Niedrige Zinsen – gesamtwirtschaftliche Ursachen und Folgen

Transcrição

Niedrige Zinsen – gesamtwirtschaftliche Ursachen und Folgen
Zeitgespräch
DOI: 10.1007/s10273-014-1725-3
Niedrige Zinsen – gesamtwirtschaftliche
Ursachen und Folgen
Die Zentralbanken in den Industrieländern betreiben seit längerer Zeit eine sehr lockere
Geldpolitik mit niedrigen nominalen Zinsen. Bei gleichzeitig niedriger Inflationsrate sind auch
die Realzinsen sehr gering. Von niedrigen Zinsen wird erwartet, dass die Investitionsschwäche
überwunden, deflationäre Entwicklungen gestoppt und das Wirtschaftswachstum angekurbelt
wird. Offenbar kann aber die Geldpolitik diese Ziele nicht allein erreichen, möglicherweise
setzt sie sogar falsche Anreize. Andere regulierende Maßnahmen sind erforderlich, zudem
können Investitionsprogramme unterstützend wirken.
Oliver Landmann
Haben die Zentralbanken den rechtzeitigen Ausstieg aus der
Niedrigzinspolitik verpasst?
Seitdem die Zentralbanken der großen Industrieländer im
Zuge der Finanzkrise von 2008 und der daran anschließenden weltweiten Rezession ihre Leitzinsen drastisch
gesenkt haben, verharren die kurzfristigen Zinssätze in
der Nähe von null. Die Langfristzinsen bewegen sich, risikobereinigt, nur wenig darüber. Das Niedrigzinsumfeld
und die damit einhergehende reichliche Liquidität haben
zwar die Vermögensmärkte beflügelt. Aber die Erholung
der Realwirtschaft von der Krise hat nur schleppend und
ungleichmäßig eingesetzt; in weiten Teilen Europas hat
die Produktion das Vorkrisenniveau noch immer nicht
wieder erreicht.
Vor diesem Hintergrund werden die Wirkungen der rekordtiefen Zinsen kontrovers diskutiert. Wenn eine Medizin
nicht wunschgemäß wirkt, kann dies zwei Gründe haben.
Entweder stimmt die Medizin, aber die Dosis ist zu gering.
Oder der Patient erhält die falsche Medizin. Die erste dieser Interpretationen haben sich die meisten Zentralbanken
zu eigen gemacht. Sie versuchen mit unkonventionellen
Methoden der Liquiditätsausweitung (Quantitative Easing)
sowie des Erwartungsmanagements (Forward Guidance),
jene zusätzlichen Impulse zu setzen, die sie angesichts
des Erreichens der Nullzins-Untergrenze mit der konventionellen Zinspolitik nicht mehr setzen können.
Konjunkturzyklus, Finanzzyklus und die Doktrin der
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
Kritiker der lockeren Geldpolitik bezweifeln dagegen
deren Wirksamkeit und warnen vor unerwünschten Ne-
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
benwirkungen. Im Vordergrund steht die Sorge, dass
das billige Geld der Bildung neuer spekulativer Blasen
an den Finanz- und Immobilienmärkten Vorschub leistet.
Besonders pointiert wird diese Position von der Bank für
Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) artikuliert. In ihrem Jahresbericht vom Juni 2014 argumentiert die Bank,
dass der Konjunkturzyklus, der gewöhnlich im Zentrum
der Aufmerksamkeit der makroökonomischen Stabilisierungspolitik steht, von einem Finanzzyklus überlagert
wird.1 Sie misst ihn hauptsächlich anhand der Bewegungen von Immobilienpreisen und Kreditaggregaten und interpretiert ihn als Ausdruck der sich selbst verstärkenden
Wechselwirkungen zwischen Risikobereitschaft, Vermögenswerten und Finanzierungsrestriktionen, die der Abfolge von Boomphasen und Krisen an den Finanzmärkten
zugrunde liegen. Die Wellenlänge des Finanzzyklus ist
länger als diejenige des Konjunkturzyklus. Allerdings folgen auf Spitzen des Finanzzyklus häufig Finanz- und Bankenkrisen, die wiederum in der Regel einen Einbruch der
Konjunktur nach sich ziehen.2 Es kommt zu einer „BilanzRezession“ (Balance Sheet Recession),3 die durch einen
sich hinziehenden Schuldenabbau des privaten Sektors
gekennzeichnet ist und daher länger anhält und schwerer
zu überwinden ist als eine herkömmliche Stabilisierungsrezession, wie sie für die Nachkriegszeit typisch gewesen
ist.
1
2
3
Vgl. Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, 84. Jahresbericht,
Basel, 29.6.2014.
Ebenda, Kapitel IV.
Der Begriff stammt von R. Koo: The Holy Grail of Macroeconomics,
New York 2009.
611
Zeitgespräch
Die BIZ moniert, dass die Geldpolitik der Zentralbanken
zu stark auf die laufende Inflations- und Konjunkturentwicklung fokussiert sei und zu wenig Rücksicht auf den
Finanzzyklus nehme – mit nachteiligen Folgen nicht nur
für die Finanzmarkt- und Bankenstabilität, sondern gerade auch für die Stabilisierung des Preisniveaus und der
Konjunktur. Jüngstes Beispiel: Auf die Konjunkturabschwächung nach dem Platzen der „Dotcom-Blase“ im
Jahr 2000 haben die Zentralbanken mit einer starken Ausweitung der Liquidität reagiert, obwohl sich der Finanzzyklus mitten in einer Aufschwungsphase befand. Die Folge
– so die Interpretation der BIZ – waren eine Verstärkung
des Kreditwachstums und ein Schub für die Immobilienpreise, die sich gegenseitig beflügelten, am Ende aber in
die Finanzkrise von 2008 mündeten. Die Finanzkrise wiederum zog eine Konjunkturkrise nach sich, deren Dimension die makroökonomische Stabilisierungskapazität der
Zentralbanken alsbald überforderte. Damit war auch die
„Greenspan-Doktrin“ desavouiert, die im Kern besagte,
dass die Zentralbanken nicht versuchen sollten, spekulative Blasen an den Finanzmärkten zu identifizieren und zu
bekämpfen, sondern sich darauf beschränken sollten, die
Folgen einer Krise, wenn denn einmal eine Blase platzt,
mit einer hinreichend akkommodierenden Geldpolitik aufzufangen.4
Die BIZ ist besorgt, dass sich Ähnliches durch die enorme Liquiditätsschwemme, mit der die Zentralbanken seit
2008 der Finanz- und Bankenkrise entgegengetreten
sind, wiederholen könnte. Sie diagnostiziert eine eigentliche „Schuldenfalle“: Tiefe Zinsen ermutigen den privaten Sektor, Schulden aufzunehmen, erleichtern es den
Banken, marode Altschulden in den Büchern stehen zu
lassen, und verleiten Regierungen dazu, überfällige Haushaltskonsolidierungen zu verschleppen. Umgekehrt lassen hohe Schuldenstände im privaten und öffentlichen
Sektor die Zentralbanken davor zurückschrecken, die
Zinsen so frühzeitig und in dem Ausmaß zu erhöhen, wie
es eigentlich angezeigt wäre.5
Aus dieser Analyse leitet die BIZ vier Schlussfolgerungen
ab:6
1. Tiefe Zinsen führen weder aus der Überschuldung heraus noch sind sie ein besonders wirksames Mittel zur
Überwindung der anhaltenden Konjunkturschwäche.
2. Daher sollte die Politik bei der Krisenbekämpfung weniger auf expansive Nachfragepolitik setzen als viel4
5
6
612
Vgl. W. White: Should Monetary Policy Lean or Clean? Globalisation
and Monetary Policy Institute, Federal Reserve Bank of Dallas, Working Paper 34, August 2009.
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, a.a.O., Kap. IV.
Ebenda, Kap. I.
mehr auf Bilanzsanierung, angebotsseitige Strukturreformen sowie straffe Bankenaufsicht und Finanzmarktregulierung.
3. Die Zentralbanken sollten so rasch wie möglich aus der
Niedrigzinspolitik aussteigen.
4. Die Regierungen sollten die Konsolidierung ihrer Haushalte zügig vorantreiben.
Zwei Fragen drängen sich auf: Erstens, stimmt die Diagnose? Zweitens, wie würden Länder, in denen die Rezession noch nicht überwunden ist, die verordnete Therapie
verkraften?
Geldpolitik systematisch zu locker?
Die BIZ stützt ihre Diagnose einer unter Missachtung des
Finanzzyklus systematisch zu lockeren Geldpolitik mit der
Beobachtung, dass das Zinsniveau schon seit den 1980er
Jahren einen fallenden Trend aufweist. Dieser Trend ist eine wohl dokumentierte Tatsache. Nur: Was ist Ursache,
was Wirkung? Die Referenzgröße, an der sich bemisst, ob
die Geldpolitik restriktiv oder expansiv wirkt, ist der langfristige reale Gleichgewichtszins – in der Terminologie von
Knut Wicksell: der natürliche Zins.7 Alle Indizien sprechen
dafür, dass der natürliche Zins schon seit längerer Zeit
sinkt. Die Ursachen liegen vor allem in fundamentalen
Veränderungen des globalen Spar- und Investitionsverhaltens: der demografischen Alterung und der rückläufigen Wachstumsdynamik in den Industrieländern ebenso
wie den hohen Sparüberschüssen der Schwellenländer.8
Dagegen ist sich die Geld- und Zinstheorie von Knut
Wicksell über Milton Friedman bis zu den modernen NeuKeynesianern weitgehend darin einig, dass die Geldpolitik
den Realzins nicht auf die Dauer beeinflussen kann.
Makroökonomische Stabilisierung betreibt die Geldpolitik, indem sie den Marktzins zeitweilig über den Gleichgewichtszins anhebt bzw. unter den Gleichgewichtszins
absenkt. Es liegt auf der Hand, dass jede Beurteilung
des Zentralbankverhaltens, die den rückläufigen Trend
des natürlichen Zinses außer Acht lässt – gleichviel, ob
sie sich auf Zeitreiheneigenschaften des Zinses stützt
oder eine Taylor-Regel als Maßstab verwendet –, Gefahr
läuft, die Schwankungen des Zinsniveaus um den fallenden Trend herum als ein asymmetrisches, systematisch
zu Zinssenkungen neigendes Verhalten der Zentralbanken zu missdeuten. Würde diese Deutung zutreffen, hätte
7 K. Wicksell: Geldzins und Güterpreise, Jena 1898.
8 Das Phänomen wird ausführlich analysiert in: Internationaler Währungsfonds: World Economic Outlook, April 2014; sowie in C. Teulings,
R. Baldwin (Hrsg.): Secular Stagnation, Facts, Causes, and Cures, A
VOXeu.org eBook, Centre for Economic Policy Research, London 2014.
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
der fallende Zinstrend mit steigenden Inflationsraten einhergehen müssen. Da aber gleichzeitig mit dem Realzins
auch die Inflationsraten deutlich zurückgegangen sind,
dürften die Zentralbankzinsen dem fallenden Trend des
realen Gleichgewichtszinses im Mittel eher leicht hinterhergehinkt sein.
Das Andauern der Bilanz-Rezession trotz Nominalzinsen
und Inflationsraten, die nicht mehr weit von null entfernt
sind, deutet darauf hin, dass der natürliche Zins durch
die simultanen Sparanstrengungen des privaten und des
öffentlichen Sektors („Deleveraging“) in den negativen
Bereich gefallen ist. Da unter diesen Umständen keine
Kräfte am Werk sind, die auf einen Wiederanstieg der
Inflationsraten hinwirken könnten, verharren die Zinsen
oberhalb ihres Gleichgewichtsniveaus. Die Geldpolitik
ist mithin systematisch zu restriktiv, kann hieran aber nur
wenig ändern, solange ihr die Hände durch die Liquiditätsfalle gebunden sind. Nicht von ungefähr wird das tot
geglaubte Gespenst einer „Säkularen Stagnation“ wieder
als reale Drohung diskutiert.9
Die Diagnose der Bilanz-Rezession erklärt, warum die
Transmissionsmechanismen der Nachfragepolitik geschwächt sind. Aber hieraus den Schluss zu ziehen,
dass die Politik, wenn sie das Wachstum wieder in Gang
bringen möchte, deswegen die Gewichte von den Instrumenten der Nachfragesteuerung zu denjenigen der
angebotsseitigen Strukturreformen und der Finanzmarktregulierung verschieben müsse, verkennt den Charakter
des Problems. Der allenthalben verfolgte Schuldenabbau
lässt die Güternachfrage zum bindenden Engpass werden. Politische Maßnahmen zur Stärkung der Angebotsseite der Wirtschaft und zur Erhöhung der Finanzmarktstabilität tragen unmittelbar nichts dazu bei, diesen Engpass zu lockern. In manchen Fällen bewirken sie sogar
eher das Gegenteil. Deshalb ist es falsch, angebots- und
nachfrageseitig ansetzende Instrumente der Wirtschaftspolitik als Substitute zu behandeln oder gar gegeneinander auszuspielen. So unbestreitbar die Notwendigkeit
langfristig angelegter Strukturreformen sein mag, so wenig können solche Reformen ausrichten, wenn sie nicht
von einer hinreichend akkommodierenden Nachfragepolitik flankiert werden. Der schon vor Jahren geprägte
Begriff eines „two-handed approach“, der angebots- und
nachfrageseitige Maßnahmen als komplementäre Instrumente der makroökonomischen Stabilisierung propagiert, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt.10
Die Autoren des Zeitgesprächs
Prof. Dr. Oliver Landmann ist ordentlicher Professor für Makroökonomie
an der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg.
Dr. Jens Boysen-Hogrefe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der
Abteilung „Makroökonomische Politik
in unvollkommenen Märkten“ und im
Prognose-Zentrum des Instituts für
Weltwirtschaft in Kiel.
