LIEBE UND SO WEITER

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LIEBE UND SO WEITER
SEXUALITÄT I >
JOSEF CHRISTIAN AIGNER
LIEBE UND SO WEITER ...
Jugendsexualität zwischen Bindungssehnsucht, Geschlechterkampf
und Vermarktungsdruck
JUGENDSEXUALITÄT unterliegt,
wie unser aller Sexualität und wie
die meisten Lebensbereiche in
den letzten Jahrzehnten, einem
enormen sozialen Wandel, der
viele Fragen aufwirft und v. a.
viel Verunsicherung und Orientierungslosigkeit erzeugt. Sexualität kann und darf dabei nie isoliert gesehen werden,
wie es leider allzu oft und unter dem Eindruck voyeuristischer Lust an Details geschieht, sondern sie muss
immer als integraler Bestandteil persönlichen und
gesellschaftlichen Lebens der Kinder, Heranwachsenden
oder Erwachsenen und von gesellschaftlichen Lebensbedingungen abhängig begriffen werden. Dies gilt ganz
besonders für Heranwachsende, die sich in Entwicklung
befinden und dabei von gesellschaftlichen Faktoren
ständig beeinflusst werden, keinen eigenen Boden
gefunden und keine Identität entwickelt haben.
In einer diesbezüglich „gesellschaftlich abstinenten“
Sichtweise besteht m. E. der Kardinalfehler vieler konventioneller sexualpädagogischer Herangehensweisen,
die damit in Gefahr geraten, an den sich verändernden
Bedingungen vorbei immer schon ein Stück „hinten“
oder aber normierend zu wirken, wo eigentlich Verständnis für die Wechselbeziehungen von Jugendlichen
und gesellschaftlichen Entwicklungen gefragt wäre.
VERUNSICHERUNG, UNSICHERHEIT UND VORURTEILE
Auf Jugendlichen – wie auf allen anderen Gesellschaftsmitgliedern – lastet jedenfalls durch diese Veränderungen ein enormer Druck, zu dem durch die spezifische
Entwicklungsphase, in der sie sich befinden, noch weitere Verunsicherungsfaktoren hinzukommen:
– Arbeitsplatzunsicherheit;
– Enttraditionalisierung (von Familie, Herkunft,
Schicht);
– die Last der „Individualisierung“, die eben nicht nur
Chance, sondern auch Versagensangst mit sich bringt;
– der Druck und große Einsatz, dabei nicht zu scheitern;
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– düstere Zukunftsaussichten, die in allen Jugendstudien teilweise bedrückend zutage treten
– Umwelt- und Katastrophenängste u.a.m.
All das stellt eine Gesamtsituation her, in der der „freie“
(was ist das schon?) und der „experimentelle“ Umgang
mit Lust und Sexualität – einst Kennzeichen jugendlicher Suchbewegungen – massiv zugunsten eines starken Strebens nach Sicherheit und Geborgenheit – und
damit einer Tendenz zu symbiotisch-narzisstischer
Beziehungssuche – infrage gestellt ist. In allen jüngeren
Studien über sexuelles Erleben und Verhalten Jugendlicher zeigen sich intensive Bindungs- und Geborgenheitssehnsüchte, Familie, Kinderkriegen, trautes Heim
usw., sind vielleicht auch ein Reflex auf das, was viele
Jugendliche zu sehen und zu spüren bekommen: Trennungen, Patchwork-Familien, wechselnde Bezugspersonen usw. Gerade bei Jugendlichen und angesichts der
bei ihnen verbreiteten Idealisierung von Partnerschaft
und Liebe schafft dies eine widersprüchliche Situation,
die ebenfalls erst bewältigt sein will. Noch dazu sind solche Beziehungen – nämlich symbiotisch-narzisstischer
Art – und auch deren Beteiligte in erhöhtem Maße verletzungsanfällig, womit sich ein Teufelskreis von Angst,
Überforderung und Unsicherheit schließt.
