INDIVIDUELLE KULTUR UND PHYLOGENESE

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INDIVIDUELLE KULTUR UND PHYLOGENESE
INDIVIDUELLE KULTUR UND PHYLOGENESE
THOMAS MANNS TAGEBÜCHER 1933-1934
POLITISCHE UND LITERARISCHE ASPEKTE
Laura-Elena Mihăileasa
1. Thomas Manns Tagebücher: Veröffentlichung, Inhalt, Rezeption
Thomas Mann hat sein ganzes Leben lang Tagebuch geführt. Die Aufzeichnungen sind allerdings nicht für die ganze Lebensspanne erhalten geblieben:
die seiner Jugend vernichtete er 1896 in München und jene, die er bis zum
Frühjahr 1933 verfasste, als er Deutschland verließ, verbrannte er 1945. Nur
die Tagebücher der Periode 1918 – 1921, die er für das Verfassen des Romans
Doktor Faustus brauchte, blieben erhalten. Die Tagebücher aus den letzten
zweiundzwanzig Lebensjahren bewahrte er auf. 1 Der Schriftsteller verfügte
über seine Diarien eine Sperrfrist von 20 Jahren nach seinem Tod, so dass
erst 1977 ihre Veröffentlichung anfing. Bis 1995 sind unter der Herausgabe
von Peter de Mendelssohn und Inge Jens alle Tagebücher in neun Bänden
erschienen. Das Tagebuch 1933-1934 erschien 1977. Eine gekürzte Form
wurde mit den entsprechenden Streichungen zur Lebzeit des Autors unter
dem Titel Leiden an Deutschland 1946 in Amerika veröffentlicht.
Die Diarien enthalten, wie es für diese Gattung bezeichnend ist, alles: Angaben zum gesundheitlichen Zustand, Eintragungen über Träume, Essen, Spaziergänge, Wetter, Korrespondenz, Besuche, Gespräche, Intimes, Musik,
Lektüre, Briefe, Anrufe und Besuche von Bekannten, Politik, Gesellschaftliches, Fortschreiten der Arbeit, Reflexionen, finanzielle Erörterungen usw.
Thomas Mann, ein ferventer Tagebuchschreiber, schildert seinen Alltag bis
ins trivialste Detail und bringt seine menschlichen Schwächen, Ticks, Marotten und Manien2 ans Tageslicht. Mit „bürgerlicher Regelmäßigkeit“ 3 geführt,
meistens in einem knappen Stil, der mit der Prosa kontrastiert 4, hinterlässt
das Tagebuch oft den Eindruck der unendlichen Wiederholung: „Wer jedem
Tag sein Bild abgewinnen möchte, der kann Wiederholungen im Alltäglichen
1 S. Peter de Mendelssohn: „Vorbemerkungen des Herausgebers“, in Thomas Mann: Tagebücher. 1933-1934, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003.
2 Fernand Hoffmann: „Thomas Mann von Tag zu Tag. Der große Humanist ganz intim und
menschlich allzumenschlich“, in Hoffmann Fernand: Thomas Mann und seine Welt, Hildesheim 1992.
3 Rüdiger Görner: Das Tagebuch. Eine Einführung, München 1986, S. 65.
4 Ebd., S. 63.
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nicht entgehen.“5
Nur wenige Tagebuchveröffentlichungen in der deutschen Literatur lösten
beim Publikum und bei den Kritikern so gegensätzliche Reaktionen und heftige Auseinandersetzungen aus wie diejenigen Thomas Manns: von der Begeisterung über den Umfang und die Ausführlichkeit der Aufzeichnung, vom
überschwänglichen Lob der Aufrichtigkeit und der Authentizität 6, bis zur
Ratlosigkeit, Enttäuschung und zu den Vorwürfen der Künstlichkeit, der Belanglosigkeit7 und der Peinlichkeit (wegen der allzumenschlichen Details und
der Eingeständnisse von sexuellen, insbesondere homoerotischen Anfällen),
wobei die Entmonumentalisierungsversuche8, „den Bürger Thomas Mann
von seinem Sockel klassischer Repräsentation herunterzuziehen“9, aufgrund
seines übertriebenen Narzissmus und Egoismus nicht gefehlt haben.
2. Anfang des Exils
Die Einträge, die die Zeitspanne 15.III.1933-31.XII.1934 genau beschreiben,
verdeutlichen, dass dies für Thomas eine äußerst schwierige Epoche seines
Lebens war. Seine Emigration ist eher zufällig zustande gekommen. Der
Schriftsteller bekämpfte publizistisch die NSDAP (im Wahlaufruf zugunsten
der SPD – 1930, in der „Rede vor Arbeitern in Wien“ – 1932), dachte aber
nicht an Exil, und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar
1933 beunruhigte ihn nicht, da er auf eine Koalition mit der DNVP hoffte. Als
am 5. März die Reichstagswahlen Hitlers Regierung befestigten, war Thomas
Mann zufällig auf einer Vortragsreise (mit dem Vortrag „Leiden und Größe
Richard Wagners“) in der Schweiz. Auf Rat der Freunde beschloss er im Ausland zu bleiben und fing an, eine provisorische Existenz zu führen, die seine
literarische Arbeit beeinträchtigte und ihm viel Unzufriedenheit, Unruhe
5 S. Görner, wie Anm. 3.
6 S. u.a.: Peter de Mendelssohn: „Vorbemerkungen des Herausgebers“, wie Anm. 1, S. XX.
7 Hans Wysling: „Thomas Mann als Tagebuchschreiber“, in Thomas-Mann-Studien, Bd.7,
Bern 1987, S. 139.
8 S. Marcel Reich-Ranicki: „Revisionen sind in Gang. Bekehrungen möglich. Das Bild des Autors und des Menschen Thomas Mann wandelt sich“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung,
15.2.1986, Literaturbeilage.
9 Herbert Lehnert: „Thomas Manns Tagebücher der Emigration 1933-1934“, in Orbis Litterarum (1979), 34, S. 124 -129.
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Thomas Manns „Tagebücher 1933-1934“. Politische und literarische Aspekte
und Nervosität brachte. „Ich vertrage sehr schlecht die Unsicherheit der Zukunft, das improvisierte Leben und das Fehlen fester Grundlagen“ 10. Er empfand „Schmerzen der Trennung von einem altgewohnten Zustand“ und gelang
zur „Erkenntnis, dass eine Lebensepoche abgeschlossen ist“, dass es notwendig war, mit 58 Jahren, „sein Dasein auf eine neue Basis zu stellen“ (TB, S. 3).
Er pendelte meistens zwischen Bangen, Niedergeschlagenheit und Hoffnung
(TB, S. 192). Der Tagebuchverfasser zeichnete am 22.IX.33 vertrauensvoll auf:
Die Zukunft ist ungewiss, wie sie es im Grunde immer ist, und nur darauf darf
ich wohl mit einer Art von natürlicher Sicherheit rechnen, dass der bei aller
Schwierigkeiten glückliche Grundcharakter meines Lebens sich auch unter
Umständen durchsetzen wird, die mir anfangs den Atem nahmen. (TB, S. 185)
um nur drei Tage später, am 25.IX.33, Folgendes zu registrieren: „Zweifel an
der Lebensrichtigkeit meiner Entschlüsse quälen mich aufs neue. Wird mein
Ende elend sein?“ Die Gründe seiner Sorge und Beunruhigung sind verschieden. Für ein paar Wochen gingen seine in München zurückgelassenen Tagebücher verloren und tauchten wieder in Zürich auf. Als der Schriftsteller auf
die Vortragsreise ins Ausland fuhr, blieb sein laufendes Tagebuch in München und Thomas Mann schickte seinem Sohn Golo den Schlüssel zu einem
Schließschrank in der Hausdiele mit der Bitte, ihm die Hefte unberührt zu
schicken. Golo gab den wertvollen Koffer dem Chauffeur, ohne zu ahnen,
dass dieser zu den Nazis übergelaufen war. Im April und Mai 1933 registrierte das Tagebuch Thomas Mann wachsende Unruhe bis zum Grauen: „Meine
Befürchtungen gelten jetzt in erster Linie u. fast ausschließlich diesem Anschlage gegen die Geheimnisse meines Lebens. Sie sind schwer und tief.
Furchtbares, ja Tödliches kann geschehen“ (TB, S. 66). Er befürchtete, der
Koffer könne in falsche Hände geraten. 11 Der Chauffeuer der Familie Mann
gab schließlich zu, mit dem Koffer zum Braunen Haus gefahren zu sein, wo
er ihn der Politischen Polizei übergeben hatte; es gelang dem Rechtsanwalt
den Koffer wieder abzuhandeln.12
Finanziell war sein Leben im Ausland noch nicht gesichert. Am 16. April
10 Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 192.
(Weiterhin als TB abgekürzt, gefolgt von der jeweiligen Seitenangabe.)
11 S. Peter de Mendelssohn, wie Anm.1.
12 S. Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas
Mann, Jahre der Schwebe 1919 und 1933, Fischer Frankfurt a. M. 1992, S. 215.
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1933 erschien in „Münchener Neuesten Nachrichten“ der Protest der Richard-Wagner-Stadt München, ein Pamphlet gegen Thomas Mann unterzeichnet von 45 Persönlichkeiten des Münchener Kulturlebens, die zur Beschlagnahme seines Vermögens und zum Schutzhaftbefehl (unter der Anklage, er sei Gegner der nationalen Bewegung) führte13; „Entschiedene Befestigung des Entschlusses, nicht nach M. zurückzukehren.“ verzeichnete der
Schriftsteller am 19.IV.1933.
Innerhalb des literarischen Exils (Heinrich Mann, Hermann Hesse, Stefan
Zweig, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky, Ernst Toller,
Anna Seghers, Erwin Piscator, René Schickele, Werner Vortriede) nahm Thomas Mann keine einfach definierbare Sonderstellung an14, indem er weder
Jude noch Marxist war und sich als nationaler Autor fühlte. 15 Außerdem
rechnete er sich selbst schon 1933 der inneren Emigration zu („die innere
Emigration, zu der ich im Grunde gehöre“; TB., S. 243), wie später seine Romanfigur Serenus Zeitblom16 und schrieb am 4.10.1933 von seinem Wunsch,
auf das Politische zu verzichten und sich nur der Literatur zu widmen. Thomas Mann trat zwar aus einer Reihe von Institutionen aus (aus der Akademie der Künste): am 15.03.1933 verzeichnete er seine Absicht, „alle Amtlichkeiten und Repräsentativitäten bei dieser Gelegenheit von meinem Leben
abzustreifen“, vermied aber bis im Jahr 1936, sich öffentlich gegen das nationalsozialistische Regime zu äußern. „Die ersten Jahre des Exils zeigen ihn
viel mehr als politikscheuen Ästheten als kämpferischen Publizisten, wenn
auch die Ablehnung des Nationalsozialismus in Briefen und im Tagebuch
sehr entschieden bleibt und sich der Wille zum Exil bald befestigt.“17
Thomas Mann nahm Abstand von anderen Emigranten (bedauerte die Art
der Gesellschaft in die er geraten ist – Kerr, Tucholsky, Theodor Lessing)
und von der antifaschistischen Publizistik der Emigration, die er einstellte,
um „diese Tiere“ nicht unnötig zu reizen (15.III.1933). Die Mitarbeit an der
literarischen Monatsschrift Die Sammlung, herausgegeben von Klaus Mann
13 Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, Verlag C.H. Beck München
1991, S. 234.
14 Ebd., S. 235.
15 Ebd., S. 236.
16 S. Frank Fechner: Thomas Mann und die Demokratie: Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers, Berlin, Duncker u. Humbolt, 1990, S. 138.
17 Hermann Kurzke, wie Anm. 17, S. 236.
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Thomas Manns „Tagebücher 1933-1934“. Politische und literarische Aspekte
in Amsterdam 1933-1935 unter dem Patronat von André Gide, Aldous Huxley und Heinrich Mann lehnte er auf Druck des Verlags Fischer ab. Am
meisten quälte ihn die Unentschlossenheit, ob er sich gegen die nationalsozialistische Regierung öffentlich äußern sollte: „Das Tagebuch spiegelt ein
Schwanken zwischen dem Bedürfnis, seinen Hass öffentlich auszudrücken
und dem Bedürfnis nach Ruhe und Zuflucht.“18. In einem Brief an Ferdinand
Lion vom 3.9.1934 gestand der Schriftsteller: „Ich schäme mich öfters, daß
ich Allotria treibe und die wahrscheinlich mir auferlegte Pflicht nicht erfülle,
dies und das Zugehörige der Welt zu sagen. Ich tue es noch nicht.“ 19 Thomas
Mann erwog die Notwendigkeit, eine Erklärung gegen die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland abzugeben (was er erst 1936, nach dreijährigem Schweigen macht), zögerte aber aus verschiedenen Gründen 20: er machte sich Sorgen um die Verbindung mit dem Fischer-Verlag, um die Leserschaft in Deutschland (die ersten zwei Bände der Tetralogie Joseph und seine Brüder erschienen zu dieser Zeit im Fischer Verlag: Die Geschichte Jaakobs – 1933 und Der junge Joseph – 1934) und nicht zuletzt um sein Vermögen in München. Diese Situation störte und bedrängte ihn, so wie jeder direkte Angriff aber auch jede Anspielung auf sein Schweigen: „Man verlangt
von uns Auswärtigen die äußerste Rücksichtnahme, kein Laut darf über unsere Lippen kommen, damit der Verlag nicht gefährdet werde. Dieser aber
kompromittiert uns vor der Welt mit solchen Erniedrigungen“ (TB., S. 211),
und: „In der Weltbühne Bemerkung über die Schriftsteller, die ‹noch kein
Wort gegen die Hitlerei› gefunden haben. Die journalistische Provokation
ärgert mich.“ (TB., S. 168)
Die tiefere Ursache für sein jahrelanges Zögern sei, nach Philipp Guts Ansicht, „eine fundamentale Verunsicherung, die sich aus der Trennung von
Deutschland ergab.“21 Als repräsentativer deutscher Schriftsteller („Wo ich
bin, ist die deutsche Kultur“22) hat Thomas Mann bis zum letzten Moment
18 Herbert Lehnert, wie Anm. 9, S. 124 -129.
19 Thomas Mann: Briefe 1889-1936, Hrsg. von Erika Mann, Fischer Verlag, Frankfurt
a.M.,1961, S. 372.
20 Isabella Sellmer: „Warum schreibe ich das alles?”: zur Rolle des Tagebuchs für deutschsptachige Exilschriftsteller 1933-1945, Frankfurt am Main 1997, S. 116.
21 Philipp Gut: Thomas Manns Idee einer deutchen Kultur, S. Fischer Verlag, Frankfurt am
Main 2008, S. 235.
22 Ebd., S. 233.
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auf eine Besserung der deutschen Verhältnisse gehofft. Die Grenzen blieben
ihm aber geschlossen: „Man wäre, kehrte man zurück, ein Fremder, der sich
nicht zu benehmen wüßte. Wunderliches Erlebnis, dass einem, während man
gerade draußen ist, sein Land irgendwohin davonläuft, so dass man es nicht
wiedergewinnen kann.“ (TB., S. 93)
3. Thomas Manns Auseinandersetzung mit Deutschland
Ein Leitfaden durch das gesamte diaristische Werk und besonders durch die
Aufzeichnungen dieser Periode ist nach Manfred Jurgensen und Isabella
Sellmer die vehemente Auseinandersetzung mit Deutschland, hinter der sich
eine Identitätsfrage versteckt.
Die Besonderheit dieses diarischen Ich liegt in der Besessenheit, mit der es
sich an seiner politischen und kulturellen Herkunft identifiziert. Der unfreiwillig ins Exil emigrierte Thomas Mann sucht seine künstlerische, historische
und menschliche Identität im zurückgelassenen Deutschland – und findet sie
nicht (...) Mit der im Tagebuch zentralen Deutschland-Frage ist die der Identitätskrise des Schriftstellers untrennbar verknüpft. 23
Peter Pütz macht ebenfalls die Bemerkung: „Das Tagebuch spricht auf jeder
Seite davon: von Thomas Manns Ego, und zwar in einem Ausmaß und in einer Intensität, daß beides, Deutschland und die eigene Person, bis zur Ununterscheidbarkeit zusammenfließen.“24 Die Identität zwischen seinem eigenen
Schicksal und Deutschlands Geschichte kommt im Tagebuch deutlich zum
Ausdruck: „zuweilen scheint mein Kopf mir etwas überlastet: Der politische
Komplex, mit meinen persönlichen Lebensfragen eng verquickt.“ (TB., S.
125)
Thomas Mann informierte sich ständig über die Ereignisse in Deutschland –
las regelmäßig mehrere französische Zeitungen, vor allem den Temps und
L’Œuvre, auch die Londoner Times, deutsche und schweizerische Zeitungen,
Pariser Neues Tage-Buch, oder wurde durch zahlreiche Briefe informiert (zu
dieser Zeit führte er Korrespondenz mit Hermann Hesse, René Schickele,
23 Manfred Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern/München
1979, S. 202.
24 Peter Pütz: „Thomas Manns Tagebücher. Reaktionen auf die Machübernahme und deren
Folgen“, in: Beda, Allemann (Hrsg.): Literatur und Germanistik nach der Machtübernahme,
Bonn 1983, S. 10.
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Thomas Manns „Tagebücher 1933-1934“. Politische und literarische Aspekte
A.M.Frey, Stefan Zweig, Robert Faesi, Ernst Bertram, Karl Kéreny, Ferdinand Lion, Bruno Walter, Erika Mann usw.25). Er registrierte alle Informationen sehr ausführlich in seinen Diarien und kritisierte mit Vehemenz den geschichtlichen Verlauf in Deutschland: Hitlers Ernennung zum Reichskanzler,
die Bücherverbrennung und die Gleichschaltung im Reich, den Reichstagsbrand, das Ermächtigungsgesetz, die Aufhebung der Gewerkschaften, den
Röhm-Putsch, die weitgehende Ausschaltung der sozialistischen und konservativen Opposition, Dollfuß’ Ermordung.
Die Empörung gegen die Knechtung und Schändung der Menschenwürde26
ging zu vielen Stellen in offenen Hass über, der in der besonderen Rhetorik
des Satzes Niederschlag findet „Ein seelisch verdorbenes Land. Wie könnte
und dürfte man zurückkehren.“ (TB., S. 104) „Wie steht dieses Land wieder
als Feind der Menschheit da!“ (TB., S. 224) Betreffs der Reichtagseröffnung
notierte er am 20.III.1933:
Meldungen von den für morgen, zur Reichtagseröffnung, vorbereiteten nationalen Betäubungsfeierlichkeiten: Glockenläuten, Fahnen, Freiheitsjubel. Es
ist gar zu blödsinnig, gemein und Ekelhaft. Grauen und Erbitterung erfüllten
uns wieder ganz und gar. (TB., S. 13)
Am 27. 08. 1933 erschien die erste Liste der Ausgebürgerten:
Erste Liste der Politiker und Schriftsteller, die der deutschen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt sind, werden veröffentlicht. Einstein ist an der Spitze,
auch Heinrich figuriert. Und welche Menschen sind es, die diese Ausschließung vom Deutschtum verfügen. (TB., S. 161)
In diesem Zusammenhang äußerte und begründete Thomas Mann seine politischen Gedanken in den Tagebüchern sehr ausführlich, darunter zahlreiche humanistische und demokratische Gedanken: er empörte sich über den
Antisemitismus, über alle Ausschreitungen gegen Juden (TB., S. 10), kritisierte die Tendenz des Regimes „der Nation möglichst alle Bildungsmittel
abzuschneiden, um die Menschen besser beherrschen zu können.“ (TB., S.
7)und die Verfälschung der Gehirne in den Schulen (TB., S. 173), richtete
sich gegen die Manipulierbarkeit der Masse („Nie in Welt u. Geschichte ist
eine idiotischere Demagogie getrieben worden.“), gegen die Erstickung der
25 S. Thomas Mann: Briefe 1889-1936, wie Anm. 19.
26 S. Peter de Mendelssohn, wie Anm. 12, S. 226.
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Gerechtigkeit und Pressefreiheit27, gegen die Uniformierung durch die NSDAP, gegen die radikale Reichszentralisierung, die wenig Respekt vor geschichtlicher Tradition zeigte. „Er sieht diese Gleichschaltung auf allen Gebieten sich vollziehen. [...] Das zentrale Problem sieht er im Totalitätsanspruch, d.h. in der erzwungenen Einheit von Staat und Kultur, wobei jene
nur zu dessen kläglicher Dienerin herabgewürdigt werde“28. Ein leitmotivischer Gedanke im Tagebuch 1933-1934 ist die Affinität und Diskrepanz zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus29: „Beherrschung mit Hülfe
der modernen Suggestionstechnik. Schlimmster Bolschewismus, unter dem
deutschen Gesichtspunkt gesehen, vom russischen aber unterschieden durch
den Mangel jeder Idee.“ (TB., S. 8)
Andererseits setzte der Schriftsteller seine politische Vorstellung aus der Zeit
der Weimarer Republik fort. „In der Fehlentwicklung des Staates sieht er
seine früheren Bedenken gegen die Demokratie [und gegen die Mehrheitsentscheidung30] bestätigt“31: „Die Republik wollte – im Tiefsten – Staat und
Kultur in Deutschland versöhnen, Elemente und Sphären einander fremd bei
uns seit je. Es misslang gänzlich. Geist und Macht, Kultur und Staat sind
heute weiter auseinander als je.“ (TB., S. 84) Schon 1933 warnte Thomas
Mann, die Deutschen würden sich „ebenso unwissend und überzeugt wie
1914“ (TB., S. 183) in den nächsten Krieg führen lassen.
In manchen Notaten (wie z.B. in denjenigen zum Reichstagsbrand) wird es
deutlich, dass der Nationalsozialismus für ihn Teil einer längeren Entwicklung, die „wütende Vollendung einer Gegenrevolution“ sei, in der man sich
schon seit 1919 lebe. Deutschland ist die Durchsetzung seiner Ideen im Kriege misslungen und die „deutsche Revolution“ repräsentiere nun der Revanche-Krieg nach innen.“32
Der groteske Schwindel des Reichstagsbrandes. Ein schamloses Betrugsverbrechen, von dem jeder weiß, wird mit unumschränkter Gewalt in Schweigen
erstickt. Dazu Glockengeläut und Erhebungsrausch. Man glaubt, wieder ein
27 Peter Pütz, wie Anm. 24, S. 15.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Ebd..
31 Ebd., S. 143.
32 Ebd., S. 140.
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Thomas Manns „Tagebücher 1933-1934“. Politische und literarische Aspekte
großes Volk zu sein. Der Krieg, die Niederlage sind nicht gewesen, seine
Folgen getilgt durch einen Kriegsersatz, der sich Revolution nennt und sich
gegen das eigene Volk richtet. Rache des Typus, der den Krieg verlor. Er ist
seelisch wiederhergestellt, während alles edlere Deutschland der Qual
seelischer Heimatlosigkeit überantwortet ist. […]
Es war den Deutschen vorbehalten, eine Revolution nie gesehener Art zu veranstalten: ohne Idee, gegen die Idee, gegen alles Höhere, Bessere, Anständige,
gegen die Freiheit, die Wahrheit, das Recht. Es ist menschlich nie etwas Ähnliches vorgekommen. Dabei ungeheuerer Jubel der Massen, die glauben, dies
wirklich gewollt zu haben, während sie nur mit verrückter Schlauheit betrogen
wurden, was sie sich noch nicht eingestehen können. (TB., S. 21)
Thomas Mann reflektierte und wertete in seinen Tagebüchern das Phänomen der Rebarbarisierung („das bewusste Über Bord werfen menschheitlicher Errungenschaften, insbesondere was die Menschenrechte und die Eingrenzung der Gewalt betrifft“, das „Zurückgehen auf frühere Zustände“ 33)
nicht nur als negativen Rückfall, sondern auch als einen Regenerator. (TB.,
10.6.1933) Deutschland sei „mit Kultur übersättigt“ und vollziehe aus Lebensgründen eine „gewaltsame Vereinfachung“. Das sah Thomas Mann nicht
nur als eine deutsche, sondern als eine zeitbestimmte europäische Erscheinung. Vielleicht tue die Rebarbarisierung „Europa not u. gerade als Europäer
sollte man sie begrüßen?“ fragte sich Thomas Mann am 10.8.1933 34; er konnte aber auf keinen Fall die abstoßenden, grotesken Formen, die die Rebarbarisierung annahm, bejahen. (TB., 10.8.1933) Bedenklich ist auch die Bemühung, der Entwicklung in Deutschland gerecht zu werden: „Gespräch mit
Heinrich über den möglicherweise richtigen sozialen Kern der deutschen Bewegung“, „man muss sich klar darüber sein, dass staatlich-historisch genommen, die deutschen Vorgänge positiv zu werten sind.“ (TB., S. 52). Bedenklich ist noch eine Behauptung, die in der 1946 erschienenen überarbeiteten
Ausgabe fehlt:
Die Revolte gegen das Jüdische hätte gewissermaßen mein Verständnis, wenn
nicht der Wegfall der Kontrolle des Deutschen durch den jüdischen Geist für
jenes so bedenklich und das Deutschtum nicht so dumm wäre, meinen Typus
mit in denselben Topf zu werfen und mich mit auszutreiben. Dies ist wesentlich, wie der Münchner Fall zeigt, der Hass von Vereinfachten gegen die Nuance, die als solche als antinational und Galle machend empfunden wird, ja
33 Philipp Gut, wie Anm. 21, S. 229.
34 Ebd., S. 231.
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Mordlust erregt. (TB., S. 54)
Peter Pütz ist der Ansicht, dass damit Thomas Mann die geistige Auseinandersetzung mit den Kräften meinte, „die die nationalen Eigenheiten zwar
kontrollieren, aber nicht tilgen sollen. Dem wiederum liegt das verbreitete
Urteil oder Vorurteil zugrunde, dass das Jüdische in Geist und Geld zu einer
Übermacht zu werden droht, so dass eine Revolte Verständnis verdient.“
„Thomas Mann liebte das Jüdische nicht, doch er hatte vor ihm den größten
Respekt und verteidigte es, wo immer es angegriffen wurde.“35
Trotz zahlreicher demokratischer Gedanken beweisen solche Stellen wie
oben zitiert, „wie sehr seine Meinungen damals von nationalpsychologischen
und dekadenzanalytischen, nicht von demokratischen Kategorien geprägt
sind, von der Kritik am 'willentlichen Unbewusst' und an der falschen Simplizität, nicht von der Verletzung der Menschenrechte“36.
4. Literarische Aspekte
Das Tagebuch gilt im Fall Thomas Mann als sehr wertvoller Paratext 37. Die
persönlichen Aufzeichnungen, als intimer Epitext, beinhalten Geschichten
der Werkgenese (vom Moment der Eingebung bis zur Fertigstellung des
Werkes) und Arbeitsmethoden ihrer Autoren. Gleichzeitig dienen sie zur Beleuchtung komplexer Beziehungen zwischen Leben und Werk und zur Lenkung der Rezeption.
Thomas Mann verzeichnete in seinen Tagebüchern den Fortschritt am Werk
sehr genau, in sachlichen Erklärungen und Arbeitsnotizen, so dass Peter Jurgensens Bemerkung, Manns Tagebücher der “Buchführung eines literarischen Kaufmanns“ ähneln würden38, gerechtfertigt ist. In den Jahren 193335 Peter Pütz, wie Anm. 24, S. 18.
36 Hermann Kurzke, wie Anm. 13, S. 236.
37 Paratexte sind in Gerard Genettes Theorie alle Begleittexte, die einem literarischen Werk
auf seinem Weg durch die Öffentlichkeit zur Seite gehen: Titel und Zwischentitel, Vorworte
und Nachworte, Widmungen, Motti (Epitexte) und alle Formen von Anmerkungen – schließlich aber auch jene „Epitexte“ im Umfeld eines literarischen Werkes: „Selbstanzeigen und Interviews, mit denen ein Autor, ein Werk aus seiner Sicht erläutert.“ - Gerard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 1989.
38 Manfred Jurgensen, wie Anm. 23, S. 203.
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Thomas Manns „Tagebücher 1933-1934“. Politische und literarische Aspekte
1934 machte Thomas Mann die entsprechenden Korrekturen für die Veröffentlichung der ersten zwei Bände der Tetralogie, teilte den Stoff in Kapiteln
ein und schrieb an dem nächsten Band fort. Sehr oft beschwerte er sich in
dieser Zeit über Arbeitsunlust und Konzentrationsmangel: nicht möglich,
mich zur energischen Beschäftigung mit dem Roman zu zwingen. Ich „arbeite“ an diesen Aufzeichnungen.“ (TB., S. 43) „Sorge um meine Unlust zur
Fortsetzung des Joseph. Die notwendige stille Begeisterung, möge sie auch
von Zweifeln u. Unzufriedenheit beeinträchtigt sein, schafft nur die Arbeit –
und diese widersteht.“ (TB., S. 36), „Vergebliche Bemühung, wieder zum Erzählen zu kommen. Es fehlen Heiterkeit und Energie.“ (TB., S 226) Oft war
er von der Unzufriedenheit über seine Arbeit gequält: „Mit schwerer Sorge
aber erfüllte mich die anschließende Beschäftigung mit dem II. Bande, dessen ganze erste Hälfte mir als beängstigend problematisch und episch unnütz auf Nerven und Gewissen fiel. Es ist sehr schlimm.“ (TB., S. 118)
Manche Tagebucheinträge enthalten Interpretationen oder Hinweise zur
Deutung, wie zum Beispiel die Zahlenmystik des Joseph-Romans: „Beendete
vormittags die Einteilung und Benennung des 1. Bandes, wobei eine gewisse
Zahlen, die Mystik und zwanglos sich ergebende auf 10, 5 und 7 gestellte
Ordnung mich amüsierte.“ Die Tagebucheintragungen von 15. bis 21. Juni
1933 zeigen, „dass die Gliederung nachträglich ins fertig Komponierte eingefügt wurde, war nicht von Anfang da, obwohl es scheint, dem Roman innezuwohnen“39. Der Diarist wies auf den direkten Bezug zwischen seinem Werk
und seinem Leben hin:
Zu Tränen gerührt wieder von Rahels Tod, wie es beim Schreiben war und bei
jedem Wiederlesen unfehlbar sich wiederholt. Hier spielt die Herkunft der Figur aus meinem Verhältnis zu K. eine Rolle. Nicht umsonst liebt auch sie die
Geschichte Jaakobs und Rahels so sehr. Sie erkennt sie als die idealisierte, die
mythische Darstellung unserer Lebensgemeinschaft. (TB., S. 140)
In dieser Periode tauchte, unter dem starken Einfluss der politischen Ereignisse, die Idee, eine Faustus-Novelle zu schreiben, auf. Hier findet man den
„Ursprung der Konzeption des Doktor Faustus: deutsche Kulturkritik unter
dem Eindruck des Nationalsozialismus, die vom Autobiografischen ausgeht
und ins Mythisch-Symbolische zielt.“40 Der Kontext war das Kapitel „Jakob
39 Peter de Mendelssohn, wie Anm. 1, S. 240.
40 Herbert Lehnert, wie Anm. 9.
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trägt Leid um Joseph“ und ein Artikel über Kulttänze der Indianer, „In beiden Fällen geht es um Urtümliches. Im Text des Josephromans ist von dem
Grauen die Rede, das entsteht, wenn das Urtümliche die Schichten der Gesittung durchbricht“41. Die Rezeption der Lektüre dieser Zeit, die Thomas Mann
mit Genauigkeit verzeichnete, ist mit der Ursprungsidee der Faust-Novelle
eng verbunden: Poes Fall of the House of Usher, die Erzählung William Wilson aus der Edition Faszination des Grauens42 („Las abends William Wilson.
Die Poe-Lektüre paßt besser zu der vorgesehenen Faust-Novelle, als zu Joseph, für den ich den Don Quixote lesen will“; TB, S. 166), Aldous Huxley Artikel aus der Neuen Rundschau über den englischen Schriftsteller D.H.Lawrence mit Bezug auf die Einsamkeit des Genies.
Der Lesestoff dieser Jahre, der für die literarische Arbeit und für seine
seelische Stimmung eine entscheidende Rolle spielte, bestand noch aus
Krieg und Frieden („Vorm Einschlafen Tolstoi, jeden Tag. Mächtig gefesselt
immer.“ (TB., S. 40), „Ein stiller Trost in der Wirrnis ist beständig Krieg und
Frieden, worin ich fortfahre.“ (TB., S. 73), „Die Tolstoi-Lektüre ist mir darum
so gemäß, weil das Sinnlich-Frohe und Positive sich darin so natürlich und
menschlich mit moralischer Gewissenskritik verbindet“; TB., S. 76), Witiko
von Stifter („Mit der Lektüre des bewundernswert langweiligen Witiko fuhr
ich in all diesen Tagen fort und will sie zu Ende führen“; TB., S. 119), Dekamerone. Er schätzte mehr das Klassische, womit er sich identifizieren konnte
(Célines Die Reise ans Ende der Nacht sei dagegen „ein wildes Produkt“;
TB., S. 295). Der Diarist beschäftigte sich auch mit den jüngsten Erscheinungen, die ihm aus Deutschland geschickt wurden, wie z.B. Karl Jaspers’ Buch
über Max Weber.
Thomas Mann registrierte im Tagebuch die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des eigenen literarischen Werkes (die Reaktionen der Kritiker, Kollegen und Freunde) – in diesem Fall die Besprechungen des Bandes Geschichten Jaakobs, womit er sich tief identifizierte („Warme Besprechung
des Jaakob im Berner Bund und im Berliner Tageblatt“; TB., S. 235) oder
Weigands Kritik zum Zauberberg.
Las noch mehrmals in Weigands Buch über den Zauberberg, das eine erstaunlich eindringliche Arbeit ist und freute mich über die Beziehungen zum
41 Ebd.
42 Angelika Abel: Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration, Wilhelm Fink Verlag, München 2003, S. 39.
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Thomas Manns „Tagebücher 1933-1934“. Politische und literarische Aspekte
Wilhelm Meister, die er aufgedeckt, namentlich im Punkte der Ironie... Mit
mehr Recht im Grunde, als Stifter, kann ich von mir sagen, daß ich von
Goethes Familie bin. (TB., S. 231)
Die Notwendigkeit der Anerkennung manifestierte sich im Tagebuch auch
durch das genaue Eintragen der Erfolge auf Vortragsreisen. Über seinen Auftritt im Zürcher Polytechnikum schreibt er am 9.XI.1933: „Die Wirkung schien außerordentlich, der kompakte, einhellige, lange sich hinziehende Beifall
tat mir wohl.“ Der Schriftsteller brauchte sich ständig seiner öffentlichen Anerkennung zu vergewissern.
„So wird die Rezeption seiner Dichtung zu einem Prüfstein des eigenen
Selbstbewusstseins“43 und zur Bestätigung seines Status als repräsentativer
Deutscher.
Literatur:
1.
ABEL, Angelika: Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der
Emigration. München 2003.
2.
AMÉRY, Jean: Politik des Gewissens so und so. Hermann Hesses politische Schrif ten und Thomas Manns Tagebücher, in „Merkur“, 32/ 1978.
3.
BAUMGART, Reinhard: Thomas Manns Tagebücher: ein Roman ohne Autor, in:
Ders., Glückseligkeit und Jammerseele. München/ Wien 1986.
4.
DARMAUN, Jacques: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, Max Niemeyer
Verlag, Tübingen 2003.
5.
DIECKMANN, Friedrich: Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt. Die Tagebücher
1933/1934, in: Sinn und Form, 1980.
6.
FECHNER, Frank: Thomas Mann und die Demokratie: Wandel und Kontinuität der
demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers. Berlin 1990.
7.
FEST, Joachim, “Das Dilemma eines Unpolitischen”, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung/ 13.10.1979.
8.
GENETTE, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M.
1989.
9.
GOLZ, Jochen: Tagebücher, in: Goethe-Handbuch, Bd. 3, Prosaschriften. Stuttgart,
43 Manfred Jurgensen, wie Anm. 23, S. 215.
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183
Laura-Elena Mihăileasa
1997.
10. GÖRNER, Rüdiger: Das Tagebuch. Eine Einführung. München 1986.
11. GÖRTEMAKER, Manfred: Thomas Mann und die Politik. Frankfurt am Main 2005.
12. GÜNTHER, Joachim, Rezensionen, in: Neue Deutsche Hefte, 25/1978 und
26/1979.
13. GUT, Philipp: Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. Frankfurt am Main
2008.
14. HARTUNG, Rudolf, Zu den Tagebüchern 1933-1934 von Thomas Mann, in: Neue
Rundschau, 89/1978.
15. HOFFMANN, Fernand: Thomas Mann von Tag zu Tag. Der große Humanist ganz
intim und menschlich allzu menschlich, in: Ders.: Thomas Mann und seine Welt.
Hildesheim 1992.
16. JURGENSEN, Manfred: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Mün chen 1979.
17. KURZE, Hermann: Thomas Mann - Epoche - Werk - Wirkung. München 1997.
18. DERS.: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 1999.
19. KOOPMANN, Helmut (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch, 3. Aufl. (nach der Krö ner-Verlag-Ausgabe). Frankfurt am Main 2005.
20. LEHNERT, Herbert: Thomas Manns Tagebücher der Emigration 1933-1934, in:
„Orbis Litterarum“ 1979 .
21. MANN, Thomas: Briefe 1889-1936, hrsg. von Erika Mann. Frankfurt a. M. 1961.
22. DERS.: Leiden an Deutschland, Gesammelte Werke XII. Frankfurt a. M. 1960.
23. DERS.: Tagebücher 1933-1934, hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a.M.
1977.
24. DERS.: Über mich selbst. Autobiografische Schriften. Frankfurt a. M. 1983.
25. MEYER, Martin: Tagebuch und spätes Leid. Über Thomas Mann. München 1999.
26. MENDELSSOHN, Peter: Der Zauberer Das Leben des deutschen Schriftstellers
Thomas Mann, Jahre der Schwebe 1919 und 1933. Frankfurt am Main 1992.
27. PÜTZ, Peter: „Thomas Manns Tagebücher. Reaktionen auf die Machübernahme
und deren Folgen“, in Beda, Allemann (Hrsg.): Literatur und Germanistik nach der
Machtübernahme, Bonn 1983.
28. REICH-RANICKI, Marcel: Revisionen sind in Gang. Bekehrungen möglich. Das
Bild des Autors und des Menschen Thomas Mann wandelt sich, in: Frankfurter All -
184
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Thomas Manns „Tagebücher 1933-1934“. Politische und literarische Aspekte
gemeine Zeitung, 15.2.1986.
29. DERS.: Sieben Wegbereiter: Schriftsteller der zwanzigsten Jahrhunderts. München
2002.