Dr. Nils Jannsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Prognose-Zentrums des Instituts für Weltwirtschaft
in Kiel.
Dr. Ferdinand Fichtner ist Leiter der
Abteilung Konjunkturpolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
in Berlin.
Prof. Dr. Mechthild Schrooten lehrt
Volkswirtschaftslehre, insbesondere
Geldpolitik und Internationale Integration, an der Hochschule Bremen.
Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor
des Instituts der deutschen Wirtschaft
in Köln.
9 C. Teulings, R. Baldwin (Hrsg.), a.a.O.
10 Der Gedanke des „two-handed approach“ geht zurück auf O. Blanchard, R. Dornbusch, R. Layard (Hrsg.): Restoring Europe’s Prosperity, Cambridge 1986.
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
613
Zeitgespräch
Kann die Geldpolitik Dienerin zweier Herren sein?
Auch wenn den Zentralbanken der Industrieländer unter
dem Gesichtspunkt ihrer direkten Wirkungen auf Konjunktur und Preisniveau nicht vorgeworfen werden kann,
sie hätten eine systematisch zu lockere Politik betrieben,
lässt sich nicht bestreiten, dass die niedrigen Zinsen zeitweise Nebenwirkungen hatten, die lange Zeit unterschätzt
wurden. Phasen, in denen die Wachstumsraten höher
sind als die Zinssätze, begünstigen das Kreditwachstum
und spekulative Übertreibungen bei den Vermögenspreisen und unterminieren dadurch die Finanzmarktstabilität
– insbesondere, wenn die Marktteilnehmer dazu neigen,
die jeweils herrschenden Verhältnisse in die Zukunft zu
extrapolieren und in ihrem Verhalten nicht durch eine
straffe Regulierung eingeschränkt werden. Ebenso trifft
zu, dass viele Regierungen das günstige makroökonomische Umfeld und die niedrigen Zinsen nicht dazu genutzt
haben, ihre Haushalte nachhaltig zu konsolidieren und für
künftige Krisen zu rüsten, sondern darin eher eine Gelegenheit gesehen haben, weitere Schulden aufzunehmen,
ohne die Schuldenlast unmittelbar zu erhöhen.
Dies bedeutet, dass eine Geldpolitik, die für die Kontrolle
des Konjunkturzyklus und der Inflation angemessen ist,
nicht gleichzeitig auch den Finanzzyklus zähmen und
passende Anreize für nachhaltige öffentliche Finanzen
schaffen kann. Sie kann nicht Dienerin zweier (geschweige denn dreier) Herren sein. Genau das fordert aber die
oben beschriebene BIZ-Doktrin, wenn sie als Lehre aus
der Finanzkrise nicht nur eine Straffung der Bankenaufsicht und der Finanzmarktregulierung postuliert, sondern
auch eine Geldpolitik, die Rücksicht auf den Finanzzyklus
nimmt. Obwohl von der BIZ nicht präzise beschrieben,
würde dies auf einen Spagat hinauslaufen, der das Spannungsfeld zwischen der makroökonomischen Stabilität
und der Finanzmarktstabilität irgendwie überbrücken soll.
Zugunsten dieses Ansatzes lässt sich ins Feld führen,
dass ein aus dem Ruder gelaufener Finanzzyklus Entwicklungen in Gang setzen kann, die am Ende nicht nur
die Finanzmarktstabilität, sondern auch die makroökonomische Stabilität zerstören. Aber rationale Wirtschaftspolitik ist es nicht, mehr von der Geldpolitik zu verlangen,
als sie leisten kann. Nach dem Tinbergen-Prinzip benötigt
die Wirtschaftspolitik so viele unabhängige Instrumente,
wie sie Ziele verfolgt.11 Darüber hinaus lehrt die Theorie
der Wirtschaftspolitik, dass es in einem interdependenten System von Zielen und Instrumenten nicht sinnvoll
ist, wenn der Einsatz eines Instruments auf alle Interdependenzen und Ziele Rücksicht nimmt. Viel effizienter ist
11 J. Tinbergen: On the Theory of Economic Policy, Amsterdam 1952.
614
Abbildung 1
Lösung des Zuordnungsproblems
Bankenaufsicht und
Finanzmarktregulierung
Geldpolitik
konditioniert durch Regeln
und Institutionen der
Finanzmarktordnung
konditioniert durch
Mandat und Strategie
der Zentralbank
Finanzmarktbedingungen
(Kreditvolumen,
Vermögenspreise)
Makroökonomische
Bedingungen
(Konjunktur, Inflation, Zins)
Ziel:
Finanzmarktstabilität
Ziel:
Makroökonomische Stabilität
Öffentliche Finanzen
(Staatsschuld,
laufender Haushaltssaldo)
Ziel:
Stabilität der Staatsfinanzen
Öffentliche Finanzpolitik
konditioniert durch
finanzpolitische Regeln
und Institutionen
Wirkungsrichtungen
Wirkungsrichtungen und effiziente Zuordnungen
Quelle: eigene Darstellung.
eine klare, zweckmäßige Zuordnung der Verantwortlichkeiten.12
Was dies im vorliegenden Zusammenhang konkret bedeutet, illustriert Abbildung 1. Dargestellt sind die drei
Stabilitätsziele Finanzmarktstabilität, makroökonomische
Stabilität und Stabilität der öffentlichen Finanzen sowie
die drei Politikbereiche Geldpolitik, Finanzpolitik und Finanzmarktordnung. Die durch Pfeile schematisch veranschaulichte dichte Vernetzung der Ziele und Politikbereiche verdeutlicht, dass jeder politische Aktionsparameter
direkt oder indirekt jedes der Ziele beeinflusst. So hat
auch Janet Yellen, die Vorsitzende des Federal Reserve
Board, jüngst eingeräumt, dass eine straffere Geldpolitik
im Vorfeld der Finanzkrise zwar einige der Risiken für die
Finanzmarktstabilität vermindert hätte. Sie verweist aber
auch darauf, dass die Abhängigkeit von sehr kurzfristigen
Krediten im Finanzsektor vor der Krise auch dann noch
weiter zunahm, als die Geldpolitik die Zügel schon merklich angezogen hatte. Dies deutet darauf hin, dass ag-
12 Das Zuordnungsproblem wurde erstmals von Robert A. Mundell im
Kontext der Stabilisierung einer offenen Volkswirtschaft gelöst: R. A.
Mundell: The Appropriate Use of Monetary and Fiscal Policy Under
Fixed Exchange Rates, IMF Staff Papers 9, 1962, S. 70-77.
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
gressivere Zinserhöhungen im Hinblick auf die Prävention
einer Finanzkrise ein wenig zielgerechtes Instrument und
somit ein schlechtes Substitut für eine effektivere Finanzmarktregulierung gewesen wären.13
Es ist somit unzweckmäßig, die Geldpolitik für andere
Ziele als das der makroökonomischen Stabilität in die
Verantwortung zu nehmen. Vielmehr muss jeder Politikbereich derjenigen Zielsetzung zu- und untergeordnet
werden, für die er einen komparativen Vorteil besitzt, d.h.
relativ am wirksamsten ist. Die Art der Zuordnung liegt
im vorliegenden Fall auf der Hand und ist in Abbildung 1
durch die blauen Wirkungspfeile gekennzeichnet. Die Finanzmarktstabilität sollte durch geeignete Regeln und Institutionen der Finanzmarktordnung angestrebt werden.
Bezüglich der Finanzpolitik herrscht weitgehend Konsens, dass sie das Ziel der makroökonomischen Stabilität
normalerweise der Geldpolitik überlassen sollte. Wenn
letztere allerdings nicht zur Verfügung steht, weil sie z.B.
in einer Liquiditätsfalle ihre Wirksamkeit eingebüßt hat,
oder weil sie in einer Währungsunion an die gemeinsame Zentralbank delegiert wurde, kommt der Fiskalpolitik
13 Vgl. J. Yellen: Monetary Policy and Financial Stability, The 2014 Michel
Camdessus Central Banking Lecture, International Monetary Fund,
Washington DC, Juli 2014.
dennoch eine Rolle bei der Wahrung der makroökonomischen Stabilität zu (gestrichelter Pfeil in Abbildung 1).14
Fazit: kein übereilter Ausstieg aus der
Niedrigzinspolitik!
Was vor der Krise eine dubiose Strategie gewesen wäre, wäre es erst recht unter den Bedingungen fortgesetzt
unterschrittener Inflationsziele und anhaltender Wachstumsschwäche, wie sie derzeit insbesondere noch die
Eurozone kennzeichnen. Ein verfrühter Ausstieg aus der
Niedrigzinspolitik würde den Abbau überhöhter Schulden
nicht beschleunigen, sondern verlangsamen, und den
Deflationsdruck nicht vermindern, sondern verschärfen.
Eine Strategie, die darauf hinausläuft, die Realwirtschaft
mit einer deflationären Geldpolitik dafür in Geiselhaft zu
nehmen, dass die Finanzmärkte keine bedrohlichen Risiken aufbauen, oder dass Regierungen ihre Hausaufgaben
tatsächlich angehen, wäre eine ineffiziente und kostspielige Fehlallokation der Verantwortlichkeiten und daher zum
Scheitern verurteilt.
14 Überlegungen zum Design fiskalpolitischer Regeln, die der Notwendigkeit einer solchen konditionalen Zuordnung Rechnung tragen, in:
J. Portes, S. Wren-Lewis: Issues in the Design of Fiscal Rules, Oxford
University, Department of Economics, Discussion Paper, Nr. 704, Mai
2014.
Jens Boysen-Hogrefe, Nils Jannsen
Wo liegen die Gefahren niedriger Zinsen?
Im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Notenbanken vielerorts ihre Leitzinsen massiv abgesenkt und mitunter weitere Maßnahmen wie das sogenannte „Quantitative Easing“ oder die „Forward Guidance“
ergriffen, um ihre Geldpolitik noch expansiver zu gestalten.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihren Leitzins zuletzt auf 0,15% gesenkt und angekündigt, ihn voraussichtlich für einen längeren Zeitraum auf diesem niedrigen Niveau zu belassen.
Nach der Lesart der EZB und ihrer geldpolitischen Konzeption erscheint es angemessen, dass sie ihren Leitzins
voraussichtlich für geraume Zeit auf einem sehr niedrigen
Niveau belässt; so befindet sich die Inflation im Euroraum
merklich unterhalb des EZB-Ziels und konjunkturell zeichnet sich noch keine durchgreifende Erholung ab.1 Gleich-
wohl können sich durch eine ausgeprägte Niedrigzinsphase gravierende stabilitätspolitische Risiken ergeben. Dies
gilt insbesondere für Volkswirtschaften wie Deutschland,
die sich konjunkturell offenbar in einer deutlich günstigeren Lage befinden als andere Volkswirtschaften der Währungsunion, so dass die Geldpolitik der EZB, die sich an
der Entwicklung im gesamten Währungsraum orientiert,
für Deutschland deutlich zu expansiv ausgerichtet ist.2
Zudem tragen auch noch andere Faktoren – insbesondere die Perzeption ausländischer Anleger von Deutschland
als sicherem Hafen – zu dem in Deutschland allgemein
sehr niedrigen Zinsniveau bei. Dieser Effekt dürfte indes
– auch aufgrund der Ankündigungen von Outright Monetary Transactions – zuletzt deutlich nachgelassen haben,
2
1
Ob die über das Absenken des Leitzinses hinausgehenden Maßnahmen der EZB effektiv und angemessen sind, soll an dieser Stelle nicht
diskutiert werden.
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
Für eine detaillierte Analyse der Geldpolitik der EZB aus Sicht
Deutschlands siehe J. Boysen-Hogrefe et al.: Finanz- und Wirtschaftspolitik bei einer anhaltenden monetären Expansion, Kieler
Beiträge zur Wirtschaftspolitik, 5. Jg. (2014).
615
Zeitgespräch
wie sich an den deutlich geringeren Risikoaufschlägen für
Staatsanleihen im Euroraum ablesen lässt.
Abbildung 1
Realzinsen auf Spareinlagen
%
4
Im Folgenden diskutieren wir mögliche Risiken, die sich
aus der langanhaltenden Phase sehr niedriger Zinsen für
die deutsche Volkswirtschaft ergeben könnten, und zeigen
Handlungsempfehlungen für die Politik auf. Drei Risiken
stehen derzeit besonders im Fokus, nämlich Risiken für die
Altersvorsorge, für die öffentlichen Haushalte und für die
Finanzmarktstabilität.3
3
2
1
0
-1
Risiken für die Altersvorsorge
-2
Für eine umfassende Beurteilung der Risiken ist es jedoch
zu kurz gegriffen, den Blick ausschließlich auf festverzinsliche Anlageformen zu richten. Die Auswirkungen auf die Altersvorsorge ergeben sich aus einer Reihe von unmittelbaren und mittelbaren Folgen der Niedrigzinsphase, die beispielsweise von der Sparneigung der privaten Haushalte,
über die Folgen für die kapitalgedeckte Altersvorsorge und
die zukünftige Preisentwicklung bis hin zu Auswirkungen
auf die gesetzliche Rentenversicherung reichen können
und sich zudem individuell stark unterscheiden dürften.
Somit ist es alles andere als trivial die Risiken, die sich aus
der Niedrigzinsphase für die Altersvorsorge ergeben, abzuschätzen. Dabei ist insbesondere zu bedenken, dass es
keine historischen Erfahrungen mit lang anhaltenden Phasen extrem niedriger nominaler Zinsen gibt.