Auch die verbreiteten Vorurteile der Erwachsenenwelt
gegenüber Jugendlichen (neuerdings auch verbreitete
Ratlosigkeit und Hilflosigkeit) leisten ihren Teil zur Verunsicherung, weil sie das Verständnis zwischen den Generationen zusätzlich erschweren. Wo nicht Ignoranz und
„Erziehungsvergessenheit“ (Ahrbeck 2004), Ratlosigkeit
und „da kannst heute eh nix mehr machen“ vorherrschen,
wird durch diese Vorurteile der Zusammenprall zwischen
Eltern und jugendlichen Kindern entweder konfliktiv,
nicht akzeptierend, oder es entsteht eben jene Haltung,
die mit der Flinte im Korn gut beschrieben ist.
Eines dieser Vorurteile bezieht sich zum Beispiel auf den
schrankenlosen Sexualkonsum, den Jugendliche pflegen
würden – d.h. sie würden alles Sexuelle immer mehr und
immer hemmungsloser probieren und praktizieren. Spaß
und Lust müssen sein, wann immer es geht. Und – so
frage ich mich – selbst wenn es so wäre, so ist hier auch
eine verbreitete gesellschaftliche Doppelmoral zu beob-
achten: Überall sonst im Bereich des Konsums und
Kommerzes ist schrankenloses Ausprobieren und Konsumieren gefragt – nur hier nicht!? Wie passt das zusammen?
Allein: Jugendliche sind „in sexualibus“ nicht so schrankenlos: Seriöse Studien über Jugendsexualität weisen
nach, dass die Jugendsexualität zwar in den 60er und
70er Jahren einen gewaltigen "Befreiungsschub" erlebte,
dann in den 80er Jahren eine Hochblüte, ab den 90er
Jahren aber stagniert und sogar zurückgeht. Sowohl die
Häufigkeit von Sexualkontakten, die Anzahl der schon
erlebten Sexualpartner und die Partnermobilität und
auch Faktoren wie wechselnde Beziehungen und die
Akzeptanz für sie gehen sogar zurück (vgl. Schmidt et al.
1998).
Auch die 2005/06er Studie der Kölner Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung zeigt ein ähnliches Bild:
Sowohl der Aufnahmezeitpunkt als auch die Häufigkeit
und Partnermobilität in Sachen Geschlechtsverkehr
haben sich kaum verändert, in den jüngeren Altersgruppen der 15–16-Jährigen gibt es sogar einen Rückgang
der vermeintlich ausufernden und frühen Aufnahme
sexueller Kontakte. Immerhin noch 27 % der 17-jährigen Mädchen und 34 % der gleichaltrigen Burschen
hatten bis dato noch gar keinen Geschlechtsverkehr!
Auch das Märchen vom schnellen sich Einlassen auf Sex
mit wenig bekannten Zeitgenossinnen und -genossen
wird widerlegt: Die weitaus große Mehrheit (ca. 80 %
der Jungen und 91 % der Mädchen) ist mit dem ersten
Geschlechtspartner fest befreundet oder gut bekannt,
nur 2% der Mädchen und 7% der Burschen gehen mit
kaum bekannten PartnerInnen ins Bett.
Ein Detailergebnis ist allerdings bemerkenswert und
sagt etwas über den gesellschaftlichen Druck aus, der
offenbar auch auf das Sexualverhalten als Leistungsprinzip in einer Lifestyle-Kultur ausgeübt wird, denn
bezeichnenderweise überschätzen die meisten Jugendlichen das, was „die Anderen“ schon alles erlebt haben,
offenbar in der Annahme, dass das „heute einfach dazugehört“! Hier wird also deutlich, was viele Jugendliche
in Gesprächen und Interviews berichten, dass sie meinen, was sie nicht alles schon an sexuellen Erfahrungen
haben müssten.