30. DERS.: Thomas Mann und die Seinen. München 2005.
31. SELLMER, Isabella: „Warum schreibe ich das alles?”: zur Rolle des Tagebuchs für
deutschsptachige Exilschriftsteller 1933-1945. Frankfurt am Main 1997.
32. WYSLING, Hans: Thomas Mann als Tagebuchschreiber, in: Thomas-MannStudien, Bd. 7. Bern 1987.
***
Thomas Manns Diary 1933-1934. Political and literary aspects
Abstract
After a brief introduction regarding the publication, the content and the reception of Thomas Mann’s diaries, the article examines how the difficult
years 1933-1934 are reflected in the daily notes of the author. The analysis of
the political aspects in the diary refers to Thomas Mann’s criticism of the National Socialism in Germany, which in those years he did not express publicly
for various reasons. The article reveals the fact that, with the coming to
power of Hitler and Mann’s exile, his relationship to Germany, which he
wanted to represent as a national writer, changed. This leads to an identity
crisis that is reflected in his daily notes. The analysis of the literary aspects
captures details of the genesis of literary works, of Mann’s creative process
and difficulties encountered during those years.
***
Schlüsselwörter/Keywords: Tagebuch, Identitätskrise, Exil, Nationalsozialismus, Werkgenese
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185
KRANKHEIT ALS FLUCHT VOR DEM
VERANTWORTUNGSBEWUSSTSEIN IN THOMAS MANNS
DER ZAUBERBERG
Claudia Spiridon
1. Einleitung
Mehr als in anderen Zeitepochen wird in der Moderne das Motiv der Krankheit prägnanter. Nach dem Einsturz einer göttlichen, herrschenden Macht,
bleibt das moderne Individuum auf sich gestellt und muss sich mit seinem
Dasein selbstständig konfrontieren. Es muss die Verantwortung für seine
Handlungen übernehmen und damit zurechtkommen. Hiermit lässt sich infrage stellen, inwieweit die moderne Gesellschaft der Krankheit bedarf. Menschen brauchen eine ihnen überlegene Kraft, die sie von ihrer Schuld befreien soll. Die vorliegende Arbeit möchte diesem Spannungsfeld nachgehen
und aufzeigen, dass Krankheit als Nachweis für soziale Verwirrungen oder
Ängste eingesetzt werden kann.
Im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann wird auf eine Doppelcodierung der Krankheit hingewiesen. Einerseits wird das Krankheitsmotiv als
Rechtfertigung für die Angst vor dem Leben dechiffriert, andererseits sollte
aber nicht ausgelassen werden, dass die Erfahrung der Krankheit und des
Todes im Sanatorium, die Hauptfigur Hans Castorp geistig reifen. 1 Für den
Müßiggang des Protagonisten in Hamburg trägt nämlich nicht das „Flachland“ sondern er selbst, die Schuld.
2. Krankheit als Notwendigkeit
In der Geschichte werden Kranke stets als Künstler bezeichnet; von Platon
bis hin zu Nietzsche, hat Krankheit eine prägnante Erkenntnis mittelnde
Funktion bekommen, sie wird als Triebkraft des Genies bestimmt. 2 Dennoch
werde ich im Folgenden Krankheit nicht als produktive Kraft des Genies präsentieren, ich werde nicht von der These ausgehen, dass das kranke Individuum intensiver schaffen könnte, da die Erkenntnisse, zu denen Kranke
kommen, den Gesunden nicht zugänglich sind, sondern ich werde Krankheit
als Fluchtweg vor dem banalen, hohlen Dasein etablieren, als Unabwendbar1 Vgl. Noble, C. A. M (1970): Krankheit, Verbrechen und künstlerisches Schaffen bei Thomas
Mann. Bern: Verlag Herbert Lang&Cie AG. S. 138.
2 Vgl. Noble 1970: S. 138.
Claudia Spiridon
keit für die soziale Integration.
Die Moderne kennzeichnet sich durch soziale Angst und Neurose. Das Individuum findet keine Kraft, gegen die übliche historische Entwicklung anzukämpfen, und lässt sich zwecklos von der gesellschaftlichen Anordnung treiben. Es ist nicht mehr in der Lage, die Wissensfülle seiner Persönlichkeitsstruktur einzugliedern und sich nutzbar zu machen. Der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts findet in seinem Inneren keinen Halt mehr und flüchtet in die Konvention. Er hat keine Ideale, und ständig wird sein Dasein von
der Angst der Versäumung geprägt. Durch tägliche Kompromisse geht die eigene Identität des Ichs verloren und allmählich kommt das Individuum zum
Verfall. Das Subjekt aber löst sich von der Schuld seines Scheiterns auf und
erklärt sich krank; und somit wird Krankheit zur Rechtfertigung von Misserfolgen.
Thomas Manns Werk kennzeichnet sich durch den Zusammenhang von fiktiven und wirklichen Welten. Das Irreale bietet im Gegensatz zum Realen vielseitige Möglichkeiten an. Der Held des Zauberbergs bedarf eines Bildungsverfahrens an dessen Ende, er tiefsinnige Erkenntnis gewinnen soll, demzufolge platziert der Schriftsteller Hans Castorp auf den verzauberten Berg. 3
Hans Castorp, ein gewöhnlicher Bürger, der in Hamburg lebt, kann durch
keine hervorragende Leistung oder Fähigkeit definiert werden. In den ersten
Kapiteln präsentiert ihn der Autor als einen ganz durchschnittlichen, für
einen nützlichen Beruf bereiten jungen Mann, der nach mehrjährigem Studium eine praktische Ausbildung als Ingenieurvolontär bei einer Marinewerft
beginnen soll. Er ist „weder ein Genie, noch ein Dummkopf“ 4, wobei sich
sein Alltag durch „Pflichten, Interessen, Sorgen“ beschreiben lässt.5 Er
scheint der Typ zu sein, der sehr fest an dem Ablauf der Geschehnisse gebunden ist. Zu beschäftigt mit üblichen Problemen, fragt er sich niemals, wieso
er die Sachen, die er unternimmt, eigentlich tut. Er befasst sich damit, nur
um aktiv zu sein und nicht weil er es genießen würde; ein Subjekt, der nur
Geschichten von anderen rekonstruiert und keine selbstständige Persönlichkeit besitzt.
Die Reise zu seinem Vetter möchte er „rasch abtun, weil sie abgetan werden
3 Vgl. Noble 1970: S. 137.
4 Mann 1980: S. 48.
5 Mann 1980: S. 10.
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Krankheit als Flucht vor dem Verantwortungsbewusstsein in Thomas Manns „Der Zauberberg“
musste.“6 Folgendermaßen klingt die Beschreibung, die ihm der Autor gewährt.
Wenn man ihn sprechen hörte: gelassen, verständig, ein bisschen hohl und
eintönig, mit einem Anflug von platt (...) mit seinem gut geschnittenen, irgendwie altertümlich geprägten Kopf (...) im Stehen und Gehen schob er den
Unterleib etwas vor, was einen nicht eben strammen Eindruck machte. 7
Ganz oft besteht Thomas Mann auf den ordentlichen Eindruck, den Castorp
hinterlässt. Nicht nur dass er sauber und gepflegt aussieht, sondern sein ganzes Leben basiert auf Ordnung. Er ist der konservative Mann, der seine Sachen am Platz lässt und niemals übertreibt, opfert sich für keine Ziele oder
Träume auf, da er andauernd von der Angst des Misserfolgs verfolgt wird:
„Was er am liebsten werden wollte, wusste er lange nicht recht (...)und als er
sich entschied (dass er sich entschieden hätte, wäre beinah schon zu viel gesagt), fühlte er wohl, dass er sich ebenso gut anders hätte entscheiden können.“8 Der Held braucht Stabilität und führt sein Leben im Gleichgewicht, da
er befürchtet, zu scheitern. Er riskiert niemals und lässt sich von dem Zeitgeist leiten, ohne jemals zu widerstehen: „Wie hätte Hans Castorp die Arbeit
nicht achten sollen? (...) sie musste ihm als das unbedingt Achtungswertste
gelten, es gab im Grunde nichts Achtenswertes außer ihr, sie war das Prinzip,
vor dem man bestand, das Absolutum der Zeit.“9 Durch Vernunft konstruiert
er die Barriere zu seinem Gemüt. Sein Dasein richtet sich nach der These,
dass nur Ordnung und Gewohnheit ihn absichern können, dagegen sind veränderte Verhältnisse nachteilig und können sogar zur Zerstörung führen. Er
hält sich von Experimenten fern, wird niemals mit Neuem konfrontiert und
entwickelt sich dementsprechend nicht.
Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden (...) durch
das rechnerische Wesen des Geldes ist in das Verhältnis der Lebenselemente
eine Präzision, eine Sicherheit in der Bestimmung von Gleichheiten und Ungleichheiten, eine Unzweideutigkeit in Verabredungen und Ausmachungen. 10
6 Mann 1980: S. 10.
7 Mann 1980: S. 48.
8 Mann 1980: S. 50.
9 Mann 1980: S. 52.
10 Simmel, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben in Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 119.
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Claudia Spiridon
Somit zeigt sich das lineare und stumpfe Dasein des Protagonisten als Folge
dessen Ängste und nicht unbedingt als Folge einer stumpfen Realität, die
keine Möglichkeit zur Steigerung anbietet, wie es der Autor beurteilt. Der
Held bleibt ein Einzelwesen, das aus Gewohnheit und Pflicht sein Leben weiterführt, da er nicht weiß, wie er es anders genießen könnte. Er folgt nicht
den Impulsen seiner Persönlichkeit, sondern flüchtet in vorgegebene Rollen.
Dieser ist also der Jüngling, der seinen Vetter Joachim, im Sanatorium Berghof, nahe Davos besucht. Thomas Mann wählt diesen Schauplatz
nicht zufällig. Kathia, seine Frau, wurde wegen eines Katarrhs in Lungensanatorium Davos untergebracht, aber sie widerstand schließlich der Versuchung, den knapp vierwöchigen Aufenthalt, gemäß Empfehlungen auf ein
halbes Jahr oder mehr zu verlängern.11 „In Davos hatte man 1889 das erste
Sanatorium dieser Art gebildet. Es lebten dort 1912 annähernd 30 000 Tuberkulose-Kranke in Hotels, Pensionen sowie fast 20 Sanatorien und hofften
auf die segnerischen Wirkungen der Höhenluft.“12
Thomas Manns Roman dient als Präsentation des dekadenten Zustands der
modernen Zivilisation, indem es ein Untergangs-Szenario durch eine Dialektik von Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit entwirft. 13 „Die Figuren
sind lauter Exponenten, Repräsentanten und Sendboten geistiger Bezirke,
Prinzipien und Welten.“14 Die Krankheit steht hier im Gegensatz zum Leben
und soll über die Schwierigkeiten des Alltags hinwegtäuschen.15 Jeder der im
Sanatorium ankommt, erkennt die Krankheit als „allgewaltigen Zeremonienmeister an und geht gänzlich in die Atmosphäre des Berghofs auf.“16
Als Castorp in Davos eintrifft, ist er noch fest davon überzeugt, dass er nach
drei Wochen zurückreisen und den vorgesehenen Arbeitsplatz in Hamburg
einnehmen wird. Aber schon nach wenigen Stunden verspürt er einen verwirrenden Zauber und bekundet ein auffälliges Interesse für die Welt der
Krankheit. Man stellt heraus, dass Castorp längst etwas „Nachsommerli11 Vgl. Eberhard 1983: S. 66.
12 Virchow in Neumann, Michael (2002): Thomas Mann. Der Zauberberg. Kommentar.
Band 5.2. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. S. 66.
13 Vgl. Neumann 2002: S. 106.
14 Mann in Neumann 2002: S. 67.
15 Vgl. Neumann 2002: S. 108.
16 Eberhard 1983: S. 76.
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Krankheit als Flucht vor dem Verantwortungsbewusstsein in Thomas Manns „Der Zauberberg“
ches“ in sich hätte, und dass das Klima „hier oben“ die Krankheit nur zur
Oberfläche gebracht hat. Daher vollzieht er überraschend schnell eine „Umwertung des Krankheitsprinzipes,“17 das er jetzt zu schätzen beginnt. Die
Welt „unten“ stößt er ab und beschließt, sich als Patient zu erklären.
Es lässt sich infrage stellen, warum Castorp sich nicht von dem Bann des
Berges befreien kann? Schon nach seiner ersten Woche auf dem Zauberberg
rechnet Castorp die monatlichen Kosten für ein Leben „da oben“ und vernimmt auch die Möglichkeit da zu leben: „Du brauchst also rund 650 Franken den Monat für Wohnung und Essen, und dabei ist ja die ärztliche Behandlung schon einbegriffen.“18
Die Atmosphäre in Davos verführt ihn durch das Sonderbare, wobei
die Stimmung im Sanatorium im Gegensatz zu der Stimmung auf dem Flachland steht. Hans Castorp wird in einer Höhenluft versetzt, die ihn von den
alltäglichen Pflichten auflöst. Die Luft in Davos scheint aber nicht nur das
Fieber zu heilen, sondern es auch zu bewirken. Schon bei den ersten Anzeichen misst er sein Fieber ab und muss feststellen, dass er 37,6 Grad hat, sodass er die Entscheidung trifft, sich beim Herrn Hofrat Behrens untersuchen
zu lassen. Dieser stellt fest:
Die Sache verhält sich so praeter-propter, wie ich sie mir schon immer gedacht hatte. Ich habe Sie auf dem Strich gehabt Castorp (...) schon seit ich zuerst die unverdiente Auszeichnung hatte, Sie kennenzulernen - und ziemlich
sicher vermutet, dass Sie ein hiesiger wären und das auch noch einsehen würden.19
Der Hofrat meint weiter: „Wenn Sie's da unten so weiter treiben, mein Lieber, so geht Ihnen der ganze Lungenlappen zum Teufel“. Diese ist die Aussage auf die Castorp gehofft hat, da er die Krankheit braucht, um sich anpassen
zu können. Ebenfalls wird sie ihm als Rechtfertigung dienen, falls es sich
zeigt, dass sein Entschluss, dort zu bleiben, falsch war. Hiermit wird nachvollziehbar, dass Castorp ein Typ ist, der nicht den Mut hat, die Verantwortung seiner Entscheidungen selbst zu übernehmen. „Er gehört jener Generation an, die Ziel und Weg verloren hat, und so ist er Erbe der romantischen
Sympathie mit dem Tode, deren physischer Ausdruck die Krankheit ist. Er
17 Eberhard 1983: S. 69.
18Mann 1980: S. 228.
19 Mann 1980: S. 54.
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Claudia Spiridon
verfällt dem der Welt entfremdeten Leben der Patienten“.20
Die Welt des Zauberbergs zerstört Castorps Angst vor dem Leben, da sie die
Brücke zu einem sorglosen Dasein, das keine Maßstäbe stellt, schlägt. Es gibt
keine Normen, denen sich der Protagonist unterstellen muss, keine Verpflichtungen, mit denen er nicht zurechtkommen könnte. Hiermit ist er frei
sich nach seinem eigenen Willen zu entwickeln und nicht mehr zu befürchten, dass er etwas nicht gut machen würde. Die Welt „hier oben“ bietet ihm
einen Raum, in dem er unbekümmert von Moral und Ordnung existieren
kann. Der Protagonist muss nicht mögliche Zwänge durchmachen, da hier
keine Anforderungen gestellt werden, mit denen er nicht zurechtkommen
könnte. In der Welt des „Berghofs“ tritt für Castorp Ruhe ein, weil der Zauberberg eine „hermetisch abgeschlossene Provinz bildet, für die das ewige Einerlei charakteristisch ist.“21 Sie kompensiert seine öde Wirklichkeit und bietet ihm vielseitige Möglichkeiten an. Auf dem Plateau der Zeitlosigkeit muss
Hans Castorp nicht mehr die günstige Gliederung der Zeit erlernen. Er wird
von der Aufgabe, sich die Zeit nützlich zu einteilen, absolviert, wobei er sich
keine Sorgen für das sinnlose Vergehen der Zeit zu machen braucht.
Hiermit zeigt sich, dass Castorp die Krankheit erfordert, um sich neu orientieren zu können. Er möchte aber nicht für seine Entscheidungen einstehen,
da er Angst hat, einen falschen Entschluss getroffen zu haben und braucht
die Krankheit, um sie als Erlöser seiner Schuld einsetzen zu können.
3. Krankheit als Ausflucht vor dem Liebesgeständnis
Nicht nur die „Aura der Unheimlichkeit“22 zieht Hans Castorp in die Gesellschaft des Zauberbergs hinein, sondern die Sinnlichkeit der Madame
Chauchat, ist die, die mehr Aufsehen erregt. Im Anschluss an ihrer Bekanntschaft, wird der Krankheit immer mehr Platz eingeräumt:
Von Zeit zu Zeit wird immer noch mein Taschentuch rot, wenn ich es benutze,
und die verdammte Hitze im Gesicht mitsamt dem sinnlosen Herzklopfen
20 Noble 1970: S. 137.
21 Eberhard 1983: S. 67
22 Sprengler in: Beßlich, Barbara (2002): Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler. Berlin: Akademie Verlag. S. 57.
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Krankheit als Flucht vor dem Verantwortungsbewusstsein in Thomas Manns „Der Zauberberg“
werde ich auch, wie es scheint, bis zum Schluss, nicht mehr loswerden. 23
Castorp ruft sich das hervor, um dem Liebesgeständnis zu entgehen und
nützt die Erscheinung des Fiebers als eine Rechtfertigung für seine Leidenschaft. Die Anziehungskraft der Krankheit soll jedoch auf Clawdia Chauchat
übertragen werden, weil diese seine „Erkrankung“ bewirkt.
Eine Ähnlichkeit zwischen Clawdia Chauchat und einem ehemals von Castorp geliebten Schulkameraden namens Hippe fällt auf, wobei in beiden Fällen das Versagen einer realen intimen Liebesbeziehung zutrifft.
Thomas Mann wählt das Kunstspiel des Traumes um vergangene Geschehnisse zu vergegenwärtigen, und bringt den jungen Castorp in den Vordergrund, der aus der Ferne Hippe beobachtet: „er interessierte sich für ihn,
folgte ihm mit den Blicken (...) bewunderte ihn“ 24, hat aber nicht den Mut
sich ihm anzunähern. Castorp ist glücklich nur, wenn er Hippe sprechen
oder lachen sieht und zieht sich in seine Fantasiewelt zurück, vor Angst, abgewiesen zu werden. Zu einem Liebesgestädnis „eignete er sich nicht und
verlangte auch nicht danach“.25 Castorp wagt nur einen Bleistift von Hippe
zu verlangen, welches er fast ein ganzes Jahr in einer Schublade bewahrt.
Vor Angst, dass er an der Erfüllung seines Traumes scheitern wird, wählt
Castorp sich fern von Trieben und Verlangen zu halten. Er beschließt ein sicheres Leben zu führen, weil er Veränderungen nicht gern hat. Die Angst vor
Versagen übt einen hohen Einfluss auf seine Existenz, daher entdeckt er
auch nie die Wollust der Liebe: „er hatte sich an sein stilles und fernes Verhältnis zu Hippe im Herzen gewöhnt und hielt es im Grunde für eine bleibende Einrichtung seines Lebens.“26
Obwohl Jahre verstrichen sind, und Castorp jetzt erwachsen ist, weist er ein
ähnliches Benehmen auch in seiner Beziehung zu Madame Chauchat auf. Am
Anfang bewahrt er eine gewisse Distanz zu ihr, obwohl „sein ganzes Benehmen – beinahe jede Bewegung, jede Tat, jedes Wort – von seiner Libido bestimmt wird.“ 27 Erst nach mehreren Begegnungen wagt er, sich ihr anzunähern und gesteht ihr im Verlauf der Faschingsnacht seine Liebe. Am zweiten
23 Mann 1980: S. 231.
24 Mann 1980: S. 171.
25 Mann 1980: S. 171.
26 Mann 1980: S. 172.
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Tag verlässt Chauchat dennoch das Sanatorium, sodass sich Castorp in stiller
Resignation zurückzieht. Sie kehrt erst später wieder zurück, jedoch begleitet von ihrem Liebhaber, Herrn Mynheer Peeperkorn.
So wird Hans Castorp die Eindrücke, Gefühle, Sehnsüchte und Wünsche seiner erotischen Kindheitsfreundschaft mit Hippe später auf die Beziehung zu
Clawdia Chauchat übertragen, um sie bei diesem so leidenschaftlich bewegten
und verdichteten Erlebnis wiederzufinden.28
Nach der endgültigen Abreise von Madame Chauchat werden alle Hoffnungen, die der Protagonist auf diese Liebe projiziert hatte, zerstört. Er steht
jetzt desillusioniert und verzweifelt da, und braucht seine Krankheit nicht
mehr. Daher beginnt sich der Zauberberg allmählich zu entzaubern, sodass
er in die Stadt zurückkehrt. In Clawdia verhehlt sich das Prinzip der „Hemmungslosigkeit und Unbegrenztheit“29, durch sie erfährt er „die Verführung
zu Krankheit und Verfall.“30 „Ihre stille Verheißung bewirkt Entbürgerlichung.“31
Wegen seiner Berechenbarkeit und Exaktheit entfesselt Castorp niemals seine irrationalen Impusle, und konstruiert so eine eigene innere Wirklichkeit
als Schutz vor der wahren Realität. In diesem Punkt lässt sich das Problem
der Moderne anschaulich durchblicken: Simulation und Illusion überschreiben die Wirklichkeit.
Das Chauchat- Erlebnis bestimmt den Höhepunkt von Castorps romantischer Sympathie mit der Krankheit. Die Empfänglichkeit für die Krankheit
lässt sich als leidenschaftliches Interesse an der Liebe erklären. Eine Liebe,
die aus Angst nicht gestanden werden kann, sodass er letztlich diesem Zustand bedarf, um sich von der Verantwortung der Ablehnung entziehen zu
können. Die Triebe, die Castorp in der realen Welt verdrängt, können auf
dem verzauberten Berg freigelassen werden, da hier die Macht der Krankheit
über alles herrscht und für alle Fehlschläge die Schuld trägt.
27 C. A. M. Noble 1970: S. 139.
28 Noble, C. A. M. 1970: S. 140.
29 Eberhard 1983: S. 72.
30 Ebda. S. 70.
31 Ebda. S. 70.
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Krankheit als Flucht vor dem Verantwortungsbewusstsein in Thomas Manns „Der Zauberberg“
4. Schlussfolgerungen
Die starke Sympathie mit der Krankheit steht als Ausdruck eines Hervorrufens des Unbewussten. Heutzutage hat man Angst, ohne ein sicheres Alibi,
nach eigenem Willen zu handeln. Man stellt sich verschiedene Masken auf,
um sich ausdrücken zu können, und Krankheit bestimmt eine davon. Krankheit bietet Freiheit und Verantwortungslosigkeit an. Ordnet man sich nicht
unter den universellen Normen ein, oder scheitert man an die Erfüllung der
Ansprüche, die das Kollektiv bestimmt, so übernimmt die Krankheit die gesamte Verantwortung für das Irrationale, oder gilt als Rechtfertigung falls eines Verfalls.
Anhand des Romans Thomas Manns, Der Zauberberg, konnte ich beweisen,
dass man , für die Befreiung des Inneren, der Krankheit bedarf. Zudem wurde ersichtlich, dass Hans Castorp für das moderne Individuum, dessen Dasein von Ängsten geprägt ist, als Typus gilt. Er zeichnet fast alle Zeitgenossen
aus und bildet die Anlage seiner Generation.32
Literatur:
Primärliteratur:
1.
MANN, Thomas (1980): Der Zauberberg. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
Sekundärliteratur:
2.
ADORNO, Theodor / HORKHEIMER, Max (1969): Begriff der Aufklärung. In:
Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, S. 9 – 50.
3.
BESSLICH, Barbara (2002): Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald
Spengler. Berlin: Akademie Verlag, S. 43 – 89.
4.
HILSCHER, Eberhard (1983): Der erste Weltkrieg und die zwanziger Jahre. In: Thomas Mann. Leben und Werk. Westberlin: Das europäische Buch Verlag, S. 53 – 89.
5.
NEUMANN, Michael (2002): Thomas Mann. Der Zauberberg. Kommentar. Band
5.2. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, S. 9 – 126.
6.
NOBLE, C. A. M. (1970): Krankheit, Verbrechen und künstlerisches Schaffen bei
Thomas Mann. Bern: Verlag Herbert Lang&Cie AG, S. 136 – 157.
32 Vgl. Noble 1970: S. 144.
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Claudia Spiridon
7.
SIMMEL, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben. In: Aufsätze und Ab handlungen 1901-1908. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 116 – 132.
***
Illness as an escape from one’s sense of responsibility
Abstract
In the modern age, in which pretense and illusion can substitute reality, illness can
become an alibi for social confusion. It can justify failure, thus invalidating the fear
of defeat. Analysing Thomas Mann's character from “The Magic Mountain”, Hans
Castorp, this study concludes that illness allows the individual to afford the luxury of
escaping the burden of responsibility by conferring him freedom. Castorps strong
sympathy for illness is the expression of his subconscious' power. He needs illness in
order to escape his dull existence and to avoid confessing his love for Clavdia
Chauchat. Therefore, he is the representative of the modern individual, whose existence is determined by fears; he is the product of his generation.
***
Schlüsselwörter/Keywords: das moderne Individuum, Sympathie zur Krankheit, soziale Verwirrung, Verantwortungslosigkeit, Rechtfertigung von Misserfolgen,
Angst vor Versäumnis.
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ADOLF MUSCHGS „MITTELALTERLICHE“ RITTERDAMEN –
IDENTITÄTSENTWÜRFE PER SE
Dilek Altinkaya Nergis
In seinem Roman Der Rote Ritter aus dem Jahr 1993 greift der zeitgenössische Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg das Parzival-Epos 1 Wolfram von
Eschenbachs auf und gestaltet den mittelalterlichen Stoff aus der Perspektive
der Gegenwart. Freilich kommt bei dieser Neugestaltung des Parzival-Stoffes
der Geschichte um den Roten Ritter eine entscheidende Schlüsselrolle zu,
auch wenn Muschg sie im Kontrast zu Wolfram von Eschenbachs Version
umgestaltet und ihr eine andere Gewichtung verleiht.
Auch wenn die höfischen Dichter ihre Werke nicht zu bloßen Unterhaltungszwecken verfasst haben, sondern um die modellhafte Suche ihrer Helden
nach der eigenen Lebensbestimmung nachzuzeichnen und sich dabei ihrer
eigenen sozialen Aufgabe bewusst zu werden versuchten (vgl. Bumke, 1990:
98), hatten diese mittelalterlichen Werke immer eine konventionelle Vorbildfunktion, die in der Gegenwart nicht mehr realisierbar ist. Ganz in diesem Sinne nimmt Muschg zwar die bei Wolfram bereits vorhandenen Grundriss-Konstellationen des Parzival-Stoffes auf, verleiht ihnen jedoch durch seine eigene Aus- und Umgestaltung eine andere Funktion. Man könnte fast davon sprechen, dass Muschg auf dem Hintergrund der Parzivals-Geschichte
eine allgemeine Menschheitsgeschichte nachzeichnet, die dem Menschen unserer Zeit Hoffnung nach Erfüllung im Leben bieten kann, wie er das selber
in einem Gespräch mit der Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Beatrice von Matt zum Ausdruck gebracht hat:
Der Roman entdeckt die Vernetzung von allem mit allem: er erfüllt, in seinem
Helden, zugleich ein Gattungsgesetz und eine durchaus aktuelle Menschheitshoffnung. Dabei finde ich die Dialektik von Sünde und Gnade nirgends findiger, vieldeutiger, humorvoller entwickelt als in Wolframs großer Vorlage, auf
die ich mir meinen neuen Vers zu machen suche. (Beatrice von Matt,
13./14.1.1990)
Diesbezüglich rückt bei Muschg entsprechend der emanzipierten Position
des Subjekts in der Moderne, wie es auch Claudia Wasielewski-Knecht formuliert, nicht zuletzt, “der Mensch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
1 Neben Muschg haben sich u.a. auch Tankred Dorst, Dieter Kühn, Peter Handke und Christoph Hein mit dem Parzival-Stoff auseinandergesetzt und dabei Werke von unverkennbarer
Aktualität verfasst.
Dilek Altinkaya Nergis
Auch in der Literatur der Moderne geht es nicht nur um die Suche nach der
eigenen Identität, sondern um eine allumfassende ‘unio mystica’, wenn nicht
mit Gott, dann säkularisiert, mit der Natur oder dem Kosmos” (WasielewskiKnecht, 1993: 306). Und dieser Sachverhalt ist, um mit Nicola Bock-Lindenbeck zu sprechen, daraufhin zurückzuführen, dass die Gesellschaft mit
zunehmender Rationalität einen Sinnverlust in Kauf nehmen musste, indem
tradierte sinn- und identitätsstiftende Weltbilder zerstört wurden, was wiederum das Bedürfnis nach Sinnbildung steigerte, und in diesem Sinne die
“apokalyptische Bedrohung der Menschheit [...] die Entstehung alternativer
Orientierung” herausfordert (vgl. Bock-Lindenbeck, 1999: 259-260). Diese
Neuorientierung, die eine Alternative zu Wolframs als Identitätsentwurf
konzipiertem Werk “Parzival” darstellt, können wir gerade in den Schicksalsdarstellung der von Muschg in die Gegenwart projizierte Parzival-Figur,
in den Gestalten der Ritterdamen und dem gesamten Romanpersonal des
1000 Seiten umfassenden Romans eindrucksvoll verfolgen. Denn alle Figuren scheinen nur dann glücklich und mit sich zufrieden, wenn sie ihren inneren Identitätsentwurf optimal verwirklichen und ihr Dasein frei entfalten
können. Da aber zwischen den Rollenverteilungen und Erwartungen an das
Individuum und seinen Bedürfnissen und dem tatsächlichen Handeln in der
Regel keine Übereinstimmung besteht, kann diese Rolle individuell interpretiert werden.
Identität zu haben bedeutet also, dass die eigene Persönlichkeit gemäß ihrer
Anlage zum Ausdruck gebracht und in die konkrete Lebensführung umgesetzt werden kann, das heisst, dass die meisten der verborgenen Wünsche
frei zur Erfüllung gelangen können. Identität schließt letztlich auch die eigene Rolleninterpretation und einen freien Identitätsentwurf ein, trotz der Erwartungen des Gegenübers bzw. der Gesellschaft. Und damit steht eine
Grenzüberschreitung bevor, die einen Bruch mit der Tradition und der sozialen Integration bedeuten kann. Das Individuum muss daher ein angemessenes Verhältnis zwischen der Rollenübernahme und seinem Rollenentwurf
finden, wobei sich eben diese angesprochenen gesellschaftlichen Normen
und eigenen Wertvorstellungen nicht immer mit denen der Gesellschaft decken. Diese sämtlichen Phasen der Entwicklung Parzivals als auch die innere
Struktur aller Sozialisationsinstanzen sind werkimmanent in der rollentheoretischen Behandlung des Protagonisten und der Ritterdamen zugänglich.
Und der Weg der Selbstfindung bzw. Identitätsfindung ist bei Muschg verbunden mit der Idee der “Literatur als Therapie” (Muschg, 1981), wie er seine Frankfurter Aufzeichnungen vielsagend betitelt.
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
Da sich letztlich alle arturischen Helden immer als vorbildliche Erlöserfiguren mit bedeutender innerer Entwicklung und Selbstfindung offenbaren, die
nicht nur sich, sondern auch anderen helfen, könnte dieses existenzielle Problem der Identitätsfindung, deren Komponenten in Parzivals Lebensweg besonders stark zum Ausdruck kommen, eine Erklärung dafür darstellen,
warum sich Adolf Muschg gerade in unserem Zeitalter einer Neuschöpfung
des Parzival-Stoffkreises zuwandte. Muschg bezeichnet selbst in einem Interview mit Hartmut Kirchner die Geschichte Parzivals als exemplarisch für die
Suche des Menschen nach seinem verheißenen Glück, denn schließlich geht
Parzival keinen geraden Weg, sondern viele Irrwege und Umwege, und sein
Leben ist vor allem ein Kampf mit sich selbst, denn es
führt erst nach mannigfachen Fehlschlägen, tiefster Verzweiflung, Erniedrigung und Gottesferne über Buße und Läuterung zum Ziel: zur sozial eingebundenen Selbstverwirklichung, zur ich-überschreitenden Menschlichkeit.
Wenn Identität derart in der Selbstbescheidung gefunden wird, kann am Ende
das Symbol der Glückssuche, der Gral, einfach vom Erdboden verschwinden.
(vgl. Kircher, 25. März 1993)
Der heilenden Kraft des Grals bedarf am Ende eigentlich niemand mehr.
Eher wird das “Ding” des Grals Josef Bättig zufolge durch Mediävistik, Semiotik, Literaturwissenschaft und vor allem Psychologie ersetzt, wobei “Lehrer und vor allem Frauen als positive, in die Zukunft weisende Kräfte an diesem Weg der Selbstfindung” (Bättig, 15.10.1994) partizipieren. Betrachtet
man bereits die Welt, in die Parzival hineingeboren wird, so stellt sie sich wie
zuvor im mittelalterlichen Vorbild als eine verkehrte Welt dar, die gekennzeichnet ist durch ein gestörtes Geschlechterverhältnis. Mann und Frau zusammenzuführen und dies zu klären ist eines der Hauptanliegen des Romans Adolf Muschgs, wie dies bereits bei Wolfram von Eschenbach als “man
und wîp diu sint al ein” (Eschenbach, 2000: 173,1) formuliert wurde. Muschg
hingegen definiert das Streben nach dieser Ganzheit als gottgewollt: “er hat
uns Halbe geschaffen, damit wir nach etwas Ganzen streben lernen”
(Muschg, 1993: 374). Diese Welt bedarf genauso wie bei Wolfram einer Erlösung, für deren Vollzug Parzival der Hoffnungsträger ist. Aber um dies bewerkstelligen zu können, muss Parzival zunächst seine eigene Identität erlangen, wobei er mitten durch die konträren Pole von Liebe und Leid bzw.
Leben und Tod gehen muss. Denn bereits sein Name Parzival bedeutet “mitten durch”, und somit aber auch: “geteilt in zwei”, oder auch“Freund und
Feind. Frau und Mann. Gott und Welt. Das Eigene und das Andere. Erst
wenn der Riss auch mitten durch ihn selbst geht, ist der erste Schritt zu seiZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Dilek Altinkaya Nergis
ner Heilung getan” (Muschg, 1994: 99). Muschg beschreibt den Lebensweg
seiner Romanhelden diesbezüglich wie folgt:
Sie kämpfen alle mit sich selbst, die Liebenden dieser Fabel [...] und werden
einander so brüderlich und schwesterlich verwandt. Aber das wissen sie niemals vorher. Sie müssen es erfahren haben, und das erfährt keiner, der unterwegs nicht an sich gründlich irre geworden ist. Die Liebe ist kein Wanderweg,
die Wegweiser dazu stehen immer erst am Ziel, und da werden sie nicht mehr
benötigt. Denn da weiß man auch ohnedies: Hier war ein Weg – mein Weg.
(Muschg, 1994)
Wie sich aus den Worten Adolf Muschgs zeigt, handelt es sich bei den Abenteuern seiner Helden auf dem Weg ihrer Selbstfindung immer um die Liebe,
und somit auch um das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die einander
erst verwandt werden müssen. Muschg selbst charakterisiert seinen Parzival
als einen “ökologischen Roman”, in dem weit auseinanderliegende Dinge
und Personen als verwandt zusammengeführt werden, wenn sie sich auch
auf den ersten Blick nicht als verwandt zu erkennen geben (Schenkel, 26.
September 1993). Und gerade darin liegt das Aktuelle an dieser Ritter-Geschichte, dass sie Muschgs Worten zufolge “aus Jedermanns Stoff geschnitten [ist] – ja, wohl eher jedes Mannes; obwohl – oder weil – er allerhand mit der Anerkennung der “weiblich” genannten Anteile und Phantasien
im Mann zu tun hat: diesem Halbfertigprodukt mit dem Defekt in den Genen” (Muschg, 1994: 19). Zu diesem Zweck deutet der zeitgenössische
Schweizer Autor die religiöse Parabel des Parzival um, und gestaltet sie neu
zu einer “Utopie eines göttlichen Spiels partnerschaftlicher Verbindungen”
(Schenkel, 26. September 1993), wie er es selbst ausdrückt.
Offensichtlich geht es in all den Beziehungsgeflechten dieses zeitgenössischen Romans stets um das schwierige und weitläufige Thema des Verhältnisses zwischen von Mann und Frau, die keineswegs voneinander zu trennen
sind, und zusammengeführt werden müssen auf dem Weg der Selbstfindung
Parzivals aus dem Mittelalter in die Gegenwart. Dies vollzieht sich im Roten
Ritter Adolf Muschgs vor allem mithilfe der Gestaltung der Ritterdamen im
Umkreis Parzivals, die mit ihren Abweichungen vom Original Wolframs
einen Identitätsentwurf per se schaffen, der ihren mittelalterlichen Vorgängerinnen aufgrund der traditionellen Geschlechter- und Rollenverteilung innerhalb ihrer zugehörigen Gesellschaft und Epoche versagt bleiben musste.
Selbstverständlich ist es erst dem zeitgenössischen Autor Adolf Muschg möglich, die Grundlage für eine gesellschaftliche Darstellung der Frauen der
200
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
Stauferzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit zu schaffen. Diese alternative
Frauenpräsentation Muschgs als Selbstfindungsprozess soll im Folgenden
exemplarisch für die anders als bei Wolfram von Eschenbach gestaltete Konstellation um den Roten Ritter dargestellt werden. Da es jedoch unmöglich
ist, alle identitätsstiftenden Differenzen der Ritterdamen im einzelnen aufzuführen, setzt sich der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung in erster
Linie mit den wichtigsten Frauenfiguren auf den Stationen des Helden auf
seinem Weg aus der existenziellen Krise auseinander. Schließlich verdeutlichen erst diese Stationen und Frauenfiguren die Differenzen, die den Werken Eschenbachs und Muschgs zugrunde liegen, und eröffnen den Weg zum
Verständnis der Identitätsproblematik in Muschgs Werk.