Allerdings zeichnen sich bereits vermehrt Risiken für die
Anbieter von Altersvorsorgeprodukten ab. Banken und
Versicherungen haben langlaufende Sparverträge mit
nominal garantierten Zinsen angeboten bzw. tun dies immer noch; für Lebensversicherungen wird der sogenannte
3
616
Darüber hinaus können sich noch weitere Risiken für die deutsche
Volkswirtschaft ergeben, z.B. für die Preisniveaustabilität, für die
Wachstumsaussichten oder für den Arbeitsmarkt. Für eine ausführliche Darstellung, siehe ebenda.
Fe
b.
1
97
b. 5
19
Fe
7
b. 8
1
Fe 981
b.
1
Fe 984
b.
1
Fe 987
b.
1
Fe 990
b.
1
Fe 993
b.
1
Fe 996
b.
1
Fe 999
b.
2
Fe 002
b.
2
Fe 005
b.
2
Fe 008
b.
2
Fe 011
b.
20
14
-3
Fe
Seit einiger Zeit wird vermehrt auf die negativen Konsequenzen niedriger Zinsen für „Sparer“ verwiesen und gewarnt, die Zinspolitik der EZB könne zu einer Welle der
Altersarmut führen. Es wird argumentiert, die Renditen für
festverzinsliche Anlagen seien derzeit sehr gering und solche Anlagen würden sogar mitunter real an Wert verlieren.
Allerdings ist das Phänomen einer negativen Realverzinsung von konservativen Sparformen wie Tagesgeld und
Sparbuch nicht ungewöhnlich. Daten der Bundesbank legen nahe, dass negative Realzinsen bei diesen sehr sicheren Anlageformen in der Vergangenheit eher die Regel als
die Ausnahme waren (vgl. Abbildung 1). Von dieser Seite
her haben sich die Risiken für die Altersvorsorge folglich
nicht deutlich erhöht.
Spareinlagen
Spareinlagen (Neugeschäft)
Quelle: Deutsche Bundesbank.
Höchstrechnungszins sogar staatlich reglementiert.4 Mit
einer solch lange andauernden nominalen Niedrigzinsphase dürften die wenigsten Anbieter dieser Produkte kalkuliert haben, so dass sie keine entsprechend langfristigen
Kontrakte zur Erwirtschaftung der Garantiezinsen eingegangen sein dürften. Somit könnten akute Risiken für die
Altersvorsorge durch mögliche Insolvenzen von Anbietern
langfristiger Sparverträge bestehen. Die Insolvenz solcher
Anbieter könnte zum einen individuell Teile der Altersvorsorge gefährden und zum anderen die Stabilität des Finanzsystems beeinträchtigen.5
Risiken für die öffentlichen Haushalte
Das allgemein niedrige Zinsniveau hat die öffentlichen
Haushalte zuletzt massiv entlastet. Maßgeblich hierfür ist
neben den niedrigen Zentralbankzinsen auch die Perzeption von Bundesanleihen als „sicherer Hafen“.6 Insgesamt
können die öffentlichen Haushalte auslaufende Anleihen
und Kreditverträge zu deutlich günstigeren Konditionen
refinanzieren als in den Jahren vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Da immer noch Anleihen im Umlauf sind,
die vor dieser Zeit begeben wurden, dürften diese entlas-
4
5
6
Jüngst wurde der gesetzliche Höchstrechnungszins von Lebensversicherungen für Neuverträge auf 1,25% gesenkt.
Es ist damit zu rechnen, dass es in solchen Fällen zu staatlichen Eingriffen kommen würde, um das System zu stabilisieren. Hiermit können indes ordnungspolitische Probleme verbunden sein. So stellt die
jüngst staatlich verordnete Umverteilung der Überschussbeteiligungen von Altverträgen zu Neuverträgen einen gravierenden Eingriff in
die Eigentumsrechte dar.
Vgl. J. Boysen-Hogrefe: Die Zinslast des Bundes in der Schuldenkrise: Wie lukrativ ist der „sichere Hafen“?, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 13. Jg. (2012), Sonderheft, S. 81-91.
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
tenden Effekte für die öffentlichen Haushalte sogar noch
weiter zunehmen. Die Auswirkungen sind inzwischen beträchtlich. Noch 2009 rechnete die Bundesregierung für
2013 mit Zinsausgaben von 52 Mrd. Euro. Tatsächlich wurden „nur“ 31 Mrd. Euro verausgabt, obwohl der Schuldenstand in diesem Zeitraum sogar noch spürbar gestiegen
ist.7
In der Folge hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
jüngst für 2015 einen ausgeglichenen Haushalt in Aussicht
gestellt. Auch wenn es angesichts jüngster Konjunkturrisiken und zusätzlicher Unsicherheiten, wie z.B. der Frage
der Zukunft der Kernbrennstoffsteuer, nicht ausgemacht
ist, dass dieses Ziel tatsächlich erreicht wird, so dürfte die
Bundesregierung die Vorgaben der Schuldenbremse problemlos einhalten. Abgesehen von einigen Eingriffen in die
Finanzbeziehungen mit den Sozialversicherungen wurde
dies ohne größere Konsolidierungsanstrengungen erreicht.
So gesehen kommen die niedrigen Zinsen auch den Bürgern in Form von unterbliebenen Leistungskürzungen und
Steuererhöhungen zugute.
Doch steckt gerade hier eine Gefahr. Die Konsolidierungsnotwendigkeiten zur Einhaltung der Schuldenbremse, die
sich noch vor einigen Jahren abzeichneten, haben sich
schließlich nicht in Luft aufgelöst, sondern werden von
den niedrigen und teilweise noch sinkenden Zinsausgaben
überdeckt. Im Zuge der Berechnung des für die Schuldenbremse relevanten strukturellen Budgetsaldos werden
Zinsausgaben nicht geglättet. Sie gelten als „strukturell“.
Sollte also die Finanzpolitik in den kommenden Jahren die
Vorgaben der Schuldenbremse „nur“ exakt erfüllen und
scheinbare Spielräume z.B. für zusätzliche Ausgaben nutzen, würde eine Zinswende sofort Konsolidierungsdruck
erzeugen. Sollte die Zinswende mit einer konjunkturellen
Abschwächung in Deutschland einhergehen, käme die
dann notwendige Konsolidierung zur Unzeit.8
Anbieter von Lebensversicherungen) größere Risiken eingehen, um zuvor abgegebenen Renditeversprechungen
nachkommen zu können. Hinzu kommt, dass sich ausgeprägte Niedrigzinsphasen massiv auf die Risikowahrnehmung der Akteure auswirken können. In solchen Phasen
werden Vermögenspreise bzw. Kreditsicherheiten sowie
Renditechancen häufig zu hoch bewertet und in der Folge
Risiken beispielsweise bei der Kreditvergabe unterschätzt.
In der Folge tendieren Banken in Niedrigzinsphasen dazu,
ihre Kreditstandards merklich zu senken und Kredite auch
an Kreditnehmer mit geringerer Bonität zu vergeben.9
Dies ist auch eine Ursache dafür, dass in Niedrigzinsphasen häufig das Kreditvolumen stark zunimmt. In der Folge
wird der Finanzsektor nicht nur insgesamt anfälliger gegenüber negativen „Schocks“, sondern auch gegenüber
einem Anziehen des Zinsniveaus beispielsweise in Folge
einer Straffung der Geldpolitik. Besonders bedrohlich wird
eine starke Ausweitung des Kreditvolumens dann, wenn
sie mit einer massiven Fehlallokation von Kapital und somit
auch mit massiven realwirtschaftlichen Verwerfungen einhergeht. Solche Fehlallokationen sind in der Vergangenheit
während Niedrigzinsphasen regelmäßig auf Immobilienmärkten aufgetreten. Folglich gingen früheren Finanzkrisen
neben kräftigen Anstiegen des Kreditvolumens regelmäßig
auch kräftige Anstiege der Immobilienpreise voraus.10
Ob in Deutschland derzeit bereits die Finanzmarktstabilität massiv gefährdet ist oder gar eine neuerliche Finanzkrise droht, ist jedoch nur schwer abschätzbar. Finanzkrisen sind oft das Resultat jahrelanger Fehlentwicklungen.
Wann sich genau das Auftürmen dieser Fehlentwicklungen in einer Finanzkrise entlädt, ist kaum vorhersehbar.11
Deshalb stellen Frühwarnsysteme für Finanzkrisen in der
Regel darauf ab, typische Fehlentwicklungen zu identifizieren. Solche Frühwarnsysteme würden typischerweise
auf erhöhte Risiken für eine Finanzkrise in Deutschland
Risiken für die Finanzmarktstabilität
9
Von der langanhaltenden Niedrigzinsphase können erhebliche Risiken für die Finanzmarktstabilität ausgehen, unter
anderem weil niedrige Zinsen eine übermäßige Risikoneigung und Kreditvergabe der Finanzmarktakteure fördern.
Eine erhöhte Risikoneigung in Niedrigzinsphasen ist zum
Teil damit zu erklären, dass Finanzmarktakteure (wie z.B.
7
8
Ähnlich ist die Lage bei den Ländern. Nordrhein-Westfalen hatte 2009
mit Zinsausgaben von 5,9 Mrd. Euro für 2013 gerechnet, musste tatsächlich jedoch 3,9 Mrd. Euro aufbringen.
Die Risiken für die öffentlichen Haushalte erhöhen sich in diesem
Zusammenhang zudem dadurch, dass es in einem lang anhaltenden
monetären Boom zu beträchtlichen Mehreinnahmen und zusätzlichen
Minderausgaben kommen dürfte, die zwar hauptsächlich konjunkturell bedingt sind, aber zumindest teilweise als strukturell gewertet
werden könnten.
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
Vgl. z.B. R. G. Rajan: Has Financial Development Made the World
Riskier?, NBER Working Paper 11728, National Bureau of Economic
Research, Cambridge MA 2005; L. Gambacorta: Monetary Policy and
the Risk-Taking Channel, in: BIS Quarterly Review, Dezember 2009,
S. 43-53; A. Maddaloni, J.-P. Peydro: Bank Risk-Taking, Securitization, Supervision, and Low Interest Rates: Evidence from the EuroArea and the US Lending Standards, in: Review of Financial Studies,
24. Jg. (2011), H. 6, S. 2121–2165.
10 Vgl. z.B. M. Drehmann, C. Borio, K. Tsatsaronis: Characterising the
Financial Cycle: Don’t Lose Sight of the Medium Term!, BIS Working
Paper 380, 2012.
11 Das Auftürmen solcher Fehlentwicklungen kann sich für eine Volkswirtschaft auch dann als problematisch erweisen, wenn es nicht in
eine Finanzkrise mündet. So führen beispielsweise ausgeprägte
Boom-Bust-Zyklen am Immobilienmarkt häufig auch dann zu einem
merklichen Einbruch der Wirtschaftsleistung, wenn sie nicht mit einer
Finanzkrise einhergehen. Vgl. z.B. N. Jannsen: Gesamtwirtschaftliche
Auswirkungen von Immobilienkrisen im historischen Vergleich, in: N.
Rottke, M. Voigtländer (Hrsg.): Immobilienwirtschaftslehre. Band II –
Ökonomie, Köln 2012, S. 299-328.
617
Zeitgespräch
Abbildung 2
Kredit- und Immobilienpreisentwicklung in Deutschland, 1991 bis 2014
Mrd. Euro
a. Kreditvolumen
%
3500
15
Index 2000:Q1=100
120
10
100
3000
b. Immobilienpreise
%
10
8
6
2500
80
2000
5
1500
0
4
60
2
0
40
Q
1-
Differenz (rechte Skala)
-4
0
-6
19
91
19
93
Q
119
95
Q
119
97
Q
119
99
Q
120
01
Q
120
03
Q
120
05
Q
120
07
Q
120
09
Q
120
11
Q
120
13
-10
19
Q 91
119
Q 93
119
Q 95
119
Q 97
119
Q 99
120
Q 01
120
Q 03
120
Q 05
120
Q 07
120
Q 09
120
Q 11
120
13
0
-2
20
Trend (linke Skala)
Q
1-
-5
500
Q
1-
1000
Kreditvolumen (linke Skala)
Anmerkungen: Kreditvolumen: Privater nicht-finanzieller Sektor. Immobilienpreise: In Relation zu den Verbraucherpreisen. Der Trend wurde mittels des
Hodrick-Prescott-Filters geschätzt. Der Glättungsparameter lambda wurde dafür auf 400 000 gesetzt.
Quelle: Bank for International Settlements: Long series on credit to the private non-financial sector; Federal Reserve Bank of Dallas: International House
Price Database.
hinweisen, wenn gleichzeitig das Kreditvolumen und die
Immobilienpreise spürbar anziehen und deutlich von ihren
trendmäßigen Entwicklungen abweichen.12
Vor diesem Hintergrund sind die Risiken für die Finanzmarktstabilität in Deutschland derzeit offenbar noch überschaubar. Dafür spricht vor allem, dass die Kreditvergabe
in Deutschland bisher kaum angesprungen ist. Das Kreditvolumen ist erst seit 2011 wieder leicht aufwärts gerichtet
und befindet sich deutlich unterhalb seines längerfristigen
Trends (vgl. Abbildung 2a).
Gleichwohl sollte man in den kommenden Jahren gerade in
Deutschland potenzielle Risiken für die Finanzmarktstabilität besonders wachsam beobachten:
1. Die Immobilienpreise sind seit einiger Zeit wieder aufwärts gerichtet. In Relation zur allgemeinen Verbraucherpreisentwicklung haben sie seit 2008 um knapp
10% zugelegt und befinden sich bereits merklich oberhalb ihres längerfristigen Trends (vgl. Abbildung 2b).
2. Die Zinsen dürften noch für einen längeren Zeitraum auf
einem für Deutschland sehr niedrigen Niveau bleiben,
wodurch sich die Risiken für Deutschland voraussichtlich sukzessive erhöhen werden. Dies könnte sich insbesondere bei einem merklichen Anziehen der Kreditvergabe in Deutschland zeigen.