GRÜNDE FÜR VERÄNDERTES
(= VERUNSICHERTES) SEXUALVERHALTEN
Die Gründe für den Rückgang sexueller Aktivitäten zwischen Paaren und Pärchen (auch bei erwachsenen sexualaktiven Paaren!) bzw. für eine gewisse Stagnation liegen wohl ebenfalls in der schon angesprochenen enormen (latenten) Verunsicherung, die wir bezüglich der
Sexualität in der „Postmoderne“ allgemein erleiden und
die verschiedenste Faktoren zur Ursache hat. Ein sehr
wichtiger weiterer Punkt ist – um das näher zu beleuchten – die Geschlechter-Auseinandersetzung, die – wenn
auch eher latent ausgetragen – doch in vielen Dingen
Regie führt:
– „Vom Befreiungskampf zum Geschlechterk(r)ampf“
hat Gunter Schmidt (1998) es einmal genannt: Insgesamt hat in den letzten 30 Jahren eine starke – wie ich
meine produktive, aber deshalb nicht weniger verunsichernde – Veränderung und Labilisierung des Geschlechterverhältnisses stattgefunden, die sich massiv
auf Jugendliche auswirkt. Burschen sind dabei durch
die immer selbstbewusster werdenden Mädchen
merklich verunsichert, verhalten sich in der Folge diesen gegenüber eher defensiv und überlassen die Initiative häufig den Mädchen (was sich auch bei der Aufnahme erster Sexualkontakte empirisch nachweisen
lässt). Mädchen wiederum haben durch ihr stärkeres
Selbstbewusstsein auch ein höheres Anspruchsniveau
entwickelt, nehmen nicht mehr alles so „Manngegeben“ hin und sind deshalb mit ihren ersten sexuellen
Erlebnissen auch sehr unzufrieden – wiederum ein
Zeichen „produktiver Verunsicherung“, die die Suche
nach neuen Rollen und Verhaltensweisen zwischen
den Geschlechtern andeutet.
Ein weiterer Punkt, der vielfach nicht gerade lustfördernd ist, sind die Sehnsüchte und Romantizismen vieler Jugendlicher, die sie dann oft herb auf dem Boden
der Realität aufprallen lassen:
– Sexualforscher sprechen sogar seit mehr als 30 Jahren
von einer regelrechten „Romantisierung“ der Jugendsexualität: Einstellungen zu Treue, Verlässlichkeit,
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Verbindlichkeit etc. haben nachgewiesenermaßen –
und dies schon seit den 70er Jahren mit steigender
Tendenz – hohe Konjunktur. Jugendliche sind viel
„treuer“, als wir annehmen, freilich oft nur innerhalb
eines gewissen, aus Erwachsenensicht relativ kurzen
Zeitraums, der aber für Jugendliche eine lange Wegstrecke sein kann, in der sie rigoros treu sind. Dies
hängt auch mit der schon angesprochenen Sicherheitssuche – Sexualwissenschaftler sprechen gar von einer
Verdrängung des Lustprinzips durch ein „Sicherheitsprinzip“ – zusammen. Dieses Sicherheitsprinzip fördert symbiotisch narzisstische Aufgehobenheitsbeziehungen, die oft von fast
kindlich anmutender Art
von Anlehnung und Verschmelzung gekennzeichnet
sind und weniger von knisternder Erotik, die in einem
gewissen Widerspruch zu
diesem Sicherheitsdenken
und -fühlen steht.
– Dem steht allerdings die
postmoderne Entkoppelung der Sexualität von
Beziehungen gegenüber,
die in scharfem Widerspruch zu den Sehnsüchten und Beziehungsidealen
der meisten Jugendlichen steht: Wo Treue und Stabilität ersehnt werden, sind als gesellschaftliche
„Grundprinzipien“ tendenziell Beliebigkeit und Austauschbarkeit die führenden „Marktmechanismen“,
die auch vor dem Privaten (das immer schon politisch
war) nicht Halt machen. Kinder und Jugendliche
erleben dies auch in ihren Familien und viele Jugendliche geben an, dass sie das ganz sicher viel besser
machen würden als ihre Eltern.
Verbindlichkeit und Tradition entkoppelter Selbstzweck
– eine glänzende Beute für die Strategen des Marktes,
die alles und jedes an erotische Attraktivität knüpfen
(Sexy-Sein – In-Sein). Diese Art von sexualisierter
Selbstinszenierung hat heute längst den Status einer kulturellen Norm erreicht, die an Jugendlichen – wie andere Normen auch – nicht spurlos vorübergehen kann.
Nebenbei bemerkt ist dies auch ein Grund, den wir hinter der verbreiteten Lustlosigkeit (auch schon bei sehr
jungen Menschen) vermuten: das Sich-Entziehen aus
„DER LETZTE MANN, MIT DEM ICH GESCHLAFEN HABE, HAT EINE ANDERE FREUNDIN ...