Parzival hat in Muschgs Roman ebenso wie bei Wolfram von Eschenbach wegen seines großen Wunsches, ein Ritter der Tafelrunde zu werden und das
Gralkönigtum für sich zu gewinnen, Sünden begangen, die in der ritterlichen
Gesellschaft nicht geduldet werden können und für einen ehrenhaften Ritter
unverzeihlich sind. Sein Handeln steht somit auf all seinen Durchgangsstationen auf dem Weg seiner Selbstfindung aus der Lebenskrise von Anfang an
unter einem unheilvollen Zwang. Vor allem bei den Frauen bewirkt und hinterlässt er Kummer und Leid. Durch seinen Ausritt aus der Obhut “Soltanes”,
wo seine Mutter Herzeloyde ihn in aller Abgeschiedenheit von der Ritterwelt
erzieht, um ihn vor demselben Ritterschicksal seines Vaters zu bewahren,
bricht er ihr das Herz und leitet dadurch ihren Tod ein. Auf seinem weiteren
Weg bricht er in das Zelt der Ritterdame Jeschute ein, verletzt ihre Ehre und
stiehlt noch dazu ihren Ring. König Ither ermordet er für die von ihm so heiß
begehrte Ritterrüstung, die er ihm regelrecht vom Leib reißt und sich mit ihr
von nun an identifiziert:“Jetzt bin ich der Rote Ritter” (Muschg, 1993: 356)
Auf der Gralsburg unterlässt er die heilversprechende Frage an seinen ihm
fremden Onkel Anfortas, die den Kranken von seinen Qualen erlösen und
ihn selber zum neuen Gralskönig machen sollte. Auch in seinen Herzensangelegenheiten verhält sich Parzival nicht recht, denn um seinetwillen erleidet
Cunneware eine harte Strafe; bei Gurnemanz enttäuscht er die junge Liaze;
und außerdem lässt er in seinem ritterlichen Wahn später auch seine Gattin
Condwir amurs nach kurzem Glück schwanger zurück. Das wäre der zusammengefasste Abstieg Parzivals in die Sünde, mit der er nach der auf das Frageversäumnis folgenden Verfluchung Kundrys am Tiefpunkt seiner ritterlichen Karriere und dem eigentlichen Höhepunkt seiner Identitätsproblematik
ankommt: “Eines Tages zog Einer aus, um Einer zu werden. Als erstes ist er
ein Frauenschänder geworden. Als zweites ein Räuber. Als drittes ein
Mörder” (Muschg, 1993: 555).
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In diesen Worten wird der Weg Parzivals zu König Artus’ und der Ritterwelt
nach seinem Auszug aus Soltane zusammengefaßt nachgezeichnet, der stets
von entscheidenden Ritterdamen begleitet und geleitet wird. Und dabei bezeichnen alle Frauenfiguren mit ihren Namen die Stationen von Parzivals innerer Entwicklung, wie es bereits Reinacher feststellt hat: “Herzeloyde behütete eigensinnig seine Kindheit; Jeschute die schöne Frau am Zelt [...] wird
zum moralischen Stolperstein; Condwir amurs, die Geliebte, führt ihn von
der geschwisterlichen zur sexuellen Liebe und vom Zustand der Schuld in die
Unschuld; Kundry, die Gralsbotin, ist ihm eine unbarmherzige Richterin”
(Reinacher, 27. März 1993). Folglich unterscheidet sich Muschgs “Rote Ritter”-Version in der Darstellungsweise der Frauengestalten eindeutig von
Wolframs Vorlage. In Wolframs Frauendarstellung, in der die leidenden
Frauenfiguren – abgesehen von Herzeloyde und Orgeluse – nur im Schatten
der männlichen Helden als deren Bezugspersonen erscheinen, dienen sie lediglich dazu, dem weiblichen Publikum ein Idealvorbild zu bieten. Adolf
Muschg hingegen schildert seine Frauengestalten nach seiner zeitgenössischen Anschauung. Infolgedessen verändern sich alle Ritterdamen mit: Herzeloyde, Sigune, Liaze, Condwiramurs, Jeschute, Cunneware, Antikonie,
Bene, Orgeluse und freilich auch Kundry, die hässliche Gralsbotin, deren Namen Muschg gleich noch einmal als Abkürzung Condwiramurs auftreten
lässt. Ganz zu schweigen von jener kindlichen Obliot, deren Ausstrahlung
Peter Wapnewski zufolge bereits “Wolfram die bedenklichen Züge eines
Nymphchens zuweist und die Muschg sanft verstärkt, indem er ihr, sehen
wir recht, den Beziehungszauber einer Puppe japanischen Zuschnitts verleiht” (Wapnewski: 239).
Um die Gestaltung der Frauenfiguren im “Roten Ritter” effektiv und detailliert konkretisieren zu können, wird die Analyse exemplarisch erfolgen. Die
ertragreichste Umgestaltung in diesem Sinne betrifft Herzeloyde, Parzivals
Mutter, Sigune, seine Cousine und Condwiramurs, seine Geliebte, auf die
noch später eingegangen wird. Diese Frauen sind nach Ansicht Beatrice von
Matts jede neu und anders mit feinstem erotischem Gespür gezeichnet, wobei sich “die emanzipiertesten Menschen des Buches” (vgl. Beatrice von
Matt: 27./28. März 1993) entwickeln. Wie diese Ritterdamen, die entscheidend zu Parzivals Identitätsfindung beitragen, im Gegensatz zu ihren mittelalterlichen Vorgängerinnen in Muschgs Prosawerk gestaltet sind, soll im Folgenden nachgegangen werden, um somit aufzuzeigen, dass alle Frauenfiguren, die Parzival auf seinem Weg begleiten, schon vor ihm – wenn auch zumeist nur annäherungsweise – ihre Selbstfindung und -bestimmung vollzogen haben.
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
Herzeloyde als Frauengestalt wird in Adolf Muschgs “Rotem Ritter” der
größte Platz neben dem Protagonisten Parzival eingeräumt. Sie stellt m. E.
die wichtigste weibliche Persönlichkeit im Roman dar, da sie als eine emanzipierte, selbstbewusste Frau auftritt, mit der sogar Gahmuret angesichts ihrer Leidenschaft im Bett nichts anzufangen weiß. Gahmuret erscheint plötzlich nicht mehr als der gewaltige Held, um den sich alle Frauen reißen, sondern als eine gläserne Figur, die fast unter den Decken zu verschwinden
droht (vgl. Muschg, 1993: 134-135). Abweichend von Wolframs Vorlage ist
ferner das Detail zu bewerten, dass Muschg Herzeloyde im Roten Ritter als
“Königskind der Verborgenen Höhe” (Muschg, 1993: 23, 36) mit Sonderrechten auf Munsalvaesche (vgl. Muschg, 1993: 199) bezeichnet, die eine beträchtliche “Freiheit der Bewegung” (Muschg, 1993: 202) besitzt. Somit stellt
Adolf Muschg Herzeloyde im Gegensatz zu Wolfram, bei dem sie vordergründig die Mutterrolle zu spielen hat, als eigenständige Persönlichkeit dar,
die auch durch die Darstellung ihres Äußeren eine betont individuelle Prägung erhält (vgl. Muschg, 1993: 60, 80-81, 150, 240). Sie erlaubt sich, ihren
Mann selbst auszusuchen, was einen Verstoß gegen die höfischen Gepflogenheiten darstellt. Sie geht sogar noch weiter, indem sie das Turnier vorzeitig
beendet und Gahmuret zum Sieger erklärt (Muschg, 1993: 59), da sie einen
“ungeheuren Hunger” (Muschg, 1993: 85) nach ihm verspürt und sofort voller Ungeduld am Hochzeitslager auf den Vollzug der Ehe wartet. Sie hat
einen eindeutigen Führungswillen und ein Durchsetzungsvermögen, das eine
mittelalterlich-höfische Dame nie aufgebracht hätte. Auch emanzipiert sie
sich in allen Bereichen ihres Lebens durch eigenmotivertes Handeln, das sie
von konventionell gezeichneten höfischen, tugendreichen Frauen deutlich
unterscheidet. Wenn sie ihr Ziel nicht erreicht, sieht sie darin eine Niederlage, gegen die sie zu kämpfen bereit ist. Sie scheut sich auch nicht davor,
Menschen zu benutzen, um ihr Ziel zu erreichen. Als sie nämlich ihren Lebenssinn in einem Sohn zu erkennen meint, “der da kommen wird” (Muschg,
1993: 88), dient Gahmuret ihr nur noch dazu, mit ihr ein Kind zu zeugen
(vgl. Muschg, 1993:173). Diesem Ziel opfert Herzeloyde sogar ihre Identität
und wird im Zeugungsakt zu Belakane (vgl. Muschg, 1993: 173), der ehemaligen Geliebten Gahmurets. Nach dem Zeugungsakt braucht Herzeloyde
Gahmuret nicht mehr und lässt ihn einfach “in Ruhe ziehen” (Muschg, 1993:
184), denn im erzeugten Kind bleibt Gahmuret “doch anwesed” (Muschg,
1993: 184), “in diesem kam er wieder, von Grund auf verwandelt”, denn
dafür “muß eine Mutter sorgen können” (vgl. Muschg, 1993:184). Hierin
kommt Herzeloydes Ich-Bezogenheit, wie bereits in Wolframs Werk so auch
im Roten Ritter stark zum Ausdruck, aus der anschließend auch Parzivals
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Dilek Altinkaya Nergis
Fehlverhalten resultiert.
Auch wenn Parzival all seine Sünden nicht aus Boshaftigkeit begeht, so stammen die unbeabsichtigten Folgen zwar einerseits aus seinem egoistischen
Ziel ab, sich als Ritter zu bewähren, andererseits aber liegt ihr Ursprung in
seinem Unvermögen, den gesellschaftlichen Bestimmungen und Regelungen
entsprechend zu handeln, da ihm seine Mutter die für das gesellschaftliche
Leben nötige Erziehung absichtlich vorenthalten hatte. Schließlich hatte
Herzeloyde sich dafür entschieden, sich aus der höfischen Welt zurückzuziehen und ihren Sohn in der Abgeschiedenheit von Soltane zum Erlöser zu erziehen. Auf diese Weise distanziert sie sich eindeutig nicht nur äußerlich von
der höfischen Welt, sondern auch von deren ethischen Werten und Normen.
Ein Zeichen für die Abkehr ist beispielsweise die Tatsache, dass sie ihr Kind
selber stillt und keine Amme dafür beschäftigt (vgl. Muschg, 1993: 249). Sie
sieht hierin in der Mutter Gottes zwar ein Vorbild und befindet, dass Maria
“das Beste” (Muschg, 1993: 138) aus ihrem Leben gemacht habe, will jedoch
nicht Marias Lebensweg nachahmen, sondern einen neuen Weg gehen, den
noch “kein Heiliger” (Muschg, 1993: 139) gegangen sei. Auch wird bei
Muschg die Karriere des Gralssuchers Parzival entscheidend “durch das Verhältnis zur Mutter Herzeloyde geprägt, sozusagen eine[r] Alleinerziehende[n], die alles richtig machen will und aus ihren eigenen neurotischen
Ängsten heraus ihr Kind vor den Gefahren der Welt beschützen möchte”
(Linden, 24.3.1993). Deutlich verkörpert Herzeloyde auf Soltane die ängstliche Mutter, die vielmehr verhindert statt zu fördern (vgl. Muschg, 1993:
272), denn sie hält Parzival von allen Dingen, die mit geschlechtlicher Liebe
und Ritterschaft zu tun haben, fern, und konzentriert sich nur noch darauf,
dass Parzival sich nach ihrem Plan entwickelt. Dieses Ziel versucht sie z. B.
durch eine ständige Überwachung, durch Abschirmungsversuche, durch eine
enge emotionale und räumliche Bindung zum Sohn zu erreichen. Auch versucht sie ständig, alle negativen Einflüsse auf ihr Kind zu verhindern. Denn
ihr Plan bestimmt Parzival zum Erlöser und sieht für Sigune eine arbeitsame, keusche Minnebeziehung zu Schionatulander vor (vgl. Muschg, 1993:
187-189), wobei jedoch ihr Verhalten “nicht als Sorge um den Sohn […], sondern als zwanghafter Wahn” (Wagemann, 1998: 204-205) erscheint.
Als Herzeloyde tatsächlich bemerken muss, dass Parzival sie doch verlassen
wird, bereitet sie sich auf ihren Tod vor. Denn Gahmurets Tod hatte sie
durch den neuen Lebenssinn in Parzivals Geburt überwunden, aber bei Parzivals Abschied fehlt ihr jede Orientierung. Sie wird fortan nicht mehr gebraucht, so dass für sie ihr Lebenssinn erfüllt erscheint. Zum Abschied gibt
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
sie ihrem Erlösersohn eine seltsamen und uneinsichtig starre Lehre mit auf
den Weg (vgl. Muschg, 1993: 314), die eher von ihren persönlichen “Werten,
Normen und Erfahrungen” geprägt ist und beinahe einen “Testamentcharakter” (vgl. Niermann, 1998: 52) aufweist. Durch diese Gestaltung hat Muschg
die Figur Herzolydes im Vergleich zu Wolfram nicht nur stärker psychologisiert, sondern auch mit einer veränderten Handlungsmotivation ausgestattet, die innerhalb ihrer gesellschaftlichen Stellung mittels ihrer Emanzipation ihre Selbstfindung beinahe erreicht, aber aufgrund ihres Geschlechts zum
Scheitern verurteilt ist.
Eine weitere interessante Stellung auf Parzivals Entwicklungsweg nimmt
dessen von seiner Mutter aufgezogene Cousine – und damit auch seine seelisch verwandte Schwester – Sigune ein. Parzival begegnet Sigune insgesamt
vier Male auf den wichtigsten Stationen seines Entwicklungsweges. Obwohl
Sigune stets den merkwürdigen Eindruck erweckt, abseits des Geschehens zu
stehen, mehr zu beobachten und zu kommentieren als aktiv in den Lauf der
Dinge einzugreifen, so versucht sie doch immer wieder, Parzival durch die
Übermittlung gewisser Informationen in eine bestimmte Richtung zu steueren, wobei sie sich zu einer konstanten Figur im Werk entwickelt (vgl. Grein
Gamra, 1999: 174). Während jedoch bei Wolfram von Eschenbach die Darstellung Sigunes oberflächlich wirkt, ist sie bei Muschg nicht schablonenhaft
dargestellt; ihr Empfinden, Denken und Handeln weisen besonders ausgeprägte individuelle Züge auf. Niermann zufolge zeigt Muschg seine Heldin
Sigune sogar als eine “konkrete Persönlichkeit. Sie wird für den Leser anschaulich, da der Autor ihre Gefühls- und Gedankenwelt ausführlich darlegt”
(Niermann, 1999: 83).
Diese Entwicklung drückt sich im Roten Ritter besonders in Sigunes ausführlich geschildertem Erscheinungsbild aus, das eindeutig mit ihrer inneren
Entwicklung übereinzustimmen scheint. Denn bevor Sigune ihr Selbstbewusstsein entwickelt, “das auf ihrer Individualität beruht” (Niermann, 1998:
71) und sich von Herzeloyde zu distanzieren beginnt, wirkt sie von der Gesamtheit her eher unauffällig (vgl. Muschg, 1993: 61, 119). Mit dem Anstieg
ihres Selbstbewusstseins aber, das sich vor allem in den Begegnungen mit
anderen Menschen durch Sprache und Schrift aufbaut (vgl. Muschg, 1993:
101-102), entwickelt sie sich zu einer schönen jungen Frau, die von Gahmurets Knappen Schionatulander begehrt wird. Peter von Matts Meinung nach
geben Sigune weiterhin die höfischen Erzählungen, die sie Herzeloyde vorliest, sowie die faszinierenden Geschichten des orientkundigen Schionatulander und Gardevias’ Texte Anregungen und Auftrieb für ihr SelbstbewusstZGR 1-2 (37-38) / 2010
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sein und Selbstwertgefühl (Peter von Matt, 1992: 85).
Im Laufe der Handlung des Romans steigt Sigunes Selbstwertgefühl sogar so
hoch, dass sie ihre egoistischen Interessen in den Vordergrund stellt. Dies
führt soweit, dass Sigune zu der Überzeugung gelangt, ein persönliches
Schicksal zu haben, das sie nicht passiv erwarten muss, sondern an dem sie
mitwirken kann (vgl. Muschg, 1993: 102). Sigune bemüht sich fortan “eigenmotiviert” (Niermann, 1998: 71), ihre Aussagen und Handlungen zu planen,
zu steuern und zu reflektieren. Sie plant für sich als “Schicksal” (vgl. Muschg,
1993: 102) einen Lebensweg, der von Arbeit, Enhaltsamkeit, Strenge und
Maß geprägt und durch die Gralsordnung bestimmt wird (vgl. Muschg, 1993:
201, 219). Schionatulander hingegen, den Wolfram weitgehend nur in seinem Titurel-Fragmenten dargestellt hatte, macht sie im Roten Ritter, indem
sie ihm ihre Liebe vorenthält oder zu einem vereinbarten Treffen häufig
nicht erscheint, von sich abhängig; so entwickelt sie die Liebesbeziehung zu
einer “Blüte der Finesse” (Muschg, 1993: 261), sie trifft sich jeden Tag eine
Stunde lang mit ihm zum “Rendenz-vous” (Muschg, 1993: 261), nennt ihn
nun “Prince” (Muschg, 1993: 262) und zwingt ihm täglich “Reit- und Waffenübung” (Muschg, 1993: 262) auf. Eindeutig nimmt sie sich das System
des Minnelohnwesens zum Vorbild und erklärt Schionatulander, dass er erst
dann ihr Mann werde, wenn er Herzeloydes Anspruch auf Waleis gegen Lähelin verteidigen würde (vgl. Muschg, 1993: 291). Am Ende kommt es jedoch
Classen zufolge “zum tragischen Ausgang, weil sie ihn dazu zwingt, sich dem
ritterlichen Modell zu stellen und durch die Herausforderung eines Gegners
sich selbst als voll funktionierendes Mitglied dieser Gesellschaft zu beweisen” (Classen, 2002: 19-20).
Dass dieses jedoch scheitern muss, deutet sich schon lange im voraus, sobald
Sigune den Classens Ansicht nach “künstlerisch veranlagten Prinzen auf seine kämpferischen Fähigkeiten überprüft” (Classen, 2002: 20). Damit ist
Schionatulanders Todesurteil gefällt. Er erliegt anschließend Orilus’ moderner Kampftechnik, des Bruders und Stellvertreters Lähelins (vgl. Muschg,
1993: 291), woraus Sigunes Schuldgefühl entsteht, aufgrund dessen sie ohne
äußeren Einfluss und wieder eigenmotiviert bis zu ihrem Lebensende büßen
möchte (vgl. Muschg, 1993: 508). Da ihr Geliebter an den Forderungen ihres
selbstgewählten Minnewegs stirbt, zieht sie sich von nun an im Roten Ritter
– genauso wie in Wolframs mittelalterlichem Epos – bewusst in die Abgeschiedenheit von der höfischen Gesellschaft zurück, um dort ihr Leben dem
toten Geliebten und Gott dem Allmächtigen zu widmen (vgl. Muschg, 1993:
506). Ihr einziger Lebensinhalt besteht fortan aus Klage, Trauer und Gebet
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
(vgl. Muschg, 1993: 327-329) und verlagert sich immer weiter nach innen zu
einer mystisch grundierten Begegnung mit Gott. In ihrer Buße wendet Sigune sich über Schionatulander zu Gott hin. Mit dem Toten im Arm wird sie bis
zu ihrem Lebensende trauern. Durch diese Erzählweise skizziert Adolf
Muschg seine Sigune Niermann zufolge “als Persönlichkeit, die sich bewusst
nach Worten und Normen richtet, die sie ihrer Umgebung entnimmt. Außerdem tritt zu dieser Bewusstheit immer mehr die kritische Bewertung des eigenen Verhaltens, somit auch der Werte und Normen, die dieses Verhalten
geprägt haben. Sigune wird von der bloßen Rezipienten und Anwenderin zur
kritischen wie aktiven und emanzipierten Vertreterin selbstgewählter Werte
und Normen” (Niermann, 1998: 89). Dabei wirkt Sigune Grein Gamras Meinung nach in ihrem lebenslänglichen Dasein als trauernde, büßende, treue,
schließlich vollkommen enthaltsame Frau “über jede Kritik erhaben” (Grein
Gamra, 1999: 175). Sigune ist es auch, von der Parzival nicht nur seinen Namen und seine ausschlaggebenden Verwandtschaftskonstellationen erfährt,
sondern auch, was er bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg falsch gemacht habe.
Sigunes Verzweiflung und Wut über Parzivals Frageversäumis (vgl. Muschg,
1993. 509) liegt sicherlich darin begründet, dass sie eine Parallele zwischen
ihrem und seinem Leben erkennt, da sie beide eine “Frage über ihr weiteres
Schicksal, die ein Zeichen dafür ist, dass man an den Bedürfnissen seines Gegenübers interessiert ist und auf diese eingeht” (Niermann, 1998: 108) verfehlt haben. Parzivals Aufgabe war es, sich nach dem Befinden des erkrankten Onkels Anfortas zu erkundigen; im Falle Sigunes wäre es die Frage bzw.
Bitte an Schionatulander gewesen: “Schläfst du bei mir?” (Muschg, 1993:
506). Auch wenn Parzival eine zweite Chance erhält, die für Sigune unmöglich geworden ist, haben beide an dieser Stelle die entscheidende Frage ihres
Lebens versäumt, weshalb der Einsiedler Trevrizent Parzival gegenüber Sigunes Schicksal an späterer Stelle wie folgt erklärt: “Sie war deine Schwester
im Lesen, Parzivâl” (Muschg, 1993: 903).
Seine erste sexuelle Erfahrung macht der unreife und naive Parzival mit Jeschute, der er nach seinem Auszug aus Soltane im Zelt begegnegt und die er
vergewaltigt. Die nächste Frau, der Parzival auf seinem Weg der Selbstwerdung begegnet, und die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen wird, ist
Cunneware, die Schwester Lähelins und Orilus’, die, wie Adolf Muschg im
Anhang vermerkt, “vom TH zum Lachen erlöst und Adressatin seiner ritterlichen Dienstleistungen” ist. Die Geschichte um das Lachen Cunnewares
stammt von Wolfram. Als Parzival erstmals am Artushof erscheint und die
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Dilek Altinkaya Nergis
Ritterschaft einfordert, bricht Cunneware, die erst lachen wird, “wenn der
Heiland wiederkommt” (Muschg, 1993: 26), in unerwartete Gelächter aus,
was den ganzen Artushof so sehr erschreckt, dass die Lachende dafür mit
Peitschenhieben bestraft wird. Schließlich ist es für die Artusgesellschaft unvorstellbar, dass ein Tölpel wie Parzival der Erlöser sein könnte, auf den
Cunneware und mit ihr die ganze Ritterschaft wartet. Dies alles sind Elmente, die bereits Wolfram von Eschenbach in seinem Epos verwendet hatte.
Adolf Muschg baut jedoch dieses Lachen so weit aus, dass es zu einem “Leitmotiv von Parzivals Lebensgeschichte” (Schafroth, 17. April 1993) wird.
Eine andere interessante Frauenfigur auf dem Lebensweg Parzivals stellt Orgeluse dar, die eng mit der Geschichte seines Cousins und Ritters Gawan verbunden ist. Gawan trifft sie auf seiner “aventiure” nach der Verfluchung Vergulahts, Auf dem “Weg von einer Frau zur nächsten – dem unvergesslichen
Teenager Obilot, der leichtgeschürzten Amazone Antikonie, der anrührenden
Bene –“ befindet sich Gawan eigentlich stets auf dem Weg “zu der Einen
Frau: Orgeluse” (Muschg, 1994: 93). Gawan ist von Parzival persönlich “zum
radiaklen Frauendienst bevollmächtigt. Er möge ‘den Frauen mehr trauen
als Gott’, hat er ihn in seiner Verzweiflung wissen lassen” (Muschg, 1994:
94), wie es Muschg in seinem Materialienband ausdrückt. Dargestellt wird
Orgeluse, deren tiefes Geheimnis Gawan zu lösen hat, von Muschg als eine
Frau, an der
man getrost alle Instrumente der Neurosenlehre ausprobieren kann; man
wird sie eher erschöpfen als diese Figur. Dabei lebt auch sie von der Naivität
des Musters. Sie ist die Dame sans merci, die alle kleinen Männer noch aus ihrer Schulzeit kennen und mit der die größeren Männer bis zum Ende ihres Lebens nie ganz zurechtkommen. Denn sie ist immer ganz anders. Und eben damit dem Besten (und natürlich auch dem Schlimmsten) in uns verwandt.
(Muschg, 1994: 61)
Der freundliche und allseits beliebte Frauenheld Gawan dient nun gerade um
die Gunst Orgeluses, und diese Dame macht es ihm nicht gerade einfach.
Denn sie macht den Tod von Gramovlanz, dem Mörder ihres Mannes Cidegast, zur Bedingung einer Beziehung, da sie den Tod ihres früheren Gatten
nicht überwinden kann und in Frustration gegen die Männer lebt (vgl.
Muschg, 1993: 665f.). Gerade der Minnedienst innerhalb dieser Beziehung
ist Obermaiers Ansicht nach “als Vorläufer einer [...] als fragwürdig erscheinenden Emanzipation” (Obermaier 1997: 473) zu betrachten. Denn Gawan
muss viel von Orgeluse einstecken, er muss sich ungeheuerlich demütigen
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
lassen und streckenweise sogar akzeptieren, dass man ihn wie einen Narren
behandelt. Muschg erklärt diesen Sachverhalt folgendermaßen:
Und plastischer als an seinem Ersten Helden demonstriert Wolfram an seinem Anderen, daß ein Mann, mehr und weniger sein mus als ein Mann, um
die Frau recht zu gewinnen, und um gerecht zu werden dem Weiblichen in
sich selbst [...] seine Werbung um Orgeluse ist ein wahres weltliches Martyrium. Was muss er nicht auf sich sitzen lassen an Nachreden, die einen Ritter
im 13. Jahrhundert demütigen können: Krämer, Falschmünzer, Quacksalber
und natürlich: Gans!” (Muschg, 1994: 93)
Außerdem unternimmt Orgeluse den Versuch, Parzival zu verführen, wenn
sie ihn auffordert, einen neuen Text mit ihr zu bilden: “nimm dein P heraus
und tunk’s in mein O, schreib mich um, wie du glaubst, daß ich lauten soll,
und ich will O und A dazu sagen” (Muschg, 1993: 667). Allerdings stellt Parzival, der mittlerweile “lesen” gelernt hat, Orgeluse klar: “Ihr macht mir ein
X für ein U vor, erwiderte er, zunächst aber Euch selbst. Denn ich denke,
auch ein U ist noch nicht das, was Ihr schreiben wollt” (Muschg, 1993: 666),
und lehnt ihr Angebot ab. Den Grund für Parzivals Rückzug sieht Albrecht
Classen in dessen Entwicklung zum Schreiber: “Beide Prozesse [lesen und
schreiben] dienen dazu, den Riss in allen Dingen wahrzunehmen und durch
ihn hindurchzuschreiten.” (Classen, 2002: 320) Sobald dies erreicht ist, erkennt Parzival, dass die Erde “im Inneren ja auch nichts anderes war als ein
Buch” (Muschg, 1993: 663), das von der Natur selbst gelesen wird. Orgeluse
aber verweigert er den Wunsch, ihr Geliebter zu werden, mit der Begründung, dass sie nicht sein Buch sei. Er schlägt das Fell, auf dem sie liegt, wie
ein Buch zusammen und begibt sich dann auf die Suche nach seinem eigenen
Text bzw. nach seinem Leben. Nachdem Orgeluse alle ihre Möglichkeiten erschöpft hat, Gawan zu schickanieren, stellt sich ihre Niederlage am Ende als
Triumph dar, denn nicht Gawan ist der endgültige Gewinner im Kampf zwischen den Geschlechtern, sondern die menschliche Gemeinschaft. Sowohl
ihr als auch Gawan gelingt es zum Schluss, die uralte Spannung zwischen
Mann und Frau zu überwinden und sich in liebendem Glück miteinander zu
vereinigen. Dadurch wird Gawan, wie es Muschg in seinem Materialienband
darstellt:
anders, seine Ritterlichkeit ist schonend. Er heilt die Frau, die er liebt, von ihrem Männerhass – modern gesprochen: von der neurotischen Fixierung auf
ihren toten Mann. Indem er um ihre Selbstsicherheit wirbt, nimmt er sie auch
für sich ein, den neuen Mann. (Muschg, 1994: 93)
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Dilek Altinkaya Nergis
Ein ausschlaggebende Rolle auf dem Lebensweg und der Entwicklung des
Protagonisten Parzival nimmt ohne Zweifel seine Geliebte Condwir amurs
ein, zu der alle Wege Parzivals führen, auch wenn alle anderen Frauenfiguren hierzu unerlässlich für seine Entwicklung waren, damit er schließlich die
Vollendung mit der “Einen” erreichen kann. Nach seinem erwartetem Sieg
über den Pelrapeire-Belagerer Kingrun heiratet er Condwir amurs, und die
Ehe wird wie bei Wolfram von Eschenbach erst in der dritten Nacht vollzogen (vgl. Muschg, 1993: 453). Während Wolfram jedoch diese Verzögerung
damit erklärte, dass das Paar noch nichts von körperlicher Liebe wisse (vgl.
Wolfram von Eschenbach, 2000: 19, 2-4), möchte Muschg hingegen damit
die zentrale Bedeutung der Hochzeitsnacht als Wendepunkt in Parzivals Leben hervorheben. Denn mit der verzögerten Hochzeitsnacht, die nicht auf
seinem sexuellen Unvermögen beruht, leistet Parzival hier Wagemanns zufolge “bewusst wie unbewusst zwei Nächte lang Buße, d.h. er reinigt sich von
seinen früheren Verfehlungen. Die bewusste Zurückhaltung wird ermöglicht
durch seine große Liebe zu Condwir amurs. Erst diese Zuneigung läßt ihn erkennen, welches Leid er über Jeschute und Liaze in seinem geglaubten Unschuldszustand gebracht hat” (Wagemann, 1998: 206). Dies macht er in den
ersten Hochzeitsnächten durch sexuelle Abstinenz wieder gut:
Er war von heilloser Unschuld gewesen. Das dämmerte ihm im Haus des
Grauen Herzens, als er anfing, die fremden Früchte anzusehen, ohne sie zu
pflücken. Durch Belehrung hatte die Rohheit ihre Unschuld verloren und entschleierte ihm ihr Gesicht; da verhüllte er das seine im Gefühl der Schuld [...]
Nun zahlte er die Schuld an Jeschûte in der ersten Nacht, an Liâze in der zweiten, er zahlte sie der dritten Frau. (Muschg, 1993: 454)
Durch sein asketisches Verhalten gegenüber Condwir amurs macht Parzival
das wieder gut, was er vorher an den Frauen verbrochen hatte. Gleichzeitig
aber, wie es Muschg in seinem Materialienband hervorhebt, wird das korrigiert, was in den Liebesbeziehungen Sigune-Schionatulander und Herzeloyde-Gahmuret verkehrt gemacht wurde (vgl. Muschg, 1993: 58-60). Der zentrale Aspekt von Parzivals Wandel besteht aber insbesondere darin, dass er
mit sich selbst verwandt wird und zugleich mit seiner Frau: “Sie durfte ihm
Schwester und Mutter geworden sein, bevor sie die Einzige wurde: seine
Frau” (Muschg, 1993: 454). Dies drückt sich konkret in folgenden Worten
Muschgs aus: “verwandt mit allem, was in der Welt anders ist, was sich dem
Raster Richtig/Falsch, Weiß/Schwarz, Gut/Böse nicht fügt” (Muschg, 1994:
100). Die zu entdeckende Verwandtschaft zu Condwir amurs liegt infolgedes210
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
sen in der Wahrnehmung und Erkenntnis ihrer Andersartigkeit als einer
Frau. Um aber eine bisher verborgene Seite seiner Identität zu finden, muss
Parzival zunächst den Gral suchen:
Er hatte das Ding von Gottes Art gesehen und seinen Namen gehört, das war
der Grâl und reimte sich auf ihn selbst. Das war die Wurzel seines Namens,
und noch keine von allen hatte sie berührt, die ihm seinen Namen entdeckt
hatten; nicht Herzeloyde, nicht Sigûne, auch nicht Condwîr âmûrs. (Muschg,
1993: 477-478)
Der Gral und seine Selbstzweifel bilden anschließend den eigentlichen Grund
für Parzivals Aufbruch und Ausbruch aus der Beziehung mit Condwir amurs,
die er unbedacht und gedankenlos schwanger zurück lässt. Warum sich Parzival und Condwir amurs vorübergehend trennen müssen, skizziert Adolf
Muschg in einem Gespräch mit Beatrice von Matt wie folgt:
Parzival und Kondwiramurs: das ist die Geschichte einer Ehe. Als dauerhafte
wäre sie roman-widrig, außer sie werde (ich versuche es) als Entwicklung gezeigt. Ihr Prüfstein, die Trennung über Jahre, ist in meiner Lesart vom gleichen Stoff wie ‘der Stein vom Himmel’, der Gral [...] Noch anders: in der Parzival-Handlung lernen ehelich Verschwisterte die Liebe [...]; in der Welt Gawans gelangen Liebende zur Geschwisterlichkeit. Nur von beiden Enden her
knüpft sich das Netz einer tragfähigen Welt. (Beatrice von Matt, 13./14. Januar 1990)
Interessant ist das Detail, dass Parzival auf seinem Entwicklungsweg weit
von Condwir amurs immer wieder mit ihr oder, genauer gesagt, mit seinem
eigenen schlechten Gewissen in Gestalt der Gralsbotin Kundry konfrontiert
wird. Ähnliches lässt sich auch im Bezu auf die Bluttropfenszene sagen (vgl.
Muschg, 1993: 528-529). Und um zu ihr zurückfinden zu können, muss Parzival zunächst als “existentielle Aufgabe [...] den Bruch zwischen seiner sozialen und personalen Identität” (Wagemann, 1998: 215) erkennen und beide zu einer Einheit zusammenzuführen. Zum Glück hat anstelle Parzivals
Herr Lähelin als Lehnsmann der Herrin von Pelrapeire im praktischen Leben auf der vom Ritter Clamide runinierten Hungerburg beigestanden und
hilfreich eingegriffen (vgl. Muschg, 1993: 866). Deutlich zeigt sich, dass
Condwir amurs “in keiner Hinsicht dem Ideal einer höfischen Dame entspricht, denn zu ihren wichtigsten Eigenschaften gehört der Mut, eine eigene
Meinung zu vertreten sowie ein Sinn für Realität, der sie fest im Alltag stehen sowie umsichtig und vorausschauend handeln lässt” (Wagmann, 1998:
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Dilek Altinkaya Nergis
232). Gerade diese Geschäftstüchtigkeit macht aber Parzival Condwir amurs
zum Vorwurf, da sie hierdurch den Sinn für Höheres versperre, ihr mithin an
der Gralswürde nichts liege (vgl. Muschg, 1993: 866). Hinzu tritt aber auch
Parzivals Eifersucht auf Lähelin. Damit greift Muschg an dieser Stelle diejenigen Ansichten auf, welche die Stellung des Paares bereits auf Pelrapeire
prägte. Denn bereits auf Pelrapeire hatte Condwir amurs in der “Kultur der
Entbehrung” (Muschg, 1993: 435) und dem sicheren Glauben an die Erscheinung des Erlösers ihren Untertanen wegen ihrer “Standfestigkeit” (Muschg,
1993: 436) gegen Geld und Rechte ihre Treue abgekauft (vgl. Muschg, 1993:
470-471). Sie erklärt die Lage im Roman Adolf Muschgs folgendermaßen:
es sind nicht meine Leute, sondern ihre eigenen. Die Freiheiten, die ich ihnen
gelassen habe, stehen ihnen zu. Denn wir sind es, die sie ihnen genommen haben, oder unsere Vorfahren. [...] als Herrin über meine Freiheiten dulde ich
dich so wenig wie einen anderen! (Muschg, 1993: 470-471)
Der Kronrat wird einberufen, um
dem Reiche Brôbarz eine Verfassung zu geben, die fernerem Unheil vorbeugen und der Zukunft den vernünftigsten Weg weisen soll. (Muschg, 1993: 471)
Condwir amurs zukunftsorientierte und emanzipierte Haltung während der
Abwesenheit ihres Gatten zeigt sich am deutlichsten im Gespräch zwischen
Lähelin und Parzival, der sich bei Lähelin dafür bedankt, dass er seine Frau
begleitet habe. Lähelin hebt Condwir amurs’ Geschäftssinn und Intelligenz,
die er bewundert, hervor:
Dankt Eurer Frau, sagte Lähelîn, denn sie hat angefangen, das Geschäft zu
verstehen. Eine klügere Regentin hättet Ihr nicht finden können. Nun, Klugheit war wohl nicht der einzige Grund dafür, dass wir uns fanden, erwiderte
Parzivâl, auch wenn meine Frau sie leider nötig hatte, um meiner Abwesenheit das Beste abzugewinnen. Sie war gut beraten, als sie sich Eurer Dienste
versicherte. Beraten war sie nicht, sagte Lähelîn, sie musste selbst darauf
kommen. Aus Herrn Kyôts gestirnter Welt führte leider kein Weg in die
Niederungen der meinen. Mit meinen Diensten brauchte es auch nicht weit
her zu sein. Es genügte, dass sie ihre Interessen erkannte, und damit die
Euren. Das war schon etwas und erforderte diesen und jenen Sachverstand.
Es wäre nicht damit getan gewesen, dass sie jemanden Eure verstaubten
Rechtstitel unter die Nase gehalten hätte. Noch weniger hätte ich ihr raten
dürfen, sie etwa mit Gewalt einzufordern. Das wäre aller Schaden gewesen,
zuerst aber ihr eigener und das Eure. (Muschg, 1993: 874)
212
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
Damit steht Parzival in Condwir amurs eine emanzipierte, demokratisch
denkende, gleichberechtigte Ehefrau zur Seite. Mit ihr zusammen und seinen
Zwillingen macht er sich schließlich nach überwundener Trennung auf eine
letzte Suche nach dem Land seiner Mutter. Er geht dorthin, “wo der Berg ein
Tal ist” (Muschg, 1993: 989). Dieses Ende bedeutet in Adolf Muschgs Version des Parzival-Stoffes, dass sich der mittlerweile reife neue Gralskönig mit
seiner Familie an seiner Seite auf dem Weg nach Hause in sein kleinbürgerliches Glück und seinen selbstbestimmten Lebensentwurf zurückziehen darf,
nachdem sich herausgestellt hat, dass er zum Gralskönig nicht mehr taugt.
Schließlich hatte Parzival erkannt, dass an der zutiefst gestörten und erlösungsbedürftigen Ordensgesellschaft von Munsalvaesche nichts mehr zu reformieren ist, und er hat sie ihren eigenen Weg ziehen lassen. Durch die daran anschließende letzte Schilderung von dem Untergang der Gralsgemeinschaft ist der Gral in Adolf Muschgs Parzival-Roman nur noch ein totes Ding
ohne jegliche Bedeutung, das sich samt seines Aufbewahrungsorts, der Burg
Munsalvaesche, überflüssig gemacht hat und sich zuletzt in Luft auflöst (vgl.
Muschg, 1993: 960).