12 Vgl. z.B. C. Borio, M. Drehmann: Assessing the Risk of Banking Crises
– Revisited, in: BIS Quarterly Review, März 2009, S. 29-46.
618
3. Frühwarnsysteme können nur vor Krisen warnen, die
dieselben Merkmale aufweisen, wie frühere Krisen.
Auch wenn es solche typischen Merkmale von Finanzkrisen gibt, so folgen sie doch nicht immer demselben
Muster und es ist nicht trivial, die zugrunde liegenden
Fehlentwicklungen zeitnah zu identifizieren.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die jüngste Finanzkrise in
Deutschland, die über internationale Finanzverflechtungen nach Deutschland „importiert“ wurde, aber
nicht auf Übertreibungen bei der heimischen Kreditvergabe oder auf dem inländischen Immobilienmarkt
zurückzuführen ist.13 In der Folge hätten typische Frühwarnsysteme für Finanzkrisen (die beispielsweise auf
das Kreditvolumen und die Immobilienpreise abstellen)
im Fall von Deutschland keine Warnsignale abgegeben.
Handlungsempfehlungen für die Politik
Alles in allem ergeben sich aus der langanhaltenden Niedrigzinsphase mittelfristig erhebliche stabilitätspolitische
Risiken für Deutschland, insbesondere für die öffentlichen
Haushalte und die Finanzmarktstabilität.14 Die Finanz- und
13 Freilich war die Finanzkrise in Deutschland im Vergleich zu Finanzkrisen, die mit starken Anstiegen des Kreditvolumens und der Immobilienpreise einhergegangen sind, vergleichsweise mild, da auf den starken Einbruch der Wirtschaftsleistung eine kräftige Erholung folgte.
14 Für eine ausführliche Diskussion wirtschaftspolitischer Maßnahmen
in Reaktion auf eine anhaltende monetäre Expansion, siehe J. Boysen-Hogrefe et al., a.a.O.
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
Wirtschaftspolitik ist diesen Risiken (auch innerhalb einer
Währungsunion) nicht gänzlich ausgeliefert. Es gibt zahlreiche Handlungsoptionen, die die Risiken für die deutsche
Volkswirtschaft nicht nur eindämmen würden, sondern sie
auch insgesamt krisenfester machen würde.
Bezüglich der öffentlichen Finanzen sollte die Finanzpolitik auf die Niedrigzinsphase mit einer ausgeprägten Risikovorsorge – hier das Risiko einer Zinswende – reagieren
und in der jetzigen Situation die Verschuldung (in Relation
zur Wirtschaftsleistung) deutlich rascher zurückführen als
es die Vorgaben der Schuldenbremse vorsehen. Operationalisiert werden könnte dies, indem bei der Berechnung
des strukturellen Budgetsaldos nicht die tatsächlichen
Zinszahlungen, sondern kalkulatorische Zinsen angesetzt
werden, die sich aus langfristigen Durchschnittszinsen
ergeben.15 Es sollte umgekehrt dagegen unbedingt ver-
15 Vgl. J. Boysen-Hogrefe: Niedrige Zinsen und rasche monetäre Expansion: Was soll die Finanzpolitik tun?, Institut für Weltwirtschaft, Kiel
Policy Brief, Nr. 75, Kiel 2014.
mieden werden, die scheinbar günstige Haushaltslage für
Ausgabenprogramme zu nutzen.
Bezüglich der Finanzmarktstabilität ist von herausragender Bedeutung, durch geeignete makroprudenzielle Maßnahmen das Finanzsystem krisenfester zu machen und
das Haftungsprinzip zu stärken. Dazu beitragen werden
einige der im Basel-III-Regelwerk vorgeschlagenen Instrumente, insbesondere die höheren Eigenkapitalanforderungen, die Einführung eines Kapitalerhaltungspuffers sowie einer Verschuldungsgrenze zur Eigenkapitalhebelung.
Allerdings sollten diese Instrumente rascher und restriktiver in Deutschland eingeführt werden, als dies das BaselIII-Regelwerk vorsieht. Darüber hinaus sollten Geschäftsbanken verstärkt dazu verpflichtet werden, Anleihen
zukünftig in Form von bedingten Zwangswandelanleihen
zu emittieren. Die Umsetzung dieser Maßnahmen würde
sich doppelt rentieren. Nicht nur das Finanzsystem würde
insgesamt stabiler werden, sondern dies würde auch dem
Entstehen gefährlicher kreditgetriebener Boom-Bust-Zyklen bei den Vermögenspreisen entgegenwirken.
Ferdinand Fichtner
Niedrigzinsen sind sinnvoll, können Probleme in Europa aber nicht
alleine lösen
Seit mehreren Jahren folgt die Geldpolitik in vielen Industrie- und Schwellenländern einem ausgesprochen expansiven Kurs. Weithin wurden dabei neben der expansiv
ausgerichteten Zinspolitik auch andere, liquiditätsbereitstellende Maßnahmen ergriffen, um der im Zuge der globalen Rezession und Finanzkrise massiv sinkenden Kreditvergabe zu begegnen. Während andernorts die geldpolitischen Zügel allmählich wieder angezogen werden,
erreichte die expansive Ausrichtung der Geldpolitik im
Euroraum Anfang Juni 2014 einen vorläufigen Höhepunkt,
als die Europäische Zentralbank auf die Gefahr einer Deflationsspirale mit einem breit angelegten Maßnahmenpaket reagiert hatte. Neben einer abermaligen Senkung der
Leitzinsen – und damit einer Inkaufnahme negativer Einlagezinsen – hat sie Maßnahmen beschlossen, die die Kreditvergabe von Banken an Unternehmen und Haushalte
im Euroraum anregen sollen.
Mit der expansiven Geldpolitik ging ein deutlicher Rückgang der nominalen Zinsen im Euroraum einher. In allen
Mitgliedsländern der Währungsunion sind die Kreditzinsen im Verlauf der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise
deutlich zurückgegangen (vgl. Abbildung 1). Seit Beginn
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
der Krise im Euroraum haben die Zinsen allmählich wieder angezogen, da einerseits die Kapitalzuflüsse aus dem
Ausland deutlich abgenommen und andererseits die Banken in der Währungsunion ihre Kreditvergabekonditionen
deutlich restriktiver gestaltet haben. Diese Gegenbewegung war in den Krisenländern besonders ausgeprägt,
während die übrigen Länder und insbesondere Deutschland durch stabil niedrige Zinsen davon profitieren, dass
auf der Suche nach sicheren Anlagemöglichkeiten vermehrt Kapital aus den Krisenländern dorthin verlagert
wird.
Umverteilung von Sparern zu Schuldnern
Gerade in Deutschland sorgt die Zinsentwicklung für
erhebliche zusätzliche Spielräume in den öffentlichen
Haushalten.1 Am 14. August 2014 sind die Zinsen auf neu
emittierte zehnjährige deutsche Staatsanleihen erstmals
unter 1% gesunken. Die durchschnittliche Verzinsung der
1
Zu den Folgen der Niedrigzinspolitik für die öffentlichen Finanzen vgl.
auch M. Kokert, D. Schäfer, A. Stephan: Niedriger Leitzins: Eine Chance in der Euro-Schuldenkrise, in: DIW Wochenbericht, Nr. 7/2014.
619
Zeitgespräch
Abbildung 1
Nominale Kreditzinsen1 im Euroraum
Abbildung 2
Nominale Sparzinsen1 im Euroraum
%
9
%
6
8
5
7
4
6
5
3
4
2
3
2
1
1
Griechenland
Spanien
Portugal
1
Kredite bis 1 Mio. Euro, variabel oder mit anfänglicher Zinsbindung bis
ein Jahr.
Euroraum
14
Ja
n.
20
13
12
20
n.
Ja
n.
20
11
Deutschland
Frankreich
Italien
Niederlande
1
Spareinlagen mit vereinbarter Laufzeit bis ein Jahr.
Ja
Ja
n.
20
10
09
Ja
n.
20
08
20
n.
Ja
Ja
n.
20
07
06
Ja
n.
20
05
20
20
n.
n.
Ja
Ja
3
20
n.
n.
Ja
Ja
Ja
n.
20
20
0
14
13
12
20
n.
Ja
n.
Ja
n.
20
20
11
10
Deutschland
Frankreich
Niederlande
Ja
n.
Ja
Ja
n.
20
20
09
08
07
20
n.
Ja
Ja
n.
20
20
Ja
n.
n.
Ja
06
05
04
20
3
20
00
n.
.2
Ja
Ja
n
Euroraum
Irland
Italien
04
0
0
Griechenland
Spanien
Portugal
Quelle: Deutsche Bundesbank.
Quelle: Deutsche Bundesbank.
deutschen Staatsschulden ist nach Berechnungen der
Bundesbank seit 2007 von gut 4% auf etwa 2½% 2013
gesunken;2 pro Jahr ergibt sich aus diesem Rückgang eine rechnerische Entlastung gegenüber einem Szenario,
in dem die Zinsen auf dem Stand von 2007 angenommen werden, von etwa 30 Mrd. Euro. Für die Gläubiger
der Staaten führen die gesunkenen Zinsen hingegen zu
einer entsprechend rückläufigen Rendite ihrer Staatsanleihen. Auch für die Sparer mit gewöhnlichen Spar- oder
Girokonten führen die sinkenden Zinsen zu geringeren
Einkünften (vgl. Abbildung 2). Gerade in Deutschland sind
die nominalen Zinsen auf Spareinlagen deutlich zurückgegangen.
In der Tat führen die niedrigen Zinsen dazu, dass es für
Sparer derzeit schwieriger ist, ihr Vermögen in realer
Rechnung zu erhalten, liegen die Zinsen für Geldanlagen
zur Zeit doch (knapp) unter der inflationsbedingten Entwertung der Vermögen. Die hierauf hinweisenden Kritiker der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank
(EZB) übersehen allerdings, dass solche negativen Realzinsen im historischen Vergleich keinesfalls ungewöhnlich
sind (vgl. Abbildung 3); darauf weist auch die Deutsche
Bundesbank hin.3 Freilich ist es vor allem den niedrigen
Inflationsraten zu verdanken, dass trotz der mageren nominalen Verzinsung von Spareinlagen der Realzins historisch nicht auffallend niedrig ist.
Problematisch ist die Entwicklung in diesem Sinne allenfalls für diejenigen, die zu den jetzt gültigen Konditionen
größere Geldbeträge über einen längeren Zeitraum festverzinslich anlegen wollen und dabei nicht auf alternative
Anlageformen mit flexibler Rendite ausweichen können.
Schwierigkeiten ergeben sich aus dem aktuellen Niedrigzinsumfeld außerdem für Lebensversicherungsunternehmen, die unter den derzeitigen Umständen kaum die
zugesagten nominalen Garantierenditen erwirtschaften
können. Für viele andere Wirtschaftsakteure in Deutschland, darunter insbesondere viele Unternehmen, die wegen der niedrigen Zinsen zu günstigen Konditionen Kredit
aufnehmen können, um auf diese Weise Investitionen zu
finanzieren, aber auch für diejenigen Haushalte, die etwa
einen Kredit für Immobilienkauf oder -bau aufnehmen, ist
das Niedrigzinsumfeld hingegen eine Erleichterung.
3
2
620
Welt Online: Deutschland spart durch Niedrigzins 120 Milliarden,
10.8.2014, http://www.welt.de/wirtschaft/article131059965/Deutschland-spart-durch-Niedrigzins-120-Milliarden.html.
Deutsche Bundesbank: Negative reale Verzinsung von Einlagen kein
neues Phänomen, Frankfurt, 27.6.2014, http://www.bundesbank.de/
Redaktion/DE/Themen/2014/2014_06_27_einlageverzinsung_in_
deutschland.html.
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
zeit noch unterausgelastete Kapazitäten;5 die seit dem
zweiten Quartal deutlich abgekühlte konjunkturelle Entwicklung spricht auch nicht dafür, dass sich die Produktionslücke in naher Zukunft schließen wird. Vor diesem
Hintergrund ist zunächst nicht davon auszugehen, dass
die Inflationsrate in Deutschland, die im August nur bei
0,8% lag, merklich steigt. Für die Realzinsen dürfte daher
von dieser Seite kein negativer Einfluss ausgehen.
Abbildung 3
Reale Sparzinsen in Deutschland
%
4
3
2
1
0
-1
-2
-3
-4
1970
1980
1990
2000
2010
Spareinlagenzins gemäß Bundesbank-Zinsstatistik
Spareinlagenzins gemäß harmonisierter Zinsstatistik der
Monetären Finanzinstitute
Durchschnittlicher Zins für neuabgeschlossene Verträge über Einlagen
privater Haushalte mit bis zu dreimonatiger Kündigungsfrist, deflationiert
mit dem Verbraucherpreisindex.
Quelle: Deutsche Bundesbank; Berechnungen DIW.
Gemessen an der wirtschaftlichen Lage ist die
Geldpolitik nicht ungewöhnlich expansiv
Kritik an der Niedrigzinspolitik ist schon deshalb verfehlt,
weil sich die EZB-Politik an der wirtschaftlichen Lage in
der gesamten Währungsunion zu orientieren hat. Dabei
ist es für einen heterogenen Währungsraum völlig normal,
dass die Geldpolitik aus Sicht einzelner Regionen oder
Länder nicht optimal ausgerichtet ist. Die EZB sieht sich
in diesem Sinne dem klassischen Problem monetärer Integration gegenüber, wie es etwa im Rahmen der Theorie
Optimaler Währungsräume4 formuliert ist. Demnach hat
die Zentralbank mit ihren traditionellen Instrumenten und
namentlich der Zinspolitik keine Möglichkeit, eine den individuellen regionalen wirtschaftlichen Bedingungen angepasste Geldpolitik zu betreiben, sondern muss vielmehr
eine den in der Währungsunion insgesamt herrschenden
Verhältnissen angemessene Politik wählen. Eine Kritik an
der EZB, die sich alleine aus der wirtschaftlichen Lage in
Deutschland ableitet, kann daher nicht angemessen sein.