WANN WAR DAS, FRAGE ICH. DAS WAR VOR
NEUN MONATEN ODER SO, SAGT SIE ETWAS
UNSICHER: MENSCH, SO LANGE HABE ICH AUF
SEX VERZICHTET ... EINE ANDERE WAR GERADE
FRISCH VERLIEBT UND GLÜCKLICH. WENIGE
WOCHEN SPÄTER KLAGT SIE, NUN, NACH DER
ERSTEN VERLIEBTHEIT SETZE DAS EIN, WAS
MAN SO BEZIEHUNG NENNE – ES SEI SCHON
SCHRECKLICH. UND SCHWIERIG.
POSTMODERNE BELIEBIGKEIT – STEIGENDER DRUCK
Erotik imponiert in der Postmoderne häufig als von aller
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der eigentlich gewaltigen Anstrengung, dieser Norm
andauernd entsprechen zu müssen ... (vgl. Baumann
1998). Volkmar Sigusch (1996) schreibt dazu: „Das beinahe lückenlose Kommerzialisieren und elektronische
Inszenieren treiben das Begehren offenbar wirksamer
aus als das Unterdrücken und Verbote“.
Jugendliche und junge Erwachsene leiden jedenfalls
massiv unter dem Druck, den sie – wie schon angedeutet – allerorten erleben. Eine qualitative Studie von
Patrik Walder (1998) hat hierzu recht erschütternde
Details zutage gefördert, die ich auch von ganz jungen
Studierenden in Selbstreflexionsgruppen immer wieder
zu hören und damit bestätigt bekomme:
Walder hat in einer interessanten qualitativen For-
schungsarbeit Merkmale der Sexualitäten junger Menschen eingefangen, um bei all der Verschiedenheit, die
der Plural hier ausdrücken soll, wenigstens einige – auch
für Erwachsene richtungsweisende – Trends herauszuarbeiten, die zeigen können, wie heutige Lebens- und Alltagsanforderungen in die Sexualität hineinwirken:
Ob sie zufrieden ist mit ihrem Sexualleben, frage ich eine
junge Frau, die dem modernen Leben und seinen Anforderungen gut entspricht. Der Aufwand, antwortet sie, für
das, was sie kriege, lohne sich meistens nicht. Deswegen lebe
sie oft in enthaltsamen Zeiten, die sich allerdings gelegentlich mit anderen Phasen abwechseln würden ...
„Der letzte Mann, mit dem ich geschlafen habe, beginnt
eine andere Freundin .... Wann war das, frage ich. Das
war, denkt sie nach, vor neun Monaten oder so, sagt sie
etwas unsicher: Mensch, so lange habe ich auf Sex verzichtet .... Eine andere war gerade frisch verliebt und glücklich.
Wenige Wochen später klagt sie, nun, nach der ersten Verliebtheit setze das ein, was man so Beziehung nenne – es sei
schon schrecklich. Und schwierig.“ (1998, 115)1.
Anderen Gesprächspartnern versuchte der Autor
schließlich zu entlocken, wie viele glückliche junge Paare sie denn überhaupt kennen, egal ob hetero- oder
homosexuell, und musste dabei entdecken, dass es nicht
gar so viele sind. Eher sind es Zweckgemeinschaften
oder „ein paar seltene 24-Stunden-Paare, die alles oder
nichts wollen“. Ansonsten scheinen viele um die heutigen technischen Errungenschaften wie Handy und EMail froh zu sein, mittels derer sie überhaupt noch miteinander kommunizieren (ebd. 116). Walders Resümee:
„Eingeklemmt zwischen den Erfordernissen der Arbeit und
den Ansprüchen der Freizeit wird Sex zunehmend zu einer
Frage der Organisation. Bin ich bereit, so und soviel Beziehungsarbeit zu leisten, um dafür sexuell versorgt zu sein?
Oder organisiere ich mir die Sexualität anders? So richten
sich viele mehr oder weniger behaglich in ihren Party- und
Single-Familys ein. Man lebt enthaltsam oder pflegt den
Sex mit dem Ex, man masturbiert2 und hat Freundinnen
und Freunde, mit denen man auch mal ins Bett gehen
kann. Man schaut, was sich so ergibt, nimmt sich, was sich
gerade anbietet, und wartet vor allem auf die nächste große
Liebe.“ (ebd.).