Wie sich zeigt, haben sich bei Adolf Muschg, anders als bei Wolfram von
Eschenbach, der Gral und sein Aufbewahrungsort überlebt und erscheinen
überflüssig und überholt. Denn wie Muschg selbst es ausdrückt, hat Parzival
am Ende des Romans sein Ziel zur sozial eingebundenen Selbstverwirklichung, zur ich-überschreitenden Menschlichkeit erreicht: “Wenn Identität
derart in der Selbstbescheidung gefunden wird, kann am Ende das Symbol
der Glückssuche, der Gral, einfach vom Erdboden verschwinden” (Kircher,
25. März 1993). Wie sich herausgestellt hat, dient der Gral lediglich mehr als
Erkenntnis dafür, dass seine Suche eng mit der Suche nach sich selbst, nach
der eigenen Identität verbunden ist. Mit der Rollenverweigerung riskiert Parizval eben einen Kommunikationsabbruch mit der Gesellschaft, da die IchIdentität gegen das Konventioenlle immer auch eine Überschreitung bzw.
einen Bruch mit der sozialen Einbindung an die Gesellschaft bedeutet. Eindeutig ist in diesem zeitgenössischen Roman der Weg das Ziel, wie es Adolf
Muschg selbst definiert hat: “Um zu wissen, dass der Weg das Ziel ist, muß
man meist sehr weite Wege gehen” (Schmidt-Degenhart, 1995: 179). Und
dieser Weg führt Parzival über die bedeutenden Stationen der Ritterdamen
zum Gral, den jeder für sich anders auffassen und erfassen kann. Die Aufhebung des Grals hingegen ist als Konsequenz der Selbstfindung Parzivals zu
verstehen, die ihn überflüssig werden lässt. Und seine Aufhebung macht die
königliche Gralsfamilie nun frei für einen Neuanfang nach eigenen Kräften
und Wünschen. Damit nimmt der Schluss des Romans eine überraschende
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Dilek Altinkaya Nergis
Wendung im Gegensatz zu Wolframs Werk ein, indem der durch seine
Selbsterkenntnis und Erfahrungen verwandelte Parzival mit der Übernahme
des Amtes als Gralskönig sein höchstes Glück erreicht. Aber in Muschgs Version des Parzival-Stoffes brauchen die Konstellationen und Beziehungsgeflechte des Romanpersonals und insbesondere der Ritterdamen keine Führung, um sich selbst zu verwirklichen und einen Identitätsentwurf per se zu
schaffen. Muschgs Frauenfiguren sind, wie sich deutlich zeigte, anders gestaltet als im mittelalterlichen Epos Wolframs, das Adolf Muschg als Vorlage
gedient hat. Denn Muschg steigert “ihren Operationsradius und ihre Möglichkeiten der Selbstfindung so sehr, dass sie als die wahren Akteure im Hintergrund des Romangeschehens auftauchen” (Classen, 2002: 19). Im Roten
Ritter nehmen Pia Reinachers Ansicht nach die Frauen sogar “die Geschicke
der Männer im dramatischen Moment in die Hand, leiten radikale Bewusstseinsveränderungen ein, trennen Gutes und Böses, bewegen sie zur Umkehr
– während sich die Männer, dampfend im eigenen Schweiß und Blut, mit
den Säbeln rasselnd, hauend und stechend, in phallokratischen Ritualen verlieren” (Reinacher, 27. März 1993). Muschg geht sogar soweit, dass er Parzival zur Erkenntnis gelangen lässt:
Man muss reden lernen mit Taten, und das Beste, was es dabei zu lernen gibt,
erfährt man von seiner Frau. Denn die hat es schon zuvor gewusst. (Muschg,
1993: 983)
Damit erhalten die Frauenfiguren eine extreme Aufwertung, was aber wohl
kaum der tiefste Sinn und der Zweck von Muschgs Parzival-Roman ist. Denn
mit seinen Romanfiguren, die genauso wie die Romanhandlung direkt von
Wolframs Parzival übernommen wurden und im Mittelalter spielen, analysiert und verbindet Adold Muschg offenbar die Eindrücke, die er vom Mittelalter und dem heutigen Frauenbild hat. In diesem Sinne sind Muschgs Frauengestalten im Roten Ritter nicht hauptsächlich von Tugend und Schönheit
geprägt, sondern zeichnen sich vielmehr durch ihre Eigenheiten, durch ihr
Streben nach Selbstverwirklichung und nach Selbstfindung innerhalb des
Systems der heutigen Gesellschaft aus. Und der Versuch der Selbstverwirklichung gelingt den meisten Ritterdamen per se im Roten Ritter – wenn auch
meistens nur teilweise, auf ihre eigene Art und Weise und zumeist verbunden mit Leiderfahrungen. Wie beispielsweise im Falle der Ritterdamen Herzeloyde und Sigune, die nicht auf ihr Liebesglück warten, sondern es eigenständig planen und daran arbeiten. Beide Frauen streben nach unerreichbaren Idealen, die sich in dieser Welt nicht mehr verwirklichen lassen, und
müssen dafür später mit dem Tod büßen. Da die Beziehungen beider Frauen
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
jedoch ohne konkrete Verwirklichung bleiben und sterben, bedeutet der Tod
ihrer Geliebten die unkonventionelle Absage an die Gesellschaft. Sie versuchen beide, weltfremd und verträumt wie sie sind, ihre Schicksale selbst zu
bestimmen, und der einzige Weg dahin bedeutet den völligen Rückzug in die
Abgeschiedenheit und Einsamkeit, fernab von der Gesellschaft. Herzeloyde
und Sigune präsentieren sich im Roten Ritter als Frauen, die sehr bewusst
leben und sogar, so Niermann, “ihre Handlungen planen, reflektieren, die
taktieren und versuchen die Gefühle, Gedanken und Handlungen nahestehender Personen zu beeinflussen. Beide Frauen sind stark gefühlsmäßig, jedoch auch intellektuell geprägt” (Niemann, 1999: 115).
Deutlich zeigt sich an den Ritterdamen im Roman Adolf Muschgs, dass es
sich um Frauengestalten handelt, die sich zu emanzipieren und ihren eigenen Weg zu gehen versuchen. Bei Herzeloyde, der ersten Station auf Parzivals Entwicklungsweg, misslingt dieser Versuch, während er sich auf dem
Weg der Selbstfindung vor allem auf der Station Condwir amurs verwirklicht, der Frau, die fest in die Realität des Lebens verankert ist. Sie ist die
einzige, die zeitgemäß lebt, und sich den Anforderungen der Gesellschaft anpasst, indem sie beispielsweise ihr Reich mit Lähelins Hilfe ausbaut, ihren
Untertanen Rechte gewährt und sich nicht mit ihren Kindern zurückzieht.
Sie wendet sich nicht durch ihr Liebesunglück vom System ab, wie es Herzeloyde tut. Allerdings ist auch Condwir amurs’ Verhalten unkonventionell, da
allein stehende Frauen im Mittelalter nicht ohne Männer herrschen konnten.
Denn für die höfische Frau im Mittelalter bestand kaum die Möglichkeit, sich
selbst zu verwirklichen und eigene Wünsche zu verwirklichen. Als einzige
Möglichkeit bleiben den Frauen zumeist der Ausstieg aus dem höfischen Leben und der Rückzug in die Abgeschiedenheit und Einsamkeit, wie bei Herzeloyde und Sigune dies der Fall war. Eine Rückkehr in die höfische Gesellschaft, in der eine allein stehende Frau keine hohe Geltung hat, wäre nur
durch eine erneute Heirat möglich, was für beide nicht in Frage kommt (vgl.
Niermann, 1999: 115). Sie sind zu selbstbewusst und wollen ihr Geschick
selbst bestimmen, um sich dem System der Gesellschaft unterzuordnen. Die
vollkommen emanzipierte Condwir amurs hingegen braucht sich nicht zurückzuziehen und auch keine Märtyrerhaltung anzunehmen. Sie weiß, dass
ihr Geliebter zu ihr zurückkehren wird und versucht bis dahin, ganz bewusst
das Beste für sich und ihre Kinder zu machen.
De facto geht es im Roten Ritter ausschließlich um den Konflikt der Identitätsproblematik zwischen dem naiven Parzival und einer komplizierten, hoch
entwickelten Gesellschaft. Und Parzivals Weg dient eindeutig seiner inneren
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Dilek Altinkaya Nergis
Entwicklung und Selbstfindung, aber auch der Erlösung anderer. Damit
scheint der Parzival Wolfram von Eschenbachs zum Sinnbild für den Menschen als (Sinn-)Sucher geworden zu sein. An der Gestaltung des menschlichen Schicksals Parzivals scheint nicht das Besondere, das Abgrenzende, aus
allem Ähnlichen sich Hervorhebende, sondern das “Typische” zu interessieren. Der Protagonist ist eine Art Sinnbild für die Menschen, wobei der stellvertretende zeichenhafte Charakter des Dargestellten dazu führen soll, dass
sich bestimmte Vorstellungsformen mit fest stehenden Bedeutungsgehalten
herausbilden. Parzival durchlebt in Adolf Muschgs Werk eine sinnvolle Entwicklung und erreicht am Ende sein Ziel. Damit beschreibt Muschg mit der
Suche nach dem Gral den Initiationsweg eines jeden Menschen, den Weg
zum Selbst, den inneren Reifeprozess, der nie an Aktualität verliert und für
jeden Menschen wichtig ist. Muschgs Ansicht nach sind wir “gemeint in dieser Figur, du und ich” (Muschg, 1994: 31).
Abschließend können wir behaupten, dass Adolf Muschg die Identitätsproblematik, die bereits in der mittelalterlichen Vorlage Wolframs vorhanden
war, anders gestaltete. Es wurde gezeigt, dass die zeitgemäße Form des mittelalterlichen Romans Der Rote Ritter – auch wenn sich vieles mit der Vorlage Wolframs deckt – einer ganz unterschiedlichen Darstellung bedurfte. Eindeutig handelt es sich im mittelalterlichen Roten Ritter um eine ParzivalVersion, in der das eigentliche Geschehen um die Hauptfigur mit der aktuellen Situation Muschgs identisch ist. Die Auseinandersetzung mit diesem
Werk und der darin zum Ausdruck gebrachten Identitätsproblematik führte
zum Ergebnis, dass sich Muschgs Rezeptionsspraxis nicht nur in der Darstellung eines vorbildlichen Mittelalters erschöpft. Bei ihm wird der mittelhochdeutsche Parzival und das Mittelalter in den Umsetzungen instrumentalisiert, um die Probleme der Identitätssuche und -findung durch das Prisma
der Vergangenheit zu thematisieren. Denn der Rote Ritter ist eindeutig vom
modernen Zeitgeist geprägt. Freilich ist erst der Autor unseres Jahrhunderts
dazu in der Lage, das Mittelalter als Spiegel der gegenwärtigen Identitätsproblematik zu gestalten.
Literatur:
1.
BÄTTIG, Joseph (15.10.1994): Adolf Muschg und die Schuld des Mitwissers. Dem Züricher Schriftsteller wird heute der Büchner-Preis verliehen. Luzerner Zeitung, S. 35.
2.
BOCK-LINDENBECK, Nicola (1999): Letzte Welten-Neue Mythen: der Mythos in der
216
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Adolf Muschgs „mittelalterliche“ Ritterdamen – Identitätsentwürfe per se
Gegenwartsliteratur. Köln; Weimar; Wien.
3.
BUMKE, Joachim (1990): Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München.
4.
CLASSEN, Albrecht (2002): Erotik im Mittelalter – Sexualität in der Moderne. Die
Welt von König Artus im Spannungsfeld von Gestern und Heute. Adolf Muschgs
“Der Rote Ritter” als Rezeptionszeuge und Ausblick auf Morgen . In: Wirkendes
Wort, Jg. 1, April 2002, S. 4-23.
5.
GREIN GAMRA, Ulrike (1999): Ein komplexer Ritter auf seiner dynamischen
Queste: Wolframs Parzival und die Chaostheorie, eine struktuelle Untersuchung.
Bern.
6.
KIRCHER, Hartmut (25. März 1993): Irrwege auf der Suche nach Glück. Gespräch
mit dem Schweizer Autor Adolf Muschg über seinen Parzival-Roman “Der rote Rit ter”. In: Kölner Stadt- Anzeiger.
7.
LINDEN, Thomas (24.3.1993): Eine Geschichte, die allen gehört. Für sein neues
Buch arbeitete Adolf Muschg das mittelalterliche Parzival-Epos zum Entwick lungsroman um. In: Kölnische Rundschau: Köln.
8.
MATT, Beatrice von (13./14.1.1990): Fünf Fragen an Adolf Muschg. In: Neue
Zürcher Zeitung.
9.
MATT, Beatrice von (27./28. März 1993): Im Banne feingewirkter Tapisserien.
Adolf Muschgs “Parzival -Roman. In: Neue Zürcher Zeitung.
10. MATT, Peter von (1992): Parzival rides again. Vom Unausrottbaren in der Litera tur. In: Rüdiger Krohn (Hrsg.): Materialien und Beiträge zur Mittelalter-Rezeption. Bd. III. Göppingen, S. 82-90.
11. MUSCHG, Adolf (1993): Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl. l. Frankfurt a. M.
12. Ders. (1994): Herr, was fehlt Euch? Zusprüche und Nachreden aus dem Sprech zimmer des heiligen Grals. Frankfurt a. M.
13. Ders. (1981): Literatur als Therapie. Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurt am Main.
14. NIERMANN, Annabel (1998). Frauengestalten in den Parzivalromanen Adolf
Muschgs und Wolfram von Eschenbach. Eine kontrastive Analyse. Marburg.
15. OBERMAIER, Sabine (1997): Die Geschichte erzählt uns – zum Verhältnis von
Mittelalter und Neuzeit in Adolf Muschgs Roman “Der Rote Ritter”. In: Euphorion
3 (84), S. 467-487.
16. REINACHER, Pia (27. März 1993): Hinter historischer Maske ein privates Gesicht.
In: Tages-Anzeiger.
17. SCHAFROTH, Heinz F. (17. April 1993): Grals- und Gratwanderung. Adolf
Muschgs Parzival-Roman “Der Rote Ritter”. In: Frankfurter Rundschau.
18. SCHENKEL, Roland (26. September 1993): Das Fragen erübrigt sich. Adolf
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217
Dilek Altinkaya Nergis
Muschg sprach zur Eröffnung der Sommerakademie1993. In: Luzerner Zeitung, S.
31.
19. SCHMIDT-DEGENHARD, Meinhard (Hrsg., 1995): Adolf Muschg. Liebe, Literatur
& Leidenschaft. (im Gespräch). Zürich.
20. WAGEMANN, Anke (1998): Wolfram von Eschenbachs “Parzival” im 20. Jahrhundert. Untersuchung zu Wandel und Funktion in Literatur, Theater und Film. Göppingen.
21. WAPNEWSKI, Peter (1993): Ein Parzival der Zeitwende. Peter Wapnewski über
Adolf Muschgs “Der Rote Ritter”. In: Der Spiegel, Nr. 17, S. 234a-239a.
22. WASIELEWSKI-KNECHT, Claudia (1993): Studien zur Parzival-Rezeption in Epos
und Drama des 18.-20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien.
23. WOLFRAM von Eschenbach, (2000): Parzival. In 2 Bd. Mittelhochdeutscher Text
nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Wolfgang Spiewok. Stutt gart.
***
Adolf Muschg’s Novel “The Red Rider” as a Reflection
of Female Self-Concepts
Abstract
This study analyses Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl written by the
Swiss author Alfred Muschg, in which he took Wolfram von Eschenbachs Parzival/Perceval, the common pattern of Middle Ages Europe, into consideration and
used it as adaptation and reflection of our age, especially in the demonstration of
the developing and the changes of the female characters in the novel.
As it can be seen, Adolf Muschg, in his novel “Der Rote Ritter”, has linked past and
present in a very different way. The fact that Muschg actually modernized and criticised it with elements of present time even if he used the original structure and time
in Eschenbach’s work has been determined.
Schlüsselwörter/Keywords: Adolf Muschg, Der Rote Ritter, Parzival, Wolfram
von Eschenbach, Identitätsentwurf
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FACETTEN DER AUSSENSEITEREXISTENZ
in Robert Schneiders Roman Die Offenbarung
Maria Stângă
Robert Schneider, der sich infolge der Veröffentlichung seines Debütromans
Schlafes Bruder eines großen Publikumserfolgs erfreut, zeichnet Gestalten,
die hauptsächlich durch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten in den Vordergrund rücken.
Der 1992 im Reclam Verlag erschienene Roman Schlafes Bruder bildet den
ersten Teil der Rheintal-Trilogie, die auch die Romane Die Luftgängerin
(1998) und Die Unberührten (2000) umfasst. Johannes Elias Alder, die
Hauptfigur des Romans Schlafes Bruder, zeichnet sich durch eine außerordentliche musikalische Begabung aus. Antonia Sahler, die Hauptgestalt des
Romans Die Unberührten, verfügt auch über besondere musikalische Fähigkeiten und Maudi Latuhr, die zentrale Figur des Romans Die Luftgängerin,
ist durch eine anatomische Besonderheit gekennzeichnet: Trotz eines männlichen Chromosomensatzes hat Maudi das Aussehen einer Frau.
Während die Gestalten der rheintalischen Trilogie aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten zu Außenseitern werden, rückt Jakob Kemper, die
Hauptfigur des Romans Die Offenbarung (2007), gerade durch das Fehlen
jeder Begabung in die Kategorie der Außenseiter. Die Unfähigkeit, der eigenen Mediokrität bewusst zu werden, führt zu einer endlosen Reihe gescheiterter Erlebnisse, die Kempers Außenseiterexistenz prägen. In einem Interview gesteht Robert Schneider seine Vorliebe für Außenseitergestalten:
Mich haben Außenseiter immer beschäftigt, und damit meine ich das innere
Außenseitertum. Menschen, die sich wesensmäßig als nicht kompatibel zur
Gesellschaft verhalten oder verhalten haben. Das kann Gutes zeugen oder Böses. Jedenfalls sind sie die Vorwürfe zu meinen Romanfiguren, von Elias Alder
in „Schlafes Bruder“ bis zu Jan Beukels in „Kristus“. Auch Jakob Kemper in
meinem neuen Buch ist einer, der immer und überall aneckt, weil er gar nicht
anders kann. Er ist sich selbst ausgeliefert, und er hat das Schutzhalten nicht
gelernt. Das trifft und berührt mich, weil es viel mit mir zu tun hat.1
1 http://www.vol.at/news/tp:vol:kultur/artikel/robert-schneider-im-interview/cn/news-2007100111062330 (3. 05. 2009).
Maria Stângă
1. Der Außenseiter aus soziologischer und psychologischer Sicht
Eine der bedeutendsten Aufgaben der Soziologie besteht darin, das soziale
Handeln des Menschen zu untersuchen. Die Soziologen betrachten das soziale Handeln des Individuums als „sinnhaft orientiertes Verhalten” 2, das in
einem interdependenten Verhältnis zu den Vorstellungen und Erwartungen
der anderen Gesellschaftsmitglieder steht.
Begriffe wie Norm, Normalität, Abweichung, soziale Kontrolle und Sanktion
haben die menschliche Existenz schon immer geprägt. Bemerkenswert ist,
dass man Normalität mit Häufigkeit assoziiert. Als normal gilt dementsprechend nur das, „was häufig vorkommt bzw. im Durchschnitt zu erwarten ist“3.
Ein weiterer Begriff rückt in diesem Zusammenhang in den Vordergrund: die
Norm, die das soziale Handeln regelt. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts
haben Auguste Comte und Alexis de Tocqueville die Bedeutung der Normen
für das Bestehen der Gesellschaft unterstrichen. Diese stellen ein wesentliches Orientierungsmittel des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft dar und
sind »Regeln«, die das Verhalten in einem gegebenen Kreis tatsächlich bestimmen und über die jeweils ein Einverständnis in diesem Kreis besteht,
das mehr oder weniger ausdrücklich sein kann. 4 René König geht von der
Annahme aus, dass das Handeln jedes Individuums im sozialen Prozess von
der Erwartung abhängt, wie sich andere Individuen ihm gegenüber verhalten
werden. Man kann zwei Grundeinstellungen den Normen gegenüber feststellen: Akzeptanz und Ablehnung.
Die Einhaltung der sozialen Normen wird von positiven Sanktionen – Belohnungen – gefolgt, ihre Nichteinhaltung dagegen von negativen Sanktionen –
Strafen. Für jede soziale Norm, die nicht eingehalten wird, gibt es eine negative Sanktion, die zu der zukünftigen Einhaltung der Norm beitragen sollte.
Auf diese Weise entstehen die kulturellen Normensysteme. Dazu zählen z.B.
Sitte, Religion, Recht.5 Grundlegend für die Gesellschaft ist jedenfalls die
Internalisierung dieser Normen, so dass diese zu „Maximen des eigenen
2 Sack, F.: Abweichendes Verhalten. In: Bernsdorf, Wilhelm (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie. Frankfurt am Main: Fischer 1973, Bd. 1, S. 15.
3 Humboldt-Psychologie-Lexikon. München: Humboldt Taschenbuchverlag 1990, S. 247.
4 König, René: Soziale Normen. In: Bernsdorf, Wilhelm (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie.
Frankfurt am Main: Fischer 1973, Bd. 3, S. 734.
5 Vgl. ebd., S. 735.
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Facetten der Außenseiterexistenz in Robert Schneiders Roman „Die Offenbarung“
Wollens gemacht”6 werden.
Das menschliche Verhalten ist dreifach determiniert: durch Situation, Motivation und Verhaltenserwartungen anderer Mitglieder der Gesellschaft.7 Die
Individuen projizieren bestimmte Erwartungen auf ihre Handlungspartner,
die sie weiterhin mit spezifischen sozialen Rollen assoziieren. Die Rolle, eine
zentrale Kategorie im Bereich der Soziologie, wird als „die Summe der Erwartungen, die dem Inhaber einer sozialen Position über sein Verhalten entgegengebracht werden“8, definiert. Mit sozialer Position bezeichnet man die
Rolle einer Person in der sozialen Struktur. Gemäß der sozialen Position
werden einer Person bestimmte Rechte, Privilegien und Pflichten zugeschrieben:
Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo sociologicus,
der Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft. Die Soziologie bedarf bei der Lösung ihrer Probleme stets des Bezuges auf soziale Rollen als Elemente der Analyse. Ihr Gegenstand liegt in der
Entdeckung der Strukturen sozialer Rollen. 9
Alle Individuen sind sowohl Rollenträger als auch Rollensender. Als Rollenträger müssen sie die Erwartungen anderer erfüllen, um von diesen akzeptiert zu werden. Gleichzeitig teilen sie den anderen Gesellschaftsmitgliedern
Rollen zu. Die sozialen Rollen werden somit zu einem wesentlichen Element
des sozialen Handelns und dienen dazu „Verlässlichkeit, Dauerhaftigkeit,
und Erwartbarkeit“ zu verschaffen.10
In den soziologischen Nachschlagewerken erscheinen über 40 Unterschei6 Vgl. ebd., S. 737.
7 Vgl. Lamnek, Siegfried: Theorien abweichenden Verhaltens I. „Klassische” Ansätze. Eine
Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und Sozialarbeiter. Paderborn: Wilhelm Fink 82007, S. 16-18.
8 Lautmann, Rüdiger: Die soziale Rolle. In: Fuchs, Werner/ Klima, Rolf u.a. (Hrsg.): Lexikon
zur Soziologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1975, S. 572.
9 Dahrendorf, Ralf: Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik
der sozialen Rolle. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 162006, S. 24.
10 Schäfers, Bernhard: Soziales Handeln und seine Grundlagen: Normen, Werte, Sinn. In:
Korte, Hermann/ Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft 72008, S. 34.
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dungen bezüglich der Kategorie der Rolle. Der amerikanische Kulturanthropologe Ralph Linton schlägt die Einteilung in erworbene und zugeschriebene Rollen vor, wobei die zugeschriebenen Rollen – Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität – angeborene Rollen sind.
Die erworbenen Rollen – Beruf, Führungselite, Klassenbester – hingegen
sind auf die Erwartungen des Einzelnen zurückzuführen und stehen im engen Zusammenhang mit der Gesellschaft. Zum einen können Unstimmigkeiten zwischen den Erwartungen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft vorkommen, die sogenannten Intrarollenkonflikte.11 Zum anderen können einem Individuum gegensätzliche Rollen zugeteilt werden, die zu Spannungen
und dementsprechend zu Interrollenkonflikten führen.12
Wenn das Individuum nicht normkonform handelt und die Erwartungen anderer Gesellschaftsmitglieder enttäuscht, werden die Mechanismen der sozialen Kontrolle eingesetzt. Die Sanktionierung spielt dementsprechend eine
zentrale Rolle in der Gewährleistung der Konformität, wenn man voraussetzt, dass Konformität überhaupt gewährleistet werden kann. In den 1960er
Jahren erscheint die Theorie des Labeling-Approach. Zu den „Labeling-Klassiker[n]“13 gehören die Soziologen Frank Tannenbaum, Edwin Lemert,
Howard S. Becker, John Kitsuse und Kai T. Erikson. Frank Tannenbaum
geht von der Annahme aus, dass die Gesellschaft zum Auftreten des abweichenden Verhaltens führt und definiert Devianz als Reaktionsprozess:
Der Prozeß der Entwicklung des Kriminellen ist daher ein Prozeß des Markierens,
Definierens, Identifizierens, Absonderns, Beschreibens, Hervorhebens und des
Wachrufens eines entsprechenden Bewußtseins in ihm und in der Gesellschaft; er
wird zu einer Art des Stimulierens, Suggerierens, des Her-vorhebens und des Hervorrufens gerade der Charakterzüge, deren man den Kriminellen beschuldigt. Das
Individuum übernimmt die ihm zugeschriebene Rolle.14
Auch Lemert bemerkt in dieser Hinsicht, dass die Reaktion der Gesellschaft
11 Vgl. Buchhofer, Bernd/ Lautmann, Rüdiger: Intrarollenkonflikt. In: Fuchs, Werner/ Klima, Rolf
u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1975, S. 316.
12 Vgl. Buchhofer, Bernd/ Lautmann, Rüdiger: Interrollenkonflikt. In: Fuchs, Werner/ Klima,
Rolf u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1975,
S. 318.
13 Lamnek, Siegfried, a.a.O., S. 225.
14 Zit. nach ebd., S. 226.
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Facetten der Außenseiterexistenz in Robert Schneiders Roman „Die Offenbarung“
auf das Handeln des Einzelnen ausschlaggebend für die Annahme des Abweichlerstatus sei:
Ist das Individuum einmal als deviant stigmatisiert oder etikettiert, dann
wird es durch die Reaktion der anderen, konformen Mitglieder der Gemeinschaft gezwungen, sich mit diesem Etikett auseinanderzusetzen. Eine wichtige
Rolle spielt deren Stereotyp von Devianz, ihre Vorstellung, von dem, was Abweichung ist und wie man sich einem Abweichler gegenüber zu benehmen
habe.15
In Bezug auf Individuen mit abweichendem Verhalten sind im Duden 31
sinnverwandte Wörter verzeichnet:
Außenseiter, Einzelgänger, Eigenbrötler, Kauz, Original, Sonderling, Individualist, Subjektivist, Nonkonformist, Außenstehender, Mauerblümchen, Outsider, Outcast, Drop-Out, Aussteiger, Freak, Ausgeflippter, Marginalexistenz,
Paria, Ausgestoßener, Geächteter, Verfemter, Asozialer, Unterprivilegierter,
Entrechteter, Randsiedler, Randgruppe, Einzelgänger, Ketzer, Nichtfachmann, Optimist.16
Der Bezug zur Normalität und die Annahme oder die Ablehnung der allgemeingültigen gesellschaftlichen Ziele führen zur Etikettierung des Individuums als Etablierter oder als Außenseiter. Der Einzelne akzeptiert die ihm zugeschriebene Eigenschaft und eignet sich diese an. Individuen, deren Verhalten als abweichend etikettiert wird, entfernen sich allmählich von dem konformen Verhalten, so dass sie gezwungen sind, weitere Regeln zu verletzen
und Außenseiter zu werden. Der Begriff Außenseiter wird meistens mit negativen Gedanken in Verbindung gebracht, obwohl das Außenseitertum eine
conditio sine qua non für das Bestehen der Gesellschaft ist. Die Außenseiter
gewährleisten „das Überleben des Gesamtsystems der S.N. [sozialen Norm],
das bei kontinuierlichem Befolgen, also bei totaler Konformität schnellstens
verdämmern würde”.17
Für den Einzelnen ist es eine Herausforderung, sich in einem fest definierten
15 Zit. nach Lamnek, Siegfried: Theorien abweichenden Verhaltens II. „Moderne” Ansätze.
Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und Sozialarbeiter. Paderborn: Wilhelm Fink 32008, S. 227-228.
16 Duden. Sinn- und sachverwandte Wörter. Wörterbuch der treffenden Ausdrücke. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich: Dudenverlag 21986, Bd. 8, S. 78-79.
17 König, René, a.a.O., S. 736.
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Rahmen zu entfalten, ohne seine individuelle Einzigartigkeit zu verlieren.
Deshalb gibt es Individuen, die sich weigern, die altbekannten Wege zu gehen und das Außenseitertum vorziehen. Es ist also kein Wunder, dass in der
deutschsprachigen Literatur zahlreiche Außenseiter als Inbegriff der
verwickelten menschlichen Existenz dargestellt werden.
2. Jakob Kempers Außenseiterexistenz. Vom Bürstenbinder zum
„Möchtegernforscher”
Jakob Kemper ist ein 45-jähriger Naumburger Organist und Klavierlehrer, in
dessen Besitz eine sensationelle Entdeckung am Heiligabend gelangt. Es
handelt sich um eine bisher unbekannte Komposition, ein Oratorium Johann
Sebastian Bachs, das die Existenz der Hauptgestalt grundlegend prägen
wird. Schon zu Beginn des Romans wird auf Kempers Außenseitertum hingewiesen:
Eine einzige Kränkung sei sein Leben gewesen, eine ins Monumentale getriebene Demütigung. Eine private wie berufliche Katastrophe. Rückschläge, Enttäuschungen und Ablehnung, seit er denken könnte.18
Sowohl das private als auch das berufliche Leben Kempers stellt eine endlose
Reihe von Misserfolgen dar. Jeder gescheiterte Versuch, zu Weltruhm zu gelangen, vertieft die Kluft zwischen ihm und der Gesellschaft. Das Streben
nach Selbsterhöhung ist aber zu stark und Jakob Kemper gibt seinen Traum,
soziale Anerkennung zu finden, nicht auf. Für die anderen bleibt er jedoch
nur ein „Möchtegernforscher“.19 Nach jedem Misserfolg wendet er sich einer
neuen Tätigkeit zu:
Nachdem er als Komponist ersten Ranges gescheitert war, dann als Maßstäbe
setzender Bach-Dirigent, schließlich als Orgelvirtuose von europäischem Format, wandte er sich der Forschung zu. Wissenschaftler wollte er werden, ein
bahnbrechender Bachforscher. Nichts weniger.20
2.1. Jakob Kempers Beziehung zu seiner Familie
Die Familie prägt die Identität jedes Individuums von Geburt an. Durch die
18 Schneider, Robert: Die Offenbarung. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2009, S. 7.
19 Ebd., S. 235.
20 Ebd., S. 30.
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Facetten der Außenseiterexistenz in Robert Schneiders Roman „Die Offenbarung“
Namensgebung schreibt sie dem Individuum eine soziale Identität zu 21 und
gilt als eine „wichtig wirkende Kraft bei der sozialen Kontrolle” 22. Die Familie
legt dementsprechend den Rahmen für die ersten Lebensjahre des Individuums fest. Jakob Kemper, der zweite und deutlich weniger begabte Sohn der
Familie Kemper, wird schon in seiner Kindheit den Mechanismen der sozialen Kontrolle ausgesetzt. Anhand der magischen Kraft der bachschen Partitur rücken zahlreiche Kindheitsepisoden in den Vordergrund. Es handelt
sich um Ereignisse, welche die Außenseiterexistenz der Hauptfigur wesentlich geprägt haben.
Jakob Kemper kann den Erwartungen seines Vaters nicht entsprechen und
wird ständig seinem älteren Bruder, Karl, gegenübergestellt, so dass er die
Rolle des Unterlegenen übernimmt: „Karl wäre vielleicht Musiker geworden,
Architekt, Regisseur, Rennfahrer. Alles, nur nichts Halbfertiges wie er, Jakob, der in der Hölle geblieben war aus Angst vor der Hölle da draußen.“ 23
Walter Kemper, der Vater der Hauptgestalt, ist der Besitzer einer Bürstenbinderei. Seine Haltung gegenüber den anderen Familienmitgliedern ist von
Gefühlskälte, Starrsinn und Unerbittlichkeit geprägt. Er zwingt Jakob, eine
Bürstenbinderlehre zu machen, obwohl sich dieser mit der Musik befassen
möchte. Der Vater demütigt ihn erneut, indem er Jakobs Jugendliebe, Eva,
heiratet. Eva ist die Frau, der er auch seine erste Komposition gewidmet hat.
Kemper besitzt von Anfang an eine Anlage zum Außenseitertum. Er ist „ein
kränkliches Kind”24, das mit der Zunge schnalzt und in der Schule Probleme
beim Rechnen hat. Seine Mitschüler nennen ihn „Kemper, de[n] Stümper”25.
Diese Merkmale werden aber durch die Einstellung des Vaters immer prägnanter.
Sein eigener Vater nennt ihn „Kloßkopp”26, „rückfällig”27 und erinnert ihn
21 Vgl. Barley, Delbert: Grundzüge und Probleme der Soziologie. Eine Einführung in das Verständnis des menschlichen Zusammenlebens. Darmstadt: Luchterhand 71975, S. 178.
22 Ebd., S. 181.
23 Schneider, Robert: a.a.O., S. 107.
24 Ebd., S. 14.
25 Ebd.
26 Ebd., S. 28.
27 Ebd., S. 216.
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ständig an seine Mittelmäßigkeit. Allmählich gelingt es Jakob aber, sich von
der autoritären Vaterfigur zu distanzieren und er beginnt ihn beim Vornamen zu nennen. Der erste klare Protest gegen den Vater ist das Türknallen:
[...] Dann knallte er die Ladentür so heftig zu, dass die Scheibe zu Bruch ging.
[...]. Von jenem Tag an redeten Vater und Sohn nicht mehr miteinander.
Begegneten sie sich zufällig, wechselte der eine die Straßenseite, während der
andere zügigen Schrittes weiterging.28
Die endgültige Loslösung Kempers von seinem Vater erfolgt mit der Nachricht, dass der Vater an Krebs leide. Es ist das erste Mal, dass Kemper vor
seinem Vater nicht stottert:
[...] Du hörst deinem – wie hast du mich immer genannt: rückfällig –, du
hörst deinem rückfällig gewordenen Sohn jetzt zu. Ich bin nicht deinetwegen
gekommen. Es ist mir egal, ob du lebst oder stirbst. [...] Du warst der schlechteste Vater, den sich ein Sohn überhaupt vorstellen kann. Das sage ich nicht,
um dir Vorwürfe zu machen. Ich sage es, weil es die Wahrheit ist. Meine
Wahrheit. Ich habe dich oft tot gewünscht. Je mehr ich dieser Phantasie
nachging, desto lebendiger wurdest du, desto stärker und mächtiger. 29
Walter Kemper prägt aber die Existenz seines Sohns, indem er Jakobs Weg
zum Außenseitertum eröffnet. Die Mutter trägt auch zu seiner Entfremdung
bei. Nach dem Tod des älteren Sohns Karl wird Jakobs Mutter immer zurückgezogener. Die passive Haltung der Mutter wirkt sich aber auf Jakobs
Entwicklung aus. Für ihn ist sie „ein schweigsamer Mensch, stets alles erduldender, wenn auch mutloser Mensch gewesen”30.
Das einzige Familienmitglied, zu dem er ein gutes Verhältnis hat, ist sein um
35 Jahre jüngerer Halbbruder, Leo. Jakob sehnt sich danach, Leos Vorbild
zu werden: „Oh, er wollte ihm mehr sein als bloß ein Musiklehrer. Er wollte
ihm das schenken, was er selbst beim Vater so sehr vermisst hatte: Achtung
und Respekt.“31
Jakob Kempers Beziehung zu seiner Familie erweist sich dementsprechend
als einer der Hauptfaktoren seines Außenseitertums.
28 Ebd., S. 28.
29 Ebd., S. 216.
30 Ebd., S. 8.
31 Ebd., S. 40.
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Facetten der Außenseiterexistenz in Robert Schneiders Roman „Die Offenbarung“
2.2. Das Minderwertigkeitsgefühl als Ursache des Außenseitertums
Jakob Kemper leidet unter Minderwertigkeitsgefühlen, die sein ganzes Handeln in negativer Weise prägen. Die Haltung des Vaters ist eine der Hauptursachen für Kempers Zweifel an seinem eigenen Wert. Das beeinflusst zugleich sein Gefühl der Gesellschaftszusammengehörigkeit und führt dazu,
dass Kemper sich auf die Überwindung der eigenen Mittelmäßigkeit konzentriert. Sein Streben nach Überlegenheit und Selbsterhöhung fällt schon zu
Beginn des Romans auf. Der Vater zwingt ihn zwar, als Bürstenbinder zu arbeiten, er setzt aber ehrgeizig mit dem Selbststudium fort. Jeder neue Versuch ist ein neuer Misserfolg. Die lange Reihe der Misserfolge beginnt angeblich mit seinem Geburtstag. Selbst den Tag, an dem er geboren wurde, muss
er teilen, denn er kam am Heiligabend auf die Welt: „Geboren am Heiligabend! Im Schatten des Allerhöchsten! Nicht einmal ein persönliches Fest!
Die Verwandtschaft im Haus, aber nicht seinetwegen.“32
Er scheitert auch als Komponist, seine Sinfonie der Arbeitermütter findet
keine Beachtung. Der Musiker Paul Dessau, dem er seine Sinfonie zukommen lässt, schreibt ihm Folgendes: sich „zu dem Werk zu äußern, sei ihm aus
Gründen der Höflichkeit ganz und gar unmöglich. Er bitte den Genossen um
Nachsicht”33. Kemper gibt aber nicht auf und setzt sein Streben nach Ansehen fort, indem er sich der Dirigentenkarriere widmet. Unter seiner Leitung
sollte die Matthäuspassion von Bach in der St. Wenzel Stadtkirche aufgeführt werden. Die Einnahmen des Konzerts will Kemper der St. Wenzelkirche für Dachreparaturen spenden. Der Tenor trinkt aber zu viel Alkohol am
Tag der Aufführung und das Konzert wird durch das Gelächter des Publikums unterbrochen. Das Publikum beginnt „Kemper, de[n] Stümper” 34 zu
flüstern und Jakobs Vater verlässt die Kirche. Nach dem misslungenen Konzert erscheint eine kurze Notiz in der Zeitung, in der mitgeteilt wird, dass ein
Konzert in der St. Wenzelkirche stattgefunden hat.
