UGive funktionieren ganz ähnlich wie KonsumApps, mit denen man Restaurants oder Shops finden kann, die zu einem passen. Man kann selbst auswählen, ob man sich in der Entwicklungshilfe engagieren möchte oder für Themen wie Krebsvorsorge, Missbrauch, Klimawandel. Giveabit stellt den Nutzern jeden Tag das Profil einee neuen Non-Profit-Einrichtung vor, und verschafft so auch kleineren Organisationen den zugang zu einer ziemlich großen Öffentlichkeit. Verfügbar nur fürs iPhone. 11 Thema »Der schwache Staat« Wenn Bürger die Lücken füllen REPORTAGE Vom Leben lernen: Ein Besuch bei einem Fellow von Teach First Deutschland Seite 36 essay Der Wert der Freiheit Ein Gastbeitrag von Udo di Fabio Seite 46 ANALYSE Was tut der Staat überhaupt noch? Und warum? Eine Bestandsaufnahme Seite 50 Gespräch Wenn die Politik überfordert ist. Eine Unterhaltung mit Armin Nassehi Seite 54 BERECHNUNG Der Gesamtwert von bürgerlichem Engagement. Ein statistischer Versuch. Seite 64 polisx #1 MAI 2010 13 reportage BLINDTHEMA Vom Leben lernen Teach First schickt Uni-Absolventen zwei Jahre lang als Lehrer auf Zeit in Problemschulen. Für die Schüler ist das lehrreich, für die Schulen hilfreich und für die Fellows ein echtes Abenteuer ANJA DILK (Text) peter langer (Fotos) MENGENLEHRER An der Kepler-Schule in Berlin Neukölln arbeitet Teach-First-Fellow Burkhard Schaffitzel mit einem Schüler an dessen Verständnis für Begriffe und Dimensionen. 14 polisx #1 mai 2010 reportage MOTIVATOR Burkhard Schaffitzel (links) ist kein ausgebildeter Pädagoge, sondern hat an der Universität Witten-Herdecke einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaft abgelegt. Für 1700 Euro im Monat soll er zwei Jahre lang dazu beitragen, dass mehr Schüler einen qualifizierenden Abschluss schaffen und Aussichten auf einen geregelten Job bekommen. Leise schweben die Rhythmen durch den Raum, schwellen an zu einem dichten Klangteppich aus Takt und Tönen, einer Symphonie aus trommelnden Fingern. Jeder der zehn Schüler hat den Blick auf sein Notenblatt gerichtet, mitgerissen von der Musik und der Lust am gemeinsamen Spiel. „Super, das war toll“, ruft Burkard Schaffitzel, „ihr seid schon ein richtiges Percussion-Ensemble.“ Mittwoch morgen, Kepler-Schule in Berlin Neukölln. Die Sonne steigt über den efeubewachsenen Schulbau an der Zwillingstraße, und die Rhythmen der Siebtklässler im zweiten Stock dringen bis auf den Flur. Seit Anfang des Schuljahres hat Schaffitzel die Musikstunde für die Hälfte der siebten Klasse übernommen. In einer kleineren Gruppe kann er besser auf die Schüler eingehen und ausprobieren, was in großer Runde kaum möglich wäre – bis hin zu einem Rap, den die Kids in der Pausenhalle aufführen. „Es ist schön zu sehen, was die Kinder hier auf die Beine stellen, wenn man sie motiviert“, sagt er. In seiner Basketball- oder Fußball-AG, in der Englischförderung oder bei der Hausaufgabenhilfe ist es nicht anders. Als ein Studienfreund ihm von dem Konzept der Initiative Teach First Deutschland erzählte, Schüler in Brennpunktschulen zwei Jahre lang unterstützen, damit sie den Schulabschluss packen, war Schaffitzel sofort interessiert. Gera- 16 de hatte er an der Universität Witten-Herdecke seinen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften gemacht. Eine klassische Karriere zu starten, konnte er sich nicht vorstellen. Dafür hatte er nicht an einer Uni studiert, die alles andere als isoliert denkt, sondern Soziologie und Psychologie einbindet in die Erkundung der Ökonomie. Das machte ihn neugierig auf das Leben, und er wollte etwas weitergeben von seinen Privilegien, die für ihn als Abkömmling einer Akademikerfamilie so selbstverständlich gewesen waren. „Ich sehe das als Teil meiner gesellschaftlichen Verantwortung“, sagt Schaffitzel. Vorurteile hatte der 24-jährige dennoch im Gepäck, als er zum ersten Mal in den berüchtigten Berliner Rütli-Kiez kam: „Ein Gefühl, wie auf ein Schlachtfeld zu ziehen“. Das Angstszenario, das die Medien in ihrer Berichterstattung über den Berliner Brennpunkt in den vergangenen Jahren entworfen hatten, wollte sich einfach nicht aus dem Kopf vertreiben lassen. „Dann habe ich gemerkt: Die Kinder hier haben enorme Startschwierigkeiten, aber sie sind dennoch neugierig, offen, talentiert und bemüht, Dinge richtig zu machen. Die Lehrer hier an der Schule unterstützen die Schüler viel engagierter, als ich es aus meiner Schulzeit kenne.“ Natürlich gibt es Vorfälle wie die Rangelei zwischen zwei Schülern seiner Basketballtruppe in der vergangenen Woche. Da ist der fast zwei GETROMMEL Musik macht nicht nur das Leben, sondern auch das Lernen leichter: Schaffitzel gibt den Berliner Schülern Schlagzeugunterricht. und studiert mit ihnen schon auch mal einen Rap ein. polisx #1 mai 2010 reportage reportage »Es ist schön, zu sehen, was die Kinder auf die Beine stellen, wenn man sie motiviert« Meter große Amateur-Lehrer beherzt dazwischen gegangen. „Doch das sind Ausnahmen“, sagt Schaffitzel. „Meist macht es großen Spaß, mit den Schülern zusammenzuarbeiten.“ Schulleiter Wolfgang Lüdtke lacht: „Das merkt man.