Alles in allem also ein skeptisches Bild: Sexualität als
eine große Anstrengung, die organisiert werden will.
Und wenn’s zwei probieren, kostet es neben den zusätzlichen alltäglichen Belastungen ungeheuer viel Kraft.
SPASS-KULTUR UND KÖRPER-KULT
Damit in engstem Zusammenhang steht die Funktionalisierung des Sex im Rahmen der zeit- und ökonomietypischen Event- und Spaß-Kultur: Sex wird in erster
Linie als Spaßfaktor propagiert – ein Tausch-Artikel in
der Welt des Ankommens und Anerkannt-Werden-Wollens (was ebenfalls einen Widerspruch zu den Sehnsüchten und Romantizismen darstellt).
Sehr wichtig erscheint auch eine neue Verortung des
Körpers als Bedeutungs- und Imageträger: Die neue
Botschaft lautet: „The body is the message“ – Ästhetisierung und Sexualisierung von Körperlichem nehmen
einen Raum wie nie zuvor ein. Die Dauerpräsenz sexualisierter Reize stumpft einerseits ab und normalisiert
und zähmt andererseits das, was quer zum Alltag liegen
könnte; und diese Dauerpräsenz setzt auch performativ
Körperzwänge durch, die das Leiden vieler Jugendlicher
(v. a. Mädchen) am eigenen Körper hervorbringen: So
musst du sein, sonst bist du nicht begehrenswert. Es
handelt sich um eine Fetischisierung ganz bestimmter,
Walder; Patrick: Körperkult und Sexualität in den neuen Jugendkulturen. Sex mit Tic Tac Toe und Tamagotchis. In: Schmidt, Gunter;
Strauss, Bernhard (Hg.): Sexualität und Spätmoderne. Über den
kulturellen Wandel der Sexualität. Enke (= Beiträge zur Sexualforschung 76), Stuttgart 1998, 103–117.
2
Vgl. Schmidt, G.; Klusmann, D.; Matthiesen, S.; Dekker, A.: Veränderungen des Sexualverhaltens von Studentinnen und Studenten.
In: Schmidt, G. u. Strauss, Bernhard (Hg.): Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Enke, Stuttgart
1998 (= Beiträge zur Sexualforschung 76), S. 118–136. In der Einschätzung der neuen, als selbständige Sexualform apostrophierten Masturbationsfrequenz unterscheide ich mich von den Hamburger Kolleg/inn/en und sehe darin neben den positiv-schuldentlasteten Aspekten auch eine bedenkliche narzisstische, auf
sich selbst zurückgeworfene Qualität sexuellen Erlebens.
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eher kindlicher Körperlichkeiten, die schon Jugendliche
beschäftigt. Das soll nicht den selbstverständlicheren,
auch spielerischen Umgang von Mädchen (weniger von
Jungen) mit ihrer Körperlichkeit schmälern, der ihr
Selbstbewusstsein mit bedingt, andererseits allerdings
oft missverstanden wird (z.B. Britney Spears’ Botschaft:
„I’m a virgin!“); will heißen: „Ich stell’ mich sexy und
selbstbewusst dar, dies aber für mich, und wer anfasst,
kann was erleben!“ Dass dies auch zu unzähligen Konflikten zwischen den Geschlechtern und auch zu Übergriffigkeiten aller Art führt, sei hier dahingestellt.
KÖRPERLICHKEIT UND BUNTSCHECKIGKEIT
Körperlichkeit jedenfalls wird zunehmend als „zentrales
Mittel der Selbsterfahrung und Selbstinszenierung, als
ihr Kapital“ eingesetzt: Dabei kommt die Gesellschaft
den Jugendlichen mit ihrer Vergötzung und Anbetung
von Jugendlichkeit auch entgegen, was diesen das
Gefühl gibt, wenigstens dort führend zu sein.