Ohnehin würde es auch der wirtschaftlichen Lage in
Deutschland nicht gerecht, zum jetzigen Zeitpunkt die
Zinsen zu erhöhen. Die deutsche Volkswirtschaft hat der-
Dies gilt umso mehr für den Euroraum als Ganzen: Die
Inflationsrate in der Währungsunion liegt seit mehreren
Jahren deutlich unter dem von der EZB als Preisstabilität definierten Ziel von unter, aber nahe 2%; im August ist
sie auf 0,3% gesunken. Vor allem in den Krisenländern ist
die Kapazitätsauslastung zudem niedrig und die Investitionstätigkeit äußerst schwach. Eine restriktivere Geldpolitik dürfte den allmählichen Erholungsprozess, der sich in
manchen der Volkswirtschaften – namentlich in Spanien
und Portugal – abzeichnet, erschweren und in den Ländern, die weiterhin mit den Folgen struktureller Probleme kämpfen – zu denken ist insbesondere an Frankreich
und Italien – für eine zusätzliche Belastung der ohnehin
schwachen Konjunktur sorgen. Während eine expansive
Geldpolitik kein Ersatz für die Lösung dieser strukturellen
Probleme sein darf, spricht aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht selbst längerfristig nichts dafür, dass unter
den gegebenen Rahmenbedingungen mit einer Überschreitung des Inflationsziels zu rechnen ist. Vielmehr ist
die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die Preisdynamik im Euroraum bei einer restriktiveren Geldpolitik
noch geringer wird und sich Deflationsrisiken materialisieren.6
Trotz der expansiven Politik erholt sich die
Realwirtschaft kaum
Bereits jetzt belasten die niedrigen Preissteigerungsraten
die wirtschaftliche Erholung in der Währungsunion, da sie
den Schuldenabbau der Haushalte, Unternehmen und
des Staates erschweren. Niedrige Preissteigerungsraten
oder gar ein Rückgang der Preise dämpfen die Steuereinnahmen und machen einen Abbau der öffentlichen
Schulden zusätzlich schwierig, so dass verstärkt über
die öffentlichen Ausgaben konsolidiert werden muss. Die
privaten Wirtschaftsakteure waren nach dem Platzen der
Finanzmarkt- und Immobilienblasen in einigen der Krisenländer der Währungsunion – namentlich in Spanien und
Irland – damit konfrontiert, dass der Wert ihrer Vermögen
erheblich gesunken und ihre (Netto-)Verschuldung stark
5
4
Vgl. wegweisend R. Mundell: A Theory of Optimum Currency Areas,
in: American Economic Review, 51. Jg. (1961), H. 4, S. 657-665.
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
6
F. Fichtner et al.: Sommergrundlinien 2014, in: DIW Wochenbericht,
Nr. 25/2014.
Vgl. hierzu auch K. Bernoth, M. Fratzscher, P. König: Risiken der
schwachen Preisentwicklung, in: DIW Wochenbericht, Nr. 12/2014.
621
Zeitgespräch
gestiegen war. Wegen der niedrigen Inflationsraten oder
gar der Deflation war auch bei den privaten Schulden in
realer Rechnung kaum eine Entlastung zu spüren. In der
Konsequenz haben die Haushalte ihre Konsumnachfrage
und die Unternehmen ihre Investitionstätigkeit stark eingeschränkt.
Dieses Phänomen ist nicht auf den Euroraum beschränkt.
Vielmehr waren und sind solche „Bilanzrezessionen“ (Balance Sheet Recessions7) für die meisten Volkswirtschaften festzustellen, in denen in den vergangenen Jahren das
Platzen von Finanz- oder Immobilienmarktblasen zu einer
Entwertung von Vermögen geführt und in der Folge eine
hohe Ersparnisbildung beziehungsweise niedrige Kreditnachfrage mit sich gebracht hat, die bereits für sich genommen zu sinkenden Zinsen führte. Die Niedrigzinspolitik, mit der die Zentralbanken global auf die Krise reagierten, setzte die Zinsen noch zusätzlich unter Druck. Dabei
ist die Wirkung dieser Politik auf die Realzinsen wegen
der stark gesunkenen Inflationsraten – und der bindenden
Nullzinsgrenze – allerdings beschränkt und der expansive Impuls, der von der Geldpolitik ausgeht, gering. In der
Folge vollzieht sich die Erholung von der Rezession ausgesprochen langsam, viele Ökonomen erwarten eine säkulare Stagnation8 mit lang anhaltend geringem Wachstum und ausgeprägter Arbeitsmarktschwäche.
Entsprechend bleibt auch im Euroraum die konjunkturelle
Erholung ausgesprochen zögerlich. Zwar ist in manchen
Krisenländern die Talsohle der wirtschaftlichen Entwicklung durchschritten und eine allmähliche Aufwärtsbewegung zeichnet sich ab. Von dem Produktions- und Beschäftigungsniveau vor der Rezession sind die meisten
Mitgliedsländer der Währungsunion aber weit entfernt
(vgl. Abbildung 4).
Nun ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Rückgang der privaten und öffentlichen Ausgaben in den Krisenländern des Euroraums als Korrektur der Ausrichtung
der betroffenen Ökonomien zu sehen ist, die insofern
durchaus erforderlich war, als sich das vormalige Wachstumsmodell – gestützt etwa auf eine exzessive Bautätigkeit oder hohe öffentliche Ausgaben – als nicht tragfähig
erwiesen hat. Nachdem dieser Korrekturprozess zumindest in einigen Ländern allmählich zum Ende zu kommen
scheint, sind die Wirtschaftsakteure gefordert, neue und
hoffentlich nachhaltige Wirtschaftsstrukturen aufzubauen. Eine restriktivere Geldpolitik dürfte in diesem Prozess
7
8
622
R. C. Koo: The World in Balance Sheet Recession: Causes, Cure and
Politics, Real-world Economics Review, 2011, H. 58, http://www.paecon.net/PAEReview/issue58/Koo58.pdf.
Vgl. für einen Überblick C. Teulings, R. Baldwin: Introduction, in: C.
Teulings, R. Baldwin (Hrsg.): Secular Stagnation: Facts, Causes and
Cures, A VoxEU.org eBook, CEPR Press, 2014, S. 1-23.
Abbildung 4
Reales Bruttoinlandsprodukt im Euroraum
Index, Q1 2008 = 100, letzte Beobachtung: Q2 2014
104
Deutschland
102
Frankreich
100
Euroraum
98
96
Niederlande
94
Spanien
92
Italien
90
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
Quelle: Eurostat.
eine Belastung darstellen, da insbesondere die für einen
Aufbau neuer Kapazitäten etwa in der Exportwirtschaft
erforderliche Investitionstätigkeit gedämpft wird.
Risiken im Auge behalten
Die Risiken der expansiven Geldpolitik sind beachtlich.
So ist im derzeitigen Umfeld nicht gewährleistet, dass die
durch die niedrigen Zinsen angeregten Investitionen auch
wirklich in eine das Wachstum nachhaltig stärkende produktive Verwendung fließen. Auch die stark steigenden
Bewertungen an den Immobilien-, Anleihe- und Aktienmärkten werden wohl zu Recht mit der lockeren Geldpolitik in Verbindung gebracht.9 So ist nicht auszuschließen,
dass es wegen der monetären Rahmenbedingungen im
Euroraum wie auch global erneut zu Fehlallokationen
von Kapital kommt, die zwar kurzfristig mit kräftigerem
Wachstum einhergehen, diese Überhitzung sich aber erneut nur unter Inkaufnahme gravierender Verwerfungen
an den Märkten auflöst. Zwar weist etwa EZB-Präsident
Draghi zu Recht darauf hin, dass in erster Linie die makroprudenzielle Regulierung für die Finanzmarktstabilität
verantwortlich sei und das Primärziel der Notenbank sich
eindeutig auf die Preisstabilität beziehe.10 Eine Mitverantwortung der Geldpolitik für den Aufbau finanzieller Ungleichgewichte bleibt aber bestehen, da die Wirtschaftssubjekte bei niedrigen Zinsen einen zusätzlichen Anreiz
haben – etwa auch, weil bestimmte nominale Renditeziele
9
Vgl. ausführlich hierzu Bank for International Settlements: Annual Report, 2014, insbes. Kapitel IV.
10 M. Draghi: Q & A bei der EZB-Pressekonferenz vom 3.7.2014, http://
www.ecb.europa.eu/press/pressconf/2014/html/is140703.en.html.
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
vertraglich vereinbart sind –, in riskantere Projekte zu investieren.11
Fazit
Die insbesondere in Deutschland zuletzt vielfach geäußerte Kritik an der Niedrigzinspolitik der Europäischen
Zentralbank ist unangemessen. Bereinigt um Preissteigerungen liegen die Zinsen derzeit nicht ungewöhnlich
niedrig, vor allem, da – auch in Deutschland – die Inflationsrate ausgesprochen gering ist. Für die Währungsunion als Ganze ist eine anhaltende Verletzung des Ziels der
Preisstabilität, das die EZB bei einer Inflationsrate von unter, aber nahe 2% als erreicht ansieht, festzustellen. Die
konjunkturelle Entwicklung lässt weder für den Euroraum
noch für die deutsche Volkswirtschaft erwarten, dass es
zu einem kräftigen Anstieg der Inflationsraten kommt.
Vor diesem Hintergrund tut die EZB gut daran, ihren derzeit sehr expansiven Kurs beizubehalten. Dass eine solche Politik Umverteilungswirkungen hat – von Sparern
zu Schuldnern, von Haushalten zu Regierungen – ist ihr
dabei nicht vorzuwerfen; Umverteilungswirkungen sind
geradezu ein Wesensmerkmal wirtschaftspolitischer Entscheidungen und kein Hindernis. Der EZB in diesem Zusammenhang mangelnde Legitimation vorzuwerfen, führt
in die Irre, denn das der Zentralbank von legitimierten
Entscheidungsträgern übertragene Primärziel der Preisstabilität spricht in der aktuellen Situation gerade für eine
Beibehaltung der expansiven Politik.
Zwar sollte die EZB die Risiken ihrer Politik, wie sie sich
insbesondere in Überhitzungserscheinungen auf den Finanzmärkten zeigen, im Auge behalten. Allerdings sind
andere politische Akteure gefordert, die Rahmenbedingungen für die Finanzmärkte so zu gestalten, dass die
Gefahr neuer Finanzmarktungleichgewichte möglichst
gering bleibt. Auch die europäische Wirtschaftspolitik hat
in dieser Hinsicht noch einigen Nachholbedarf. So schrei11 Vgl. einführend L. Gambacorta: Monetary Policy and the Risk-taking
Channel, BIS Quarterly Review, Dezember 2009, S. 43-53.
tet die Implementierung makroprudenzieller Maßnahmen
bisher eher langsam voran und die enge Verbindung
zwischen privater und öffentlicher Verschuldung, die die
Ausbreitung der Krise im Euroraum beschleunigt hat, ist
immer noch nicht gekappt.12
Ohnehin sollte die europäische Wirtschaftspolitik – sowohl auf der nationalen Ebene wie auch in Brüssel – nicht
davon ausgehen, dass die Europäische Zentralbank die
(aktuellen und künftigen) Schwierigkeiten der Währungsunion allein lösen kann. Eine expansive Geldpolitik kann
kein Ersatz für die Lösung struktureller Probleme sein,
sondern dient allenfalls dazu, deren Lösung zu erleichtern.13 Weiterhin sind es vor allem andere Akteure, die dafür sorgen müssen, dass sich die Währungsunion wieder
tragfähige Wachstumsmöglichkeiten erschließt. In erster
Linie ist dabei darauf hinzuwirken, dass sich die private
Investitionstätigkeit von der Schwäche erholt, in der sie
sich vielerorts bereits seit über einem Jahrzehnt, in einigen Krisenländern zumindest seit einigen Jahren befindet. Hierzu sollte die Einrichtung eines zeitlich befristeten
Investitionsfonds erwogen werden, um die derzeit noch
durch hohe Unsicherheit beeinträchtigte Kreditvergabe der Banken zu ergänzen. Wichtig ist aber auch eine
strukturelle Verbesserung der Rahmenbedingungen für
Investitionen in Europa, etwa durch eine effiziente Wettbewerbspolitik und ein investitionsfreundliches Steuersystem.14 Solange von Seiten der (privaten) Gläubiger
wenig Kapital für Investitionszwecke nachgefragt wird,
solange werden auch die Zinsen nur wenig steigen. Die
Europäische Zentralbank dafür zu kritisieren, dass sie ihrem Mandat gerecht wird, ist unangebracht.
12 Vgl. ausführlich zu den Herausforderungen für die europäische Finanzmarktordnung F. Bremus, C. Lambert: Bankenunion und Bankenregulierung, in: DIW Wochenbericht, Nr. 26/2014.
13 Für einen Überblick über notwendige institutionelle Reformen der
Währungsunion vgl. F. Fichtner et al.: Den Euroraum zukunftsfähig
machen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 24/2014.
14 Vgl. zu diesen Vorschlägen, die private Investitionstätigkeit in Europa
anzuregen, ausführlich F. Fichtner, M. Fratzscher, M. Gornig: Eine Investitionsagenda für Europa, in: DIW Wochenbericht, Nr. 27/2014.