“ Ohne ihren Fellow könnten er und seine Kollgen, wie er sagt, sich den Schulalltag kaum noch vorstellen: „Er ist eine absolute Bereicherung für das Schulleben und ein Motor für uns alle“. Kein Ersatz für einen ausgebildeten Lehrer, aber eine erfrischende Ergänzung. Der Schulleiter hat Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Externen. Gezielt holt er seit Jahren Theaterleute, Handwerker oder Musiker in seine Schule am harten Ende der Realität. Berlin Friedrichstraße, Montag Nachmittag. Kaija Landsberg, die Ideengeberin und Gründerin von Teach First Deutschland, strahlt, als wir von unserem Besuch erzählen. Genau so hat sie sich das vorgestellt. Ihr Konzept: Erstklassige Hochschulabsolventen sollen als Lehrer auf Zeit in Schulen an den sozialen Rändern der 18 Republik arbeiten. Erfolgsgewöhnte Menschen, die handeln, statt zu zaudern und Potenziale entdecken, statt Grenzen aufzuziegen. Vorbilder, die fachliche Exellenz mit Sozialkompetenz und leidenschaftlichem Engagement verbinden. „Solche Menschen gibt es an diesen Schulen, aber viel zu wenige“, sagt Landsberg. „Das wollen wir mit Teach First Deutschland ändern.“ Die Sonnenstrahlen streichen über den grauen Nadelfilz im dritten Stock der Teach FirstZentrale, die Jalousien sind zur Hälfte heruntergelassen. Durch die gekippten Fenster zur Straßenseite strömt das Rauschen der Großstadt. Telefone klingeln, die Finger der Mitarbeiter fliegen über die Computertasten. Die Arbeit des Organisationsteams läuft auf Hochtouren. Die Zeit drängt, im neuen Schuljahr wird der zweite Jahrgang in die Schulen gehen, Bewerbungen stapeln sich auf den Schreibtischen. Ein Kurvendiagramm an der Wand gibt einen Überblick: Online-Bewerbung bestanden, Tele- TROTZDEM GUT DRAUF An den Schulen, mit denen Teach First zusammenarbeitet, kommt die Mehrheit der Schüler aus Verhältnissen, in denen Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Kriminalität zum Alltag gehören polisx #1 mai 2010 foninterview geschafft, Auswahltag bewältigt. Gegenüber hängen die Organigramme der deutschen Bildungsministerien. Geschäftsführer Arist von Hehn versucht, Behörden in der ganzen Republik von der Teach First-Idee zu überzeugen. „Ich bin mal gerade in einem Termin“, ruft Kaija Landsberg. Drei Jahre ist es her, dass sie bei einer Onlinerecherche auf ein ähnliches Konzept stieß, das in den USA und Großbritannien längst etabliert ist: Zwei Jahre lang unterstützen die Fellows von Teach For America Kinder und Jugendliche mit schlechten Startbedingungen in Mathe und Chemie, Deutsch, Geschichte und Englisch, gründen mit ihnen Schülerfirmen, machen Bewerbungstrainings, schieben Sport-, Kunst- oder Musik-Projekte an, machen Mut, und verhelfen ihnen im Idealfall zu besseren Noten, Abschlüssen, vielleicht einer Lehrstelle. „Die Idee hat mich sofort berührt“, sagt Landsberg. „In der Schule habe ich selbst erlebt, wie viel mehr man unter guten Bedingungen und mit toller Förderung erreichen kann. An vielen Brennpunktschulen bleibt dafür keine Zeit.“ Landsberg, damals Studentin an der Hertie School of Governance, machte Teach For America zum Thema ihrer Masterarbeit. Seit Jahren trieben sie schwierige Fragen um: Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, was heißt das eigentlich? Wie kann es sein, dass wir in Deutschland zehn Prozent der Schüler vergeblich durch die Schule schleusen? Nach neun Jahren stehen sie ohne Abschluss da und haben kaum eine Chance, einen anständigen Job zu finden und in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Wie kann es sein, dass gerade Enkel von Migranten noch wie Fremdkörper vor den Toren polisx #1 MAI 2010 der Gesellschaft stehen? Wie kann es sein, dass unser System so versagt? „Es ist doch Wahnsinn, dass der Bildungserfolg in Deutschland so stark vom familiären Hintergrund der Schüler abhängt“, sagt Landsberg. Sie fragte sich: „Was kann ich tun, damit sich etwas ändert?“ Es war an einem Morgen im Juni. Kaija Landsberg saß mit Freunden und Kommilitonen zusammen. Die Masterarbeiten an der Hertie School waren geschafft, das Gespräch kreiste um Karriere und Zukunft. Plötzlich die Idee: Wir machen Teach First Deutschland. Jetzt. Neben Landsberg gehören Michael Okrob, Arist von Hehn, Elisabeth Heid und Caspar von Schoeler zum Team. Der Deal: Wer einen Job in Aussicht hat, lässt sich zurückstellen oder sagt ab. Die Ersparnisse reichen bis Ende des Sommers, so lange wird Gas gegeben. „Nur wenn wir selbst bereit waren, ein Risiko zu übernehmen, würden uns Förderer abnehmen, dass wir AMATEURCOACH Für sein Können beim Basketball bewundern ihn die Schüler. Kein Wunder: Schaffitzel ist fast zwei Meter groß. Doch Sprungtechnik lernen und Körbe werfen können auch normale Achtklässler reportage an unser Projekt glauben“, berichtet Landsberg. Kurz darauf bezieht das Quartett in den Seminarräumen der Hertie School of Governance Quartier. Kaija Landsberg unterbricht die Schilderung jener Anfangstage, um einen Schluck Wasser zu nehmen. Die Erinnerung an die ersten Monate lässt sie kurz innehalten. Um das Projekt in Bewegung zu setzen, musste das Team das Konzept ausarbeiten, die Finanzierung sicherstellen, Schulen gewinnen, Verwaltung überzeugen, Kandidaten gewinnen – und das alles gleichzeitig. 