Die Reihe von Enttäuschungen und Demütigungen scheint endlos zu sein.
Kempers Streben nach Ansehen ist aber zu stark. Er verzichtet keineswegs
auf sein Ziel, den anderen zu beweisen, dass er ein hochbegabter Mensch sei.
Er entschließt sich, Orgelvirtuose zu werden. Die europäische Karriere
32 Ebd., S. 8.
33 Ebd., S. 21.
34 Ebd., S. 24.
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227
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scheint aber immer entfernter zu sein und Jakob Kemper beschließt Bachforscher zu werden. Sein Entschluss, über Bach zu forschen, ist auf die Tatsache
zurückzuführen, dass Bach vor mehr als 200 Jahren auf der Wenzelsorgel
gespielt habe. Für Jakob und seinen ehemaligen Lehrer, Friedhelm Wölfer,
gilt Bach als „die Instanz der Instanzen” 35. In diesem Entschluss widerspiegelt sich aber auch sein „Hang zum Monumentalen”36.
Sein vergeblicher Versuch, sich eine autographe Partitur von Bach in der
Ost-Berliner Staatsbibliothek anzusehen, und die Erniedrigung vor dem Abteilungsleiter gehören ebenfalls zu der langen Reihe von Demütigungen. Auf
Kempers Außenseitertum sind auch das Alkoholtrinken und die langen
Schlafepisoden zurückzuführen. Diese können als Symptome der Depression
betrachtet werden. Kemper schläft oft bis Mittag, denn irgendwann „gewöhnt man sich an die Hölle. Man will gar nicht mehr in den Himmel” 37. Seine Absonderungstendenzen sind deutlich. Kempers inneres Außenseitertum
wird auch durch sein Aussehen hervorgehoben:
Bekleidet war er mit einem schlabbrigen, viel zu kurzen, aber warmen Wollmantel – der Komponist Schostakowitsch soll ihn getragen haben, als sich das
Verhältnis zu Jossif Stalin empfindlich abzukühlen begann. [...] Dazu trug er
einen wohl ehemals blauen, schon sehr von Motten durchlöcherten Schal –
ein Relikt aus der Lehrzeit bei Wölfer –, unterm Arm die speckige Schultasche
aus der Grundschulzeit und auf dem Kopf die für ihn so typische grüne Baskenmütze. So kannte man ihn in der Stadt. Von den einen belächelt, von den
meisten nicht zur Kenntnis genommen. Eben ein Künstler.38
Hinsichtlich des Minderwertigkeitsgefühls lassen sich Analogien zu einer Gestalt aus der rumänischen Literatur herstellen. Gavrilescu, die Hauptfigur
der fantastischen Novelle Bei den Zigeunerinnen von Mircea Eliade, ist
ebenfalls ein mittelaltriger Klavierlehrer, der mit seinem bisherigen Leben
unzufrieden ist und der sich schon immer gewünscht hat, soziale Anerkennung zu finden. Beide Gestalten leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen, die
ihren Werdegang bestimmen.
Ihr Weg zur Erkenntnis wird durch fantastische Begebenheiten ermöglicht.
35 Ebd., S. 99.
36 Ebd., S. 22.
37 Ebd., S. 151.
38 Ebd., S. 42-43.
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Facetten der Außenseiterexistenz in Robert Schneiders Roman „Die Offenbarung“
Jakob Kemper findet das Opus Magnum Bachs, Apocalypsis Beati Ioannis
Apostoli, ein Musikwerk, das über die Macht verfügt, die Vergangenheit und
die Zukunft zu offenbaren. Vor allem vergangene Ereignisse, die mit Schuldgefühlen verbunden sind, werden anhand dieser Partitur in den Vordergrund
gerückt. Gavrilescu hingegen fährt an einem heißen Nachmittag mit der Straßenbahn durch Bukarest und wird auf dieser Fahrt in die mystische Welt der
Zigeunerinnen eingeführt. Diese sollten ihm die Entfernung von der profanen Existenz ermöglichen. Die Zigeunerinnen und die Partitur im Falle Kempers bieten den zwei Gestalten die Möglichkeit, sich mit ihren gescheiterten
Existenzen auseinanderzusetzen.
3. Die Etablierten-Außenseiter-Beziehung
Kemper weist deutliche Merkmale des Außenseitertums im Laufe des ganzen
Romans auf, aber diese Züge werden während seiner Gespräche mit den Mitgliedern der Bachgesellschaft besonders hervorgehoben. Es entsteht eine
Etablierten-Außenseiter-Beziehung. Der Soziologe Norbert Elias unterstreicht, dass die etablierte Gruppe ihrer Mitglieder „überlegene menschliche
Eigenschaften”39 zuschreibt und die anderen, die zum Out-Group gehören,
ausschließt. Die Forscher kommen in ihrem „kobaltblaue[n] BMW“40 an und
zeigen eine abweisende Haltung gegenüber den Naumburgern. Kempers Außenseiterposition verschärft sich und sein Protest gegen die Etablierten ist
am Anfang stumm:
Er spürte, wie ihm allmählich die Geduld riss, und musste sich zusammennehmen, um nicht mit der Faust auf den Tisch zu hauen und diesen gelangweilten, blasierten Forschern die Meinung zu sagen. Dem glatten Sperling, der
das Gähnen fast bis zum Weinen unterdrückte. Dem infantil feixenden, geschniegelten Holländer. Dem unkultivierten Zinser mit seinen groben Späßen.41
Bei dem Abendessen, das von dem Naumburger Bürgermeister für die hohen
Gäste organisiert wird, ändert sich allmählich sein Verhalten. Er versucht
der Mittelpunkt des Abends zu werden und bringt seine Theorien über die
Existenz einer der Öffentlichkeit noch unbekannten Partitur Johann Sebasti39 Elias, Norbert/ Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch 1993, S 9.
40 Schneider, Robert: a.a.O., S. 116.
41 Ebd., S. 131.
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an Bachs zum Ausdruck. Er stößt aber auf Ablehnung und wird von den
Bachforschern gedemütigt. Kemper besucht Lucia, eine 36-jährige Frau, in
die er heimlich verliebt ist. Er findet den Mut, ihr seine Liebe zu gestehen.
Danach geht er nach Hause und Selbstmordgedanken quälen ihn. Es ist ein
weiteres Zeichen seiner Entfremdung. Sein Streben nach Überlegenheit
kommt wieder zum Ausdruck, denn er will keinen Abschiedsbrief schreiben.
Seiner Meinung nach sei das „zu gewöhnlich”42. Die Partitur ermöglicht ihm
aber zur Erkenntnis zu gelangen:
Berühmt sein ist wie Fegefeuer. [...] Das war es doch gewesen, wofür ihm die
unbekannte Musik von Johann Sebastian Bach die Augen geöffnet hatte: Endlich das Alte vergessen, den Unmut, die Kränkungen, das Versagen. Sich versöhnen mit seinem Leben. Sich verzeihen lernen.43
Jakob Kemper, der in einer kleinen Stadt wohnt und bis zur Entdeckung der
Partitur ein „kleines missglücktes”44 Leben geführt hat, findet bis zuletzt zu
sich selbst und verlässt die Außenseiterposition. Er versteckt die Partitur und
gibt somit sein Streben nach Ruhm auf.
Solange aber die Gesellschaft von jedem Individuum fordert, „so zu sein wie
alle und so zu sein wie niemand“,45 wird es auch Außenseiter geben.
Literatur:
1.
BARLEY, Delbert: Grundzüge und Probleme der Soziologie. Eine Einführung in
das Verständnis des menschlichen Zusammenlebens, 7. Aufl. Darmstadt 1975.
2.
BUCHHOFER, Bernd/ Lautmann, Rüdiger: Intrarollenkonflikt. In: Fuchs, Werner/
Klima, Rolf u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Reinbek bei Hamburg 1975, S.
316ff.
3.
DAHRENDORF, Ralf: Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung
42 Ebd., S. 155.
43 Ebd., S. 188-189.
44 Ebd., S. 162.
45 Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität: strukturelle Bedingungen
für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart: Klett-Cotta 81993, S. 78.
230
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Facetten der Außenseiterexistenz in Robert Schneiders Roman „Die Offenbarung“
und Kritik der sozialen Rolle, 16. Aufl. Wiesbaden 2006.
4.
DUDEN. Sinn- und sachverwandte Wörter. Wörterbuch der treffenden Ausdrücke,
2. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich 1986, Bd. 8, 78-79.
5.
ELIADE, Mircea: La ţigănci şi alte povestiri. Bucureşti 1969, S. 441-477.
6.
ELIAS, Norbert/ SCOTSON, John L. (1993): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt
am Main: Suhrkamp Taschenbuch.
7.
Humboldt-Psychologie-Lexikon (1990): München: Humboldt Taschenbuchverlag,
247.
8.
KÖNIG, René: Soziale Normen. In: Bernsdorf, Wilhelm (Hrsg.): Wörterbuch der
Soziologie, Bd. 3. Frankfurt am Main 1973, S. 734-739.
9.
KRAPPMANN, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität: strukturelle Be dingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, 8. Aufl. Stuttgart 1993.
10. LAMNEK, Siegfried: Theorien abweichenden Verhaltens I. „Klassische” Ansätze.
Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und Sozial arbeiter, 8. Aufl. Paderborn 2007.
11. LAMNEK, Siegfried ( 3 2008): Theorien abweichenden Verhaltens II. „Moderne”
Ansätze. Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und
Sozialarbeiter. Paderborn: Wilhelm Fink.
12. LAUTMANN, Rüdiger: Die soziale Rolle. In: Fuchs, Werner/ Klima, Rolf u.a.
(Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 572.
13. SACK, F.: Abweichendes Verhalten. In: Bernsdorf, Wilhelm (Hrsg.): Wörterbuch
der Soziologie. Frankfurt am Main 1973, Bd. 1,15-20.
14. SCHÄFERS, Bernhard: Soziales Handeln und seine Grundlagen: Normen, Werte,
Sinn. In: Korte, Hermann/ Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 7. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 23-44.
15. SCHNEIDER, Robert: Die Offenbarung. Berlin 2009.
16. http://www.vol.at/news/tp:vol:kultur/artikel/robert-schneider-iminterview/cn/news20071001-11062330) (3. 05. 2009).
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231
Maria Stângă
Facets of Deviance in Robert Schneider’s Novel Die Offenbarung
Abstract
The existence of every society depends on the creation and enforcement of social
rules. The observance of rules leads to conforming behaviour. There are, however,
individuals who fail or refuse to obey social rules. In order to limit their deviant behaviour, the rest of the society uses social control mechanisms and, thus, often forces
them into becoming outsiders. This paper focuses on the phenomenon of deviance,
as described in Robert Schneider’s novel Die Offenbarung. Jakob Kemper, the protagonist of the novel, experiences an endless series of failures and develops a deviant
career. The paper outlines, therefore, the aetiology and development of Jakob Kemper’s deviance.
***
Schlüsselwörter/Keywords: Norm, abweichendes Verhalten, Abweichlerkarriere,
Außenseitertum, Entfremdung, Minderwertigkeitsgefühl.
232
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DRAMA IM KLEINFORMAT:
Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
Eleonora Ringler-Pascu
1. Theoretische Ansätze
Als dramatische Kleinformen kommen eine Reihe von Begriffen zur Diskussion, die sich alle vorwiegend auf die formellen Komponenten konzentrieren, aber zugleich inhaltliche Aspekte einbeziehen. Zu den ausschlaggebenden Merkmalen gehören – Szenenreduktion, Fragmentcharakter, minimales
dramatisches Personal, Minimaldialog bzw. Monolog, Minimalhandlung, oft
nur noch pure Beschreibung als Nebentext. Vom inhaltlichen Standpunkt
werden vorwiegend Bagatellen thematisiert, denn keine tiefe Analyse ist zu
erwarten. Die Dominanz des Banalen, des Alltäglichen ist zu vermerken, wobei der Text mittels Ironie die thematisierte Situation parodiert oder dekonstruiert.
Die Manifestationsformen der kurzen dramatischen Ausdrucksformen sind
sehr vielfältig, einerseits noch teilweise traditionsgebunden, andererseits betreten sie Neuland in Form von Experiment. Pantomime, Einakter, poetisches Theater, Minidramen, Ministücke, Dramolette, Fragmentstücke, Einübungen, Mikrodramen, Sprechstücke, Theaterrituale, burleske Szenen, pantomimisch-dramatisch-musikalische Minischaupiele, konkretes bzw. visuelles Theater, Feuilleton, Duette, dramatische Szenen, volkstümliche Lehrstücke, dramatische Enthüllungen, Minikomödien oder -tragödien, Aktionsstücke, dramatische Gespräche, Konzeptstücke, szenische Gedichte, (Ein)Minutenstücke, Melodram, Gleichnis, Tableaus, minimal drama, Groteske, Miniaturen - sind die am meisten vertretenen dramatische Formen, die zu dem
Thema ‚Kurzdrama’ bzw. ’dramatische Kleinform’/’Drama in Kleinformat’
gehören.
Einen wichtigen theoretischen Ausgangspunkt stellt der programmatische
Eingangstext aus dem Sammelband von Karlheinz Braun Sätze zum MiniDrama1 dar.
1
MiniDramen sind Kürzeststücke, szenische Reduktionen, dramatische Abreviaturen und Bagatellen, sind dramatische minimal art.
1 Karlheinz Braun (1987): Sätze zum MiniDrama. In: Karlheinz Braun (Hrsg.): MiniDrama.
Verlag der Autoren. Frankfurt am Main, S.9-11.
Eleonora Ringler-Pascu
2
Ein MiniDrama ist mehr die Idee als deren Realisierung, ist mehr die Situation als deren Analyse, ist oft der kürzeste Weg zur erhellenden szenischen
Pointe. […]
7
Im MiniDrama sprengt eine eher anarchische Lust die Formen der Welt und
die des Theaters in lauter kleine Stücke, um in den Splittern selbst ein MiniWeltTheater zu entdecken. Dies erscheint dann in absurden Dialogen, komischen Nummern, blutigen Witzen, makabren Pointen, - als MiniDrama.
8
Das MiniDrama kann seiner Kürze halber nicht damit rechnen, auch aufgeführt zu werden. Es kann daher mit spielerischen Mitteln besonders gut darstellen, was sich auf der Bühne mit darstellerischen Mitteln nicht spielen läßt.
[!] Im MiniDrama entmaterialisiert sich das Theater und gewinnt die absolute
Freiheit.2
Die programmatischen Sätze von Karlheinz Braun bieten den Ansatz einer
Minipoetik des Minidramas, einen Terminus den ich persönlich bevorzuge.
Minidramen sind Kürzeststücke, die von einem einzigen Satz ausgehend bis
zu einer A4-Formatseite oder mehreren Seiten reichen. Illustrative Beispiele
dazu bieten die dramatischen Kurztexte, denken wir nur an Wolfgang Bauers
Mikrodrama Lukrezia, Gerald Bisingers Text Abendfüllend oder Thomas
Bernhards Dramolett Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir
essen. Minidramen sind meist situationsbezogen, fokussieren einen einzigen
Aspekt, indem die Handlung zugunsten einer Beschreibung im Nebentext
schwindet und könnten somit als eine theatralische Kurzgeschichte betrachtet werden. Die besondere Problematik der Minidramen besteht in ihrer Unaufführbarkeit, wegen der Kürze und dem oft eintretenden Fragmentcharakter, aber auch wegen dem Mangel an Dialog und Handlung oder in anderen
Fällen, weil sie nur noch aus Nebentext bestehen. Die Autoren dieser Art
dramatischen Texte legen einen besonderen Akzent auf die spielerischen
Mittel, die über die experimentelle Schiene dem Theater mehr Freiheit sichern. Braun spricht sogar über eine „absolute“ Freiheit, eine Behauptung,
die soweit stimmt, wenn die Schreibtechniken und die Phantasiefreiheit damit gemeint werden, weil die Darstellungsmöglichkeiten sich nur im Text
2 Karlheinz Braun: Sätze zum MiniDrama, S. 9.
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ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
bzw. auf der mentalen Rezeptionsebene entfalten können.
Die Literatur- bzw. Theaterwissenschaft hat zum Forschungsgegenstand
Kurzdrama bislang nur Aspekte des Formenkanons herausgegriffen, Textproduktionen einzelner Dramatiker untersucht, ohne ein historisches und
systemisches Standardwerk hervorzubringen. Einzelne Theaterkritiken, Aufsätze und Studien befassen sich mit einer Vielfalt von Kurzdramen, insbesondere mit dem Einakter als Oberbegriff für Kurztheater. Neuere Studien
bevorzugen den Terminus ‚Kurzdrama’ bzw. ‚Minidrama’, beispielsweise Brigitte Schultze, Gerd Stratmann, Karlheinz Braun und andere.
Mit Blick auf das heterogene Textcorpus halte ich den Terminus ’Kurzdrama’
für angemessener als ’Einakter’. Ich folge damit einer Tendenz, die sich vor allem in den Forschungen zur angloamerikanischen Kurzdramatik durchgesetzt
hat. Mit diesem Begriff ist für einen breiten Textbestand die K ü r z e als gat tungskonstitutives Moment fokussiert.3
Individuelle Schreibweisen führen zu den verschiedensten Textproduktionen, oft als „absurd“ oder „experimentell“ etikettiert, wobei der innovative
Aspekt in den Vordergrund geschoben wird. Der Bruch mit der Tradition erfolgt dabei vorwiegend auf der formellen Schiene, aber auch thematische
oder ästhetische Neuerungen kommen zur Diskussion.
2. Modelltexte – Betrachtungen und Lesevorschläge
Die vorliegende Studie konzentriert sich auf drei Kurzformen des Dramas Minidrama, Mikrodrama, Dramolett - und versucht anhand von beispielhaften Texten ihre Manifestationsformen zu untersuchen. Ausgangspunkt der Untersuchung sind Texte von deutschen und österreichischen Gegenwartsautoren, deren experimentelle Produktionen als unkonventionell
gelten, die sich einer klaren Zuordnung entziehen und sich oft der Interpretation sperren. Bezogen auf die dramatischen Versuche von Kurzdramen,
insbesondere der Experimente der Wiener Gruppe, gibt es relativ wenig Studien, ein Aspekt, den der renommierte Germanist Wendelin Schmidt-Dengler feststellt.
3 Brigitte Schultze (1996): Vielfalt von Funktionen und Modellen in Geschichte und Gegenwart: Einakter und andere Kurzdramen. In: Winfried Herget und Brigitte Schultze (Hrsg.):
Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale Horizonte.
Francke Verlag,.Tübingen, S. 6f.
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235
Eleonora Ringler-Pascu
Die Literaturwissenschaft hat dann auch sehr früh beim Umgang mit diesen
Texten [Dramen der Wiener Gruppe] resigniert, nirgends wird sie sich der
Zweitrangigkeit ihrer Rede so sehr bewusst wie bei solchen Versuchen, die
sich gegen jede Form von Erläuterung oder Hilfestellung an den Leser abschottet.“4
Gerade diese dramatischen Versuche zwingen den Rezipienten, ob Leser oder Zuschauer, umzudenken, denn die gewohnten Rezeptionsformen sind nicht mehr gültig. Sprachexperimentelle Bestrebungen prägen diese dramatischen Texte, deren innovative Manifestationsformen
zugleich traditionsgebunden sind. Barocke Elemente, Spielformen des
Volkstheaters, grotesk-satirische Motive der neueren Volkskomödie
schimmern durch. Die bewusste Auseinandersetzung mit Sprache und
vorgefundenem Wortmaterial wird vorwiegend von den Vertretern der
Wiener Gruppe praktiziert. Sie entwickeln eine Art Theater, das von
gegebenen Mustern ausgeht, aber zugleich eine Überhöhung ihrer
Strukturen intendiert oder diese mit phantastischen Elementen verbindet. Banale Phänomene aus dem Alltag werden fokussiert, Außenseiter aus den Subkulturen gelangen auf die Bühne, Verhaltensweisen
der Menschen und ihr Sprachhabitus werden mittels komödienhafter
Konstruktionen wiedergegeben. In vielen Theaterproduktionen manifestieren sich Träume und Halluzinationen, Selbstdarstellungen der
dramatischen Figuren und sämtliche Reflexionen. Komplizierte Bauformen und Grenzüberschreitungen, szenische Simulation, Spiel im
Spiel Techniken suggerieren Simultaneität und erlauben vielseitige
Lesarten. Der dramatische Text als Gegenstand der Reflexion, Mehrfachkodierung und Vielfalt der dramatischen Manifestationsformen
gehören zu den Hauptmerkmalen des zeitgenössischen Theaters, das
in diesem Fall am Beispiel von kurzen dramatischen Texten untersucht werden soll.
4 Wendelin Schmidt-Dengler (1994): Die Einsamkeit Kasperls als Langstreckenläufer. Ein
Versuch zu H.C. Artmanns und Konrad Bayers Dramen. In: Wendelin Schmidt-Dengler
(Hrsg.): verLockerungen. Österreichische Avantgarde im 20. Jahrhundert, Studien zu Walter Serner, Theodor Kramer, H.C. Artmann, Konrad Bayer, Peter Handke und Elfriede Jelinek. Veralg Edition Praesens. Wien, S. 78.
236
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
2.1. Gerald Bisinger: Abendfüllend. Ein Stück (1971)
Ich trete auf und ab, so lange, bis der Abend gefüllt ist.
Dieses Minidrama fasst die Theaterwelt in einer Kürzestformel zusammen. Der Untertitel „Ein Stück“ lässt die Erwartung auf ein dramatisches Werk aufkommen, das in Wirklichkeit von der Form her als Minimaltheater konzipiert ist. Der vielversprechende Titel des kurzen
Dramas ist die inhaltliche Vorwegnahme des Geschehens, das in einer
einzigen Aussage erfolgt. Der gesamte Vorgang ist auf das Auf- und
Abtreten auf der Bühne reduziert. Eine metatheatrale Aussage eines
Ichs, das eine dramatische Figur sein kann, ein Schauspieler, der die
Abendvorstellung durch sein Gebärdenspiel „füllt“. Eigentlich kann es
jedes andere Ich sein, ein Individuum, das seinen eigenen Existenz-Abend „füllt“. Überraschend diese Fokussierung auf das „Ich“, das
durch sein Auf- und Abtreten den Abend füllt, wobei nicht explizit auf
ein theatrales Geschehen auf der Bühne hingewiesen wird. Ein besonderer Überraschungseffekt wird durch die Schlichtheit des Textes erreicht, der trotzdem eine gesamte Welt beinhaltet. Obwohl ein literarisches Werk von dieser Dimension als Aufführung unmöglich zu sein
scheint, gäbe es dennoch Inszenierungsmöglichkeiten, z. Bsp. Gestik
des Auf- und Abtretens kombiniert mit dieser Aussage, in wiederholter
Form. Eine Minimalszene, ein Minimalmonolog und eine einzige agierende dramatische Figur – das monologisierende Ich, alles strukturbildende Elemente von diesem dramatischen Entwurf, der dem Begriff
Minidrama entspricht.
2.2. Reinhard Lettau: Auftritt (1963)
Ein Herr tritt ein.
HERR Ich bins.
WIR rufen Versuchen Sie es noch einmal.
Der Herr tritt erneut ein.
HERR Hier bin ich.
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Eleonora Ringler-Pascu
WIR rufen Es ist nicht viel besser.
Wieder betritt er das Zimmer.
HERR Es handelt sich um mich.
WIR rufen Ein schlechter Anfang.
Er tritt wieder ein.
HERR ruft Hallo! Er winkt.
WIR Bitte nicht.
Er versucht es wieder.
HERR ruft Wiederum ich!
WIR rufen Beinahe!
Noch einmal tritt er ein.
HERR Der Langerwartete.
WIR rufen Wiederholung!
Aber ach, nun haben wir zu lange gezögert, nun bleibt er draußen, will nicht
mehr kommen, ist weggesprungen, wir sehen ihn nicht mehr, selbst wenn wir
die Haustüre öffnen und links und rechts die Straße schnell hinunterschauen.
Diesmal gibt es seitens des Autors keinen konkreten Hinweis zu einer Gattungszugehörigkeit seines dialogisierenden Textes. Das Pronomen „WIR“ ist
in Vertretung des Publikums bzw. Ansprechpartners im Dialog mit einem
HERRen zu verstehen, der das Auftreten wiederholte male aufnimmt, in
theatralischer Gebärde. In fast clownesker Manier wiederholt der Unbekannte das Ein- und Austreten, als Aufforderung des kommentierenden kollektiven Spielpartners. Eine anfangs normale Situation kippt während des dialogischen Spiels ins Absurde und mündet zugleich in Sprachlosigkeit. Der Minimaldialog der Gesprächsgruppen, denn es kann auf keinen Fall von regelrechten Partnern gesprochen werden, nimmt leicht absurde Züge an, die sich
zwischen Komik und Groteske bewegen. Überraschend das Schlusskommentar
im Nebentext, der klarstellt, dass es sich keineswegs um ein Bühnengeschehen
handelt, sondern um ein Straßen-Spiel. Die vermeintliche metatheatrale Ebene
wird ins Off verschoben, so gesehen in den Alltag des Straßengeschehens.
2.3. Bernd Schroeder: Traum (1970)
Auf der fast dunklen Bühne steht nahe an der Rampe ein Bett, in welchem
sich eine Frau wälzt. Sie schlägt um sich, schreit, kämpft einen imaginären
238
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Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
Kampf, schreckt hoch, macht ein Licht an, das das Saallicht ist, schaut lange
verwirrt die Leute an.
FRAU Von Ihnen habe ich gerade geträumt. Sie lächelt, lacht, schüttelt sich
vor Lachen, macht das Licht wieder aus und schläft beruhigt weiter.
Vorhang.
Die Rolle der Frau ist die einer Träumenden. Sie träumt von ihrem Publikum. Eine Minimalaussage bestätigt diese Behauptung, denn sonst besteht
das Drama nur aus beschreibendem Nebentext. Ein Minimalbühnenbild dominiert die theatrale Aussage. Als zentrales Element erscheint das Bett, welches die Perspektive bestimmt und auch der Thematik des Minidramas entspricht: Traum, Zustand des Aufwachens und weiterer Schlaf. Die Reduktion
des dramatischen Personals auf eine Frau bestätigt erneut die minimalistische Struktur dieser Textproduktion, die sich einer reduzierten Szenerie auf
einer Miniaturbühne bedient. Die Publikumsrealität wird ihrerseits nur mittels der Signale angedeutet, die auf den Ablauf eines Theatergeschehens im
entsprechenden Raum hinweisen – Bühne, Saallicht und Vorhang. Der gesamte dramatische Text besteht aus dem erzählend-beschreibenden Nebentext der Minimalhandlung, unterbrochen von einem Kurzmonolog. Der
überaus kurze Monolog der wachgewordenen Frau verweist auf den Traum,
der eigentlich die zwei Zustände verbindet, d.h. Traumwelt und theatrale
Realität. Die Protagonistin spricht das Publikum an, das jenseits der Rampe
diesem Spektakel von Licht und Dunkel beiwohnt. Wie vor einer Guckkastenbühne ist das Publikum situiert, wobei die realen Zuschauer bzw.
Rezipienten diese skurille Geschichte wahrnehmen.
2.4. Gerhard Rühm: dieses stück spielt im duschraum des theaters (1972)
sie werden sich duschen
sie rennen
unter die brausen
und lassen sie rinnen
sie duschen sich
sie tuscheln
(sie haben anscheinend etwas zu vertuschen)
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239
Eleonora Ringler-Pascu
[…]
es sind sogar mehrere
es sind sogar alle
weil sie noch nicht abgetrocknet sind
es dauert lange
dann müssen sie sich voneinander trennen
die vorstellung beginnt
gleich wenn sie zu ende sein wird
werden sie wie vorher unter die brause rennen
sie rinnen lassen
und sich duschen
Gerhard Rühms „ministücke“ bzw. „aktions- und konzeptstücke“ konzentrieren sich auf einen einzigen Gegenstand oder auf eine einzige Aktion, entziehen sich einer exakten Zuordnung zur Gattung durch die radikale Minimierung der theatralischen Mittel. Die spielerisch variable Abfolge der ErlebnisAktion konkretisiert sich erst bei ihrer (möglichen) Inszenierung, indem das
Theater zur eigenen Produktionsmaschine wird. Das generierte Sprachspiel,
die visuellen und auditiven Eindrücke erlauben von der Spiel-Art eine Assoziation mit der konkreten Poesie, indem der Begriff „konkretes Theater“ gewagt werden kann. Sein duschraum-theaterstück konzentriert sich auf die
im Titel signalisierte Einzelaktion, die spielerisch in sich reimende andere
Aktionen einbezieht, visueller und auditiver Natur. Verbale Konstruktionen
lösen eine besondere Dynamik aus, die sich alle auf das Duschen konzentrieren und den sekundären Begleiterscheinungen wie Brausen, Tuscheln, Kuscheln, Huschen – eine regelrechte Auflistung der Vorgänge, die ein Präambel für eine Vorstellung darstellen. Diese wird nur kurz angedeutet, um danach das ritualhafte Duschen wiederaufzunehmen. Augenblickssituationen
werden hervorgebracht, gebündelt in kurzen Handlungsabläufen. Neben
dem Aspekt des Duschens nimmt die potentielle Vorstellung eine zentrale
Rolle ein. Es ergibt sich daraus ein unmittelbarer Zusammenschluss vom
Dusch-Thema und dem Vorstellungs-Thema. Der nonkonventionelle Schauplatz verweist zugleich auf Metatheatralität und erinnert an die Experimente
der Wiener Gruppe.
240
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Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
2.5. Ernst Jandl: parasitäres stück (1985)
im anschluß an ein klassisches sprechstück
dauer: 10 (oder weniger) minuten
personen
die personen der letzten 10 (oder weniger) minuten des vorangegangenen
klassischen sprechstücks in unverändertem charakter und unveränderter
aufmachung
ort
der ort (die orte) der letzten 10 (oder weniger) minuten des vorangegangenen
klassischen sprechstücks in unveränderter anlage und ausstattung
handlung
die handlung (handlungen, bewegungen, auftritte und abgänge) der letzten 10
(oder weniger) minuten des vorangegangenen klassischen sprechstücks in
unveränderter ausführung
text
ersetzung alles in den letzten 10 (oder weniger) minuten des vorangegangenen
klassischen Spechstücks gesprochenen durch mit heraushängender zunge unter
einhaltung der zeitdauer des gesprochenen ausdruckslos gelalltes, das bei
diesem
lallen entstehende stereotype geräusch ist in rhythmus und klang am ehesten
mit
einer reihe in einem einzigen exhalationsstrom hervorgestoßener rasch aufeinander
folgender kurzer I-laute (I-I-I-I-I) vergleichbar.
______________
anmerkung 1
der beginn des parasitären stückes ist vom ende des vorangegangenen klassischen
stücks durch eine pause getrennt
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
241
Eleonora Ringler-Pascu
anmerkung 2
dieses stück ist gewidmet dem wiener burgtheater und allen die es am leben
erhalten
Zu den experimentellen Versuchen der Wiener Gruppe kann auch Ernst
Jandls Minidrama parasitäres stück zugerechnet werden, formell in der Tradition seiner Lautgedichte, inhaltlich wiederum eine metatheatrale Aussage,
eine Mini-Poetik bzw. Parodie auf die aristotelische Dramenkonzeption.
Schon der Titel signalisiert, dass sich dieser dramatische Text von einem anderen „nährt“, nämlich von einem klassischen Sprechstück. Diese Angabe
wird dann konsequent durchgeführt, indem alle dramatischen Kategorien
des „parasitären“ Textes erwähnt werden, stets im Vergleich zu dem vorhergehenden „klassischen“ Text. So wird die Spielzeit des neuen Stücks 10 Minuten oder sogar weniger dauern, eine Anspielung an die aristotelische Einheit der Zeit. Diese Zeitangabe durchzieht wie ein Leitmotiv die anderen Kategorien, denn daran orientieren sie sich. Das dramatische Personal des vorangehenden klassischen Stücks bleibt unverändert, was auch die Kostüme
(Aufmachung) bzw. ihren Charakter betrifft. Dasselbe gilt auch für den
Schauspielplatz, dem Ort der Handlung, die ebenfalls unverändert bleiben.
Die Aussage thematisiert die Reduktion des Ausgangsdramas auf das Minimale, rein formell betrachtet. Der dramatische Text wiederum zerfällt in
Laute, konkret in eine Art „Exhalationsstrom“ kurze I-Laute: I-I-I-I-I, und
verändert sich schließlich radikal, indem er sich in ein inhaltsloses Geblabber verwandelt. Der gesamte Text des „parasitären“ Stücks, der als Nebentext gelesen werden kann, besteht aus einer Reihe von Anweisungen metatheatraler Natur. Überraschend die zwei dem parasitären stück hinzugefügten Anmerkungen des Autors, der explizit auf die trennende Pause zwischen
den Stücken hinweist und auf die Widmung, die dem Wiener Burgtheater
gilt. Es stellt sich die Frage, ob das wohl ironisch zu verstehen ist?
2.6. Hans Carl Artmann: attila ante portas (1969)
atilla reitet durch den bois de Vincennes und singt sich eines:
ATTILA
etsch wischugar ass ajl nekem darort
etsch rossatqü ass ajl hajjort
242
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
dawaschü hort ass ajl schabamba sart
tesch ted scha saat a hänak känkä wort …
ein mädchen namens chaperon rouge kommt schwitzend durch das untergehölz. es sucht frischen waldmeister (asperula) und sammelt ihn in ein körbchen. atilla bemerkt die süße kleine dirne, steigt von seinem hunnenpferd und
tritt unvermutet auf das mädchen zu:
ATTILA jopnokak kütschük etejsch…
CHAPERON ROUGE fichtre, le monsieur le loup!
ATTILA sie kann mein hunnisch nicht verstehen. spricht das kleine fräulein
allemande?
CHAPERON ROUGE ei freilich, herr ede wolf, es ist die sprache meines vaters.
ATTILA ja da schau her … ein tüchtiges braves volk die alemannen … und wie
heißt dein lieber vater?
CHAPERON ROUGE man nennt ihn chrotalrik den elektronischen.
ATTILA by jingo, ein feines prädikat … und was suchst du hier in diesem anmutigen untergehölze, kind?
CHAPERON ROUGE waldmeister für den ähni, den er ist allezeit durstig und
geht ihm nichts über eine ordentliche waldmeisterbowle, ma foy!
ATTILA du bist ein liebes gutes mädchen, chaperon rouge, aber warum gehst
du nit weiter in den bois? dort, wo die schattigen buchen und breitrandigen
ulmen beginnen, wächst ein waldmeister (asperula), der an dichte und frische
seinesgleichen nicht mehr hat.
CHAPERON ROUGE seid ihr den dort gewesen, herr ede wolf?
ATTILA ha, ich und nicht dortgewesen sein! soeben komme ich aus dieser
grünen region. Da sieh her, noch sind meine röhrenstiefel über und über von
feinsten waldmeisterpartikelchen bedeckt, staubunculi asperulä!
[…]
chaperon rouge dringt durch attilas redden ermutigt in die tiefgrünen herzregionen des bois de vincennes vor, attila aber, der falsche hunnenchef, wirft
sich auf sein wartendes roß und reitet galopp in richtung marne, er singt sich
abermals eins:
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Eleonora Ringler-Pascu
ATTILA cibabom cibabom cibabom …
seine stimme verliert sich allmählich im flimmernden blau der ferne:
vorhang
donald duck, primus v. quack und daniel düsentrieb springen enthusiasmiert
auf ihre sitzplätze und beginnen heftig zu applaudieren, werden jedoch, als sie
beherzt „It been a hard day’s night“ anstimmen, von empörten ordnungshütern unsanft aus dem saal entfernt.
vorhang II
___________________
die uraufführung dieses stückes fand am 12. mai 1959 im théatre municipal de
nancy mit nachfolgender besetzung statt
attila………………………………………………………robert hossein
chaperon rouge…………………………………………romy schneider
ein roß ………………………………………………………...fernandel
H. C. Artmanns Stücke werden oft als „gags“ in Szenenform gelesen, weniger
als dramatische Produktionen, die mit literarischen Späßen schwarzem Humor oder anderen schockierenden Einfällen dem traditionellen Theater ausweichen. Als exemplarisch dafür steht das Einminutenstück attila ante portas, ein Minidrama der besonderen Art. Der Autor schöpft diesmal aus dem
Grimmschen Märchenschatz und kombiniert die Märchenwelt vom Rotkäppchen mit historischem Material. Der Titel verführt den Rezipienten in die
Welt der Geschichte, mittels des geflügelten Wortes, das an den Hunnenkönig Atilla/Etzel erinnert. Doch die Szenerie, die im Nebentext angedeutet
wird, dekonstruiert den Mythos, denn die Handlung spielt in den Bois de
Vincennes und die mit dem Titelhelden konversierende Person entpuppt sich
als Chaperon Rouge, die französische Variante von Rotkäppchen. Der gesamte Dialog ist spielerisch gestaltet, überrascht mit den gut ausgeklügelten
Sprachspielen und oft grotesk anmutenden Anspielungen. Attilas Hunnisch,
Chaperon Rouges Alemannisch und Französisch verflechten sich in ein humorvoll-groteskes Wortspiel. Die Verfremdungseffekte und virtuos geführten
Wort-/Sprachspiele generieren stets humorvolle Wendungen. Im metatheatralen Schlussteil, nachdem der Vorhang fällt, tauchen Donald Duck, Primus
v. Quack und Daniel Düsentrieb auf, die als Zuschauer des Spektakels ihr
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Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
Enthusiasmus zum Ausdruck bringen. Wiederum ein Beispiel für Artmanns
Vorliebe mit Protagonisten aus den verschiedenen Sparten zu spielen – Märchenwelt, Zeichentrickfilme, Phantasiewelt. Dann folgt ein zweites Überraschungsintermezzo, nämlich nachdem der Vorhang II fällt, erfährt der Rezipient, wer die Interpreten der Rollen bei der Uraufführung des Stückes waren. Erneut wird ein anderes Medium angedeutet, denn alle drei Interpreten
sind bekannte französische Schauspieler.
2. 7. Elfriede Jelinek: Der Wald (1985)
Feld vor dem Schloß.
Es treten auf mit Trommeln und Fahnen Malcom, Siward, die übrigen Anführer,
das Heer mit Zweigen.
MALCOLM
Jetzt nah genug! Werft ab die laubigen Schirme,
Und zeigt euch wie ihr seid. Ihr, würdiger Oheim,
Führt mit dem Vetter, Eurem edlen Sohn,
Die erste Schar; ich und der würdige Macduff
besorgen, was noch übrig ist zu tun,
Wie wir es angeornet.
SIWARD
Lebt denn wohl. –
Zieht uns nur heut entgegen der Tyrann,
Mag er den schlagen, der nicht fechten kann!