Der Rückzug auf den eigenen Körper dient dann auch
als letzte Bastion der Identität (Kennzeichnung durch
Tattoos, Piercing, Branding. Stechen usw.) inmitten
einer Halt und traditionelle Einbindung verwehrenden
Gesellschaft. „Wohin man sieht, ist es ein Stechen,
Schneiden und Penetrieren. Jugendliche brennen sich
Labels und Codes in die Haut, um sich als Markenzeichen zu präsentieren“ (Walder 1998, 119). Als ob der
Körper als ein letzter Verankerungspunkt von spürbarer
Relevanz diente.
Damit zusammenhängend ist wahrscheinlich auch die
schnell wechselnde Anbetung bestimmter Moden, die
Suche nach dem dauernd neuen Kick usw. zu sehen:
Auch hier geht es vornehmlich darum zu spüren, dass
man lebendig und einzigartig ist, dass man dazugehört,
sich was traut usw. Hier sind zum Beispiel auch die
schrillen Outfits bei den Love-Parades – von denen
Sigusch (1996) meinte, sie hießen besser „Self-Parades!“
– zu nennen. Es geht dabei offenbar eher um die (narzisstische) Selbstdarstellung, weniger um das Sexuelle, Provozierende, das nur Mittel der Aufmerksamkeitsanziehung sein dürfte. Das eigentlich „Nichtsexuelle“ dieser
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Provokation auf den Love-Parades ist gut sichtbar: Trotz
halb- oder fast nackter Menschen beiderlei Geschlechts
auf engstem Raum gibt es dort keine Ausschweifungen
oder Annäherungen: „Jeder evangelische Kirchentag ist
im Vergleich dazu ein Freudenhaus!“ schreibt Patrik
Walder (ebd.) treffend.
Doch auch hier wieder ein positiver Ausblick: Insgesamt
kann man zur Situation der Sexualität Jugendlicher und
junger Erwachsener sagen, dass eine „sexuelle Buntscheckigkeit“ vorherrscht, von der frühere Generationen nur
träumen hätten können (Sigusch 1996, 34); dies ist die
„gute Nachricht“ über Jugendsexualität heute! Allerdings
ist diese noch kein Garant für Befreiung oder Freiheit!
Erst unter der Bedingung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse, die die Menschen, auch schon ganz junge, nicht
mehr oder weniger deutlich als Wegwerfware entwerten
bzw. sie nach der Logik des Profits gegeneinander treiben
und allein deshalb schon entwürdigen und entfremden,
wäre diese Buntscheckigkeit als befreiend zu erleben und
zu gestalten. Andernfalls dienten diese Möglichkeiten
lediglich der narzisstischen Kompensation von Identitätsund Selbstwert-Defiziten, wie wir es auch in Psychotherapien immer wieder zu hören bekommen.
WAS TUN?
VON DER BEDEUTUNG DER ANERKENNUNG
Schließlich bleibt für eine sexualpädagogische Jugendarbeit oder für die Beratung Jugendlicher die Frage, welche pädagogische Grundhaltung sich angesichts dieser
Umstände empfiehlt? Hier scheint mir v.a. der Ansatz
von Walter Müller (1992) unter dem Titel „Skeptische
Sexualerziehung“ (als Reaktion auf die "Unlehrbarkeit"
der Liebe in der Schule und die Unberechenbarkeit des
sexuellen Wandels) bemerkens- und empfehlenswert:
LehrerInnen, PädagogInnen, JugendarbeiterInnen werden hier nicht als normbildende und deshalb ohnehin
schon verdächtigte oder belächelte Instanzen verstanden, sondern als (auch) angreifbare Diskurspartner und
„Vorbilder“, die mit einem breiten Verständnis der diffizilen Zusammenhänge auf Jugendliche zugehen, sich
Diskussionen stellen können.
Anstatt impliziter oder expliziter Konzepte für die „bessere“, „gesündere“, „ganzheitlichere“ Sexualität – es gibt
ja kaum etwas Skurrileres als Sexualerziehung als Teil
der „Gesundheitserziehung“ – stellen diese PädagogInnen oder BeraterInnen in erster Linie einen breiten Freiheits- und Diskursraum zur Verfügung, einen „Bauchladen an Möglichkeiten“, wie ich es gerne nenne, über die
jede/r sich ein Urteil bilden kann/soll; entgegen manch
überbordendem sexualpädagogischem „Imperialismus“
vertrauen die Vertreter dieses Ansatzes darauf, dass die
gewonnenen Freiräume erst dann sinnvoll genutzt werden, wenn die Anerkennung der Person, die Achtung
ihrer Bedürfnisse und Rechte wenigstens ansatzweise
gewährleistet ist.