45.000 Euro Startgeld der Hertie-Stiftung halfen erstmal über die Runden. Landsberg und ihre Mitstreiter legten sich ins Zeug. Sie sprachen Unternehmen an, tingelten durch die Begabtenstiftungen, hielten Vorträge an den Universitäten, bastelten an ihrer Homepage. Sie suchten Studenten, die als Campus Captains ihre Idee an der Uni verbreiten. Sie knüpften Kontakte zu den Bildungsverwaltungen, fanden Profis im Hamburger Institut für Schulentwicklung und bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die sie pädagogisch berieten: Wie müssen wir die Fellows qualifizieren, damit sie vor den Schülern bestehen können? Und sie erarbeiten ein Stufenkonzept: Erst Online-Fortbildung, dann Intensivtraining von Schulrecht bis zu Fachdidaktik in einer Sommerakademie. Das Teach First-Team zieht durch interessierte Schulen: „Sagt, was ihr braucht. Überlegt, wo ihr Fellows einsetzen könnt.“ Nachmittags oder im Unterricht? In Physik oder für Deutsch als Zweitsprache? Für Schülerfirmen oder Sportprojekte? Schulleiter Lüdtke erinnert sich noch allzu gut an die junge Frau, die mit flammenden Reden auf einer Veranstaltung für die Initiative warb. „Ich war perplex. Da wollten junge Menschen mit glänzenden Berufsperspektiven wirklich ins tiefste Neukölln kommen“, sagt der Direktor der Kepler-Oberschule. Neun von zehn seiner Schüler haben einen Migrationshintergrund, die meisten Eltern sind arbeitslos. Lüdtke war begeistert: „Wir wollten sofort mitmachen.“ Doch würden tatsächlich genug sozial engagierte Top-Absolventen bereit sein, sich für 20 1.700 Euro im Monat zwei Jahre lang an die harten Schulen in den Ballungszentren der Republik zu bewegen? „Da bewirbt sich doch eh keiner“ – diesen Satz hörte Kaija Landsberg in der ersten Phase täglich. „Lange haben wir uns im Kreis gedreht.“ Die Ministerien fragten nach den Sponsoren, die Sponsoren nach den Ministerien, die Schulen nach den Fellows. „First Mover-Dilemma“ nennt Kaija Landsberg das. Niemand wollte den ersten Schritt tun. Im Juni 2008 stand Teach First vor dem Aus. Dann kam die Zusage der Vodafone Stiftung. „Das war der Durchbruch“, erinnert sich Landsberg. Jetzt beteiligten sich auch die Bildungsministerien von Hamburg, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Sie würden die Gehälter der Fellows zahlen. Robert-Bosch-Stiftung und Post, Lufthansa und McKinsey klinkten sich ein. Anfang 2009 war das Zittern endgültig vorbei. 730 Bewerbungen stapelten sich auf den Schreibtischen in der Teach First-Zentrale. 66 Kandidaten haben im vergangenen Herbst ihre Arbeit aufgenommen. Kaija Landsberg weiß, auf welch harte Tour sie ihre Fellows schickt. In den ersten Feedbacks aus dem Schulalltag war das deutlich zu spüren. „Es ist für die Fellows krass, zu sehen, aus welchen Verhältnissen die Kinder kommen“, sagt die Teach-First-Chefin. Abwesende Väter, Gewalt in der Familie, kein Geld für das Schulessen oder Bücher. Oft haben es die Fellows mit Schülern zu tun, die sich fragen: Wieso soll ich mich mit dem Dreisatz beschäftigen, wenn ich von der Abschiebung bedroht bin? Wieso mit Kommaregeln herumschlagen, wenn zwei meiner Brüder im Knast sitzen? Landsberg: „Das ist für die meisten erstmal eine fremde Welt. Damit müssen sie zurechtkommen und gleichzeitig ihre Schüler motivieren: Ihr könnt nur etwas erreichen, wenn ihr jetzt trotzdem Mathe und Deutsch paukt.“ Wie beflügelnd, wenn es tatsächlich gelingt. Zum Beispiel an der Johannes-Rau-Hauptschule in Bonn. Florian Weber hat dort ein veritables kleines Feuerwerk entzündet, ein Feuerwerk der Zuversicht und des Anpackens: Ihr könnt es schaffen! Als das Kollegium nach den Sommerferien das nächste Schuljahr plante, waren DIE GRÜNDERIN Kaija Landsberg stieß bei der Recherche für ihre Master-Arbeit auf Teach First America, das Vorbild für ihre deutsche Organisation. Gemeinsam mit Freunden von der Hertie School of Government begann sie im Sommer 2008 mit der Suche nach Geldgebern und nach Unterstützern in den Behörden. Ihr Team musste gegen viele Widerstände kämpfen – und hatte Erfolg: Im Herbst 2009 haben die ersten 66 Teach First-Fellows in Schulen in Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen ihre Arbeit aufgenommen VERTRAUENSLEHRER Fellows wie Burkhard Schaffitzel vermitteln den Schülern nicht nur Wissen, sondern übernehmen auch die Rolle von Ratgebern polisx #1 mai 2010 reportage sich die Lehrer noch sicher: In diesem Jahr wird kein Schüler der neunten Klasse Kurs auf die Mittlere Reife nehmen. Die Leistungen waren schwach, Konflikte an der Tagesordnung, neue Schüler wirbelten die Gruppen durcheinander, in vielen Familien türmten sich die Probleme, etliche Kids lebten in Wohngruppen betreut vom Jugendamt. Doch immer wenn Florian Weber in seinen ersten Wochen als Fellow mit den Schülern sprach, in den Pausen, auf den Gängen, bei einem Weiterbildungswochenende, bestätigte sich derselbe Eindruck: Viele sind hochintelligent, sie brauchen nur den Kick, die Motivation, den Glauben an sich. Weber beschloss: „Darum will ich mich kümmern.“ Sechs Monate später ist absehbar: Es wird eine Realschulklasse geben im nächsten Schuljahr. Zwanzig Schüler sind dabei. Weber lacht. „Die Anstrengungen der vergangenen Monate haben sich gelohnt.“ Gemeinsam mit den Lehrern hatte der Fellow überlegt: Wer kann es packen? Wer braucht welche Förderung? Mal wurden die Klassen geteilt, mal unterstützte der Fellow die Lehrerin im Unterricht. Er gab guten Schülern Extraaufgaben in Deutsch und Geschichte, paukte Mathe und Physik. Immer wieder redete er ihnen zu: „Komm, eine Aufgabe geht noch.“ Er riss die Schüler mit, die Lehrer, die ganze Jahrgangsstufe. „Das Kollegium an der Schule ist wahnsinnig engagiert. Aber die Probleme hatten sich so geballt, dass viele Lehrer einfach verzweifelten“, sagt der Fellow. „Ich war so etwas wie das Zünglein an der Waage, das die Stimmung zum Kippen brachte.