MACDUFF
Trompeten blast, befeuert kühnen Mut,
Herolde, ruft ihr uns in Tod und Blut.
Alle ab. Schlachtgetümmel hinter der Szene.
Ein Mann und eine Frau fahren auf Fahrrädern auf die Bühne.
Sie sprechen, während sie fahren.
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Eleonora Ringler-Pascu
FRAU Ist es wahr, daß Birnams Wald auf Dusinan angerückt ist?
MANN Ja. Und jetzt ist er wieder fort.
FRAU Wo ist der Wald hingegangen?
MANN Er ist kaputt.
FRAU Kommt er vielleicht wieder?
MANN Nein. Er ist zerstört worden.
FRAU Ui jegerl.. Wo sollen wir uns jetzt hinsetzen?
Sie fahren noch eine Weile, dann fahren sie wieder ab.
Elfriede Jelineks Minidrama Der Wald ist ein Beispiel für intertextuelles
Schreiben, in Miniformat, das thematisch und schreibtechnisch an ihre
Großdramen anknüpft. Ihr Theatertext beginnt mit einem Prätext, ein Auszug aus Shakespeares Macbeth, V. Akt, 6. Szene, die in ihrer gesamten Länge
(besser gesagt Kürze) zitiert bzw. im Minidrama montiert wird. Die Namen
der dramatischen Figuren, Malcolm, Siward und Macduff fungieren als Signale, die auf das intertextuelle Schreibverfahren verweisen. Die Pathetik der
Aussagen aus dem elisabethanischen Drama steht in einem starken Kontrast
zu dem darauffolgenden Teil. Der zweite Teil versetzt die Handlung in die
Gegenwart, wobei der Übergang nahtlos im Nebentext geschieht. Der Rezipient bekommt überraschender weise mit, dass sich auf der Bühne ein Mann
und eine Frau, zwei anonyme dramatische Helden, auf Fahrrädern bewegen.
Die schlichte Erwähnung des Fahrrades wirkt jedenfalls überraschend, denn
es entsteht eine Kluft zwischen der Welt von gestern und der von heute. In
dem absurd klingenden Dialog der zwei namenlosen Protagonisten entsteht
über die Signalworte Birnam und Dusinan die Verbindung zum vorhergehenden dramatischen Text von Shakespeare. Die Frage der Frau ist eine Anspielung auf die Prophezeiung aus dem historischen Drama, derzufolge Macbeth erst dann mit Furcht zu tun habe, wenn der Wald aus Birnam auf das
Schloss auf Dusinan aufrücke. Die weiteren Kommentare des Mannes in dem
fast als Frage-Antwort-Spiel anmutenden Dialog, sind ein filigran gesponnenes Textgeflecht, die zwei literarische Welten in Verbindung bringen. Der als
Titel angedeutete Wald, ein zentrales Motiv in beiden Teilen, verweist einerseits auf die rätselhafte Prophezeiung aus Shakespeares Text, andererseits
wird er zum Diskussionsthema der gegenwärtigen dramatischen Figuren.
Zwei verschiedene Welten treffen sich, die auch durch die Sprache differenziert werden: Pathetik und banaler Alltag. Sogar ein Austriazismus entschlüpft der Frau „ui jegerl“ – leichte Ironie oder vollkommene Banalisie246
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Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
rung des ernsten Problems, das auf die Zerstörung des Waldes verweist, das
hier angesprochen wird, und das Elfriede Jelinek fast leitmotivisch in ihren
Werken thematisiert. Minimales Geschehen bei maximaler Ausnutzung
sprachlicher Selbstreferentialität kennzeichnet diesen Text, dessen Kürze
eine gewisse Unbestimmtheit und scheinbare Informationsbeschränkung bedingt, die ihrerseits Polyvalenz verursachen.
2. 8. Wolfgang Bauer: Lukrezia (1968)
Einakter
Personen:
Lukrezia
Die Bühne:
ist ein Tollkirschenhang im November. (Nebel). Lukrezia kniet, blau gekleidet,
drin und lächelt düster. Nimmt ein Einsiedeglas zur Hand, hebt es an den
Mund, flüstert hinein.
LUKREZIA: Kompott ...
Vorhang
Ende
Die Mikrodramen von Wolfgang Bauer gehören gattungsmäßig zum Kurzdrama/Minidrama, wobei es einige Sondermerkmale aufweist – Verlust der
dialogisierenden Kommunikation, übergenaue Segmentierung der Oberflächenstruktur, Problematisierung der dramatischen Fiktionalität, Dekonstruktion bzw. Verfremdung historischer Fakten, Trivialisierung des Banalen, Tendenz zum Metatheater.5 Dazu ein beispielhafter Text, der unter dem
von Wolfgang Bauer geprägten Begriff Mikrodrama fingiert, obwohl der
Autor als Untertitel die Gattungszugehörigkeit zum Einakter signalisiert.
Lukrezia will ein Einakter sein, in kürzester Form, denn es handelt sich nur
um eine Kurzbeschreibung der Situation und einer Minimalaussage der dramatischen Figur Lukrezia. Fast ironisch anmutend – ein typisches Dekon5 Vgl. Eleonora Pascu (2000): Österreichisches Gegenwartstheater zwischen Tradition und
Innovation. Editura Excelsior. Timişoara, S. 65 f.
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Eleonora Ringler-Pascu
struktionsspiel vom Typ Wolfgang Bauer. Die Signale „Tollkirschenhang“,
„düsteres“ Lächeln in Assoziation mit dem Namen Lukrezia provoziert die
Rückblende auf die historische Figur Lukrezia Borgia, bekannt als Giftmischerin. Bei Bauer erfährt das gesamte Geschehen eine überraschende Wende – Lukrezia flüstert ins Einsiedeglas „Kompott“ und dekonstruiert damit
ihren negativen Mythos, indem er ins Lächerliche rutscht. Geschichte und
die überlieferte Legende von Lukrezia werden zu einer bieder-kitschigen Alltagsminiatur relativiert.
Die Möglichkeit eine Wortspieles ergibt sich, falls der Buchstabe „l“ aus dem
Wort „Kompott“ fehlt. Der Begriff „Komplott“ würde eine total neue Lesart
zulassen.
2.9. Thomas Bernhard: Claus Peymann kauft sich eine Hose und
geht mit mir essen (1986)
PEYMANN
Eine passende Hose
kann glücklicher machen als alles andere
finden Sie nicht auch Bernhard
ICH
Naturgemäß
PEYMANN
Einerseits diese passende Hose
andererseits Richard den Dritten im Kopf
das macht schon glücklich Bernhard
Na dann gehen wir doch mal ein Stück Bernhard
von der neuen Hose fasziniert
Probieren probieren probieren Bernhard
das ist es
das erschöpft uns natürlich
mit der Hose ist es wie mit dem Wintermärchen
wie mit Leonce und Lena ist es mit der Hose
das Hosenprobieren erschöpft uns natürlich
[…]
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ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
PEYMANN
Das Theater ist meine Welt
ICH
Meine Welt ist es nicht
PEYMANN
Das Theater ist meine Leidenschaft Bernhard
nichts als das Theater
ICH
Genau umgekehrt ist es bei mir
ich verabscheue das Theater
es zieht mich an
weil ich es verabscheue
Sie lieben die Schauspieler
ich hasse sie
Sie lieben das Publikum
ich hasse es
Sie lieben die Bühne
ich hasse sie
[…]
PEYMANN
[D]iese lächerlichen Bühnen Bernhard
diese lächerlichen Bühnen in Deutschland und in der Schweiz
überhaupt diese lächerlichen europäischen Bühnen
ich hebe das Burgtheater jeden Tag so hoch
wie kein anderer Theaterdirektor seine Bühne in die Höhe hebt
ICH
Da sind Sie ja ein richtiger Kraftlackel
PEYMANN
Was ist das
ICH
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Eleonora Ringler-Pascu
Ein Kraftlackel ist ein Mensch
der gar nicht so viel Kraft hat
wie er haben müsste
aber soviel Kraft zeigt wie kein anderer
PEYMANN
Das ist ein Kraftlackel
ICH
JA das ist ein Kraftlackl
PEYMANN
Die österreichischen Begriffe
sind umwerfend komisch
vieles fast alles ist hier
umwerfend komisch
ich bin darauf gekommen daß hier
beinahe alles umwerfend komisch ist
Das Dramolett verbindet dramatische Strukturen mit einem satirischen, einem beinahe kabarettistischen Text, der nach Schmidt-Dengler in der Tradition der „Farce“ steht.6 Die Thematisierung von Theaterfragen bildet den
Kern dieser Miniatur-Groteske, die den zwei fiktionalisierten Theatermachern, i.e. Claus Peymann und Thomas Bernhard, den Raum öffnet das
Theatertreiben und darüber hinaus Kunst im allgemeinen ins Kreuzfeuer zu
nehmen.7 Die Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwindet und öffnet
den Raum der Künstlichkeit, die keine Identifikation mit dem realen Weltgeschehen zulässt.
Der Autor projiziert seine tiefsten Wunschvorstellungen auf die PeymannGestalt, die im bernhardschen Stil über Österreich und speziell über Wien
losschimpft. Tangentiell gibt es auch bissige Bemerkungen über Katholizismus und Nazivergangenheit, zwei der auftretenden Leitmotive im Werk von
6 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler (1995): Die Tragödien sind Komödien oder Die Unbelangbarkeit Thomas Bernhards durch die Literaturwissenschft: In: Wolfram Bayer (Hrsg.): Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa. Böhlau Verlag. Wien, S. 19.
7 Eleonora Pascu: Österreichisches Gegenwartstheater zwischen Innovation und Tradition,
S. 36f.
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Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
Bernhard. Den beiden Kunstschaffenden geht es vordergründig um Kunstausübung, Literatur und insbesondere um das Medium Theater, wobei eine
politisch kritische Komponente stets präsent ist. Während ihrer tiradeartigen Dialoge unterhalten sich die Figuren über die Kunst und trivialisieren
ihre eigene Kunstauffassung, die stets mit dem banalen Hoseneinkauf verglichen wird, ein scheinbar zentraler Bezugspunkt, schon im Titel ironisierend
angedeutet. Subtile Wortspiele bzw. grotesk-komisch wirkende Wortballungen mimen den realen Ablauf des Bühnengeschehens und strukturieren
weitgehend das Dramolett.
Schlussfolgernd kann festgestellt werden, dass die Kurzdramen bzw. die Minidramen einer Gattung dazugehören, die noch darauf wartet eingehend untersucht zu werden. Zugleich ist festzustellen, dass die Grenzen vom formellen, ästhetischen, stilistischen und auch thematischen Standpunkt schwanken und oft in andere Bereiche hinübergreifen, insbesondere in das weite
Feld der Kurzprosa. Die Theatralität der Minidramen manifestiert sich auf
den verschiedensten Ebenen und damit ist jeder einzelne dramatische Entwurf von Kleinformat eine für sich existierende Theater-Text-Welt, die vom
jeweiligen Rezipient verschieden aufgefasst wird. Die angedeuteten theoretischen Ansätze und Lesartversuche sollen eine orientierende Hilfe im „Walde
dieser Fiktionen“ anbieten, um dieser dramatischen Gattung eine entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken und den Lesern neue Lektüremöglichkeiten zu eröffnen.
Literatur:
1.
ARTMANN, Hans Carl: attila ante portas, In: Karlheinz Braun (Hrsg.): MiniDrama. Verlag der Autoren. Frankfurt am Main 1987, S. 82-84
2.
BAUER, Wolfgang: Lukrezia, In: Einakter und frühe Dramen, 1. Band. Graz, Wien
1987, S. 201.
3.
BERNHARD, Thomas: Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir es sen. Drei Dramolette. Frankfurt am Main 1990, S. 27-52.
4.
BISINGER, Gerald: Abendfüllend, In: Karlheinz Braun (Hrsg.): MiniDrama.
Frankfurt am Main 1987, S. 17
5.
BRAUN, Karlheinz: Sätze zum MiniDrama, In: Karlheinz Braun (Hrsg.): MiniDrama. Frankfurt am Main 1987, S. 9-11.
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Eleonora Ringler-Pascu
6.
JANDL, Ernst: parasitäres stück, In: Karlheinz Braun (Hrsg.): MiniDrama. Frankfurt am Main 1987, S. 78-79.
7.
JELINEK, Elfriede: Der Wald, In: Karlheinz Braun (Hrsg.): MiniDrama. Frankfurt
am Main 1987, S. 85-86.
8.
RÜHM, Gerhard: dieses stück spielt im duschraum des theaters, In: Karlheinz
Braun (Hrsg.): MiniDrama. Frankfurt am Main 1987, S. 31-33.
9.
BAYERSDÖRFER, Hans Peter: Der totgesagte Dialog und das monodramatische
Experiment. Grenzverschiebungen im Schauspieltheater der Moderne, In: Erika
Fischer-Lichte (Hrsg.): Theateravantgarde. Wahrnehmung-Körper-Sprache. Tübingen 1995, S. 242-290.
10. HERGET, Winfried: Momente des Wartens: Bemerkungen zur zeitlichen Struktur
amerikanischer Einakter. In: Winfried Herget und Brigitte Schultze (Hrsg.): Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale Hori zonte. Tübingen 1996, S. 315-321.
11. MELZER, Gerhard: Wolfgang Bauer. Einführung in das Gesamtwerk. Königstein
1981.
12. MENNEMEIER, Franz Norbert: „Anarchische“ Reflexion in Kurzdramen Schnitzlers, Pirandellos, Benns. – Zur Vorgeschichte des absurden Theaters im Fin de
siècle- und Avantgarde-Kontext. In: Winfried Herget und Brigitte Schultze (Hrsg.):
Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale
Horizonte. Tübingen 1996, S.257-283.
13. PASCU, Eleonora: Österreichisches Gegenwartstheater zwischen Tradition und
Innovation. Timişoara 2000.
14. PECHMANN, Paul: Experimentelle Bestrebungen im österreichischen Gegen wartstheater. In: George Gutu (Hrsg.): Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 12 (9-10). Bucureşti, S. 45-52.
15. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, 7. Aufl. München 1988.
16. SAUTER, Willmar: Eine verschrumpfte Avantgarde: Das Intima teatern des Au gust Strinberg, In: Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): Theateravantgarde. Wahrnehmung-Körper-Sprache. Tübingen 1995, S. 242-290.
17. SCHMIDT-DENGLER, Wendelin: Die Einsamkeit Kasperls als Langstreckenläufer. Ein Versuch zu H.C. Artmanns und Konrad Bayers Dramen . In: Wendelin
Schmidt-Dengler (Hrsg.): verLockerungen. Österreichische Avantgarde im 20.
Jahrhundert, Studien zu Walter Serner, Theodor Kramer, H. C. Artmann, Konrad
Bayer, Peter Handke und Elfriede Jelinek. Wien 1994, S. 75-92.
18. SCHMIDT-DENGLER, Wendelin: Die Tragödien sind Komödien oder Die Unbelangbarkeit Thomas Bernhards durch die Literaturwissenschaft. In: Wolfram
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Drama im Kleinformat: Minidrama, Mikrodrama, Dramolett
Bayer (Hrsg.): Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa .
Wien 1995, S. 15-30.
19. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt am Main
1963.
20. SCHULTZE, Brigitte: Vielfalt von Funktionen und Modellen in Geschichte und Gegenwart: Einakter und andere Kurzdramen. In: Winfried Herget und Brigitte
Schultze (Hrsg.): Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische
und funktionale Horizonte. Francke Verlag. Tübingen 1996, S. 3-29.
21. SCHWEIKLE, Günther und Irmgard (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon. Begriffe
und Definitionen. Stuttgart 1990.
***
Drama in short form: minidrama, microdrama, dramolett
Abstract
The item „minidrama“ (short play) is connected with various dramatic forms of expression like “microdrama”, “dramolett”, burlesque scene, visual theatre, dramatic
scene, fragment and others. They bring innovative aesthetic aspects into discussion,
as most of them deconstruct the traditional idea of drama. The present study concentrates on some dramatic productions of contemporary Austrian and German
writers, with the aim to offer new ways of interpretation of such experimental texts,
as there exist only a few theoretical studies which try to give a support to the reader.
Three main forms of short play are focussed - minidrama, microdrama and dramolett- as they offer the opportunity to sustain a minimal poetic for these innovative
forms of expression.
***
Schlüsselwörter/Keywords: Minidrama, Kurzdrama, Mikrodrama, Dramolett,
Kurztheater, Theatralität des Minidramas
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JUGEND AUF DER FLUCHT (1933-1946)
Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
Monica Tempian
Durch die Hilfsprogramme Großbritanniens und die Kindertransport-Rettungsaktion konnten zwischen Dezember 1938 und dem Kriegsausbruch am
1. September 1939 fast 10.000 Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre aus
Deutschland und den annektierten und okkupierten Ländern gerettet werden. Die besondere Tragik lag darin, dass die Kinder ohne ihre Eltern abfuhren, meist überzeugt, dass die Trennung von der Familie nur vorübergehend
war, zum großen Teil aber ihre Eltern nie wiedersehen sollten.
I remember the train journey from Königsberg to Berlin and I think that was a
close time I had with my father. Maybe at that time he was trying to explain to
me what was going on, but without worrying me in any sense, assuring me
that ‘We’ll join you in England or we’ll end up in New Zealand’. […] He asked
me to conduct myself, to be orderly, not to cause other people burden – his
last lesson – and it stuck with me for all my life. 1
Das berichtet Walter Freitag, Jahrgang 1929, aus dem liberal-jüdischen Bildungsbürgertum2. Er zählte zu den vergleichsweise wenigen KindertransportTeilnehmern, die nach einem längeren Aufenthalt bei Pflegeeltern bzw. in
Hostels für Jugendliche in England ins entlegene Dominion im Südpazifik
emigrierten.3 Das Gespräch mit dem Vater auf dem Weg zum Versammlungspunkt der Kindertransport-Kinder in Berlin war das Wichtigste, was
1 Interview mit Walter Freitag, Survivors of the Shoah Visual History Foundation, 13 Dezember 1997, Wellington, Neuseeland, Interviewer: Reuben Zylberszpic, Interview Code: 38477.
2 In Ermangelung präziser Begriffe zur Einordnung der Herkunftsfamilien in ein Klassenbzw. Schichtenmodell wird hier für sehr wohlhabende, etablierte Fabrikanten- und Bankiersfamilien wie die des Teilhabers der Berlinischen Lebensversicherung und Direktors der Hamburger Zweigstelle Hans Phillip Julius Simon der Begriff ,Großbürgertum’ benutzt, ,Bildungsbürgertum’ für jene Familien, deren wirtschaftliche Grundlage die freien Berufe waren – Walter Freitags Vater war beispielsweise Rechtsanwalt von Beruf – und ,Erwerbsbürgertum’ für
die Inhaber mittelgroßer Geschäfte und Unternehmen.
3 Genaue Zahlen über die endgültige Ansiedlung der Kindertransport-Kinder in Neuseeland
liegen nicht vor. Nach Angaben des Board of Deputies of British Jews (BOD) waren 1950 4%
der Kindertransport-Teilnehmer nach Australien und in sonstige Länder ausgewandert. United States Holocaust Memorial Museum, RG-59.023M, Board of Deputies of British Jews
(BOD), Education Committee, Report on Jewish Refugee Children brought to England, London, Mai 1950.
Monica Tempian
der damals Zehnjährige ins Exil mitnahm.
Exilland Neuseeland
Neuseeland als Exilland kam auf Grund der rigiden Aufnahmebestimmungen nur für einen kleinen Kreis von Flüchtlingen vor dem Nationalsozialismus in Betracht. Das kleine Dominion im Pazifik praktizierte in den dreißiger Jahren eine sehr restriktive Einwanderungspolitik, die auf der 1880 eingeführten White New Zealand Policy basierte und die Beschränkung der
Einwanderung von Personen nicht-britischer Herkunft auf ein Minimum
verfolgte.4 Im Gegensatz zu anderen Ländern wie die USA oder Australien
führte Neuseeland auch keine offiziellen Quoten für die Aufnahme europäischer Flüchtlinge ein. Die Regierung versuchte eher, von der Einwanderung
abzuraten, wie das aus einem „London, September 1938“ datierten Brief des
New Zealand High Commissioner’s Office hervorgeht:
The New Zealand Government is not at present encouraging immigration. […]
In the case of persons not of British birth or parentage, it is necessary for such
persons to obtain permits from the Minister of Customs at Wellington before
they may proceed to the Dominion. The High Commissioner has received advice from his Government that it has recently found necessary to discontinue
the issuing of such permits except in very special cases. It is considered therefore, that it would probably be hardly worth your while making application. 5
Die restriktiven Einwanderungsregelungen sahen im einzelnen vor, dass die
nicht-britischen Einwanderer sogenannte landing moneys in Höhe von 200
Pfund vorweisen mussten, ein neuseeländischer Staatsbürger oder eine Vereinigung garantierte, dass sie dem Staat nicht zur Last fallen würden, und die
Einwanderer sich verpflichteten, einen Beruf zu ergreifen, der ihnen die Integration in den Arbeitsmarkt ermöglichte. Knapp 1100 Flüchtlinge, fast ausschließlich jüdischer Herkunft, konnten im Zeitraum 1936-1940 durch Beziehungen zu Bekannten oder Verwandten in England und Neuseeland den Behörden ein Einreisevisum abringen, bei mindestens zehnfach so vielen Bewerbungen.6
4 James Belich, Paradise Reforged: A History of the New Zealanders (Auckland: Penguin
Press, 2001), S. 216.
5 „Letter to Dr S. Rothmann of September 1938”, in Ann Beaglehole, A Small Price to Pay:
Refugees from Hitler in New Zealand 1936-1946 (Wellington: Allen & Unwin, 1988), S. 15.
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Jugend auf der Flucht (1933-1946). Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
Demgegenüber war die Politik der neuseeländischen Regierung gegenüber
jugendlichen ZwangsemigrantInnen vergleichsweise liberal. Auch nach
Kriegsende waren die Neuseeländer geneigt, verwaiste Kinder und jugendliche Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aufzunehmen. Wie die Historikerin Ann Beaglehole festgestellt hat, sollte die neuseeländische Selektionskommission 200 Waisenkinder ins Land bringen. 7 Die Gründe dafür waren
vielfältig, vom humanitären Impuls Kindern zu helfen bis zum Mythos, Neuseeland sei der beste Ort der Welt, um Kinder großzuziehen. Zudem waren
Kinder im Alter von 12 bis 15 Jahren wünschenswerte Emigranten, weil
„from the point of view of assimilation, children present the least problems“. 8
Die von Mitleid geprägte Wahrnehmung und die Fokussierung auf den Opferstatus der Jugendlichen weckte offenbar Erwartungen an dankbares, genügsames Verhalten und zügige Anpassung. Die jugendlichen ZwangsemigrantInnen andererseits, darunter auch Kindertransport-Kinder, die während des Krieges oder gleich danach über Großbritannien nach Neuseeland
emigrierten, wünschten sich nichts anderes als ein ,normales’ Leben. Jedoch
konnten sie beim Einleben in dem noch stark von der Besiedlungsphase geprägten Dominion nicht anders, als sich kontinental-europäischer Wahrnehmungsmuster bedienen und den Neuseeländern, die als abgehärtete koloniale Menschen immer mit dem Geringsten zufrieden waren, Erwartungen und
Vorstellungen einer völlig anderen Kultur entgegenbringen. Verbindungen
zu Verwandten oder Bekannten in Übersee hätten in der neuen Welt, die
enorme Entfernungen mit sich brachte, haltgebend sein können, doch war
man während des Krieges vom Rest der Welt völlig abgeschnitten.
Wie fanden sich die jungen ZwangsemigrantInnen in der neuen Umgebung
zurecht, wie lösten sie das Akkulturations- und Integrationsproblem und welche Bedeutung hatte die Zwangsemigration für ihr späteres Leben? Mit diesen
Fragestellungen befasst sich ein interdisziplinäres Forschungsteam an der Victoria University of Wellington.9 Der vorliegende Beitrag geht auf eine im Rah6 Ibid., S. 11f.
7 Archives New Zealand, L1 22/1/27, Part 3, Report of the Selection Team, S. 3. Zitiert nach
Ann Beaglehole, “The Children Are a Triumph”: New Zealand’s Response to Refugee and
Displaced Children, 1930s-1980s, VUW History Programme Research Seminar (Wellington
2010). Ich danke Ann Beaglehole für Zugang zu den Ergebnissen ihrer rezenten Forschung.
8 Archives New Zealand, L1 22/1/27, Part 1, Director of Employment to Minister of Employment, 23 Dezember 1947.
9 Das Projekt Refugee and Other Displaced Children in New Zealand from the 1930s to the
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
257
Monica Tempian
men dieses Projektes verfasste vergleichende Studie über Kindheitserinnerungen von jugendlichen ZwangsemigrantInnen aus mittel- und osteuropäischen
Familien zurück, die im Zeitraum 1933-1946 in Neuseeland Aufnahme fanden.
10
Er basiert auf der Analyse biographisch-narrativer Interviews mit jugendlichen ZwangsemigrantInnen und fasst einige der Ergebnisse im Forschungsbereich „Kindertransport“ zusammen. Wie vielfach in der Exilforschung belegt
und diskutiert, ist bei der Art der Verfolgungsbelastung der jugendlichen
ZwangsemigrantInnen und Holocaust-Überlebenden in Rechnung zu stellen,
ob sie sich gegen die Integrität der Familie richtete und somit die Entwicklung
von Bewältigungsstrategien allein oder innerhalb der peer-group herausforderte, oder ob der Überlebenskampf gemeinsam mit der Familie oder mindestens mit einem Elternteil ausgetragen wurde.11 Diese Ansicht steht in Einklang
mit Eriksons theoretischen Ausführungen zur Identitätsentwicklung, denen
gemäß die „innere Identität“ oder die „Ich-Identität“ eines Kindes sich in erster Linie daraus ergibt, dass der Heranwachsende lernt, sich als „Ich“ innerhalb einer sozialen Realität zu verstehen.12 Gerade die von mir untersuchten
1950s wurde im März 2009 in die Wege geleitet. Zwar hinkt die neuseeländische Exilforschung hinter der Exilforschung in anderen Ländern her, dennoch zeigen die von meinen MitarbeiterInnen und mir geführten oral history Interviews mit ehemaligen Flüchtlingen vor
Hitler und den displaced persons der Nachkriegszeit sowie die von uns veröffentlichten Studien und betreuten Forschungsarbeiten mit ähnlicher Thematik, dass unsere Ergebnisse sowohl
im neuseeländischen Kontext als auch in der internationalen Exilforschung von hoher Aktualität sind.
10 Monica Tempian, Simon Gigliotti, „Acculturation and Identity of Child Refugees in New
Zealand (1933-1946). A Comparative Analysis of Recollections of Kindertransport Children
and the Deckston Children”, in Andrea Hammel, Bea Lewkowicz (Hrsg.), The Yearbook of the
Research Centre for German and Austrian Exile Studies, 13 (2011), The Kindertransport to
Britain: New Developments in Research (im Druck).
11 Walter von Baeyer, et al., Psychiatrie der Verfolgten (Berlin/Göttingen/Heidelberg:
Springer Verlag 1964), S. 230ff; Inge Hansen-Schaberg, ,„Exil als Chance.’ Voraussetzungen
und Bedingungen der Integration und Akkulturation”, in Exilforschung. Ein internationales
Jahrbuch, 24 (2006) Kindheit und Jugend im Exil – Ein Generationsthema, S. 183-197 (S.
185).
12 Erikson hat für die ersten zwanzig Jahre des Lebens den Begriff des „psychosozialen Moratoriums“ geprägt, welches die Möglichkeit zur Entwicklung einer „inneren Identität“ böte.
Dementsprechend verinnerlichen Kinder kulturelle Einflüsse in erster Linie durch eine Identifikation mit den Eltern und die kulturelle Evolution verläuft über die Auseinandersetzung, die
die Heranwachsenden mit ihren Eltern und anderen Erziehern führen. Dabei ist nach Erikson
auch zu beachten, dass die Ansichten der Eltern über Wertorientierungen keineswegs einen
statischen Charakter haben, sondern sich bei veränderten gesellschaftlichen und biographi-
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Jugend auf der Flucht (1933-1946). Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
Kindheits- und Jugenderinnerungen befinden sich im Schnittpunkt verschiedener Familienkonstellationen bzw. Gruppenzugehörigkeiten. An ausgewählten Beispielen soll deshalb gezeigt werden, in welcher Weise die familiale Sozialisation oder die Zugehörigkeit zu einer Außenseitergruppe sich auf das Erleben der Kindertransport-Kinder auswirkten.
Kulturkontakt und erste Eindrücke im fremden Land
Die Verwendung der Begriffe Exil und Emigration im Zusammenhang mit
den Flüchtlingen vor dem Nationalsozialismus ist umstritten. War ihnen die
Zugehörigkeit zur Welt und Gesellschaft ihrer ersten Sozialisation durch die
NS-Propaganda nicht schon vor der Flucht abgesprochen worden? Hatten
sie ihr Herkunftsland nicht endgültig verlassen? Zwar erlebten die nach Neuseeland verschlagenen Kindertransport-Kinder ihr Schicksal nicht als Exil
und vorübergehendes Asyl, sondern als Neubeginn, als Emigration, jedoch
fühlten sie sich bei dem Zusammenprall mit dem neuseeländischen Milieu in
erster Reihe als Mitteleuropäer. Die Schilderung der ersten Eindrücke und
Erfahrungen nach der Ankunft in Neuseeland ist meist ein sehr wichtiger Bestandteil ihrer Lebensgeschichten. Dabei zeichnen sich die Erinnerungen an
den Neustart im fremden Land durch eine besondere Dichte bei der Beschreibung der unmittelbaren Umgebung aus, primär also der Architektur
der Städte, der ersten Wohnstätte in klassischen Siedlungen mit einem
quarteracre, der Landschaft außerhalb der Stadt, der Erfahrungen des typischen Wetterwechsels und der ständigen Erdbebengefahr. „I think, it was 25
of October 1940, and I must say I was not terribly impressed with Auckland,
it was shabby and run down somehow. And my sister always quotes me: ,So
sieht’s hier aus!”’13 Das erzählt Robert (Bob) Fantl, Jahrgang 1923, aus dem
liberal-jüdischen Erwerbsbürgertum. Er war im Juni 1939 aus Prag mit
einem Kindertransport entkommen und konnte ein Jahr später seine nach
Neuseeland entflohene Mutter und Schwester wiederfinden. Im Gegensatz
zur kulturellen Vielfalt, Größe und Schönheit der europäischen Städte konnte die urbane Landschaft des kleinen Inselstaates im Südpazifik mit ihrer Mischen Bedingungen wandeln. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus (Frankfurt a.M.:
Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1991), S. 123-212.
13 Interview mit Robert (Bob) Fantl, 11 Juni 2010, Wellington, Neuseeland, Interviewerin:
Monica Tempian. Ich danke Brigitte Bönisch-Brednich für die Überlassung ihres eigenen oral
history Interviews mit Robert Fantl aus dem Jahr 1997. Ich danke ebenfalls Robert Fantl für
seine Gesprächsbereitschaft.
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Monica Tempian
schung aus Stadt und Land, aus aufstrebenden intellektuellen und künstlerischen Kreisen und bäuerlicher Gesellschaft nur als Ernüchterung erlebt werden. Großstädte wie Auckland und Wellington mit ihren kleinen, aus Holz
gebauten und mit Wellblech bedeckten Häusern erweckten den Eindruck einer heruntergekommenen Provinzstadt. Robert Fantl betont, wie ungewohnt
der Stil des Kolonialbaus in den engen Geschäftsstraßen, mit Veranden und
Laufgängen, und die wenigen, immer voll besetzten Straßenbahnen für ihn
waren. Ebenso waren die Wohnungen – meist mit einer einzigen Wärmequelle, daher fast so kalt wie die Außentemperaturen, und wegen der Feuchtigkeit auch klamm –, sowie das Klima mit den oft herrschenden Südwinden
aus der Antarktis für den Mitteleuropäer gewöhnungsbedürftig. 14 Verließ
man aber die Stadt, so fand man in den landwirtschaftlichen Erschließungsbereichen gerodete Waldstücke und aufgetürmte Baumstämme, so dass man
beim Anblick der öden Hügel die liebliche Landschaft und den Fichtenwald
vermisste – dass Neuseeland auch voller landschaftlicher Reize war, das war
etwas, was die meisten erst im Verlauf der Jahre erkannten. „Things were
pretty primitive“,15 resümiert seine Schilderung Erich (Eric) Simon, Jahrgang
1923, aus dem liberal-jüdischen Großbürgertum. Erich Simon war als Fünfzehnjähriger im Januar 1939 mit dem Kindertransport aus Hamburg entkommen und fand kurz nach Kriegsausbruch zusammen mit seiner Mutter
und der zwei Jahre jüngeren Schwester Liesl Zuflucht in Neuseeland. Mit der
Ankunft am ‚anderen Ende der Welt’, mit der Frage, ob Neuseeland eine
neue Heimat sein könnte, begann für die jugendlichen ZwangsemigrantInnen ein langwieriger Akkulturationsprozess, der ausnahmslos für alle eine
immense Umstellung auf eine neue Lebensweise bedeutete.
Akkulturation und soziale Erfahrungen
Für die Simon-Geschwister war die Erfahrung der Segregation und Differenz
in den ersten Jahren in Neuseeland ein viel prägenderes Erlebnis als das Gefühl des Akzeptiert-Werdens. Die Einstufung als enemy aliens im Oktober
14 In fast allen Interviews mit Flüchtlingen aus Deutschland und den annektierten und okkupierten Ländern werden diese Aspekte erwähnt und kommentiert. Vgl. Brigitte BönischBrednich, Auswandern. Destination Neuseeland (Berlin: Mana Verlag, 2002), S. 62-66; Ann
Beaglehole, „Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und -Österreich 1933-1945“, in James Bade
(Hrsg.), Im Schatten zweier Kriege. Deutsche und Österreicher in Neuseeland im 20. Jahrhundert (Bremen: Edition Temmen, 2005), S. 42-60 (S. 43f.).
15 Interview mit Erich (Eric) Simon, Survivors of the Shoah Visual History Foundation, 24
Dezember 1997, Sydney, Australien, Interviewerin: Sharon Savdie, Interview Code: 36784.
260
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Jugend auf der Flucht (1933-1946). Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
1940 machte ihnen klar, dass sie in ihrem Aufnahmeland zuallererst als
Deutsche betrachtet wurden:
It was difficult, we had a very low key, after all we were, in the eyes of the ave rage New Zealanders, Germans, and New Zealanders were fighting against
Germans. I myself tried very hard to get into the Royal New Zealand Air Force. I made three applications, each one turned down on the grounds that I was
classified enemy alien.16
Wie zu Beginn angedeutet, war Neuseeland zögerlich in der Akzeptanz von
jüdischen Flüchtlingen und ‚fremden’, d.h. nicht-englischen EmigrantInnen.
Für den Großteil der neuseeländischen Bevölkerung, die sich als abgelegenster britischer Außenposten im Pazifik sah, war die Fähigkeit zur Anpassung
an den Dominion way of life das wichtigste Kriterium in der Beurteilung der
Flüchtlinge. Nach der Ankunft sahen sich die EmigrantInnen mit einem unterkühlten Umgang der Menschen, ja sogar mit Resentiments gegenüber
Fremden konfrontiert. Oft stießen sie auf ein gewisses Unverständnis der
Einheimischen für ihre Situation als Verfolgte des Nazi-Regimes, und fanden
auch, dass viele Neuseeländer aufgrund einer Inselmentalität für differenziertere Beobachtungen nicht offen waren. Neuseeland wird auch von Einheimischen als ein Land beschrieben, das vor allem auf Konformität setzte
und den Gebrauch einer anderen Sprache als der englischen sowie sonstiges
vom Verhaltenscode abweichendes Benehmen ablehnte.17 Erich Simon und
seine Schwester Liesl versuchten ihre Herkunft abzuschütteln, legten
Deutsch vollkommen ab und empfanden ihren deutschen Akzent in der Öffentlichkeit als peinlich: „We were accepted at face value by the people we
mixed with, but there was prejudice, of course. Erich changed his name from
Erich to Eric, and Eric has a much more definite accent than I have.” 18 Mit
der Namenänderung verlor man aber auch ein Stück Identität, denn der
Name war mit dem Rufen, Zurechtweisen aber auch der Innigkeit der Eltern
verbunden gewesen.
Schwierig gestalteten sich auch die Beziehungen zur alteingesessenen jüdischen Gemeinde. Diese bestand vorwiegend aus osteuropäischen, in den
16 Ibid.
17 Ausführlich hierzu Brigitte Bönisch-Brednich, Auswandern, S. 59-61; Ann Beaglehole,
„Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und –Österreich 1933-1945“, S. 48f.
18 Interview mit Liesl Green, nee Simon, Survivors of the Shoah Visual History Foundation, 7
Dezember 1997, Auckland, Neuseeland, Interviewerin: Carol Klooger, Interview Code: 38700.
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Monica Tempian
letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausgewanderten Juden, ihre
religiösen und kulturellen Bräuche differierten stark von jenen akkulturierter
oder auch assimilierter mitteleuropäischer Emigranten. Wie Liesl Simon bemerkt, herrschte in der Gemeinde Enttäuschung über die Neuankömmlinge:
Funnily enough, the refugees were not accepted by the Jewish community.
Only one or two of the Jewish community would have anything to do with us.
New Zealand was so far away and they lived among themselves for so long,
they were a very close-knit community, it was a shock to them to have different people coming. And yes, we were different in outlook and everything. 19
Im Grunde konnte die Mutter kaum als Bezugsperson für ihre Kinder präsent sein, da sie großes Heimweh nach Hamburg hatte und mehr in Erinnerungen an das glückliche Familienleben und die unbeschwerten Jahre vor
der Machtübernahme Hitlers als in der Gegenwart lebte. Die Heranwachsenden taten was zu ihrem Überleben notwendig erschien und versuchten, sich
der kolonial geprägten Lebensweise mit ihrer do it yourself-Einstellung anzupassen, und der Mutter im Exil eine Stütze zu sein. Liesl Simon beschreibt
die Situation der Familie wie folgt: „It was difficult for mother to adapt to life
in New Zealand, as she was still in love with father. […] I got weekend jobs,
cleaning and baby-sitting to earn money and buy my own things.” 20 Für Erich
Simon aber stand fest, dass „[…] anything was better than staying in Germany”,21 wo er die Willkür der Ausgrenzung und Isolation unter der NS-Herrschaft sowie die Brüchigkeit der familiären Geborgenheit und die Hilflosigkeit der Mutter nach dem frühen Tod ihres Mannes 1936 erlebt hatte. Der
Verlust der elterlichen Schutzfunktion hatte beim damals Dreizehnjährigen
zu dem identitätskonstituierenden Phänomen plötzlicher Erwachsenenreife
(„sudden maturity“) geführt,22 was auch von der Schwester klar erkannt und
zum Ausdruck gebracht wurde: „He never let me forget that he was my older
19 Ibid.
20 Ibid. Viele Äußerungen der Simon-Geschwister deuten darauf hin, dass die Mutter den
Schmerz über den plötzlichen Tod ihres Mannes 1936 nicht verkraften konnte, und unter der
Extrembelastung des Exils daran zerbrach.