Darum geht es ja bei aller Erziehung: anzuerkennen,
dass man liebens- und zuwendungswert ist, alles andere
geht dann – wenn nicht von selber – doch viel leichter.
Es geht aber auch um das Anerkennen-Können wichtiger erwachsener Bezugspersonen, durch das junge Menschen wiederum gespiegelt bekommen, das sie wichtig
sind und es gut ist, dass sie da sind. Die Dialektik der
Anerkennung! Jugendliche brauchen diese doppelten
Anerkennungsmöglichkeiten dringend. Gelehrige alte
oder auch neue Moralvorschriften verfehlen hingegen
genau diesen Punkt: sie dort abzuholen und ernst zu
nehmen, wo sie gerade stehen – auch wenn ihr Standort
gerade nicht unserem Geschmack entspricht.
Nicht zuletzt hätte auch die Politik die Aufgabe, für
Rahmenbedingungen zu sorgen, die – im übertragenen
Sinne – „Anerkennung“ für die nachfolgenden Generationen bedeuten: Es ist keine einladende und anerkennende Geste, wenn eine Gesellschaft den Jungen signalisiert, dass ein Gutteil von ihnen wahrscheinlich kaum in
einem sicherheitsspendenden Sinn gebraucht wird und
ein anderer großer Teil sich als hektische Job-Hoppers
durchs Leben hecheln wird müssen.
Dagegen gilt es anzugehen: gegen eine Gesellschaft, die
junge Menschen dazu verführt oder gar zwingt, sich in
den verschiedensten Spielarten der Event-Kultur und
des Körper-Marketings einer recht fragilen Art von
Selbstsicherheit zu vergewissern – als konsum- und
umsatzträchtige Bevölkerungsgruppe geliebt, als Aufbe-
gehrende und für jugendliche Rechte Eintretende höchstens geduldet. Ohne eine gewisse Sicherheit innerhalb
eines gewährten Freiraums wird keine wirklich zufriedenstellende Sinnlichkeit wachsen können.
JOSEF CHRISTIAN AIGNER
Jg. 1953, Dr. phil., Universitätsprofessor am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck; Psychoanalytiker,
Psychotherapeut, Paar- und Sexualtherapeut.
Literatur:
Ahrbeck, Bernd (2004): Kinder brauchen Erziehung. Kohlhammer,
Stuttgart.
Baumann, Zygmunt: Über den postmodernen Gebrauch der Sexualität. In: Zeitschrift für Sexualforschung, 11.Jg., Heft 1/1998, 1–16.
Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (2006): Jugendsexualität. Repräsentative Wiederho-lungsbefragung von 14- bis
17-Jährigen und ihren Eltern. BZGA, Köln.
Müller, Walter: Skeptische Sexualerziehung. Möglichkeiten und
Grenzen schulischer Sexualerziehung. Deutscher Studienverlag, Weinheim 1992.
Schmidt, G.; Klusmann, D.; Matthiesen, S.; Dekker, A.: Veränderungen des Sexualverhaltens von Studentinnen und Studenten.
In: Schmidt, G. u. Strauss, Bernhard (Hg.): Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Enke,
Stuttgart 1998 (= Beiträge zur Sexualforschung 76), S. 118–136.
Schmidt, Gunter: Sexuelle Verhältnisse. Vom Verschwinden der
Sexualmoral. Fischer, Frankfurt a.M. 1998.
Sigusch, Volkmar: Die Trümmer der sexuellen Revolution. In: Die
Zeit Nr. 41, 4.10.1996, 33 f.
Walder, Patrick: Körperkult und Sexualität in den neuen Jugendkulturen. Sex mit Tic Tac Toe und Tamagotchis. In Schmidt,
Gunter; Strauss, Bernhard (Hrsg.). Sexualität und Spätmoderne.
Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Stuttgart: Enke
(= Beiträge zur Sexualforschung 76) 1998, 103–117.
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