“ Trotz solcher Erfolge: Seit die Fellows in die Schulen ausgeschwärmt sind, schwillt der Gegenwind an. Die Gewerkschaften sind skeptisch. Sie fürchten, das Projekt entprofessionalisiere den Lehrerberuf. In zwei Berliner Bezirken verweigerten die Personalräte die Zustimmung: „Wir wollen keine Billigkonkurrenz an unseren Schulen.“ Mit der Arbeit bei Teach First wollten die Kandidaten vor allem ihren Lebenslauf aufhübschen, argwöhnten manche Medien. Kaija Landsberg schüttelt den Kopf. „Zwei Jahre in so einem Umfeld sind reichlich viel für ein Bisschen gutes Gewissen im Lebenslauf. Uns ärgern solche Vorwürfe.“ Doch Landsberg beherrscht 22 die Kunst, Skepsis in Zustimmung zu verwandeln. Mit präzisen Argumenten, Leidenschaft und einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln, gelingt es ihr immer wieder, Gegner zu überzeugen. Gewerkschafter sitzen jetzt im Beirat, die erste Umfrage bei den Partnerschulen war ermutigend. Auf einer umgekehrten Notenskala von 1 bis 5 schnitten die Fellows hervorragend ab: Durchschnittswert 4,7. Kaija Landsberg räumt einige Unterlagen zusammen. Es ist 18.30 Uhr, aber ihr Tag ist noch lange nicht zu Ende. Das Team überarbeitet gerade das Qualifikationsprogramm für die Fellows. Wichtig ist die wissenschaftliche Evaluation des Projekts: Was bringt die Arbeit der Fellows wirklich? Wie ändert sich das Klima in den Schulen, wie verbessern sich die Schulleistungen der Schüler? Die Crew ist dafür in Gesprächen mit Experten an Universitäten. Mit Menschen wie Florian Weber oder Burkhard Schaffitzel stehen die Chancen gut, dass Teach First zum Erfolg wird. Der Unterricht in der Kepler-Schule ist vorbei. Schaffitzel wirft den Rucksack über und klemmt den Basketball unter den Arm. Natürlich, es gibt Regen- und Sonnentage im Schulalltag. Heute war einer jener Sonnentage mit aufgeweckten, motivierten Schülern. „Ich kann mir gut vorstellen, so lange mit den Schülern weiterzuarbeiten, bis sie den Abschluss haben“, sagt Schaffitzel. „Die Kids brauchen Kontinuität.“ Danach geht es zurück an die Uni, den Master machen. Sicher ist: Burkard Schaffitzel wird seine Erfahrungen im Brennpunkt mit in sein Berufsleben nehmen, in die Welt weit draußen, am anderen, angenehmeren Ende der Realität. BESTNOTEN Auch beim Korrigieren der Hausaufgaben helfen die Fellows aus. Sie selbst werden wiederum von den Schuldirektoren bewertet. Bisheriges Ergebnis: (Fast) volle Punktzahl polisx #1 mai 2010 GESPRÄCH »Der Nenner existiert nicht mehr« Die Politik ist überfordert damit, die Gesellschaft zu steuern, sagt der Münchner Soziologie-Professor Armin Nassehi. Der Staat sei genau dann stark, wenn seine Bürger stark genug sind, sich für das Gemeinwohl zu engagieren – und dabei Risiken einzugehen JAKOB SCHRENK (Fragen), STEPHANIE FÜSSENICH (Fotos) Nein. ich einen Bettler begegne, gar nicht unbedingt in den Sinn kommen muss. Warum nicht? Sondern? Mir ist das peinlich. In einer ständischen Gesellschaft hatte der Bettler einen sozialen Ort. Seine Armut war gottgewollt, also durfte er auch von denen, die in der gesellschaftlichen Ordnung weiter oben standen, Geschenke erwarten. Heute kann ein Bettler nicht mehr Gott verantwortlich machen, die Idee des Individualismus sagt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Noch dazu leben wir in einer Gesellschaft, die sich auf Gleichheit kapriziert, die verlangt, dass sich alle Menschen auf Augenhöhe begegnen, Lehrer und Schüler, Arzt und Patient. Einen Bettler etwas zu schenken ist ein asymmetrischer Akt, eine herablassende Geste. Journalisten, die Soziologen interviewen, und natürlich Soziologen selbst sind fasziniert von der Vorstellung, dass wir unser gesamtes Tun und Lassen permanent reflektieren. Dabei kann man im Alltag beobachten, dass Reflektionen über das Handeln der absolute Ausnahmefall sind. Die meiste Zeit handeln wir routiniert, gewohnheitsmäßig, wie automatisch. Die bessere Antwort auf ihre Bettler-Frage wäre also: „Ich habe dem Mann nicht gegeben, weil das einfach meiner Gewohnheit entspricht.“ Auch meine Amnesty-Spenden reflektiere ich nicht auf einer moralischen Ebene, ich mache das halt einfach so. Haben sie das einmal einem Bettler erklärt? Aber die Millionen Deutsche, die für die Erdbebenopfer in Haiti spendeten, haben doch ein moralisches Motiv? Sie wollten helfen. Herr Nassehi, geben sie Bettlern Geld? MENSCH NASSEHI Der Münchner Soziologe hat seine Studenten immer schon mit ungewöhnlichen Methoden begeistert. Inhaltlich setzt er sich gerne zwischen die Stühle – ohne dabei jemals die Systemtheorie nach Luhmann unter den Tisch fallen zu lassen Zugegebenermaßen handelt es sich bei meinen letzten Sätzen um eine Rationalisierung, einen guten Grund, den ich mir im Nachhinein zurechtlege, der mir aber in dem Moment, in dem polisx #1 MAI 2010 Ich halte eine medientheoretische Erklärung für überzeugender. Wenn Thomas Gottschalk 25 GESPRÄCH GESPRÄCH eine Spendengala moderiert und Überweisungschecks ausfüllt, dann kopieren Millionen von TV-Zuschauern diese Handlungsmuster und spenden selbst 50 oder 100 Euro. Das klingt abfällig. Wir kopieren ständig Muster aus dem Fernsehen. Wie wir streiten und lieben, welche sexuellen Stile es gibt, und wie man sich gegenüber Kollegen und Vorgesetzten