21 Interview mit Erich (Eric) Simon, 24 Dezember 1997, Sydney, Australien.
22 Der für diese Kinder geprägte Begriff der „enfant-adultes“ steht für ein Phänomen, dem
sich Judith Kestenberg in ihrer detailreichen Untersuchung zu Kindern als Überlebende des
Holocaust widmet. Vgl. Judith Kestenberg, Ira Brenner, The Last Witness. The Child Survivor
of the Holocaust (Washington: American Psychiatric Publishing 1998), S. 134.
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Jugend auf der Flucht (1933-1946). Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
brother. He was responsible for me.“23 All das sollte zum Kern und Movens
seines Denkens und Handelns in der Flucht- und Exilsituation werden. Aus
seinen Äußerungen geht die eindeutige Bereitschaft hervor, nicht nur die
Verantwortung für die jüngere Schwester zu akzeptieren, sondern auch Entschlüsse in einer Tragweite zu fassen, die über das Schicksal der ganzen Familie entschieden. Innerhalb von nur vier Monaten nach seiner geglückten
Flucht aus Deutschland hatte er es durchgesetzt, dass seine Mutter ihm und
seiner Schwester als Hausangestellte nachkam. Er erinnert sich:
We were extremely worried to leave mother behind and that was my first major task when I got to England – to find ways and means of getting mother out
of Germany. […] The requirement was a visa for the USA, and there were waiting lists and one got a Wartenummer (waiting number), but the lists were so
long that it was not possible, there wasn’t enough time. So I looked up all sorts
of people to try and find someone to offer mother employment, and a well-todo very elderly lady, who was a Quaker, Miss Seepohm, […] applied for her to
come as a domestic companion.24
Im November des selben Jahres setzten sie die Flucht auch schon fort: „It
was early in the war and the cargo ship had to zigzag across the ocean, but we
got safely to New Zealand.” 25 Nach der Ankunft in Wellington brachte sich
Erich Simon als Hilfsarbeiter durch; da er seine Zeit primär dem Geldverdienen widmen musste, konnte er seine im Alter von 15 Jahren abgebrochene
Ausbildung weder gleich nach der Emigration noch in späteren Jahren fortsetzen. Er drückte es für seine Entwicklung so aus:
The Labour Exchange sent me to a firm of manufacturing engineers, they
were building stoves and the white ware and I was offered a job […] and in the
morning I walked three or four miles to work to save the few pennies and back
again in the afternoon. After a few years I changed to another engineering
firm, then I changed again, and every change was a step upwards. Eventually I
left and started a business myself.26
Wie oft in der Kindertransport-Forschung betont, waren Spracherwerb und
23 Interview mit Liesl Green, nee Simon, 7 Dezember 1997, Auckland, Neuseeland.
24 Interview mit Erich (Eric) Simon, 24 Dezember 1997, Sydney, Australien.
25 Ibid.
26 Ibid.
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Monica Tempian
Schulbesuch Faktoren von großer Bedeutung für die Akkulturation. 27 Liesl
Simons Einstieg ins schulische Lernen wurde maßgebend erleichtert, dadurch dass sie in Deutschland zwei Jahre lang Privatunterricht in Englisch
erhalten hatte, trotzdem wurde ihre Schulausbildung in der neuen Situation
deutlich verlängert. Sie berichtet:
I had to start again fifth form, and it came to school certificate time. We had
an earthquake the night before and when the arithmetic exam came, I had someone sitting behind me who put their foot on the bar of my chair and kept
gigging. I kept thinking it was an earthquake. I couldn’t concentrate and missed my arithmetics by two marks. In those days, if you failed a subject you fai led school certificate, so I had to redo the whole school certificate. 28
Danach war es der Akzent, der es ihr unmöglich machte, ihren ursprünglichen Traumberuf als Logopädin zu ergreifen:
I wanted to do speech therapy but they wouldn’t accept me, because they
reckoned I had too much of an accent. […] I loved children, so I thought, I’ll be
a teacher. I applied to go to Training College […] and I was the first refugee to
be accepted at Training College.29
Die Lebensgeschichten der Simon-Geschwister deuten an, dass die Anpassung an die neuen Verhältnisse nicht leicht fiel, besonders weil sie sich als
isolierte Flüchtlinge allein durchzuschlagen hatten, und ihre Annäherung an
die neuseeländische Gesellschaft im völligen Bruch mit ihrer Herkunft erfolgte. Im Gegensatz dazu steht die Schilderung von Robert Fantl. Vorteilhaft
war für ihn, dass er vor der Flucht aus Prag in kleinbürgerlich-stabilen Verhältnissen aufgewachsen war, und dass nach der Ankunft im Asylland das
Rollengefüge in seiner Familie unerschüttert blieb: Der damals Siebzehnjährige hatte seine Mutter in seiner Umgebung, die bereits in Europa als berufstätige, alleinstehende Frau in ein dichtes Netz von Verwandschafts- und Geschäftsbeziehungen eingebunden gewesen war, und es auch in der Exilsituation verstand, Verbindungen zu Leidensgenossen zu schaffen und für die
27 Vgl. Claudio Curio, „Flucht, Fürsorge und Anpassungsdruck. Die Rettung von Kindern
nach Großbritannien 1938/39“, in Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 24 (2006)
Kindheit und Jugend im Exil – Ein Generationsthema, S. 68; Inge Hansen-Schaberg, ,„Exil
als Chance”, S. 187ff.
28 Interview mit Liesl Green, nee Simon, 7 Dezember 1997, Auckland, Neuseeland.
29 Ibid.
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Jugend auf der Flucht (1933-1946). Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
Versorgung mit notwendigen Artikeln wie Nahrung und Kleidung zu sorgen.
Robert Fantl erinnert sich:
[…] my mother was offered a job in Wellington. It was a Romanian manufacturer, who had some knitting machines with him, and she was supposed to be
the foreman in the cutting department etc. They came out on the same boat,
there was some friendship. He offered her this job, and he offered me a job in
the factory, too, and so we went to Wellington.30
Anders als die deutschen Flüchtlinge, die als enemy aliens Versammlungsverboten und regelmäßiger Meldepflicht unterworfen und dem virulenten
Misstrauen der neuseeländischen Bevölkerung ausgesetzt waren, wurden die
Emigranten aus den annektierten und okkupierten Ländern als friendly aliens klassifiziert und fanden dementsprechend in der neuseeländischen Öffentlichkeit eine positivere Einschätzung. So konnte sich der mehrsprachig
aufgewachsene Robert Fantl – in seinem Elternhaus wurde Deutsch, Tschechisch und Polnisch gesprochen – kleinen Zirkeln gleicher Herkunft und
Sprache anschließen und die in der Kindheit erlernten Sprachen sowie die
damit verbundenen Kulturtraditionen intensiver bewahren. Eine wichtige
Rolle spielte dabei der Tschechische Klub, die einzige feste Institution der
EmigrantInnen in Wellington mit eigenen Räumlichkeiten, die gesellschaftlichen Austausch und gemeinsame Aktivitäten bot. Bereits frühzeitig bestanden auf der Seite des neuseeländischen War Office auch Überlegungen, die
Emigranten aus den annektierten Ländern in den neuseeländischen war effort zu integrieren, indem man sie zum Dienst in den Streitkräften zuließ. So
wurde dem Eintritt Robert Fantls in die regulären Streitkräfte der Homeguard 1941 zugestimmt; zwei Jahre später wurde er in die Royal New Zealand Air Force aufgenommen:
Being Czech […] I seemed to be allright, reasonably harmless at least, and they
accepted me in the Airforce and treated me absolutely as an equal. In fact, I finished up as a comissioned officer in the New Zealand Airforce. […] Once I
wore a uniform that was a passport. It didn’t matter that I had a bit of an accent […], the uniform was a passport.31
30 Interview mit Robert (Bob) Fantl, 11 Juni 2010, Wellington, Neuseeland. Mit dem rumänischen Emigranten ist der Unternehmer Janos Keller aus Temeswar gemeint, der 1939 zusammen mit seiner Familie über Italien nach Neuseeland emigrierte.
31 Ibid.
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All dies bedeutete, dass Bob Fantl Gelegenheit hatte, sich in angemessener
Zeit einzuleben, Freunde zu finden, die Sprache zu erlernen und mit dem
Heimweh umzugehen, ohne dabei verfrüht in die Erwachsenenrolle hineinwachsen zu müssen oder die Identität, die an die Welt seiner einstigen tschechischen Heimat gebunden war, aufgeben oder sogar verleugnen zu müssen.
Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung des Lebens in Gemeinschaft von Leidensgenossen liefert Walter Freitag. Er kam im Juli 1939 mit dem Kindertransport aus Berlin nach Großbritannien, war zunächst bei Pflegeeltern in
Newcastle, nach der Evakuierung bei Kriegsausbruch im ländlichen Baben,
bis er Anfang Dezember 1946 seine Schwester wiederfand und bei seinen
nächststehenden überlebenden Angehörigen in Neuseeland unterkam. 32 In
der Beschreibung seines Schulbesuchs in Baben wird das Dilemma zwischen
Festhalten am Kanon der ihm anerzogenen Werte und der Anpassung an die
neue Wirklichkeit besonders deutlich:
I had some difficulties in adapting there, I was clearly an „oddity”, all the
other kids came from local farms. And I did my best to adapt. My father was
obsessed with my learning – I must study, I must write –, with that attitude I
quickly outshone these kids. I decided I can’t be different and I’ll stop getting
top marks; I was the joke of the school, so I purposely started to shed what my
father taught me […] to make life more bearable. […] I made every effort to
shed every German connection, in Gentile surroundings I would hide my Jewish identity, and I made every effort to adapt, to join in, to be as English as
possible.33
Das Fremdsein im britischen Exil, erfahren als Absonderung vom deutschen
Sprach- und Kulturraum und der jüdischen Religion, und das Lebensgefühl
des Anpassungsdrucks, sind sicher die Grundlage dafür gewesen, sich als Jugendlicher am dritten Emigrationsort, in Wellington, unter den deutschsprachigen Emigranten schnell einzuleben. Freilich lebte Walter Freitag in einer
Art selbstgewählter Außenseiterposition, dadurch dass er mehr Kontakte zu
Gleichgesinnten, Menschen mit ähnlichen Lebensgeschichten, pflegte, doch
vermochte dieses Gemeinschaftsgefühl dem Verlust familiärer Bindungen
entgegenzuwirken, und sicherte den jungen Holocaust-Überlebenden gegen
32 Den Eltern wurde das Ende 1938 beantragte neuseeländische Einreisevisum trotz energischer Bemühungen der bereits 1937 nach Neuseeland emigrierten Verwandten nicht erteilt.
Sie wurden während des Holocaust aus Königsberg deportiert und ermordet.
33 Interview mit Walter Freitag, 13 Dezember 1997, Wellington, Neuseeland.
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Jugend auf der Flucht (1933-1946). Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
soziale Isolierung. Es wird wohl kaum verwundern, dass im Mittelpunkt seiner Erinnerungen an die ersten Jahre in Neuseeland die immense Bedeutung
der neu gefundenen Ersatzeltern und Freunde steht, die ihm halfen, den gewaltsamen biographischen Riss zu seinem Leben vor der Verfolgung und
Vertreibung zu überbrücken und die Wirklichkeiten von Gegenwart und Vergangenheit miteinander in Verbindung zu setzen:
Dr and Mrs Lemchen epitomized my parents, I saw in them the values my
own father and mother had, and their middle daughter is still one of my closest friends. […] Their Seder tables reminded me of my own, there were the
grandparents like my grandparents, the father explaining to the children like
my father would have explained, it was wonderful, as they had been back
home in Germany.34
Die von Freunden im Emigrantenkreis vermittelte Teilzeit-Arbeit, TeilzeitStudium und die frühe Heirat im Alter von 20 Jahren mit der als Kind aus
Deutschland emigrierten Ruth Strauss waren Marksteine auf seinem Weg
zur Stabilität und einer neuen ‚Normalität’. Dabei hatte die Frage der Ausbildung, eng verwoben mit der Bildung der eigenen Persönlichkeit, identitätskonstituierende Bedeutung: Nebst Naturwissenschaften studierte Walter
Freitag Deutsch als ‚Fremd’-Sprache. Deutsch war das Elternhaus gewesen,
Deutsch waren die Kinderlieder, die seine Mutter ihm vorgesungen hatte,
und Deutsch waren die Bücher, die seine Eltern im Regal stehen hatten. Deshalb war das Deutsche ein Bindeglied zum anderen, besseren Deutschland
und der Welt der Eltern.
Zwangsemigration und Identität
Die Lebensrückblicke der Kindertransport-Kinder schildern ihre Lebensläufe
mit Schwerpunkten auf dem Leben vor der Emigration, der Emigration
selbst und dem Einleben in Neuseeland, um zu dem Schluss zu kommen: Sie
haben es letztlich in ihrem Aufnahmeland ‚am anderen Ende der Welt’ geschafft, sich ein neues Leben aufzubauen. Ein fester Bestandteil des Bildes,
das die Kindertransport-Kinder von sich zeichnen, ist gerade der Stolz darauf, sich trotz zahlreicher Hindernisse in der neuseeländischen Gesellschaft
emporgearbeitet zu haben und dabei auch die Lebenskultur des Landes mitgeprägt zu haben. Auch wenn es ihnen nicht von vornherein bewusst war, im
34 Ibid.
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Rückblick erzählen sie ihr Leben in einer Art und Weise, die die Übernahme
mitteleuropäischer Wertmaßstäbe wie Arbeitsethos, Ordnungsliebe und Effizienz, loyalty und Rechtsempfinden, Streben nach wirtschaftlichem Erfolg
und moralischer Dignität reflektiert, ebenso wie ein gewisses missionarisches, gesellschaftsveränderndes Engagement, das mit den Erfahrungen
nach 1938 zusammenhängt. So begründet Robert Fantl seine Wahl des Architektenberufs damit, dass er für Familien in Neuseeland die funktionalen
Gedanken Alfred Loos’ in Neubauten und Wohnungseinrichtungen verwirklichen wollte. In den Erinnerungen der Simon-Geschwister wiederum wird
weniger die Bedeutung des Unternehmens Erich Simons, das nach 25 Jahren
200 Arbeiter zählte und eine Zweigstelle in Auckland hatte, für das Familieneinkommen, als die Übereinstimmung von Berufstätigkeit, gesellschaftlicher Anerkennung und bürgerlich-humanistischer Ethik betont. Liesl Simon
bemerkt, ihr Bruder sei immer ein Mann gewesen, der seinen Angestellten
gegenüber Mitgefühl und Gerechtigkeitsempfinden gezeigt habe und kommt
zu dem Schluss: „I believe in being tolerant, particularly Jews. […] So my
message is: just practise tolerance and be thoughtful of each other.” 35 Mit
derselben Bestimmtheit, mit der Liesl Simon die Gültigkeit ihres humanistischen Wertesystems festsetzt, artikuliert Walter Freitag die Bedeutung elterlicher Wertmaßstäbe, die er offensichtlich als verbindlich ansieht:
And the values […] even in my career: in New Zealand, a little bit perhaps like
in Australia, a lot of things are a little bit slap-dash, […] but the German
Gründlichkeit (thoroughness) stood me in good stead in my work. And when I
see now examples of German workmanship, […] this is done absolutely efficiently, correctly, that is what my father would have wanted me to do. 36
Ähnlich reflektiert das individuelle Verständnis des Jüdischseins eine säkulare, auf Ethik und Sittlichkeit basierende Weltsicht, die sich bereits in der
Elterngeneration angedeutet hatte, und durch die Erfahrung des Antisemitismus und der gesellschaftlichen Diskriminierung in den jungen Jahren der
ZwangsemigrantInnen maßgeblich beeinflusst wurde.
Auf die Frage nach der ‚Heimat’ gibt es dementsprechend ambivalente Reaktionen, die sich eindeutigen Antworten verschließen. Zum einen hatte die
1946 von der neuseeländischen Labour Party eingeleitete Naturalisierung
der Flüchtlinge vor Hitler, sowie ihre soziale und ökonomische Integration,
35 Interview mit Liesl Green, nee Simon, 7 Dezember 1997, Auckland, Neuseeland.
36 Interview mit Walter Freitag, 13 Dezember 1997, Wellington, Neuseeland.
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Jugend auf der Flucht (1933-1946). Flüchtlinge aus dem Kindertransport ,am anderen Ende der Welt’
die wiederum durch ihre wirtschaftlichen Erfolge in der Nachkriegszeit maßgeblich erleichtert wurde, ihre Bindung zum Aufnahmeland gestärkt. Aus
dem fernen Dominion im Südpazifik wurde zunächst die harte Realität, der
man einzelne Erfolge abtrotzte, und schließlich das Land, das man mit den
Schwierigkeiten des Alltags annahm. Trotz des Verbundenseins mit dem Leben und Tun in ihrem Niederlassungsland, stellen die Kindertransport-Kinder aber fest, dass sie immer wieder den Mangel an Assoziationen des kulturellen Kontexts empfinden, wie an tieferem Verständnis für soziale Umgangsformen – besonders für neuseeländische Freundschaften, die mehr Kameradschaften oder Bekanntschaften als intensive, enge Beziehungen sind
– , die aber für ein „wirkliches“ Heimatgefühl nötig wären. Zum anderen ergab es sich aus der jeweiligen Familienkonstellation und Gruppenzugehörigkeit, dass die Verbundenheit mit der einstigen Heimat mehr oder weniger erhalten blieb. So ist bei den Simon-Geschwistern eine manifeste Abkehr von
ihrem Herkunftsland wie eine kritische Haltung gegenüber der Sehnsucht
der Mutter nach Deutschland spürbar – sowohl Erich als auch Liesl Simon
erklären, sie könnten Deutschland auf Grund der erlittenen Verletzungen
und der Verbrechen der Nationalsozialisten nicht wiedersehen –. Ganz anders macht sich bei Bob Fantl wie bei Walter Freitag eine Hinwendung zur
eigenen Familiengeschichte und eine anhaltende Zuneigung zur Sprache und
Kultur ihres Herkunftslandes bemerkbar, die ein Bindeglied zu den Eltern
und Liebsten waren. Die Kindertransport-Kinder haben sich also die Werte
ihrer Eltern teilweise zu eigen gemacht – transformiert in ihre hybride Identität. Sehr eindrücklich bringt Walter Freitag die Einsicht der Fragilität der
hybriden Identität eines Zwangsemigranten zum Ausdruck:
Going back to the forests and various places, I suddenly realized this is my ho meland; these were the mountains my father took me bird-watching. […] Am I
fortunate to have three homes? I’m wrestling with this question still. New Zealand is my adoptive land that has given me sustenance, […] it’s a land to which
I have contributed significantly, I would like to think. But I know, when I go to
Israel, it’s also my land. And I still have some roots in Germany. 37
Insgesamt ergibt die Analyse der lebensgeschichtlichen Interviews, dass die
Anpassung der jungen ZwangsemigrantInnen an die neuen Verhältnisse gelang, wenn sie nicht im völligen Bruch mit der Welt ihrer ersten Sozialisation
erfolgte. Freilich sind bei der Beurteilung der Voraussetzungen und Bedin37 Ibid.
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gungen der Akkulturation die individuellen und kollektiven Sozialisationsbedingungen zu beachten. Für die Kindertransport-Kinder aus den Eltern-zentrierten Familien des mitteleuropäischen Bürgertums, war es hilfreich,
wenn sie eine Vater- oder Mutterfigur zur Seite hatten oder wenn sich eine
richtige Ersatzfamilie für sie fand. Jene Kinder, die keine Chance für positive
Gemeinschaftserlebnisse und ein Leben mit der Vergangenheit in einem offenen Milieu und auch keine richtige Bezugsperson oder Ersatzfamilie fanden, hatten am stärksten am Trauma der Entwurzelung zu leiden.
***
Youth in exile. Kindertransport children at the “other end of the world”
Abstract
Flight and exile always constitute a grave rupture in a refugee’s life history. Beyond
the political implication of a temporary phase, exile constitutes an important part of
the life cycle, which produces specific behaviours and social interactions (Spiel, “Psychologie des Exils” 1977, xxi–xxxvii). In view of the process-like nature of exile, the
history of flight of child refugees from Hitler-occupied Europe is of special interest
within the framework of research that draws attention to forms of coping with flight
in the “life after” and “away from home”, and the acculturation and integration of
young refugees in the receiving society. Oral history interviews with former Kindertransport children, who escaped from Europe in 1938/39 and were scattered around
the world reaching destinations as far as New Zealand, enable a comparative analysis of central themes in identity articulation, such as the role of familial or groupcentred socialisation, the individual’s position on the subject of religion and education, social advancement and engagement with the wider community. The socio-cultural environment of New Zealand between 1933 and 1960, marked by cultural homogeneity, egalitarianism and conformism provides an interesting context within
which to explore these themes.
Schlüsselwörter/Keywords: Zwangsemigration und Exil, Kinderflüchtlinge, Kindertransport.
270
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TRANSFER UND TRANSLATION
TRANSFER DES NONVERBALEN IN DER ÜBERSETZUNG.
DIE NONVERBALEN ZEICHEN IN DER
ÜBERSETZUNGSBEZOGENEN TEXTANALYSE
Evemarie Draganovici
Einleitung
Dass Texte übersetzt werden und nicht Wörter oder Sätze, ist seit den funktionalistisch orientierten Ansätzen in der Übersetzungstheorie zu einer
Selbstverständlichkeit geworden, was aber den Begriff Text angeht, stellt
man fest, dass die Definitionen in der Übersetzungswissenschaft zwar äußerst zahlreich sind, aber meistens den Text nur als verbalisierte Botschaft
betrachten und die nonverbale Dimension außer Acht lassen. Der Beitrag soll
untersuchen in welchem Maße und ob überhaupt in übersetzungsrelevanten
Textanalysen die nonverbalen Zeichen integriert werden, was unter nonverbalen Zeichen verstanden wird und welche Angehweise bei einer Übersetzung vorgeschlagen wird.
Die Erscheinungsformen der neuen Textsorten, die mit der Technologie im
engen Verhältnis stehen, sind für die Übersetzungswissenschaft und die Übersetzer eine große Herausforderung. Die modernen translatorischen Aufgaben
setzten sich über interlinguale, intralinguale und polysemiotische Kategorisierung hinweg, und setzten Kenntnis- und Textmanagement voraus, z.B. Terminologie und Software-Lokalisierung, Übersetzung von Hypertexten (linear zu
nichtlinear), um nur ein paar zu nennen. 1 Die neuen Technologien und ihr
Einfluss auf die Form, den Inhalt, auf die Struktur und Übersetzungsmethoden sind noch nicht ausreichend untersucht worden, Ansätze findet man in
Unterbereichen wie LSP Communication oder audio-visuelle Übersetzung.
Ein kurzer Einblick in die linguistische und translatologische Forschung
zeugt davon, dass die Kategorisierung verbal, paraverbal, nonverbal und extraverbal (die Dimensionen, die man z.B. bei der Einteilung von Bolten 1999
1 Als Formen der multidimensionalen Translation unterscheidet Gerzymisch-Arbogast: 1.
written to oral (audiodescription, theatre translation, sight translation, screenplay adaptation)
2. written to image (text visualisations, pictograms, illustrative user instructions, graphics,
poem into painting) 3. image into oral/oral into image (sign language and consecutive interpreting, free commentaries/tourist guides) 4. oral to written (written interpretation, subtite ling, surtiteling, taking notes-consecutive interpreting, translation of musical texts) 5. images
to written (written sign language, video games-partly, tourist guid explanations, non-verbal
sign manuals) Dabei stellt man fest, dass der Werbespot nicht in eine Kategorie positioniert
werden kann und als eine Mischform betrachtet werden muss, als eine Hybridform.
Evemarie Draganovici
vorfindet) sehr unterschiedlich ausfällt, abhängend von der jeweiligen Perspektive. Die Typographie zählt Bolten z.B. zu der paraverbalen Kommunikationsebene, das Layout hingegen zur nonverbalen Ebene 2 und die Papierqualität zu der extraverbalen Ebene. Rusch (1994:74) hingegen ordnet schriftsprachliche Texte zu den nonverbalen Zeichensystemen, er setzt verbal mit
mündlich gleich. Von der Dichotomie auditiv und visuell geht Twymann aus,
als er sein Sprachmodell 1982 aufstellt und für beide Präsentationsmodi die
Kategorie verbal verwendet. Einen Hinweis darauf, dass Sprache „sowohl vokal als auch visuell (als Schrift) manifestiert sein [kann]” gibt auch Nöth.3
Schon die wenigen Beispiele zeigen die Probleme der Kategorisierung eines
so komplexen Phänomens, wie es die Kommunikation darstellt. Es liegt auch
daran, dass verbal polysem ist, denn außer den Bedeutungen wörtlich und
mündlich4, wird es hauptsächlich für sprachlich im engeren Sinne verwendet
und so macht es eine Kategorie innerhalb der linguistischen aus oder kann unspezifisch „sprachlich“ bedeuten. Nicht weniger problematisch erweist sich
der Bedeutungsumfang des Begriffs nonverbal. Einerseits werden damit bestimmte Begleitphänomene verbaler Kommunikation gemeint5, andererseits
werden damit alle nicht-sprachlichen Kommunikationsmittel verstanden wie
Pläne, Graphiken, Abbildungen oder Landkarten, die zwar autonom vorkommen können, aber trotzdem schriftliche Elemente als Hilfsmittel gebrauchen.
Nonverbale Elemente in der literarischen Übersetzung
Ihre Anfänge kennt die translatorische Tätigkeit in der Übersetzung literarischer Texte, deren Übersetzung als „Nachdichtung oder Umdichtung“ (HornHelf 1999:36) verstanden wird. Die Gleichstellung mit den Texten der Wissenschaften ist unvorstellbar6; so ist es nicht überraschend, dass nur die Literatur7
als Untersuchungsgegenstand der Übersetzungswissenschaft fungiert.
2 So wie Ch. Nord 1988:123-127.
3 vgl. Nöth 2000:195.
4 vgl. Duden 1989:1632.
5 Wie z.B. bei Bolten 1999.
6 Den Fachtexten wird ein kleinerer Schwierigkeitsgrad, was ihre Übersetzung betrifft, zugeschrieben (z.B. Wilss 1991:4).
7 Als Bereich der vergleichenden Literaturwissenschaft ist die „Descriptive Translation Studies“ bekannt.
274
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Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
Im Bereich der literarischen Übersetzung sind nonverbale Elemente (nichtsprachliche), spärlich vorzufinden, außer den Gestaltungsmerkmalen 8 oder
Abbildungen, die aber einen dekorativen Charakter haben. Hinweise auf
nonverbale Elemente sind hingegen im Bereich der Bühnenübersetzungen
anzutreffen. Auf die Beachtung nonverbaler Elemente bei Bühnenübersetzungen weisen schon 1965 S. Brenner-Rademacher9 oder R. Kloepfer (Spielbarkeit) hin. S. Bassnet beschäftigt sich ausführlich mit dem besonderen Fall
der Theaterübersetzungen, mit der Interdependenz der verbalen und nonverbalen Elemente auf der Bühne, denn „a theatre text is read differently. It
is read as something incomplete“ (Bassnett 2005:124). Als „komplett“ betrachtet sie den Text, nur wenn er auch vorgeführt wird. Der Übersetzer setzt
sich bei der Übersetzung eines Theaterstückes mit dem Problem auseinander, ob er den Text wie ein literarisches Werk übersetzt oder aber für die
Bühne, denn für die Bühne übersetzen heißt, den Text als einen Teil eines
komplexen Gefüges zu betrachten. Thadeus Kowzan spricht in diesem Sinne
von auditiven and visuellen Zeichen. Diese müssen vom Übersetzer beachtet
werden; der Text wird gespielt, er wird gesprochen, d.h. die paralinguistischen Systeme (Intonation, Tempo, Rhythmus), die schon im AS-Text zu
identifizieren sind, müssen im ZS-Text wiedergegeben werden. Selbst
möglichen Gesten, die der Schauspieler zum Text machen könnte, dürfen
nicht unbeachtet bleiben. Außer diesen Elementen müssen bei der Übersetzung von Musiktheater10 (Oper, Operette, Musicals) auch die gesanglichen
Aspekte, d.h. Artikulierbarkeit, Singbarkeit (Atembarkeit), Verständlichkeit
und musikalisch-semantische Aspekte (Musik ergänzt, bestätigt, ergänzt, betont, widerspricht dem Text, musikalische Mittel ermöglichen die Abschwächung, Akzentuierung, und sie kann außermusikalische Assoziationen hervorrufen11) einbezogen werden. In den theoretischen Ansätzen zur Übersetzung (die Beschäftigung mit Bühnenübersetzungen und Musiktheaterübersetzungen werden als spezifische Aspekte betrachtet), können keine Hinwei8 W. Koller erwähnt die Gestaltungsform als nonverbales Element im Unterkapitel zur formal-ästhetischen Äquivalenz (vgl. Koller 1992:252).
9 Es geht dabei um Dekoration, Kostüme, Nuancierung, Atmosphäre, die das Sprachliche unterstützt. (Brenner-Rademacher1965:8 zit. nach Reiß 1971:50).
10 1918 Hermann Abert Vom Opernübersetzen, 1995 Klaus Kaindl Die Oper als Textgestalt.
Perspektiven einer interdisziplinären Übersetzungswissenschaft u.a.
11 Ausführlich äußert sich dazu Wilfried Gruhn 1989 in Wahrnehmung und Verstehen, Untersuchungen zum Verstehensbegriff in der Musik.
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
275
Evemarie Draganovici
se auf nonverbale Elemente gefunden werden.
Nonverbale Elemente in den neueren Übersetzungstheorien
Anfang der 60er Jahre als der Untersuchungsgegenstand der Theoretiker vor
allem die Fachtexte sind, weil man eine Anerkennung der Übersetzungswissenschaft als Wissenschaft verfolgt 12, hätte man den Einbezug nonverbaler
Aspekte erwartet. Schon Nietzsche sprach darauf hin, als er sich zum schriftlichen wissenschaftlichen Stil äußert, der in gewisser Hinsicht eine Nachahmung der mündlichen Kommunikation ist, dass:
Alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktion, die Wahl der Worte, die
Pausen, die Reihenfolge der Argumente - als Gebärden empfinden lernen
müssen. Dabei können nicht-sprachliche Vertextungsmittel (verstanden als
Ersatz für Gebärden in der mündlichen Kommunikation) mitunter wichtiger
als der eigentlich verbale Text und in einigen Fällen sogar bedeutungskonstituierend sein. (Nietzsche 1986:202)
R. W. Jumpelt beschränkt seine Untersuchungen auf die „sprachlichen Bedingungen und Erscheinungen, die objektivierbar sind“ (zit. nach Koller 1992:198)
in naturwissenschaftlichen und technischen Texten, Schwerpunkt ist die Herstellung inhaltlicher Invarianz. Unter dem Einfluss der neuen Tendenzen der
60er in der Sprachwissenschaft, und zwar wird der Text zum Gegenstand linguistischer Untersuchungen, der Text als „primär sprachliches Zeichen“ 13 ist
die Übersetzungseinheit in den linguistisch orientierten Übersetzungstheorien
in den 70er der Text14, und es wird versucht den Text bzw. übersetzungsrele12 Zur Entwicklung des Textbegriffs siehe Gansel/Jürgens (2007:35ff).
13 Die Ansätze variieren von „Text als transphrastische Einheit“ (P. Hartmann 1971), Kohärenz und Pronominalisierung (R. Harweg 1979), semantische Textbeschreibungsansätze: A.J.
Greimas (1971) semantisch-struktureller Ansatz), funktionale Satzperspektive: F. Danes 1970,
L. Hoffmann 2000, Text als Propositionalkomplex, ausgehend von der Sprechakttheorie von
J. L. Austin und J.R. Searle werden Theorien entwickelt, die die Proposition als „grundlegende satzsemantische Kategorie“ betrachten, bis hin zur handlungstheoretisch orientierten Textforschung (K. Brinker 1992, W. Motsch/D.Viehweger 1981).
14 z.B. „Neue Beiträge zu Grundfragen der Übersetzungswissenschaft“ 1973 herausgegeben
von A. Neubert und O. Kade, wo die „konsequentere linguistische Einordnung der übersetzungswissenschaftlichen Fragestellungen“ (Neubert/Kade 1973:7) hervorgehoben wird und
unter anderen Neubert ausdrücklich betont, dass Texte übersetzt werden und nicht Sätze, weil
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Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
vante Texttypen aufzustellen15, wobei aber festgestellt wird, dass
Die Theorie des Übersetzens, die sich als die systematische Lösung des Übersetzbarkeitsproblems versteht, gehört folglich nicht nur der Linguistik an,
sondern hat teil an der allgemeinen Theorie der Kommunikation. Oder besser
gesagt: die Aufgabenstellung der Übersetzungstheorie, ihr gesellschaftlicher
Auftrag, drängt darauf, den Bezugsrahmen der Linguistik erheblich auszudehnen. (Neubert 1973:21)
Beim kommunikativen Ansatz finden nicht mehr nur rein linguistische Aspekte Beachtung, sondern auch außersprachliche Faktoren, die in den Übersetzungsprozess einzubeziehen sind. Der Informationsgehalt und die Wirkung,
d.h. der kommunikative Wert eines Textes, werden ebenfalls in die Übersetzung miteinbezogen. Neben der kommunikativen Äquivalenz zwischen Ausgangs- und Zieltext wird nun auch der Empfänger stärker berücksichtigt.
Ein erster kommunikativer Ansatz wird im Jahre 1947 von Eugen Nida entwickelt, in dem er davon ausgeht, dass Texte übersetzt werden und nicht
Grammatikformen, wobei die Wirkung der Texte, der Informationsgehalt
beibehalten werden sollte. Damit wird sein Ansatz zum Ausgangspunkt für
die moderne Übersetzungswissenschaft; indem er syntaktische Analyseetappen für das Übersetzen einführt und annimmt, dass man auch die Intention
der Botschaft erfasst. Bereits in seinem ersten Aufsatz 1945 äußert er seine
Zuwendung zum kulturspezifischen Begriff von Sprache 16. Für Nida heißt
Sprache eine systematisch organisierte Menge von Symbolen, und sowohl
die Zuordnung zwischen Symbol und Wirklichkeit, als auch die zugrundeliegende Segmentierung der Wirklichkeit ihrem Wesen nach willkürlich (arbiträr) ist:
„an letztere […] die pragmatische Komponente nicht hinreichend belegt werden kann“
(1971:25).
15 Die Konzentration auf die Texte führte dazu, dass immer stärker die Notwendigkeit verspürt wurde, die kommunikative Interrelation zwischen Ausgangstext, Texttyp, Übersetzer
und Zieltextrezipient zu erklären. Es hieß, die verschiedenen Textsorten methodisch und systematisch zu unterscheiden, und ihnen verschiedene Übersetzungsverfahren zuzuordnen. Das
Interesse galt der Erstellung von übersetzungsrelevanten Texttypologien und der Ausarbeitung texttypenorientierter Übersetzungstheorien.
16 „Languages are basically a part of culture, and words cannot be understood correctly apart
from the local cultural phenomena for which they are symbols“ (Nida 1945: 207) Nidas Einstellung zur Übersetzung weist auf Pierces Vorstellung vom Text und Sprache, Pierce gibt
verbalen und nonverbalen Zeichen und Zeichensystemen den gleichen epistemologischen Status.
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Evemarie Draganovici
Language consists of more than the meaning of the symbols and the combination of symbols; it is essentially a code in operation, or, in other words, a code
functioning for a specific purpose or purposes. Thus we must analyse the
transmission of a message in terms of dynamic dimension. This dimension is
especially important for translation, since the production of equivalent messages is a process, not merely of matching parts of utterances, but also of reproducing the total dynamic character of the communication. Without both elements the results can scarcely be regarded, in any realistic sense, as equivalent. (Nida 1964:1)
Das Nonverbale, wie weiter oben verstanden, wird nicht miteinbezogen, da
er mit seinem 1964 veröffentlichten Arbeit „Toward a Science of Translation“
ein Instrumentarium, Richtlinien für die Bibelübersetzer bietet, im Auftrag
der amerikanischen Bibelgesellschaft, so dass Elemente wie z.B. das Bild
nicht relevant ist. Dafür aber unterstreicht Nida die Notwendigkeit der Anpassung der phonologischen Struktur der AS-Eigennamen „corresponding
sounds“ (Nida 1982:118), als eine Voraussetzung der Sprechbarkeit.
Hinzugezogen wird von Theoretikern wie z.B. R. Jakobson die Semiotik, Jakobson veröffentlicht schon 1959 seine nicht mehr als sieben Seiten lange
Arbeit On Linguistic Aspects Of Translation, in der er sich Gedanken über
die Implikationen macht, welche die Übersetzung für semiotische Erwägungen beinhaltet, und einen zentralen Stellenwert für die Auseinandersetzung mit
Grundfragen der Übersetzung einnimmt. Jakobson identifiziert drei Möglichkeiten der Interpretation von sprachlichen Zeichen: 1. intralinguale Übersetzung oder Umformulierung - d.h. die Interpretation sprachlicher Zeichen
durch andere Zeichen derselben Sprache; 2. interlinguale Übersetzung - d.h.
die Interpretation sprachlicher Zeichen durch Zeichen einer Fremdsprache
oder Übersetzung im eigentlichen Sinne; 3. intersemiotische Übersetzung - d.h.
die Umsetzung sprachlicher Zeichen durch nicht verbale Zeichen (beispielsweise in Klang oder Bild) oder die Interpretation sprachlicher Zeichen durch Bedeutungsträger eines nicht sprachlichen Zeichensystems. Nicht einbezogen
werden Mischformen oder multidimensionale Erscheinungsformen.
