Nun ruhen alle Wälder – Paul Gerhardt 1647

Transcrição

Nun ruhen alle Wälder – Paul Gerhardt 1647
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Nun ruhen alle Wälder – Paul Gerhardt 1647
NGB 323
EG 477
1. Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt' und Felder,
es schläft die ganze Welt;
ihr aber, meine Sinnen,
auf, auf, ihr sollt beginnen,
was eurem Schöpfer wohlgefällt.
1. Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt' und Felder,
Es schläft die ganze Welt;
Ihr aber, meine Sinnen,
Auf, auf, ihr sollt beginnen,
Was eurem Schöpfer wohlgefällt!
2. Der Tag ist nun vergangen,
die güldnen Sternlein prangen
am blauen Himmelssaal;
also werd ich auch stehen,
wenn mich wird heißen gehen
mein Gott aus diesem Jammertal.
2. Wo bist du, Sonne, blieben?
Die Nacht hat dich vertrieben,
Die Nacht, des Tages Feind.
Fahr hin! Ein' andre Sonne,
Mein Jesus, meine Wonne,
Gar hell in meinem Herzen scheint.
3. Der Leib eilt nun zur Ruhe,
legt ab das Kleid und Schuhe,
das Bild der Sterblichkeit;
die zieh ich aus, dagegen
wird Christus mir anlegen
den Rock der Ehr und Herrlichkeit.
3. Der Tag ist nun vergangen,
Die güldnen Sternlein prangen
Am blauen Himmelssaal;
So, so werd' ich auch stehen,
Wenn mich wird heißen gehen
Mein Gott aus diesem Jammertal.
4. Breit aus die Flügel beide,
o Jesu, meine Freude,
und nimm dein Küchlein ein.
Will Satan mich verschlingen,
so lass die Englein singen:
"Dies Kind soll unverletzet sein."
4. Der Leib eilt nun zur Ruhe,
Legt ab das Kleid und Schuhe,
Das Bild der Sterblichkeit;
Die zieh' ich aus, dagegen
Wird Christus mir anlegen
Den Rock der Ehr' und Herrlichkeit.
5. Auch euch, ihr meine Lieben,
soll heute nicht betrüben
kein Unfall noch Gefahr
Gott lass euch ruhig schlafen,
stell euch die güldnen Waffen
ums Bett und seiner Engel Schar.
5. Das Haupt, die Füß und Hände
Sind froh, daß nun zum Ende
Die Arbeit kommen sei.
Herz, freu dich, du sollst werden
Vom Elend dieser Erden
Und von der Sünden Arbeit frei.
6. Nun geht, ihr matten Glieder,
Geht hin, und legt euch nieder,
Der Betten ihr begehrt.
Es kommen Stund und Zeiten,
Da man euch wird bereiten
Zur Ruh ein Bettlein in der Erd.
7. Mein Augen stehn verdrossen,
Im Nu sind sie geschlossen,
Wo bleibt denn Leib und Seel?
Nimm sie zu deinen Gnaden,
Sei gut für allen Schaden,
Du Aug und Wächter Israel.
8. Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein!
Will Satan mich verschlingen,
So laß die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein!
9. Auch euch, ihr meine Lieben,
Soll heute nicht betrüben
Kein Unfall noch Gefahr.
2
Gott laß' euch selig schlafen,
Stell' euch die güldnen Waffen
Ums Bett und seiner Engel Schar.
die Strophen, die nicht ins NGB aufgenommen wurden, zeigen deutlich, was den eigentlichen Kern des Liedes
ausmacht:
Es handelt sich mitnichten um ein Abend/Schlaf/Kinderlied, zu dem es in der neuapostolisc hen Fassung wurde wie so oft, stellt Gerhardt auch bei "Nun ruhen alle Wälder" Tagesende und Lebensende einander gegenüber. Das
schöne Bild der schwindenden Sonne als Gegenpart zum als "andre Sonne" bezeichneten Christus in Str.2 geht
verloren.
Ebenso verhält es sich mit Str.5: "Mein Haupt, die Füß und Hände" ruhen aus - diesen wird das Ausruhen des
Herzens am Lebensende von der Sünde entgegengesetzt. Dieses klassische Bild der Gegenüberstellung von
körperlicher und geistlicher „Mühe“ geht ebenso verloren.
Die Strophen 6 und 7 wurden ebenfalls "gestrichen": Der "klassische" pietistische Vergleich von Bett und Sarg in
Str. 6 fällt ebenso weg wie der "Wächter Israel" in Strophe 7. Damit geht auch die Andeutung/das Zitat von
Psalm 121 verloren:
Ps 121,4
Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.
Liest man den Psalm weiter, ist sofort klar, warum Gerhardt gerade ihn anklingen lässt:
Der HERR behütet dich; der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand, 6daß dich des Tages die Sonne
nicht steche noch der Mond des Nachts. 7aDer HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. 8Der
HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!
Dieser Segenswunsch beinhaltet ebenfalls die Bilder von Sonne und Mond, Tag und Nacht, Ausgang und Eingang.
Streicht man die betreffenden Strophen, wird aus dem vielschichtigen und "Ebenen -reichen" Text Gerhardts ein
simples Kinderlied, das weder den komplexen Gerhadtschen Metaphern in ihren Gegenüberstellungen, gerecht
wird, noch den besonderen sprachlichen Strukturen, noch den theologischen Aussagen des Textes.
Gerade Paul Gerhardts Lieder verstehen sich als auskomponierte Predigten, nicht als Bilder -„Pool“, der zur
Selbstbedienung einläd. So bewirken Veränderungen von Bildern, Umbau von Strophen sowie Auslassung weiter
Teile des Liedes nicht nur die Zerstörung des sprachlichen und geistlichen Geflechts, sondern den völligen Kollaps
des theologischen Zusammenhangs und somit der Gesamtaussage.
Die Veränderung von "selig" zu "ruhig" in der letzten Strophe entspricht der allgemeinen Tendez des NGB, Bilder,
die Worte wie „selig“, „Seligkeit“ und „Himmel“enthalten, entweder komplett zu entfernen oder durch schwächere
Begriffe zu ersetzen. Wie bereits erwähnt, könnte die Begründung im exklusiven Verständnis der
Gottesdienstrezeption liegen, die oft mit dem Bild des „Selig -werdens“ umschrieben wird.