verhält, das alles wissen wir aus dem TV-Gerät. Es ist nicht schlimm, wenn soziales Engagement einem massenmedialen Muster folgt. Jede Form von Engagement oder Wohltätigkeit ist viel stabiler, wenn sie nicht umständlich moralisch begründet werden muss. Wirklich? In den USA gründen reiche Menschen Stiftungen mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der bei uns Steuern gezahlt werden, das ist eine selbstverständliche Praxis, die gar nicht hinterfragt wird. Gerade hat eine reiche Verlegerwitwe der Met in New York 30 Millionen Dollar zukommen lassen. In Deutschland dagegen gilt Spenden und Stiften im großen Stil als problematisch, als eine Art gebändigte Korruption, man würde sich ängstigen, ob die »DAS SUBSIDIARITÄTSPRINZIP SAGT, dass der staat erst eingreifT, wenn das soziale umfeld nicht mehr helfen kann« Verlegerwitwe das künstlerische Programm der Met bestimmt und sich ganz allgemein darüber moralisch empören, dass Geld alle anderen gesellschaftlichen Bereiche korrumpiert. Ganz überzeugt bin ich noch nicht. Dann schauen sie doch mal, was man in den USA machen muss, um ein Stipendium für das College oder für die Universität zu bekommen. Viele Bücher zu lesen, ist nicht unbedingt wichtig. Dagegen zählt, dass man einen NachhilfeClub im Viertel aufgebaut oder beim Basketball einen Drei-Punkte-Wurf in letzter Sekunde ge- 26 troffen hat. So etwas kann man nicht einfach auf Deutschland übertragen, es reicht nicht, wenn der Bundespräsident soziales Engagement oder eine „Wertedebatte“ fordert. Moralische Werte werden überschätzt, als reine Appelle bleiben sie folgenlos. Die Frage ist, wie man zu gewünschten Werten passende Praxisformen und Handlungsmuster findet. Wir berichten in diesem Heft über den Versuch, nach amerikanischen Vorbild Studenten als freiwillige Lehrer an deutschen Schulen einzusetzen. Bis in die achtziger Jahre war Hausaufgabenbetreuung in den Kirchen oder innerhalb verschiedener Organisationen der Arbeiterbewegung völlig normal. Jetzt sind diese Formen sozialen Engagement nicht mehr attraktiv, deswegen brauchen wir neue Muster. Stielt sich der Staat nicht aus der Verantwortung? Man stellt weniger Lehrer ein, weil es Freiwillige gibt. Der Soziologe Stefan Selke sagt, dass die Einrichtung der Tafeln, an denen mittlerweile knapp eine Millionen Menschen in Deutschland versorgt werden, den Staat zum Sozialabbau ermutig: Es wird schon niemand verhungern. Ich sehe das Problem nicht: Das Subsidiaritätsprinzip, wie es in der katholischen Soziallehre formuliert wurde und nun prägend für unser Land ist, besagt, dass der Staat erst eingreifen soll, wenn dass soziale Umfeld nicht mehr helfen kann. Käme ein schwacher Staat also ihrer Vorstellung von einer guten Gesellschaft entgegen? Ich halte nichts davon, wenn Soziologen Werturteile abgeben. Niklas Luhmann hat einmal gesagt, dass unsere Gesellschaft mehr positive und mehr negative Eigenschaften hat als jede frühere Gesellschaft zuvor, alles sei zugleich besser und schlechter, was man zwar genau beschreiben aber nicht zu einem Gesamturteil aufaddieren könne. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass es dem Staat nicht gelingt, das Bankenwesen zu kontrollieren. Über elf Millionen Deutsche sind von Armut bedroht. Ist das kein Anlass zu Kritik? Aber wichtiger als Empörung ist doch das Verständnis, warum das so ist. polisx #1 mai 2010 Warum ist das so? Solange der Staat mehr einnahm, als er auszugeben plante, konnte er als ein Sachverwalter der Gesellschaft agieren. In den siebziger Jahren trat man als ÖTV-Vorsitzender zurück, wenn man nur eine Gehaltserhöhung von zwölf Prozent herausgehandelt hatte. Für die gleiche Forderung würde man heute sofort in die Psychiatrie kommen. Früher musste man nicht individuell nach neuen Lösungen suchen, zum Beispiel nach einer guten Hausaufgabenbetreuung, weil die beste Lösung immer schon vom Staat kam. Jahrhundert setzt sich in der Gesellschaft die funktionale Differenzierung durch, was bedeutet, dass einzelne gesellschaftliche Teilbereiche entstehen, die ihre eigenen Programme, Codes, Logiken und Strukturen heraus bilden. Und diese unterschiedlichen Perspektiven sind dann einfach nicht mehr auf einen Nenner zu bringen. Ein wirtschaftlich sinnvolles Großprojekt kann zum Beispiel ökologisch betrachtet höchst problematisch sein. Nein, das Hauptproblem ist, dass wir die Politik als Steuerungszentrum der Gesellschaft ansehen. »DIE POLITIK IST EIN SOZIALES SYSTEM UNTER ANDEREN, WIE DIE WISSENSCHAFT, DIE RELIGION ODER DIE WIRTSCHAFT« Als was denn sonst? Was bedeutet das für die Politik? Die Politik ist ein soziales System unter vielen anderen, wie etwa die Wissenschaft, die Religion oder die Wirtschaft. Falls sie das anders sehen, müssten sie behaupten, dass Angela Merkel die reichste Deutsche ist, das Oberhaupt der Kirche und außerdem noch bestimmen kann, was als wissenschaftliche Wahrheit anerkannt wird. Aber vollends mit der Wende zum 20. Dass es unmöglich wird, die Gesellschaft zentral zu steuern. Die Wissenschaft kann wissenschaftliche Erkenntnisse nicht aktiv vergessen, deshalb werden wir weder die Kernspaltung noch die Gentechnik los, selbst wenn man sie politisch einzuschränken versucht. Und die Weltwirtschaft, um ein weiteres Beispiel zu geben, agiert viel schneller als die nationale Politik. Deren Geltungsraum ist auf den nationalen Rahmen