Mechthild Schrooten
Niedrige Leitzinsen – kein Allheilmittel
Unstrittig befinden sich die Leitzinsen in den wichtigen
Währungsräumen USA, der Eurozone und auch in Japan
auf einem sehr niedrigen Niveau. Niedrigzinspolitik ist kein
Selbstzweck. Der Übergang auf eine weltweite Niedrigzinspolitik vollzog sich ruckartig im Gefolge der internationalen
Finanzkrise 2008. Ende 2008 lagen die Leitzinsen und da-
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
mit die wichtigen Refinanzierungssätze für Banken in den
USA bei 0,13% und in Japan bei 0,1%. Auch in der Eurozone war der Leitzins1 angesichts der internationalen Finanzkrise deutlich gesenkt worden; er lag aber Ende 2008 noch
1
Hauptrefinanzierungssatz.
623
Zeitgespräch
bei 2,5%. Damit waren in der akuten Finanzkrise zwar insgesamt die Leitzinsen in den wichtigen Währungsräumen
kräftig rückläufig; bezogen auf das Niveau unterschieden
sie sich jedoch in dieser Phase (Phase I) erheblich.
Abbildung 1
Entwicklung der aggregierten Bankbilanz in
Deutschland
in Mrd. Euro
9000
Seit der internationalen Finanzkrise 2008 sind mehr als fünf
Jahre vergangen. In den USA und in Japan hat sich die extreme Niedrigzinspolitik weiter verstetigt. In der Eurozone
rutschte der Leitzins erst 2012 unter die 1%-Marke. Seit
dem 5.6.2014 liegt der Hauptrefinanzierungssatz der EZB
bei 0,15%. Folglich hat sich die Zinsdifferenz zu den anderen Währungsräumen inzwischen deutlich verringert.2 Als
Ziel der extremen Niedrigzinspolitik wird inzwischen vor allem die Nachfragebelebung (Phase II) genannt. Dabei wird
auf einen simplen, lehrbuchmäßig überlieferten Wirkungszusammenhang gesetzt: Niedrige Zinsen begünstigen
demnach Investitionen und damit die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Aber es fällt auf, dass dieser Prozess irgendwie nicht in Gang kommen will.
Als extrem niedrige Verzinsung gelten in diesem Beitrag
nominale Zinssätze, bei denen eine Null vor dem Komma
steht. Im Fokus steht die Entwicklung in Deutschland.
Der Zins – eine schwierige Größe
Anders als oft angenommen gibt es ihn nicht – den universellen Zins. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Zinssätzen.
Der Leitzinssatz ist einer von ihnen. Er ist in erster Linie für
die Geschäftsbanken relevant, da hiermit direkt Einfluss
auf die Refinanzierungskosten genommen wird. Sinkt der
Leitzins, so sinken die Refinanzierungskosten der Banken
– folglich lassen sich im Finanzsektor bei einem solchen
Zinsschritt zumindest kurzfristig höhere Gewinne realisieren. Dieser Effekt geht vor allem auf die Veränderung des
Zinsniveaus zurück – nicht auf das Niveau an sich. Da im
Gefolge der internationalen Finanzkrise die Leitzinsen
merklich gesenkt wurden, ging von diesen geldpolitischen
Entscheidungen und von den damit verbundenen Kostensenkungen für Banken eine stabilisierende Wirkung auf
den Finanzsektor aus. Dies gilt vor allem für die Eurozone
und die USA. In Japan waren die Leitzinsen ohnehin niedrig.
Profitieren konnten von der Zinsveränderung alle Geschäftsbanken – nicht nur die krisengefährdeten. Die Geschäftsbanken in Deutschland haben in Phase I nach der
internationalen Finanzkrise eine hohe Nachfrage nach
Zentralbankgeld entwickelt und ihre Bankbilanzen kräftig ausgeweitet. Damals lagen die Refinanzierungszinsen
in der Eurozone deutlich über dem heutigen Niveau. Interessanterweise ging mit den weiteren Zinsschritten keine
2
624
In Japan liegt der Refinanzierungssatz seit dem 5.10.2010 bei 0,05%.
8500
8000
7500
7000
6500
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
Quelle: Deutsche Bundesbank, Juni 2014.
kontinuierliche Fortschreibung der Bilanzexpansion einher.
Vielmehr nimmt die aggregierte Bilanzsumme der Banken
in Deutschland in der extremen Niedrigzinsphase ab (vgl.
Abbildung 1).
Sinkt also die Nachfrage nach Zentralbankgeld gerade in
einer Phase, in der es besonders kostengünstig zu haben
ist? Die Entwicklung der Bankbilanzen in Phase II dürfte
entscheidend von den allgemeinen Rahmenbedingungen
des Finanzsektors geprägt sein. Dazu gehört das regulatorische Umfeld, das seit der internationalen Finanzkrise
deutlich verschärft worden ist. Das deutsche Drei-SäulenSystem gilt zwar als stabil, wurde aber an einigen Stellen
(beispielsweise bei den Landesbanken) mit erheblichen
regulatorischen Einschnitten konfrontiert. Auch führt Basel
III säulenübergreifend zu härteren Eigenkapitalvorschriften. Darüber hinaus ist der Finanzsektor mit den indirekten
Folgen der europäischen Schuldenbremse konfrontiert –
zwangsläufig wirkt diese dämpfend auf die staatliche Kreditnachfrage. Vereinfachend kann argumentiert werden,
dass sich ein in der Vergangenheit sehr wichtiger Kunde
aus dem Verschuldungsgeschäft zurückzieht – dies obwohl die Kreditkonditionen als günstig gelten müssen.
Die aktuell niedrigen Nominalzinsen machen die beschränkten Renditemöglichkeiten mit risikoarmen Finanzprodukten offensichtlich. Aus der Sicht der Geschäftsbanken ist klar, dass Kreditgeschäfte in Zeiten dauerhaft
niedriger Nominalzinsen schwierig sind. Gesucht wird
nach profitablen Geschäftsmöglichkeiten mit geringem
Risiko. Bislang galt die öffentliche Hand als ein risikoarmer Kreditnehmer. Das hat sich mit der europäischen
Verschuldungskrise grundlegend geändert. Längst nicht
mehr alle Staaten der Eurozone gelten als risikoarm. Ein
wichtiger Profiteur dieses Gefüges ist die öffentliche Hand
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
in Deutschland. Die Zinssätze für öffentliche Anleihen sind
hier in den letzten Jahren in der Tendenz massiv gesunken;
im Juni 2014 belief sich die Umlaufrendite auf 1,1% nach
4,7% im Juni 2008. Die kräftige Abwärtsbewegung bei der
Zinslast führt zu deutlichen Budgetentlastungen. Bei kurzfristigen Anleihen wurde 2012 teilweise sogar eine Nullverzinsung erreicht.3 Daran wird deutlich, dass in die Zinskalkulationen der Kapitalgeber immer der Marktzins und eine
kalkulatorische Risikoprämie eingehen – genau diese ist im
Falle Deutschlands eher gering.
Abbildung 2
Zinsentwicklung
Zinssatz in % p.a.
8
Konsumentenkredite
7
6
Wohnungsbaukredite
5
Unternehmenskredite
4
Zwar sind die Einlagezinsen extrem niedrig, dies gilt jedoch
nicht für die Kreditzinsen, die privaten Haushalten berechnet werden (vgl. Abbildung 2). So verharren die Nominalzinsen für Konsumentenkredite trotz der deutlichen Leitzinssenkungen immer noch auf dem Vorkrisenniveau. Für den
Monat Juni 2014 weist die Deutsche Bundesbank einen
durchschnittlichen Effektivzins von 6,24% aus. Die überschlagsmäßige Berechnung des Realzinses bei Konsu3
4
5
Dies obwohl der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte in Deutschland gerade 2012 seinen bisherigen Rekordwert von 2068,3 Mrd. Euro
erreichte (zum Vergleich: 2008 lag der Schuldenstand noch bei 1577,9
Mrd. Euro). Real bedeutet die nominale Nullverzinsung eine klare Umverteilung zugunsten des Kreditnehmers „öffentliche Hand“. In der Zinsentwicklung für öffentliche Anleihen schlägt offenbar auch die Bonitätsbewertung AAA Deutschlands zu Buche.
Dies ist der Zinssatz, den die Bundesbank für täglich fällige Einlagen privater Haushalte (Neugeschäft) für Juni 2014 ausweist. Vgl.
http://www.bundesbank.de/Navigation/DE /Statistiken/Zeitreihen_Datenbanken/Makrooekonomische_Zeitreihen/its_list_node.
html?listId=www_s11b_ne1.
Wie die einfache Rechnung oben zeigt, sind kalkulatorisch gegenüber
2004 trotz Niedrigzinspolitik sogar die Anreize gestiegen, täglich fällige Einlagen zu bilden. Dem entspricht, dass das heutige Neugeschäft
mit diesen Finanzprodukten volumenmäßig deutlich über den Vergleichswerten aus dem Jahr 2004 liegt: Das Neugeschäft mit täglich
fälligen Einlagen machte 2004 im Monatsdurchschnitt 418 Mio. Euro
aus; 2014 wird ein Monatsdurchschnitt von 951 Mio. Euro gemeldet.
Offenbar ist die Nominalverzinsung bei der Geldanlage nur eine unter
etlichen entscheidungsrelevanten Determinanten.
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
3
Einlagenverzinsung
2
1
n.
Ja
kt
20
0
.2 3
Ju 00
3
l.
2
Ap 00
r. 4
Ja 200
n. 5
O 200
kt
.2 6
Ju 00
6
l.
2
Ap 00
7
r.
Ja 200
n. 8
O 200
kt
.2 9
Ju 00
9
l.
2
Ap 01
r. 0
Ja 201
n. 1
O 201
kt
.2 2
Ju 01
2
l.
2
Ap 01
r. 3
20
14
0
O
Der Leitzins der Zentralbank gibt zudem einen Orientierungspunkt für die Einlageverzinsung der Geschäftsbanken. Denn die Einlagen von privaten Haushalten, Unternehmen und vom Staat stellen die weitere wichtige Refinanzierungsquelle für Finanzintermediäre dar. Tatsächlich liegt die Einlageverzinsung in Deutschland, etwa bei
klassischen Sparbüchern, ebenfalls im extrem niedrigen
Bereich – für täglich fällige Einlagen von privaten Haushalten kommt die Deutsche Bundesbank im Juni 2014 auf
0,35%.4 Bei einer aktuellen Inflationsrate von 0,8% ergibt
sich überschlagsmäßig ein negativer Realzins von 0,45%.
Der Kaufkraftverlust liegt bei denjenigen, die Spareinlagen
bilden. Dies war jedoch auch in Zeiten höherer Leitzinsen
so. Ende 2004 lag der hier herangezogene Einlagezins bei
1,17%, die Inflation betrug in Deutschland 2,22%. Die überschlagsmäßig berechnete negative Realverzinsung – also
der Kaufkraftverlust – war damals sogar höher.5
Einlagenverzinsung: täglich fällige Einlagen. Unternehmenskredite: an
nicht-finanzielle Kapitalgesellschaften, über 1 Mio. Euro, anfängliche
Zinsbindung über fünf Jahre. Wohnungsbaukredite: an private Haushalte.
Quelle: Deutsche Bundesbank.
menten ergibt hier also einen Wert von 5,44%! Mit anderen
Worten, die Banken geben ihre günstigen Finanzierungskonditionen nicht an die privaten Haushalte weiter – der
geldpolitische Transmissionsmechanismus ist an dieser
Stelle verstopft.
Bei den Unternehmenskrediten liefert die Deutsche Bundesbank sehr differenzierte Zinsstatistiken. Für die Betrachtung hier wurden Kredite an nicht-finanzielle Kapitalgesellschaften mit einer Zinsfestschreibung von fünf Jahren und einem Finanzierungsvolumen von mehr als 1 Mio.
Euro gewählt. Dabei wird klar, dass die nominalen Zinssätze für diese Kredite im Gefolge der internationalen Finanzkrise deutlich gesunken sind. Diese Kredite haben sich aus
Sicht der Unternehmen verbilligt, bleiben aber real immer
noch im deutlich positiven Bereich. Die Zinskosten der Unternehmenskredite entwickeln sich parallel zu denen, die
bei privaten Wohnungsbaukrediten berechnet werden.
Interessant ist nun, dass während die Wohnungsbaukredite boomen, das Volumen der Unternehmenskredite eher
rückläufig ist.
Renditeerwartungen sind entscheidend
Niedrige Leitzinsen allein lösen noch keinen Nachfrageboom aus. Vielmehr zeigt sich, dass die niedrigen Leitzinsen derzeit über den Bankensektor nur selektiv an potenzielle Kreditnehmer weitergegeben werden. Aus der Sicht
von Unternehmen ist es rational zwischen der klassischen
625
Zeitgespräch
Fremdfinanzierung und dem Einsatz eigener Finanzmittel
abzuwägen. Lassen sich für die eigenen Finanzmittel über
das Finanzsystem nur geringe Erträge realisieren, wird ihr
Einsatz im Unternehmen attraktiver. Tatsächlich ist die Eigenkapitalquote von Unternehmen in Deutschland auch
nach der internationalen Finanzkrise kräftig gestiegen und
lag 2012 bei 27,5%. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 lag die
Eigenkapitalquote noch bei 15%. Offenbar werden auch
verstärkt Kredite innerhalb von Unternehmensverbünden
gewährt; die Bedeutung von Bankkrediten nimmt ab.6 Interpretationen dieser strukturellen Umschichtungen gibt
es zahlreiche. Sie können als Indiz für eine Verunsicherung
im Unternehmenssektor verstanden werden. Die Entkoppelung von der Bankfinanzierung wird durch die aktuellen
Rahmenbedingungen befeuert. Einiges spricht auch dafür,
dass sich der Unternehmenssektor vor den negativen Folgen der extremen Niedrigverzinsung von Bankeinlagen zu
schützen versucht, indem er auf die Steigerung der Eigenkapitalquote und wechselseitiger Unternehmenskredite
setzt. Eine solche Kapitalumschichtung löst keinen Investitionsprozess aus.