begrenzt, während die Wirtschaft längst globalisiert ist. Die Folge ist, dass die Politik nicht mehr Ziele wie Vollbeschäftigung erreichen kann. Wo Arbeitsplätze entstehen und wo sie abgebaut werden, entscheidet sich im wirtschaftlichen System. Und es ist verharmlosend und scheinradikal, diese Entwicklung als Deregulierung oder Neoliberalismus zu brandmarken. Das impliziert, dass man das mit besseren politischen Entscheidungen hätte verhindern können. Dass sich die Wirtschaft kaum steuern lässt, ist aber ein gesellschaftsstrukturelles Problem. Das Hauptproblem ist das fehlende Geld? Könnte die Politik besser steuern, wenn sie schneller werden würde? Demokratie heißt Partizipation und das braucht nun einmal Zeit, die Zeit, um die Bevölkerung zu überzeugen, für ein Anliegen zu werben. Je schneller die Politik agiert, desto weniger ist ein solches Einvernehmen herzustellen. EIN BAYER Nassehis Familie hat iranische Wurzeln, er selbst ist aber in Niederbayern geboren. Er promovierte und habilitierte sich in Münster und wechselte 1998 nach München. 27 GESPRÄCH Interessanterweise beschweren sich gerade Unternehmer und Manager über die Langsamkeit des politischen Prozesses. AUF DIENSTREISE Nassehi beschränkt sich nicht nur auf die akademische Welt, sondern berät auch Unternehmen und schreibt Bücher für ein breiteres Publikum. Zuletzt erschien sein Werk „Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Stories.“ Aber nur in einer Diktatur ist es möglich, das Energieeinspeisungsgesetz innerhalb von einen Tag einzuführen oder abzuschaffen. Übrigens braucht auch die Wirtschaft stabile Rahmenbedingungen, die sich nicht so schnell ändern wie Märkte. Diese Rahmenbedingungen werden politisch vorgegeben. Ohne Vertragssicherheit kann man sich keine funktionierende Wirtschaft vorstellen. Es käme also darauf an, das wechselseitige Verständnis beider Systeme zu stärken. Die Wirtschaft könnte verstehen, dass die Langsamkeit der Politik ein Segen ist, umgekehrt muss die Politik verstehen, dass Demokratie und Partizipation wundervolle Dinge sind, aber eben nur im politischen System funktionieren, nicht in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen. Dass die Politik in den siebziger Jahren versucht hat, demokratische Prozesse in der Wirtschaft zu installieren, war Unsinn. Wie könnte so ein wechselseitiges Verständnis geschaffen werden? Ich bin begeistert von der Desertec-Initiative des Club of Rome, die einen Verbund von solarthermischer Energie, Wind- und Wasserkraft von »DIE ANONYMe Form DER ORGANISIERTEN SOlidarität im Sozialstaat ist doch ein fantastischer fortschritt« Europa über die Sahara bis zur arabischen Halbinsel schaffen will. Von Anfang an hatte das Projekt alle möglichen Fragen im Blick: kulturelle Implikationen, Rechts- und Vertragssicherheit, technische Machbarkeit, politische und ökonomische Leadership. Zwölf Unternehmen aus der Energie-, Finanz- und Versicherungsbranche beteiligen sich an dem Projekt. Es ist wichtig, dass Menschen miteinander reden, die sonst nicht miteinander reden, um zu neuen, ungewöhnlichen Lösungen kommen. Und dieses Gespräch können engagierte Privatpersonen viel besser animieren als der Staat. 28 Wo sehen sie noch Vorteile privater Initiativen gegenüber dem Staat? Immer wenn es um innovative, radikale Ideen geht. Die Politik muss stets das Kollektiv im Blick behalten, also Lösungen für alle suchen. Ob man aber vielleicht Schulkinder ganz anders unterrichten kann, Sterbende viel besser begleiten oder Arbeitslose wirklich sinnvoll fördern und fordern, das kann man nur im kleinen und privaten Rahmen ausprobieren. Übrigens mit dem Risiko, dass man grandios scheitert. Auf wohltätige und engagierte Bürger hofft ja auch Peter Sloterdijk: Besser als eine Zwangssteuer sei es, wenn die Reichen freiwillig Geld an Bedürftige geben. Ich will gar nicht moralisierend gegen Sloterdijk argumentieren. Aber der Mann hat keine historische Bildung. Die Anonymität der organisierten Solidarität im Sozialstaat ist ja gerade ein fantastischer Fortschritt. So unterstützt der Sozialstaat nicht konkrete Menschen, die er kennt und schätzt, sondern Anspruchsberechtigte, deren Anspruch ohne Ansehen der Person gilt. Das ermöglicht, dass man einfach Steuern zahlt, nicht, weil man moralisch in die Pflicht genommen wird, sondern weil das ein Gesetz ist. Gleichzeitig müssen die Empfänger nicht bitten oder betteln. Das hat eine enorm befriedende Wirkung auf die Gesellschaft. Was noch kann der Staat besser? Der öffentliche Transport wäre ein Beispiel. Offensichtlich ist das nicht rentabel zu organisieren, gleichzeitig ist der öffentliche Transport aber aus vielen Gründen, darunter auch ökonomische, sehr wichtig. Wenn hier der Staat aktiv ist, als ein ökonomischer Akteur, der ökonomisch unvernünftig sein darf, kommt mir das sehr vernünftig vor. Ganz sicher bin ich mir immer noch nicht: Sind sie für einen starken Staat oder für starke Bürger? Der Gegensatz, den sie konstruieren, existiert doch überhaupt nicht. Warum ist ein Staat schwach, der seinen Bürgern vertraut und ihnen die Möglichkeiten gibt, innovative Lösungen zu entwickeln, ohne den Anspruch zu haben, alles selbst zu regulieren? So ein Staat käme mir sehr souverän und stark vor. polisx #1 mai 2010 BÜCHER BÜCHER JEFF RUBIN: Warum die Welt immer kleiner wird. Öl und das Ende der Globalisierung. Erschienen bei Hanser Wirtschaft. 