Auch die privaten Haushalte in Deutschland zeigen ein erhebliches Renditebewusstsein. Kredite werden vorrangig
für den Wohnungsbau aufgenommen. Hier kann im Unterschied zu den Konsumentenkrediten mit einer relativ geringen Nominalverzinsung gerechnet werden. Dazu kommt,
dass die Immobilienpreise in Deutschland gerade in den
Ballungsräumen kräftig gestiegen sind. Eine deutliche
Trendwende ist nicht in Sicht. Parallel dazu ziehen auch die
Mieten deutlich an. Diese Preiseffekte befeuern offensichtlich die Nachfrage nach Wohneigentum. Zum besseren
Verständnis der Kreditentwicklung könnte bei der Wohnungsbaufinanzierung auch ein spezifischer „Wohnungsbaurealzins“ errechnet werden, wobei nicht die allgemeine
Preisentwicklung sondern die spezifische Immobilienpreisentwicklung einfließt. Bei einer solchen Vorgehensweise
dürfte sich in vielen Einzelfällen derzeit eine bestenfalls
knapp positive Realverzinsung von Wohnungsbaukrediten
ergeben – ein Motiv für die aktuell massive Nachfrage nach
solchen Finanzprodukten.
6
Deutsche Bundesbank: Ertragslage und Finanzierungsverhältnisse
deutscher Unternehmen 2012, Monatsbericht Dezember 2013.
Insgesamt zeigt sich, dass sich selbst in den aktuellen Zeiten extremer Niedrigzinsen gerade die Kreditnachfrage von
Unternehmen und öffentlichen Haushalten eher moderat
entwickelt. Vor diesem Hintergrund steht der Finanzsektor vor erheblichen Herausforderungen. Denn eines seiner
Kerngeschäfte, die Kreditvergabe, wird in Zeiten dauerhafter Niedrigzinsen infrage gestellt. Dazu kommt, dass zahlreiche Finanzdienstleistungen zunehmend von anderen
Akteuren wahrgenommen werden – als Stichwort sei hier
nur die Zahlung mit dem Smartphone genannt. Der deutsche Bankensektor hinkt gerade in wichtigen Dienstleistungssegmenten der internationalen Entwicklung hinterher. Hier besteht Handlungsbedarf.
Deflation und erlebte Inflation
Vielfach wird die extreme Niedrigzinspolitik mit geringen
Preissteigerungsraten in Verbindung gebracht. Bei einer
solchen Konstellation geht es darum, Deflation zu vermeiden. Zur Berechnung der Preissteigerung wird ein Warenkorb herangezogen. Dieser Warenkorb bildet jedoch
wichtige Bereiche der Vermögenspreisentwicklung nicht
ab. Vor diesem Hintergrund erleben viele Menschen, aber
auch Unternehmen im wirtschaftlichen Alltag nicht nur
Deflationstendenzen, sondern sind in zentralen Bereichen
erheblichen Preissteigerungen ausgesetzt. Die dauerhafte
Niedrigzinspolitik befeuert eine dynamische Preisentwicklung bei zahlreichen Vermögenswerten. Nolens volens werden so die nominalen Vermögen der Vermögensbesitzer
erhöht. Dies zeigt sich besonders gut im Immobiliensektor
in Deutschland – aber auch bei anderen Vermögensarten.
Tatsächlich findet hier im Schatten der Niedrigzinspolitik
und der Deflationsbekämpfung eine Umverteilung zugunsten von Realvermögensbesitzern statt. Kurzum: Langfristig
können von extrem niedrigen Leitzinsen erhebliche destabilisierende Effekte auf die Gesamtwirtschaft ausgehen.
Das Vermögen steigt so auch ohne Investition. Die Wirkung
dauerhaft niedriger Leitzinsen unterscheidet sich folglich
deutlich von der kurzfristiger Zinssenkungen. Die Entwicklung in Japan zeigt: Impulse auf die realwirtschaftliche
Nachfrage werden immer unwahrscheinlicher, je länger die
extreme Niedrigzinsphase andauert.
Michael Hüther
Behutsamer Einstieg in die Zinswende
Die Geldpolitik in den großen Währungsräumen befindet
sich seit geraumer Zeit in einem Ausnahmezustand, sie
nutzt unterschiedliche Instrumente mit unterschiedlicher
Intensität, ist aber insgesamt stark expansiv ausgerich-
626
tet. In Japan haben zwei gesamtwirtschaftlich schwierige
Jahrzehnte und deutlich deflationäre Tendenzen die Notenbank zu einer lockeren Geldpolitik veranlasst; in der
Eurozone, in Großbritannien und den USA wurde dies
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
erst durch die Finanzmarkt- und die Staatsschuldenkrise
verursacht. Aus einem Einzelfall scheint der geldpolitische Normalfall geworden zu sein. Die niedrigen Zinsen
sind dabei bei allen Gemeinsamkeiten der verschiedenen
Währungsräume unterschiedlich motiviert. So dominiert
in den USA und in Großbritannien die monetäre Staatsfinanzierung, in Japan hingegen seit 1999 die Deflationsbekämpfung und in der Eurozone die Sorge um eine anhaltende Segmentierung in nationale Finanzmärkte.1
Die Handlungsstrategien haben sich im Zuge der Niedrigzinspolitik der Notenbanken weltweit angenähert. Selbst
die stark in der Tradition der Bundesbank stehende Europäische Zentralbank (EZB) hat seit dem Frühjahr 2010
eher unkonventionelle Maßnahmen ergriffen, die allemal
in Deutschland den Anstoß zu sehr grundsätzlichen Erörterungen geben. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise stellte die Sicherung der Preisniveaustabilität das dominante
geldpolitische Paradigma dar, dies hat die Niedrigzinspolitik relativiert. Mit der längeren Dauer des Krisenmodus
verstärken sich aber auch Zweifel an diesem Kurs, und es
kommt zu neuen Debatten über die Funktion der Geldpolitik im Spannungsfeld zwischen Preisniveaustabilität und
der Stabilisierung des Finanzsystems.
Die Niedrigzinspolitik ist jedoch nicht nur für die geldpolitische Strategie problematisch, sondern ebenso für die
praktische Frage, wie man aus einem solchen Modus ohne größere Kollateralschäden wieder zu neutraler Geldpolitik zurückkehren kann. Allerdings wird befürchtet, dass
bei einer hohen öffentlichen Verschuldung ein Zinsanstieg
die Solvenz eines Staates gefährdet. Daraus entsteht – im
Sinne der fiskalischen Dominanz – Druck auf die Zentralbank, die Zinsen nicht zu erhöhen. Gleichermaßen kann
bereits mit einer Zinswende und damit über abrupte Korrekturen von Erwartungen an den Rentenmärkten, Wertberichtigungsbedarf in erheblichem Ausmaß für die Anleger entstehen, was ebenfalls Druck auf die Notenbank
auslöst, zinspolitisch nichts zu tun. Zweifellos sind diese
Argumente stets gegen eine Zinswende ins Feld zu führen und in der Vergangenheit auch reflexhaft vorgetragen
worden, doch sie gewinnen angesichts der gegenwärtig
nahe null liegenden, den Verbraucherpreisanstieg nicht
kompensierenden Notenbankzinsen sowie den historisch
niedrigen Kapitalmarktzinsen besonderes Gewicht.
In der Eurozone gelten im Vergleich mit den anderen großen Währungsräumen spezielle Bedingungen, denn in
den Krisenstaaten sind die Kapitalmarktzinsen nicht so
1
Vgl. zur Vertiefung M. Demary, J. Matthes: Das aktuelle Niedrigzinsumfeld: Ursachen, Wirkungen und Auswege, Köln 2014, http://www.
iwkoeln.de/de/studien/gutachten/beitrag/markus-demary-juergenmatthes-das-aktuelle-niedrigzinsumfeld-168565 (22.7.2013).
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
niedrig wie es aufgrund des Zinsniveaus in der Eurozone erwartbar wäre. Der geldpolitische Transmissionsmechanismus ist dort im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten der Währungsunion noch gestört. Die infolge der
Staatsschuldenkrise von gravierenden Zahlungsbilanzproblemen und Kapitalflucht stark betroffenen nationalen
Bankensysteme der Krisenstatten haben mit erheblichen
Bilanzproblemen zu kämpfen, die ihre Fähigkeit zur Kreditvergabe drastisch begrenzen. Zugleich sind dort Tendenzen zu deflationären Entwicklungen zu beobachten.
Damit steht die EZB vor besonderen Herausforderungen
– auch weil die Finanzsysteme fragmentiert sind. Bislang
hat die EZB darauf mit einem Mix aus unbegrenzter Liquiditätsversorgung mit Vollzuteilung an die Banken, einer Lockerung der Kreditsicherheiten, langfristigen Refinanzierungsgeschäften, Käufen von Covered Bonds und
Staatsanleihen sowie niedrigen Zinsen reagiert und so
das gesamte Laufzeitspektrum der Zinsen beeinflusst.
Ursachen der Niedrigzinspolitik in der Eurozone
Die gegenwärtige Niedrigzinspolitik ist durch ein ganzes
Bündel von Faktoren verursacht, die unterschiedlichen
Phasen zuzuordnen sind. Deshalb ist es auch schwierig, eindeutige Erklärungen zu finden. Denn die niedrigen Zinsen haben eine längere Vorgeschichte. Bereits
2005 formulierte Ben Bernanke die These einer globalen
Sparschwemme. Er geht davon aus, dass umfangreiche
Ersparnisse aus den Schwellenländern Ostasiens in den
USA und anderen Industrieländern angelegt wurden; die
Anleger hofften – als Erfahrung aus der Asienkrise 1997
– gegenüber neuen Krisen besser abgesichert zu sein.2
Dafür sprach auch die schwache Konstitution der eigenen
Kapitalmärkte. Infolgedessen war in den Industrieländern
als „sichere Häfen“ eine Ersparnis verfügbar, der keine
vergleichbar hohen Investitionsmöglichkeiten gegenüberstanden.3 An der Bernanke-These wird kritisiert, dass die
Sparquote der privaten Haushalte tatsächlich global gesunken sei. Diese Kritik ist zwar berechtigt, wird aber dadurch relativiert, dass der Blick nicht auf die Entwicklung
der Ersparnisse, sondern auf die Investitionsschwäche
gerichtet wird.4
Diese relative Investitionsschwäche ist nach der Finanzund Wirtschaftskrise erneut so offenbar geworden, dass
2
3
4
B. Bernanke: The Global Saving Glut and the U.S. Current Account
Deficit, Rede vom 10.3.2005, http://www.federalreserve.gov/boarddocs/speeches/2005/200503102/ (13.5.2014).
Vgl. K. Rogoff: The Long Mystery of Low Interest Rates, Project Syndicate vom 4.4.2013, http://www.project-syndicate.org/commentary/why-are-long-term-interest-rates-so-low-by-kenneth-rogoff
(13.5.2013).
Vgl. D. Liabson, J. Möllerström: Capital Flows, Consumption Booms
and Asset Bubbles: A Behavioral Alternative to the Savings Glut Hypothesis, in: Economic Journal, 120. Jg. (2010), H. 544, S. 354-374.
627
Zeitgespräch
Abbildung 1
Langfristige Zinsen in den OECD-Ländern
lungsmöglichkeiten der Notenbanken für eine Korrektur
des langfristigen Zinsniveaus allerdings noch stärker beschränkt.
%
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
1997
1999
2001
Median
Deutschland
2003
2005
10%-Quantil
Japan
2007
2009
2011
90%-Quantil
Großbritannien
2013
USA
Quellen: OECD; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
nun Larry Summers mit der These der säkularen Stagnation auf Alvin Hansen Bezug nimmt und in die gleiche
Richtung argumentiert.5 Dabei verweist er vor allem auf
die unzureichenden Investitionspotenziale, die sich aus
der Alterung der Bevölkerung in den Industriestaaten,
vor allem aber aus fehlenden Basisinnovationen erklären. Ähnlich argumentiert Carl Christian von Weizsäcker,
dass dem demografisch bedingten Sparvolumen für die
Altersvorsorge unter bestehenden Bedingungen keine
vergleichbaren Anlagemöglichkeiten gegenüberstehen,
sollte der Staat längerfristig als Kreditnehmer ausfallen.6
Wie man diese Argumente im Einzelnen auch bewerten
mag, deutlich wird jedenfalls, dass die niedrigen, mitunter sogar negativen realen Kapitalmarktzinsen nicht ausschließlich auf die Geldpolitik zurückzuführen sind. Sollten diese Argumente überwiegen, dann wären die Hand5
6
Vgl.
https://www.facebook.com/notes/randy-fellmy/transcript-oflarry-summers-speech-at-the-imf-economic-forum-nov-8-2013/
585630634864563 (22.7.2013).
Vgl. C. C. von Weizsäcker: Die Notwendigkeit von Staatsschulden, in:
Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 11, S. 720-723.
Zudem zeigen diese Argumente, dass es sich um ein globales Phänomen mit längerer Geschichte handelt (vgl.
Abbildung 1). Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat
sich in den OECD-Ländern das bereits vorher im historischen Vergleich niedrige Niveau der langfristigen Zinsen
weiter und fortlaufend reduziert, weil die Notenbanken
die Preisniveaus erfolgreich stabilisieren konnten („Great
Moderation“). Die Krise nach dem Platzen der Dot.comBlase sowie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise
2008/2009 haben den Prozess forciert. Dazu dürfte beigetragen haben, dass seitdem die Risikoneigung der Anleger gesunken ist und dies die Flucht in den sicheren Hafen festverzinster Anlagen befördert hat. Gerade für den
deutschen Rentenmarkt trifft dieses Argument seit dem
Ausbruch der Staatsschuldenkrise verstärkt zu.
Unabhängig von den längerfristigen Überlegungen sind
für die gegenwärtige Niedrigzinsphase folgende grundlegende Ursachen anzuführen: die globale Finanzkrise, die
makroökonomische Krise, die Banken- und Staatsschuldenkrise in der Eurozone sowie die Zahlungsbilanzkrise
einiger Euroländer (vgl. Tabelle 1). Aus diesen multiplen
Krisenarten resultieren vielfältige Herausforderungen
für die EZB. Da sowohl die Krisen als auch die geldpolitischen Reaktionen auf der Wirkungsebene jeweils in
hohem Maße verflochten sind, ist eine spezifische Zuordnung nicht möglich. Die besondere Lage der Geldpolitik
im Ausnahmezustand wird damit deutlich.
Problematisch für die Notenbank einer Währungsunion
ist die Gefahr einer Fragmentierung des Finanzmarkts.
Diese ist auf Dauer nicht hinnehmbar, weil damit wesentliche Vorteile einer gemeinsamen Währung entfallen und
eine nachhaltige Renationalisierung der Finanzkreisläufe
droht. Die Risikobewertung für Staatsanleihen und für
Bankanleihen ist stark aneinander gekoppelt (vgl. Abbildung 2). Das Insolvenzrisiko großer Banken wird aus Sicht
Tabelle 1
Krisenarten und geldpolitische Reaktionen
Krisenarten
Herausforderungen für die EZB
Reaktionen der EZB
• Globale Finanzkrise
• Makroökonomische Krise
• Banken- und Staatsschuldenkrise
• Zahlungsbilanzkrise
• Tiefe Double-Dip-Rezession
• Banken-Staaten-Nexus
• Austrittserwartungen
• Fragmentierung des Finanzmarktes
º Zusammenbruch des Interbankenmarktes
º Gebrochene geldpolitische Transmission
• Kreditklemme
• Niedrigzinspolitik
• Vollzuteilungspolitik (2008 ff.), längerfristige Refinanzierungsgeschäfte LTRO 2011/2012
• Herabstufung der Standards für Kreditsicherheiten (2011 ff.)
• Emergency Liquidity Assistance (2007 ff.)
• Securities Markets Programme (5/2010-9/2012)
• Outright Monetary Transactions (seit 9/2012)
Quelle: M. Demary, J. Matthes: Das aktuelle Niedrigzinsumfeld: Ursachen, Wirkungen und Auswege, Köln 2014, S. 15, http://www.iwkoeln.de/de/studien/
gutachten/beitrag/markus-demary-juergen-matthes-das-aktuelle-niedrigzinsumfeld-168565 (22.7.2013).
628
Wirtschaftsdienst 2014 | 9
Zeitgespräch
Abbildung 2
Credit Default Swaps (CDS) auf Anleihen von Banken
und Staaten
Prämien auf CDS, in Basispunkten
350
300
250
200
150
Euro-Banken
100
50
Euro-Staaten
0
2008
2009
2010
2011
2012
2013
Prämien der CDS von Banken wurden mit deren Bilanzsumme gewichtet.
Prämien der CDS der Staaten wurden mit dem BIP gewichtet.
Quellen: Bloomberg; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
des Kapitalmarkts durch das Insolvenzrisiko des jeweiligen Staates bestimmt, weil unter anderem der implizite
Vertrag zwischen beiden Seiten – keine Eigenkapitalunterlegung für eine hochliquide Anlage (Staatsanleihen) mit
hoher Attraktivität für die Bilanzstrukturpolitik der Banken
– gegenseitige Abhängigkeiten begründet. Die vielfältigen
geldpolitischen Interventionen haben dazu beigetragen,
die Risikoprämien für Banken und Staaten wieder zu reduzieren, nicht aber zu entkoppeln. Tatsächlich hat sich die
Fragmentierung der Eurozone in dem Maße zurückgebildet, wie sich das Vertrauen in den Euro seit Herbst 2012
wieder verbessert hat und internationale Investoren sich
wieder verstärkt in den Euro-Krisenländern engagieren.7
7
Vgl. European Central Bank: Financial Stability Review, Mai 2014,
S. 43 ff.
Perspektiven der europäischen Geldpolitik
Die EZB wird eine Zinswende erst einleiten, wenn die beiden zentralen Argumente für ihre Politik niedriger Zinsen
– die Fragmentierung des Finanzmarktes und das Risiko
einer Deflation – deutlich an Gewicht verloren haben (vgl.
Tabelle 2). Dass die Niedrigzinspolitik starke Fehlanreize
auf Schuldner und Gläubiger ausübt, spielt für die Notenbank bislang keine Rolle. Dabei geht es in erster Linie
nicht um die Frage, inwieweit die Sparer Verluste erleiden.
Es geht vielmehr darum, dass sowohl Schuldnern als
auch Gläubigern gravierende Fehlanreize gesetzt werden,
wenn die Geldpolitik mit allen verfügbaren Instrumenten
den Marktzins unter den natürlichen Zins drückt: Dann
sinkt die Prämie für den Konsumverzicht in der Gegenwart, dies verändert die intertemporale Aufteilung des
Einkommens auf Konsum und Ersparnis und mindert
damit die Altersvorsorge. Zugleich entsteht ein Anreiz,
stärker in risikoreiche Anlagen zu gehen, als es den Präferenzen entspricht. Sollten die niedrigen Zinsen auch die
Risikoprämie betreffen, erfahren die Schuldner eine falsche Einschätzung ihres Insolvenzrisikos, was die Kreditaufnahme motiviert statt die Entschuldung zu befördern.
Das Deflationsrisiko ist aus Sicht der EZB so virulent,
dass es einer Normalisierung der Geldpolitik entgegensteht. Die Inflationsrate im Euroraum liegt mit 0,4% (Juli
2014) tatsächlich sehr niedrig und deutlich unterhalb des
Inflationsziels. Allerdings ist die Kerninflationsrate spürbar
höher und erreicht 0,8%. Vor allem energienahe Produkte
und technische Güter mit hoher Innovationsrate sind von
Preisrückgängen betroffen. Sinkende Verbraucherpreise
waren für Griechenland und abgeschwächt für Zypern,
Portugal sowie die Slowakische Republik zu verzeich-
Tabelle 2
Gesamtwirtschaftliches Umfeld der Niedrigzinsphase in der Eurozone
Ursachen für den Niedrigzins im wirtschaftlichen Umfeld
Rezession/Deflation
Bankenprobleme
• Geringer Inflationsdruck wegen
Konjunkturschwäche und unterausgelasteter Kapazitäten
• Preisanpassungen in den Krisenländern, mögliche Deflationsgefahr
• Zinserhöhung birgt Gefahr für fragile
Banken in den Krisenländern
• Liquiditätsprobleme und
Kreditklemme
• Fragmentierter Bankensektor erschwert
einheitliche Geldpolitik wegen gestörter
Transmission
Öffentliche Verschuldung
Private Verschuldung
Folgen des wirtschaftlichen Umfelds für die Geldpolitik
Gefahr fiskalischer Dominanz:
politischer Druck absehbar,
weil Zinserhöhungen Solvenz
der Staaten gefährden
können.
Politischer Druck absehbar, weil
Zinserhöhungen Solvenz auch von
Unternehmen und Haushalten
gefährden können.
Negative Wechselwirkungen der Problemfelder
Konjunkturschwäche wird durch
Kreditklemme verschärft, fiskalische
und private Schuldenkonsolidierung.
Bankenprobleme werden durch öffentliche und private Schuldenprobleme
und durch die Konjunkturschwäche
verschärft.
Öffentliche Verschuldung
wird durch Bankenprobleme
und Konjunkturschwäche
verschärft.
Abbau privater Verschuldung (Bilanzbereinigung) wird erschwert durch
Kreditklemme, Konjunkturschwäche
und Sparpolitik der Staaten.
Quelle: M. Demary, J. Matthes: Das aktuelle Niedrigzinsumfeld: Ursachen, Wirkungen und Auswege Köln 2014, S. 47, http://www.iwkoeln.de/de/studien/
gutachten/beitrag/markus-demary-juergen-matthes-das-aktuelle-niedrigzinsumfeld-168565 (22.7.2013).
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
629
Zeitgespräch
nen. Dies kann allerdings als Strategie betrachtet werden,
um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Vor dem Hintergrund transitorischer Phänomene ist das Risiko einer
Deflation begrenzt, zumal die Konjunkturzuversicht in der
Eurozone recht robust ist.8
Die Banken haben unstrittig noch Bilanzprobleme, wenngleich die Resilienz des Bankensystems insgesamt zugenommen hat. Das zeigt sich an einem wieder belebenden
Geld- und Interbankenmarkt, der fortschreitenden Rückbildung der Target2-Salden, der Rückkehr internationaler
Geldmarktfonds und an erheblichen Rückzahlungen der
Banken auf die von der EZB Ende 2011/Anfang 2012 für
drei Jahre bereitgestellten Kredite. Bei den großen und
systemischen Banken im Euroraum erreichte das Kernkapital gemessen als Anteil an den risikogewichteten Aktiva
Ende 2013 im Mittel 13%, während 2007 dieser Wert nur
bei rund 8% lag. Es gelang auch, viele schwache Banken
zu stärken. Die gewichtete Kerneigenkapitalquote des
schwächsten Quartils (der nach diesem Indikator eingeteilten Banken) stieg von rund 7% im Jahr 2007 auf über
12% Ende 2013.9 Allerdings bestehen weiterhin erhebliche Probleme mit notleidenden Krediten, gerade in den
Krisenländern. Die Streuung der Zinsen auf Neukredite
ging hingegen inzwischen so stark zurück, dass sie auch
bei Kleinkrediten (bis 250 000 Euro) auf das Niveau von
8
9
So auch Mario Drahgi: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir
keinen Beweis dafür, dass die Konsumenten geplante Ausgaben verschieben“. Mario Draghi in einer Rede Ende Februar 2014 in Frankfurt, zitiert nach: Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Mario Draghis
Bazooka zündet nicht, vom 27.2.2014, http://deutsche-wirtschaftsnachrichten.de/2014/02/27/mario-draghis-bazooka-zuendet-nicht/
comment-page-1/ (27.5.2014).
Vgl. M. Demary: IW-Bankenmonitor: Bringt die Bankenprüfung der
Europäischen Zentralbank das Vertrauen in den Euroraum zurück?,
in: IW-Trends, 41. Jg. (2014), Nr. 1, S. 33- 48.
vor der Kriseneskalation ab Mitte 2011 sank. Die Kreditkosten liegen im Durchschnitt der Krisenländer zwar
deutlich höher als in den übrigen Euroländern, doch mit
rund 4,5% in etwa auf dem Niveau der Jahre 2003 bis
2006. Die Bilanzprüfung und der Stresstest der EZB werden zur weiteren strukturellen Stärkung der Banken in der
Eurozone beitragen.
Nimmt man all diese Befunde zusammen, dann spricht für
die EZB nichts gegen eine baldige Zinswende. Betrachtet man die Verschuldungen der Staaten und der privaten Sektoren in den Krisenländern, so zeigen sich allerdings deutliche Hemmnisse, denn die Kreditaufnahme
ist unverändert hoch und Entschuldungsprozesse haben
noch eine lange Wegstrecke vor sich. Immerhin hat sich
die Tragfähigkeit der Staatsschulden verbessert, vor allem die staatlichen Zinsausgaben in Relation zum BIP
befinden sich trotz schwacher, mitunter schrumpfender
gesamtwirtschaftlicher Entwicklung auf undramatischem
Niveau. Bei der privaten Verschuldung sind hingegen bislang meist keine nennenswerten Fortschritte festzustellen.
So fügt sich ein Bild zusammen, das einerseits wegen
der Fehlanreize ein baldiges Ende der Niedrigzinspolitik
verlangt und dafür angesichts beachtlicher Fortschritte in
der Bankenrestrukturierung sowie begrenzter Deflationsrisiken auch Raum gewinnt, andererseits aber mit Blick
auf die Verschuldungssituation vor allem der privaten
Sektoren in den Krisenstaaten auch Warnungen enthält.
Angesichts robuster Konjunktur sollte dennoch ab Mitte
2015 der Einstieg in eine schonende Zinswende möglich
sein, die mit eindeutiger Kommunikation in monatlichen
Schritten von wenigen Basispunkten beginnt und später
bei fortschreitender Erholung Fahrt aufnimmt.
Title: Low Interest Rates – Macroeconomic Causes and Consequences
Abstract: Due to the financial crises from 2008 to 2012, unconventional monetary policy caused an environment of record low interest
rates around the world. Maintaining the low interest rate policy might be reasonable for the ECB in the short run in order to fight the fragmentation of the financial market and the risk of deflation in the Eurozone. Some authors argue that permanently low interest rates lead
to wrong incentives in the financial market for debtors and creditors alike. They fear potential risks for fiscal policy and financial stability
in Germany and recommend macroprudential measures beyond the Basel III framework and a beginning exit of the ECB from its unconventional monetary policy. Others warn against overburdening monetary policy. They find rather that effective financial market regulation and proper fiscal rules and institutions are required to secure financial market stability and the sustainability of public debt and that
a premature exit from accommodating monetary policies would do more harm than good. They argue that monetary policy alone will not
solve Europe’s problems. The differing recommendations are mainly based on differing assessments of the European business cycle.
JEL Classification: E52, E58, H63
630
Wirtschaftsdienst 2014 | 9