288 Seiten, 19,90 Euro WENIGER IST MEHR Warum der steigende Ölpreis unsere Welt kleiner und zugleich besser macht Der kanadische Ökonom Jeff Rubin glaubt an ein baldiges wirtschaftlich goldenes Zeitalter, in dem die zu starke Ausbeutung der Ressourcen ein Ende haben könnte. Beispiel: Lachs. Der Fisch, der vor Norwegen im Atlantik gefangen wird, ist nämlich nur noch deshalb erschwinglich, weil billiges Erdöl den Preis von Fisch subventioniert. Niedrige Transportkosten sorgen dafür, dass er in der Regel günstig nach China verschifft, dort von billigen Arbeitskräften entgrätet und filetiert wird, um dann wieder in einem Containerschiff zurück nach Europa zu gelangen. Nur solange genug Öl da ist, kann die Wirtschaft diese bizarre Energieverschwendung aufrechterhalten. Wir alle essen Lachs, ohne darüber groß nachzudenken. Doch das Spiel ändert sich: Game over. Peak Oil! Dadurch wird Energie, zumindest Erdöl, teurer. Weshalb die globalisierte Fischindustrie ein Kostenproblem bekommen wird, das sie nicht in den Griff kriegt. Denn Erdöl ist bekanntermaßen keine unendliche Ressource, die Wirtschaft wird sich in den nächsten Jahrzehnten davon unabhängig machen müssen. Und genau hier beginnt Rubins These: „Teures Öl bedeutet das Aus für das Leben, wie wir es kennen – doch vielleicht war dieses Leben ohnehin nicht gar so großartig. Smogverseuchte Städte, globale Klimaerwärmung, Ölteppiche und andere Umweltschäden sind allesamt Folgen von billigem Öl.“ Die Globalisierung legt den Rückwärtsgang ein. Lokale Produkte werden unsere Märkte wieder stärker prägen. Die heimische Wirtschaft wird aufblühen, so Rubin. Sein Rat: „Stellen Sie sich auf eine kleinere Welt ein! Schon bald werden Ihre Lebensmittel von einem Acker in Ihrer Nähe kommen, und die Dinge, die Sie kaufen, werden eher von einer Fabrik im Ihrem Heimatort produziert als am anderen Ende der Welt.“ Wenn das mal kein Neuanfang ist – und einer, der sich gar nicht schlecht anhört. 30 STUDIEREN! Deutschland braucht eine kompromisslose Strategie für mehr Bildung Gerade eben erst wurde es heftig begrüßt, das Ende der sogenannten Nullerjahre mitsamt ihren Krisen und Katastrophen. Nun also stehen die Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts ins Haus, und praktischerweise hat Gunter Dueck punktgenau einen Leitfaden für die weitere Marschrichtung vorgelegt. „Aufbrechen!“ also, und mit vereinter Anstrengung etwas ganz anderes versuchen, als wie bisher alte Gewohnheiten beizubehalten oder sterbende Branchen und Unternehmen künstlich wiederzubeleben. „Nach der Krise geht es woanders hin, nicht zurück“, sagt Dueck: nämlich mit aller Kraft voraus in die Exzellenzgesellschaft. Exzellenz klingt immer gut, aber eine der Voraussetzungen dafür hört sich dann doch etwas schrill an: „Fast alle müssen studieren.“ Das käme einer Revolution gleich, gerade für konservative Bildungspolitiker, die bis heute auf einer klaren Trennung nach Leistung schon in der Schulzeit plädieren und eine Verwässerung der Universitäten fürchten. Aber der Autor, Cheftechnologe und Vorausdenker des IBM-Konzerns, hat die Sache durchdacht. Selten hat einer die Wissensgesellschaft, auf die wir zusteuern, gründlicher durchdekliniert als der Mathematiker und Ökonom Dueck, im eigenen Unternehmen – in Anspielung an sein Buch Wild Duck – nicht von ungefähr „Wild Dueck“ genannt. Duecks Forderung: Menschen sollten von innen motiviert und leistungsbereit sein, Eifer und Willen zeigen und gerne die Verantwortung übernehmen. Dabei hilft ihnen der höchstmögliche Bildungsstand. „Wenn Deutschland erfolgreich in die Exzellenzgesellschaft will, muss es sich kompromisslos entscheiden“, fordert Dueck. Kein Wunder, dass er die Kultur des selbstverantwortlichen, integren Menschen mit einem starken Sinn für die Gemeinschaft und für Ethik sogar im Grundgesetz verankern will. GUNTER DUECK: Aufbrechen! Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen. Erschienen bei Eichborn. 224 Seiten, 19,95 Euro polisx #1 mai 2010 NICHOLAS A. CHRISTAKIS, JAMES FOWLER: Connected! Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist. Erschienen bei S. Fischer. 432 Seiten, 22,95 Euro ANSTECKEND Sie denken, dass Sie ein selbstbestimmtes Leben führen? Vermutlich irren Sie sich Otto Normalverbraucher jammert hierzulande gerne darüber, dass der Einzelne nichts bewirken kann und hilflos im Netz staatlicher und wirtschaftlicher Obrigkeiten zappelt. Was aber gar nicht zutrifft, wie neueste amerikanische Studien beweisen. Jeder Mensch verfüge zwar nur über vier enge Sozialkontakte, aber die haben es in der Regel in sich. Denn diese kleine Welt ist eingebettet in größere Strukturen. Es ist sogar oft möglich, „durch Verbindungen von einem Menschen zum nächsten einen Kontakt zu jedem beliebigen Menschen auf der Erde herzustellen“. Christakis und Fowler haben sich auf die beschwerliche Suche gemacht, wie und wann der Mensch von sozialen Netzwerken profitiert. Erstes Ergebnis: Je mehr enge Freunde und Verwandte man hat, desto glücklicher ist man. Zweites Ergebnis: Enge Freunde und Verwandte beeinflussen uns mehr, als uns lieb ist. Wir ahmen nämlich gerne Menschen aus unserer nächsten Umgebung nach. „Studenten mit fleißigen Zimmergenossen werden fleißiger. Esser, die neben Fressern sitzen, essen mehr. Hausbesitzer, deren Nachbarn ihren Garten pflegen, mähen regelmäßig ihren Rasen.“ Aber es kommt noch dicker. Wir ahmen nicht nur unsere Freunde nach, sondern auch die Freunde unserer Freunde und deren Freunde. Das hat erhebliche Folgen für die Wirtschaft. Wie wir konsumieren, färbt auf Menschen ab, die wir dabei gar nicht im Blick haben. In der Regel umfassen solche Reaktionsketten drei Glieder. Auch in Erfindernetzwerken verbreiten sich neue Ideen über drei Stationen, „das heißt, dass die Kreativität eines Erfinders auf seine Kollegen, die Kollegen seiner Kollegen und die Kollegen der Kollegen seiner Kollegen abfärbt“. Die Mund-zu-Mund-Propaganda für Verhaltensweisen, Objekte oder Dienstleistungen im alltäglichen Leben funktioniert genauso. „Soziale Ansteckung“ beschreibt unser Leben besser als „Selbstbestimmung“. polisx #1 MAI 2010 HELFERSYNDROM Der Westen sollte sich dringend um sich selbst sorgen, statt um Afrika Dambisa Moyo ist eine spannende Persönlichkeit. Die 40-jährige Ökonomin aus Sambia, die bis vor kurzem bei der Investmentbank Goldman Sachs gearbeitet hat, ist neben dem kenianischen Ökonomen James Shikwati die wichtigste Kritikerin der Entwicklungshilfe für Afrika. In ihren Schriften weist sie DAMBISA MOYO: eindrucksvoll nach, weshalb Der Untergang des Westens: Haben wir eine neue Chance in der Afrika aufgrund der finanziWirtschaftsordnung? Erscheint bei ellen Hilfe aus dem Westen Piper. 288 Seiten, 19,95 Euro heute ärmer ist als noch vor 50 Jahren. „Lebten damals nur zehn Prozent der Einwohner unter der Einkommensgrenze von zwei Dollar, sind es heute 70 Prozent. Während der letzten 30 Jahre sank das Wirtschaftswachstum jährlich um 0,2 Prozent.“ Jetzt aber dreht sich der Wind. Das eigentliche, noch weitgehend unsichtbare Drama laute: Der Westen geht unter. Seit Jahren produziere der Westen immer weniger, Innovationen fänden anderswo statt. Für Afrika sieht Moyo Licht am Horizont: „Auf mittlere Sicht wird die Entwicklungshilfe sinken, und Afrika kann endlich seine eigene Strategie für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum abstecken.“ Moyo ist nicht alleine. Auch Shikwati glaubt, dass der Westen sich sein Geld sparen kann. „Hilfe, das klingt so unschuldig“, sagt er. „Aber das Problem sind die Folgen: Hilfe macht Afrika auf Dauer abhängig und redet den Menschen ein, dass sie ihre Probleme nicht selbst lösen können.“ Deshalb vertritt Shikwati schon länger die Forderung, dass Entwicklungshilfe abgeschafft wird – am besten sofort. Nur so lasse sich das System ändern, das Afrika in die Armut getrieben hat. Moyo liegt ganz auf dieser Linie. „Nehmen Sie den IWF, der afrikanischen Staaten ständig neue Bedingungen auferlegt, unter denen sie Geld bekommen können: die nutzen zu allererst den Gebern, nicht den Empfängern.“ Ein provozierendes Buch, das wir aufmerksam lesen sollten. PETER FELIXBERGER ist Herausgeber von PolisX und Experte für Bücher aus den Bereichen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Manchmal schreibt er sie gleich selbst, so wie zuletzt den Band „Deutschlands nächste Jahre – Wo unsere Reise hingeht.“ 31 LETZTE SEITE MEINE IDEE » Wie ich mit einer Million Euro helfen würde, die Welt zu retten« Alissa Jung Schauspielerin Wenn mir jemand eine Million Euro gäbe, würde ich damit noch mehr Schulen in Haiti unterstützen als bisher. Mein Engagement dort fing mit zwei Patenschaften an, die ich übernommen habe, nachdem mir ein befreundeter Arzt vor drei Jahren von seiner Arbeit für das Hilfswerk Unsere kleinen Brüder und Schwestern erzählte. Er meinte: „Du stehst doch in der Öffentlichkeit, diese Organisation ist ganz toll, nur leider kennt sie in Deutschland niemand. Kannst du da nicht was tun?“ Ich habe mich mit diesem Hilfswerk beschäftigt, das in Haiti besonders aktiv ist. In der ersten Zeit war ich überrascht und bin über mich selbst erschrocken. Da hält man sich für einen einigermaßen gebildeten Mitteleuropäer aber weiß nicht, wo genau Haiti liegt und dass es eines der ärmsten Länder der Welt ist. Als ich meine Patenkinder besuchte und einen der größten Slums der Welt sah, wo die Leute Kekse aus Erde, Öl und Salz aßen, war ich total aufgewühlt. Zurück in Deutschland war mir klar, dass ich mehr für die Menschen dort tun wollte. Meine Kollegin Janin Reinhardt und ich haben uns entschieden, bei der Bildung anzufangen, denn wer in Haiti lesen und schreiben kann, hat den meisten anderen schon etwas voraus. Jeder ausgebildete Haitianer ist eine Chance für das Land. Deutsche Schulklassen helfen uns dabei, zwei Slumschulen zu finanzieren. Die Kinder sollen nicht einfach sagen: „Mama, gib mir mal einen Euro, den ich spenden kann.“ Sie organisieren Benefizkonzerte oder Flohmärkte. Dabei geht es nicht nur ums Geld. Wir möchten eine Brücke bauen. Gerade nach dem schlimmen Erdbeben sind die deutschen Schüler froh, etwas für Gleichaltrige in Haiti tun zu können. Protokoll: Sandra Winkler ALISSA JUNG Die Schauspielerin wurde 1981 in Münster geboren. Ihre erste Fernsehrolle bekam sie in der ARD-Serie „In aller Freundschaft“. Bekannt wurde sie durch die Sat.1-Telenovela „Schmetterlinge im Bauch“. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Berlin. isl ut aliquip ex ea commodo consequat. Duis autem vel eum iriure dolor in hendrerit in vulputate velit esse molestie consequat, vel illum dolore eu feugiat nulla facilisis at vero eros et accumsan et iusto 32 polisx #1 mai 2010