Jakobson geht davon aus, dass Sprachen aus grammatischem Standpunkt
mehr oder weniger unterschiedlich sein können, aber d.h. nicht, dass eine
Übersetzung nicht möglich ist, sondern dass der Übersetzer leicht möglich
eine Situation antreffen kann, in der er kein Äquivalent findet. Jakobson
empfiehlt in dieser Situation zu Lehnwörter oder Lehnübersetzungen, zu
Neologismen oder semantischen Entlehnungen und nicht zuletzt zu Wort278
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
wendungen zu greifen.17
Seine Theorie18 basiert vor allem auf einer semiotischen Perspektive der
Übersetzung, der Translator dekodiert die AS-Botschaft, um sie dann wieder
in eine äquivalente ZS-Botschaft zu enkodieren. Auch T. Hawkes plädiert
1977 in Structuralism and Semiotics für eine semiotische Perspektive:
The first step towards an examination of the processes of translation must be
to accept that although translation has a central core of linguistic activity, it
belongs most properly to semiotics, the science that studies sign systems or
structures, sign processes and sign functions. (Hawkes 1977:34)
Semiotische Ansätze19 in der Theorie zur literarischer Übersetzung sind bei
den Vertretern der Descriptive Translation Studies20 Theo Hermans, André
Lefevre, José Lambert (Niederlanden), Gideon Toury (Israel) und BassnettMcGuire (England) anzutreffen. Sie betrachten die Übersetzungsforschung als
Teil der Vergleichenden Literaturwissenschaft, somit ist (anfangs) der Schwerpunkt ihres wissenschaftlichen Interesses die literarische Übersetzung:
a view of literature as a complex and dynamic system; a conviction that there
should be a continual interplay between theoretical models and practical case
studies; an approach to literary translation which is descriptive, target-oriented, functional and systemic; and an interest in the norms and constrains
17 Zwischen Jakobsons Translationstheorie und Vinay und Darbelnets Theorie zu den Übersetzungsprozeduren können gewisse Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Beide Theorien
unterstreichen, dass, in der Situation in der ein linguistischer Ansatz bei einer Übersetzung
nicht mehr weiterhilft, der Translator zu anderen Verfahren greifen kann, wie z.B. die von Jakobson vorgeschlagenen. Beide Theorien erkennen die Grenzen der linguistischen Theorie
und behaupten, dass eine Übersetzung nie unmöglich sei, da der Übersetzer über eine Reihe
von Methoden verfügt, zu denen er greifen kann. In beiden Theorien wird die Rolle des Trans lators als derjenige der über die Übersetzungsmethoden entscheidet, hervorgehoben. Sowohl
Vinay und Darbelnet als auch Jakobson vertreten die Meinung, dass eine Übersetzung, ungeachtet der kulturellen oder grammatischen Unterschiede zwischen der AS und der ZS immer
ausgeführt werden kann.
18 „Jakobson must be considered as the originator of the semiotic approach to translation”
(Gorlee 1994:17)
19 Vorgezogen werden semiotische Schulen, die als Gegenstand kulturelle und ästhetische
Kodes haben.
20 Die DTS etablierte sich in den 70er in Belgien und Niederlanden und erlebte ihre Blütezeit
in den 90er.
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Evemarie Draganovici
that govern the production and reception of translations, in the relation
between translation and other types of text processing, and in the place and
role of translation both within a given literature and in the interaction
between literatures (Hermanns 1985:10).
Sie sind gegen eine Reduzierung der Übersetzung auf eine rein sprachliche
Operation und die Linguistik ist für sie
too restricted in scope to be much use to literary studies generally- (...) and
unable to deal with the manifold complexities of literary works, it became obvious that it could not serve as a proper basis for the study of literary translation either (zit. nach Stolze 1994 133).
Es ist eine zieltextorientierte und empirische Richtung in der modernen
Übersetzungswissenschaft mit einem nicht-präskriptiven, historisch ausgerichteten und kontextsensitiven Ansatz. Sie betrachtet Übersetzungen als
historische und kulturelle Phänomene und untersucht die Übersetzungen,
wie sie sein sollten, a priori, nicht in ihrem tatsächlichen Zustand. Es wird
ihr vorgeworfen, keine Methodologie ausgearbeitet zu haben und theoretisch
nicht beendet und leicht anfechtbar zu sein, trotzdem diente der von einem
ihrer bedeutendsten Vertreter, Guideon Toury, vorgeschlagene semiotische
Rahmen einer Reihe von Untersuchungen, deren Gegenstand intersemiotische und intersystemische Translation ist, z.B. Relation Bild-Text in Kinderbücher (Riitta Oittinen 2000), Translation im Bereich der Massenmedien
(Gambier 1996, 1998) Filmsynchronisation und -untertitelung. Ausdrücklich
werden weder die nonverbalen Elemente, noch die Relevanzkriterien 21 bei
der Auswahl der Merkmale der Ausgangseinheit näher bestimmt.
G. Toury erweitert R. Jakobsons Typologie (1986) für die Encylopedic Dictionary of Semiotics und unterscheidet zwei Translationstypen: die intrasemiotische und die intersemiotische. Die intersemiotische Translation heißt
Translation aus einer Sprache in eine Nichtsprache (language to non language), die intrasemiotische Übersetzung wird unterteilt in intersystemische,
d.h. interlinguale Translation (zwischen zwei natürlichen Sprachen), Translation und intrasystemische Translation, d.h. intralinguale Translation
21 Toury gliedert den Translationsprozess in vier Stufen: Dekomposition, Auswahl, Transfer
und (Re)Komposition. Die zweite Stufe, in der diejenigen Merkmale der Ausgangseinheit (entity) ausgewählt werden sollen, die beim Transfer erhalten bleiben müssen nach dem Kriterium der Relevanz, aber eben diese werden nicht erwähnt.
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Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
(Hochsprache àDialekt). Obwohl G. Tourys Konzept für viele intersemiotische und intersystemische Translationen weiter ausgearbeitet werden kann,
grenzt seine Definition der Translation „Translating is a series of operations
whereby one semiotic entity is transformed into, and replaced by, another
entity, pertaining to another [sub-] code or semiotic system“ (Toury 1994
112), polysemiotische Texte aus.
Nonverbale Elemente in den funktionalistisch orientierten Übersetzungstheorien
Die Übersetzungswissenschaftler im deutschen Raum orientieren sich am
Zeichenmodell Karl Bühlers, so wie K. Reiß bei der Aufstellung der übersetzungsrelevanten Texttypen. Sie ist die erste, die den Texttyp audio-medial
(1971) später multimedial22 (1991) ins Gespräch bringt und eine neue Dimension das Medium beachtet, diese Texte „leben nicht vom Sprachgeschehen
allein, sondern sie sind lediglich mehr oder weniger wichtige Elemente eines
größeren Ganzen“. (Reiß 1971:49). Sie verzichtet auf diesen Texttyp und
bringt stattdessen zu jedem Texttyp auch multimediale Varianten oder Subtypen23. Es geht um graphische, akustische und optische Elemente, die im
Falle einer Übersetzung nicht nur beachtet werden müssen, sondern der
Übersetzer über Kenntnisse in diesem Bereich verfügen muss. Zwar bleibt
weiterhin das Sprachliche im Vordergrund, doch in engem Verhältnis zum
Nonverbalen.24 Als Reiß 1991 in Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie sich erneut zu den übersetzungsrelevanten Texttypen äußert,
spricht man schon vom „iconic turn“ 25, es wird aber nicht mehr als 1971 auf
22 Die Änderung wurde auf den Hinweis von B. Spillner unternommen. Reiß meint damit vor
allem Texte, die geschrieben werden, um letztlich akustisch wiedergegeben zu werden, wie es
beispielsweise bei Ansprachen oder Liedern der Fall ist. Der Ausdruck „audio-medial“ wurde
durch „multi-medial“ ersetzt, um auch Comics, die keine akustischen, sondern visuelle Elemente aufweisen, mit ihrer übersetzungsorientierten Texttypologie erfassen zu können (Reiß/
Vermeer 1991: 211).
23 Vgl. Snell-Hornby/Kadric (Hrsg.) 1995:82ff.
24 vgl. Reiß (1971:49-52) und Reiß/Vermeer (1991:150f).
25 Der Begriff ist im deutschen Raum seit Mitte der 90er Jahre bekannt und als „iconic turn“
vom Kunsthistoriker Gottfried Böhm eingeführt worden. Böhms Ziel ist eine kritische Bildwissenschaft und ein methodisches Instrumentarium aufzustellen, er verlangt eine Analyse der
spezifischen Logik der Bilder, mit dem „Versuch, über die Sprache hinaus und durch die Spra -
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Evemarie Draganovici
den multimedialen Texttyp eingegangen. Und unter den innersprachlichen
Determinanten und den außersprachlichen Instruktionen von K. Reiß findet
man keine Hinweise mehr auf die nonverbalen Elemente.
In Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, in der Reiß/Vermeer die Skopostheorie, eine allgemeine Theorie der Translation aufstellen,
wird die „Menschliche Lautsprache (und deren Ableitungen, z.B. die Schrifttexte)“ als „kulturspezifische Sonderform der Kommunikation“ betrachtet,
„Verbale und non-verbale Kommunikation (Kommunikation und Interaktion) wirken zusammen“ (Reiß/Vermeer 1991:20). Sprache wird nicht mehr
nur auf die schriftliche Ebene reduziert. Trotzdem werden diese Elemente
vernachlässigt, so wie es Reiß in Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik schon tut und die angetroffenen Beispiele sind ausschließlich
Schrifttexte, die angesprochenen Transferschwierigkeiten beim Übersetzen
sind kulturbezogen; unter nicht-sprachlichen Phänomenen verstehen sie z.B.
kulturelle Werte26, Gesten, Gegenstände, Mimik, Tonfall, Deixis, Denkweisen, Vorstellung. In Anlehnung an R. Jakobson sprechen sie vom intersemiotischen Transfer zwischen zwei Kulturen, von kulturspezifischem Verhalten,
das in einem Kulturraum verbal und dasselbe in einem anderen nonverbal
realisiert wird.27 Methoden oder Vorgehensweisen zu deren Identifizierung
werden nicht angegeben, es hängt von der Vorbereitung des Translators als
Experte interkultureller Kommunikation ab, sie zu finden und in die Zielkultur entsprechend zu transferieren. Reiß/Vermeer nehmen sich vor, eine
„Grundlegung“ anzubieten, die „durch Zusätze erweitert werden muss“ (1991:
217), ein Vorwurf betreffend die „flüchtige“ Behandlung der nonverbalen
Dimensionen, vor allem des Bildes, wäre deshalb vielleicht nicht angebracht.28
Von Vermeer selbst als die Skopostheorie integrierender Ansatz betrachtet 29,
bietet die Theorie von translatorischen Handeln einen weiteren Rahmen und
dennoch oder weil sie den Translationsprozess als Expertenhandlung sieht,
werden die nonverbalen Elemente in einem Botschaftsträger „Text“ nicht
übersehen. Der Text wird als „Botschaftsträger im Medienmix“ verstanden,
che hindurch zu einem anderen Sinn, zu anderen, nämlich bildlichen Sinnerfahrungen vorzustoßen“ (Boehm 2004:20).
26 Translation bedeutet kultureller und sprachlicher Transfer. (Reiß/Vermeer 1991:104).
27 vgl. Reiß/Vermeer 1991:34.
28 Dazu äußert sich auch Vermeer in Skopos und Translationsauftrag-Aufsätze (1990:31).
29 vgl. Vermeer 1990:73.
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Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
d.h. nonverbale Zeichen, wie Melodie, Bild und andere werden miteinbezogen, da Botschaften nicht nur durch sprachliche Gewebe übertragen werden:
Wir brauchen den Terminus Botschaftsträger, wenn wir auf einer höheren Systemebene von Texten, Designtexten, von reinen nonverbalen Botschaftsträgern
oder auch vom Medienmix reden wollen. Der professionelle Textdesigner hat mit
Botschaftsträger aller Art zu tun. Ein Modell für all seine Objekte kann daher
nicht auf eine Unterart allein zugeschnitten werden, außerdem sind Vergleiche
nur innerhalb desselben Rahmens möglich. (Holz-Mänttäri 1993:303)
Als Experte auf Distanz muss er sämtliche Komponenten des Botschaftsträgers aufnehmen, so dass er ein mentales Abbild der Situation kreieren kann,
in der sein Designtext funktionieren soll, d.h. er setzt sein eigenes mentales
Abbild30 in Beziehung mit den Weltbildern der Kommunikationspartner. Sie
spricht von „Texten als Botschaftsträger im Verbund“ (Holz-Mänttäri
1984:86). Der Translator muss auch andere Botschaftsträger kennen und
analysieren können und ihren Einfluss auf Texte erkennen. Das zeigt, dass
für J. Holz-Mänttäri der Text nur aus sprachlichen Elementen besteht. Ein
Botschaftsträgerverbund31 entsteht aus sprachlichen Elementen zusammen
mit anderen Botschaftsträgern. Weil der Schwerpunkt ihres Ansatzes, einen
professionellen Rahmen den Tätigkeiten des Translators zu geben ist und sie
sich vornimmt ein Modell für eine ideale Situation zu entwickeln, und keine
Beschreibung der Realität, werden die versprochenen Richtlinien zum interkulturellen Transfer vernachlässigt.
Dafür betrachtet Ch. Nord den Text als Teil einer kommunikativen Handlung an dem zwei Codes beteiligt sind32, sowohl der strukturelle als auch der
pragmatisch-situative Aspekt des Textes, und zwar in ständiger Interdependenz, müssen beachtet werden.33 Außerdem bringt sie eine weitere Komponente in Anlehnung an die Definition von Kallmeyer et. al. „Text ist die Gesamtheit der in einer kommunikativen Interaktion auftretenden kommuni30 Um Szenen hinter dem Text geht es auch in der Scenes-and-frames Übersetzungstheorie
von M. Snell-Hornby, doch auch da wird vom Transfer sprachlicher Codes gesprochen. (Vannerem/Snell-Hornby 1986:203)
31 vgl. Holz-Mänttäri 1988:157.
32 Sie hat als texttheoretische Grundlage die Standpunkte von Kallmeyer et.al., Schmidt
(1976) Text als „kommunikatives Handlungsspiel“ Beaugrande und Dressler (1981:8ff) Text
als „kommunikatives Ereignis”.
33 vgl. Nord 1988:13ff.
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kativen Signale“ (Nord 1988:45) und zwar die nicht-sprachlichen34 Elemente,
sowohl auditive35 (, …) als auch visuelle (Illustrationen, typographische Elemente, Gestik, Mimik …), nur spricht sie von der möglichen Situation einer
Übersetzung der nonverbalen Elemente in verbale oder umgekehrt. Nord definiert den Text als „eine kommunikative Handlung, die durch eine Kombination
aus verbalen und nonverbalen Mitteln realisiert werden kann“ (Nord 1988:16),
so dass unter den W-Fragen zur Ausgangstextanalyse die Frage „unter Einsatz
welcher nonverbalen Elemente“ formuliert wird. Auf die Rolle des Bildes wird
in einem Analysebeispiel36 einer Webeanzeige hingewiesen, es wird als Hilfe
zur Ermittlung von Präsuppositionen37 verstanden, als „Ergänzung, Verdeutlichung, Disambiguierung oder Intensivierung der Textaussage“ (Nord 1988:125)
Zur Kategorie der nonverbalen Elemente zählen bei Nord: „Zeichen aus anderen, nichtsprachlichen Kodes“ nicht aber „z.B. die Taubstummen-Gebärdensprache“(Nord 1988:125) Ausgehend von der Form und Funktion
der nonverbalen Elemente unterscheidet Nord folgende Funktionen: textbegleitende (z.B. Layout, Gestik), textergänzende (z.B. Tabellen), textteilkonstituierende bzw. textteilersetzende (Bild in Comic…)
Nord unterstreicht ausdrücklich, die Notwendigkeit die nonverbalen Elemente im Falle einer Übersetzung und ihre Kulturgebundenheit zu „berücksichtigen“.38 Als Orientierungshilfe schlägt sie 5 Fragen vor: 1. Welche nonverbalen Elemente gehören zum Text? 2. Welche Funktion haben sie in Bezug auf die verbalen Textteile? 3. Gehören sie konventionell zu der betreffenden Textsorte? 4. Sind sie durch das gewählte Medium bedingt? 5. Sind die
nonverbalen Textelemente ausgangskulturspezifisch?
Die Merkmale der Gestaltung des Textes gehören nach Nord zu den suprasegmentale Merkmalen, „die über die segmentalen Einheiten der Lexik und
34 Als außersprachliche Gegebenheiten werden z.B. die geographische Herkunft des Autors,
Bedingungen von Ort und Zeit verstanden. (Nord 1988:92).
35 Als eine besondere Kategorie der nonverbalen Komponente spricht Nord von „suprasegmentalen Merkmalen“, d.h. Intonation und Betonung „die den „Ton“ der Mitteilung bestimmen“ (Nord 1988:92).
36 vgl. Nord 1988:100.
37 Ch. Nord versteht unter Präsuppositionen, das vom Sprecher implizit Vorausgesetzte, „Die
Informationen, die der Sprecher beim Empfänger als bekannt voraussetzt (=präsupponiert)“
(Nord 1988:112).
38 vgl. Nord 1988:128.
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Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
Syntax hinausgehende Erscheinungen“ (Nord 1988:140ff) Welche suprasegmentale Merkmale ein Text vorweist, wird vom Medium bestimmt; in den
schriftlichen Texten werden sie optisch gekennzeichnet, bestimmte graphische Hervorhebungen, Anführungszeichen,…, in den gesprochenen Texten
akustisch, Tonhöhe, Modulation und Faktoren wie: Satzrhythmus, Satzmelodie, Alliterationen, Binnenreime.
Nonverbale Elemente in der multidimensionalen Übersetzung
Obwohl verschiedene Texttypen (Comics, Theater, Lieder, Werbung…) mit
unterschiedlichen Zeichentypen Gegenstand der Untersuchungen in der
Übersetzungstheorie waren, wird festgestellt, dass die linguistischen Merkmale den deutlichen Vorrang haben. Wiederholt wird auf die Interdependenz
vom Visuellen und Verbalen, von Sprache und Nonverbalem hingewiesen,
trotzdem bleibt die Forschungsperspektive linguistisch orientiert. Die multisemiotischen Aspekte vieler Zeichen werden nicht ignoriert, sondern vernachlässigt oder nicht hinzugezogen. Und die Aufstellung von Korpora nur
mit dem verbalen Teil der Texte zur Untersuchung von Dialogen aus Filmen
und ihre Untertitelung oder auch Werbung, ohne Bilder, sind keine Seltenheit.
Mitte der 1990er Jahre steigt das Interesse an den nonverbalen Aspekten der
Texte. Unterschieden wird zwischen dem multimedialen Text, wie ihn zum
Beispiel 1993 auch Schröder bezeichnet, dem multimodalen (z.B. Lehtonen
2001:85f) und dem multicodalen Text. Bei Weidemann (1995) findet man
diese Aufspaltung, um die Vielschichtigkeit des Begriffs Multimedia 39 erklären zu können. Er unterscheidet die Dimensionen Medium, Codierung und
Sinnesmodalität. Medien definiert er als „Objekte, technische Geräte oder Konfigurationen, mit denen sich Botschaften speichern und kommunizieren lassen“
(Weidemann 1995:66). Unter Codierung versteht Weidenmann, dass sich
Botschaften in verschiedenen Formaten bzw. Symbolsystemen codieren und
präsentieren lassen. Die prominenten Symbolsysteme in unserer Kultur sind
das verbale und piktoriale (Wörter, Bilder) sowie das Zahlensystem.“ (Weidemann 1995:65)
39 Populärwissenschaftlich wird unter Multimedia ein System verstanden, das außer
Text und Graphik mindestens ein dynamisches Medium wie Animation, Video, gesprochene Sprache oder Geräusche enthält, d.h. dass verschiedene Medientypen in
zeitlicher, inhaltlicher und räumlicher Art integriert werden.
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Evemarie Draganovici
und Sinnesmodalität, Sinneskanal: „Diese Begriffe bezeichnen die Sinnesorgane (auditiv, visuell usw.), mit denen die Rezipienten ein mediales Angebot
wahrnehmen oder mit ihm interagieren.“ (Weidenmann 1995:66). Von dieser Einteilung ausgehend, kann man multimedial als eine Kombination von
mindestens zwei Medien40, multicodal als Verwendung von wenigstens zwei
Symbolsystemen und multimodal41 als mindestens zwei Sinnesorgane ansprechend betrachten.
Gerzymisch-Arbogast unterstreicht in ihrem Artikel zur „Multidimensionalen Translation“, dass sich mit der Entwicklung neuer Technologien die traditionellen Grenzziehungen Jakobson’scher Prägung verwischt haben:
Eindimensionale Translationsszenarien (...) konvergieren heute zu mehrdimensionalen Kommunikationsszenarien mit multilingualen, multimedialen,
multimodalen und polysemiotischen Aspekten, deren Bewältigung neben einem entsprechenden Problembewusstsein und Differenzierungsvermögen
überaus komplexe, interdisziplinäre Qualifikationen im sprachlichen und
technischen Bereich erfordern. (Gerzymisch-Arbogast 2005:23)
Sie entwickelt auf dieser Grundlage den Begriff der „Multidimensionalen
Translation“ als:
eine Translation, bei der das in einem Medium 1 verfasste Original (des geäußerten Anliegens des Sprechers/Hörers) über ein Medium 2 oder mehrere andere
Medien in ein anderes Zeichensystem 2 oder mehrere Zeichensysteme übertragen wird. Wesentlich ist dabei, dass ein Anliegen oder Interesse in geäußerter
Form vorliegt, dass der Transfer zweckgebunden erfolgt und einen Medien- und
Zeichensystemwechsel implizieren kann. (Gerzymisch-Arbogast 2005:25)
Schlussfolgerungen
Wie geht der Übersetzer mit diesem neuen komplexen Texttyp um, da die
Übersetzungstheorie sich hauptsächlich auf die linguistische Perspektive be40 Dazu zählen Repräsentationsmedien: Text: RTF, TXT, ...Graphik: GIF, TIF, JPEG, EPS, ...;
Audio: MIDI, WAV; Video: MPEG, QuickTime, ... Animation: FLC, FLI, ... und Präsentationsmedium: Eingabegeräte: Tastatur, Kamera, Mikrofon, Maus, ... ; Ausgabegeräte: Papier,
Bildschirm, Lautsprecher.
41 H. Stöckl greift auch zum Begriff multimodal bei der Beschreibung von Texten bei denen
Bild, Sprache und Musik eingesetzt werden.
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Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
schränkt hat und die klaren Grenzziehungen zwischen Übersetzung, Dolmetschen und multilingualer Übersetzung auf Grund der neuen Anforderungen
der multidimensionalen Translation sich zunehmend verwischen? Man findet zahlreiche Veröffentlichung zum Thema, doch die Terminologie wird uneinheitlich42 verwendet.
In diesem Bereich wurden noch keine umfassenden Studien unternommen;
es liegt vermutlich am interdisziplinären Charakter der Untersuchungsgegenstände, da auch Studien aus dem Bereich der Medienwissenschaft, Literatur- und Kulturwissenschaft, Linguistik, Soziologie, Psychologie einbezogen werden müssen. Ein weiterer Grund könnte sein, dass ihre polysemiotische Natur und die nötigen vorgenommenen Änderungen bei ihrer Übertragung nicht als Übersetzungen betrachtet werden, sondern als Adaptierung 43.
Wie den Arbeiten und Forschungsinteressen der Teilnehmer an dem Projekt
Multidimensional Translation zu entnehmen ist, ergibt auch das Gebiet der
multidimensionalen Translationsforschung kein homogenes Bild44. Übersetzungsstrategien werden noch kaum vorgeschlagen und in der Übersetzungswissenschaft sind in Bezug auf die multidimensionale Übersetzung die Forschungsrichtungen in zu viele Bereiche aufgesplittert, wie es auch Gambier feststellt:
Our field remains too much on the level of isolated descriptions, incurring the
risk of fragmentation (…) Our field remains fragmented, with a vision limited
to certain aspects and short-term goals. My point here is to emphasize the
fragmentation of our research, basically for one reason: our relative specialization. (Gambier 2006:2)
Ungewiss ist, ob sich die multidimensionale Übersetzung als eine eigenständige Disziplin entwickeln wird, oder ihren Platz in der Übersetzungswissenschaft finden wird. Es ist aber eine neue Tendenz in der Übersetzungswissenschaft erkennbar, und zwar die Auseinandersetzung mit überset42 Filmübersetzung (M. Snell-Hornby 1988), Film and Fernsehübersetzungen (Delabastita
1989), Bildschirm Translation (Mason 1989), Media Translation (Eguiluz 1994), Film Kommunikation (Lecuona 1994), Audiovisuelle Translation (Luyken 1991, Dries 1995, Cowie 1997,
Baker 1998), (Multi)Media Translation (Gambier & Gottlieb 2001).
43 vgl. Delabastita 1990:99.
44 In diesen Bereich gehören die Diskussionen über die Untertitelung für Hörbeschädigte,
z.B. Kurz und Mikulasek 2004 oder Neves 2005, Übersetzung von Computerspielen z.B.
O’Hagan 2007, Fachübersetzungen z.B. Sandrini 2008.
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zungsrelevanten Aspekten gewisser Textsorten, denn wegen ihrer Komplexität kann „eine Theorie für alle praktische Fälle“ (Holz-Mänttäri) nicht mehr
angeboten werden und Snell Hornby schlägt vor, verschiedene Methoden der
Textbeschreibung auszuarbeiten und zwar interdisziplinär, so dass auf die
nonverbalen Elemente und die für jede Textsorte vorausgesetzten Fachkenntnisse geachtet werden kann, damit der Übersetzer den heutigen Gegebenheiten gewachsen sein kann und nicht untergeht und sich fachliches Hintergrundwissen, Fachdenken (Fachkompetenz) und technologisches Wissen
(IuK-Kompetenz) aneignet45, um nicht als „einfacher“ Sprachmittler betrachtet zu werden und in den Transfer des gesamten Textes mit einzubeziehen, verbal und nonverbal.
Literatur:
1.
*** Deutsches Universalwörterbuch, Dudenverlag, Mannheim 1989.
2.
BASSNETT, Susan: Translation Studies. New York 2005.
3.
BOEHM, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder. In: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was
ist ein Bild?. München 1994, S. 11-38.
4.
BOLTEN, Jürgen: Kommunikativer Stil, kulturelles Gedächtnis und Kommunikati onsmonopole. In: H.K. Geissner (Hrsg.): Wirtschaftskommunikation in Europa.
Tosted 1999, S. 113-131.
5.
DELABATISTA, Dirk: Translation and the Mass Media. In: Bassnett, Susan und Lefevere, André (Hrsg.), Translation, History and Language. London 1999, S.97-109.
6.
GAMBIER, Yves: Multimodality and Audiovisual Translation. In: Proceedings of
the Marie Curie Conference ‘Audiovisual Translation Scenarios’. 1-5. Mai 2006,
Kopenhagen.
7.
GANSEL, Ch./ Jürgens, F.: Textlinguistik und Textgrammatik. Eine Einführung.
Göttingen 2007.
8.
GERZYMISCH-ARBOGAST, Heidrun: Multidimensionale Translation: Ein Blick in
die Zukunft. In: Mayer, F. (Hrsg.): 20 Jahre Transforum: Koordinierung von Pra xis und Lehre des Dolmetschens und Übersetzens. Hildesheim 2005, S. 23-30
9.
GORLEE, Dinda L.: Semiotics and the Problem of Translation. Amsterdam u. a. 2004.
10. HAWKES, Terence: Structuralism and Semiotics. New York 1977.
45 vgl. Sandrini 2004: 172.
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Transfer des Nonverbalen in der Übersetzung. Die nonverbalen Zeichen in der
übersetzungsbezogenen Textanalyse
11. HERMANS, Theo: Norms and Determination of Translation: A Theoretical Frame work. In: Alvarez, Roman-Vidal, Africa (Hrsg), Translation, Power, Subversion.
Clevedon: Multilingual Matters, 1996, S. 25-51.
12. HOLZ-MÄNTTÄRI, Justa: Textdesign – verantwortlich und gehirngerecht. In:
Holz-Mänttäri, J./Nord, Ch. (Hrsg.): Traducere Navem. Festschrift für Katharina
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13. HORN-HELF, Brigitte: Technisches Übersetzen in Theorie und Praxis. Tübingen
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14. KOLLER, Werner: Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Heidelberg u.a.
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15. NEUBERT, A./ KADE, O.: Neue Beiträge zu den Grundfragen der Übersetzungswissenschaft. Frankfurt a. M. 1973.
16. NIDA, E./ TABER, Ch.: The Theory and Practice of Translation. Leiden 1982.
17. NIDA, Eugene: Towards a science of translating. Leiden 1964.
18. DERS.: Linguistics and ethnology in translation problems . In: Word 1/ 1945, S.
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19. NIETZSCHE, Friedrich: Zur Lehre vom Stil. Abgedruckt bei H.-M.Gauger: Nietzsches Auffassung vom Stil. In: Gumbrecht, H.-U. u.a. (Hrsg.): Stil. Geschichten
und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M.
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20. NORD, Christiane: Textanalyse und Übersetzen. Theoretische Grundlage, Methode
und didaktische Anwendung einer übersetzungsrelevanten Textanalyse . Heidelberg 1988.
21. NÖTH, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 2000.
22. REISS, K./ Vermeer, H. J.: Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie.
Tübingen 1991.
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1971.
24. RUSCH, Gebhard: Kommunikation und Verstehen. In: Merten/Schmidt/Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikati onswissenschaft. Opladen 1994, S.60-87.
25. SANDRINI, Peter: Globalisierung und Mehrsprachigkeit: Translation im Wandel ,
In: Zybatow, L. (Hrsg.): Translation in der globalen Welt und neue Wege in der
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ZGR 1-2 (37-38) / 2010
289
Evemarie Draganovici
26. SNELL-HORNBY, M./ Mira K. (Hrsg.): Grundfragen der Übersetzungswissenschaft. Wiener Vorlesungen von Katharina Reiß. Wien 1995.
27. STOLZE, Radegundis: Übersetzungstheorien. Eine Einführung. Tübingen 1994.
28. TOURY, Gideon: Descriptive Translation Studies and Beyond. Amsterdam 1995.
29. VERMEER, Hans J.: Skopos und Translationsauftrag – Aufsätze. Heidelberg 1990.
30. WEIDEMANN, Bernd: Multicodierung und Multimodalität im Lernprozeß. In: Issing, Ludwig J., Paul Klimsa. Information und Lernen mit Multimedia. Weinheim
1997.
31. WILLS, Wolfram: Zur Praxisrelevanz der Übersetzungswissenschaft. In: Lebende
Sprachen 1/ 1991, S. 1-7.
***
Aspects of the Transfer of the Nonverbal in the Process of
Translation
Nonverbal Elements in Text-Analysis: a translational point-of-view
Abstract
Texts to be translated become more and more complex and the translator is confronted not only with the transfer of written elements, but also with that of nonverbal
ones. The translator as an expert for intercultural transfer has to cope with this aspect too in order to provide an appropriate translation. Following an insight into the
definition of the nonverbal, this paper is aimed at finding out if, or to what extent the
nonverbal elements are integrated in the text analysis from a translational point of
view, starting from the ways in which translation theories and theorists propose to
tackle these specific elements during the translation process.
***
Schlüsselwörter/Keywords: übersetzungsrelevante Textanalyse, nonverbale Elemente, Texttyp, funktional, multidimensional.
290
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
DER EINFLUSS AUDIOVISUELLER TRANSLATION
ENGLISCHSPRACHIGER FILME AUF DIE DEUTSCHE
SPRACHE. SONDERFALL SYNCHRONÜBERSETZUNG
Mihai Draganovici
1. Einleitung
Vor der rasanten Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien beschränkte sich die Übersetzungswissenschaft auf isosemiotische Transferformen und behielt den Übertragungsweg des Originaltextes bei. Die visuellen oder akustischen Elemente wurden lange Zeit fast
überhaupt nicht in Betracht gezogen. Die Texte wurden als thematische oder
funktional orientierte Komplexe beziehungsweise Einheiten betrachtet, die
ausschließlich aus verbalen Zeichen bestanden (Snell-Hornby 1999: 147).
Eine Erweiterung des Textbegriffs in diesem Sinne treffen wir zum ersten
Mal bei Reiß an, die in ihrer übersetzungsorientierten Texttypologie neben
dem inhaltsbetonten, dem formbetonten und dem appellbetonten Texttyp
auch einen „audio-medialen Texttyp“ (Reiß 1971: 34) einführt. Dieser sollte
„außersprachliche (technische) Medien und nichtsprachliche Ausdrucksformen graphischer, akustischer und optischer Art“ (Reiß 1971: 49) berücksichtigen. Dieser erste Begriff umschloss vor allem geschriebene Texte, die akustisch wiedergegeben werden mussten, so z.B. bei Ansprachen oder Liedern.
Später erwies sich dieser Terminus als nicht mehr der Realität gemäß und
wurde durch „multi-medial“ ersetzt, um auch Comics, die keine akustischen,
sondern visuelle Elemente aufweisen, mit ihrer übersetzungsorientierten
Texttypologie erfassen zu können (Reiß/Vermeer 1991: 211). Durch die zunehmende Entwicklung der Informationstechnologie und des Informationstransfers wurden andere Translationsweisen nötig. So spricht man bereits
über einen neuen Begriff, der besser dem Zeitgeist entspricht, und zwar außer der klassischen, monodimensionalen Translation über die multidimensionale Translation, wo auch nonverbale Zeichen wie Geräusche oder grafische Elemente zu den sinntragenden Bestandteilen eines Textes gezählt werden. Durch diese neuen Arten der Translation werden Übersetzer und Dolmetscher vor neue Anforderungen gestellt, da sie mit einer komplexen und
interdisziplinär ausgerichteten Aufgabenstellung konfrontiert werden.
2. Audiovisuelle Translation als multidimensionale Translation.
Die Filmsynchronisierung.
In den 50. Jahren, am Anfang der modernen Auseinandersetzungen mit der
Translationswissenschaft, unterschied Jakobson drei Möglichkeiten einer
Mihai Draganovici
Realisierung einer Übersetzung: intralinguale, interlinguale und intersemiotische. Seitdem aber haben sich die neuen Technologien wie Internet, DVD
oder Hörfilmen – um nur einige zu nennen – rasant entwickelt, wodurch
diese traditionelle Einteilung obsolet geworden ist. Die Art und Weise, wie
diese neuen Medien und Technologien den Translationsprozess beeinflusst
haben, wurde von Gerzymisch-Arbogast analysiert. Dafür hat sie einen neuen Ansatz gegründet, der im Mittelpunkt die „multidimensionale Translation“ hat.1 Um diesen Begriff definieren zu können, geht Gerzymisch-Arbogast
von der Voraussetzung aus, dass alle Translationsvorgänge einen gemeinsamen Kern besitzen. Dieser Kern ist „ein als Äußerung vorliegendes
Anliegen/Interesse eines Sprechers bzw. Schreibers für einen Hörer bzw. Leser [dass] unter einem bestimmten Zweck mithilfe eines Zeichensystems 1, 2
und/oder 3 und eines Mediums 2 oder mehrerer Medien 3, 4, 5 (=Translat)
verstehbar gemacht wird“.2 Von dieser Definition ausgehend ist die multidimensionale Translation eine Translation, bei der das in einem Medium 1 verfasste Original über ein Medium 2 oder mehrere andere Medien in ein anderes Zeichensystem 2 oder mehrere Zeichensysteme transferiert wird.3
Die Fachleute, die sich mit der Translation im Film befassen, haben im Rahmen der multimedialen Translation einen für diesen Bereich speziellen Begriff entwickelt, und zwar die „audiovisuelle Translation“4 oder „multimediale Translation“5. Die audiovisuelle/multimediale Translation bezieht sich auf
den sprachlichen Transfer in den visuellen Medien.
Im Falle der Filmübersetzung kann man die audiovisuelle Translation zweierlei einteilen: 1. gibt es die verbalsprachliche Übersetzungen, die als Synchronisation, Voice-over und Audiodeskription erscheinen können, und 2.
treffen wir schriftsprachliche Übersetzungen an, zu denen die Unter- und
Übertitelung und das Schriftdolmetschen gehören.
Da das Thema meines Beitrags von der Synchronisierung handelt, möchte
ich im Folgenden kurz den Begriff inhaltlich beschreiben. Synchronisierung
bedeutet die Ersetzung der Originalsprache mit einer adäquaten Translation,
1 Gerzymisch-Arbogast 2005, S. 23f.
2 Ebd., S.24f.
3 Ebd., S.25.
4 Chaume 2003.
5 Gambier / Gottlieb 2001.
292
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Der Einfluss audiovisueller Translation englischsprachiger Filme auf die deutsche Sprache
die das Timing, die Phrasierung und die Lippenbewegungen des Originals
wiederzugeben versuchen. Die neue stimmliche Version ist dann mit der originalen Musik und den originalen Lauteffekten gemischt, um die Illusion zu
schaffen, dass die Personen auf dem Bildschirm in der ZS sprechen, die
Sprache der Zuschauer. Visuell bleibt der Film unverändert im Vergleich
zum Original, aber er ist solchermaßen bearbeitet, um die optimale Lippensynchronisation zu erzielen.
Der erste, der den Begriff in seiner Vielfalt angegangen ist, ist Fodor. Er hat
als erster dadurch nicht nur die Lippensynchronizität verstanden, sondern
auch drei Unterkategorien eingeführt: a. phonetische Synchronizität, Überlappung von Geräuschen und Lippenbewegungen, b. Personensynchronizität, Anpassung der Synchronstimme und c. Inhaltssynchronizität, Übereinstimmung des semantischen Inhalts des Originals mit der Synchronübersetzung.6
In den 90. Jahren hat Whitman-Linsen ein ausführlicheres Modell entwickelt, indem sie im Großen Fodors Einteilung beibehält, jede der drei Synchronizitätsarten aber unterteilt. So unterscheidet sie zwischen: a. Visuelle/
optische Synchronizität, untergeteilt in Lippen-, Silben- und Kynetische
Synchronizität; b. audio/akustische Synchronizität, untergeteilt in idiosynkretischem Vokaltyp, paralinguistische/prosodische Elemente (Ton, Klangfarbe, Intonation, Tempo), und kulturelles Spezifikum (Regiolekte und Dialekte) und c. Inhaltssynchronizität (beinhaltet alle linguistischen Herausforderungen, die im Synchronisierungsprozess involviert sind).7
3. Die Rolle der Filmsynchronisierung der englischen Filme in der
Sprachvariation
Die in einer Übersetzung involvierten Sprachen reagieren wie lebende Wesen
im Kontakt miteinander: sie passen sich eine der anderen an, wobei die Variationen, die während einer Translation stattfinden, von der dominierenden
Sprache abhängen. Juliane House bezieht sich auf die speziellen Bedingungen für den Sprachkontakt und die Kommunikation, wenn eine der Sprachen
(meistens die AS) das Englische ist.8
6 Fodor zit. in O`Connel 2007, S.130.
7 Whitman-Linsen zit. in ebd.
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
293
Mihai Draganovici
Diese Beziehungen im Rahmen des Translationsprozesses werden von House
als „overt“ bzw. „covert“ Translation charakterisiert. 9 Um diesen Unterschied
machen zu können, muss man festlegen, ob im Übersetzungsprozess die
Ausgangskultur oder die Zielkultur überwiegend zum Ausdruck kommen.
Die „overt translations“ erweisen zwar lexikalische Elemente und syntaktische Strukturen, die korrekt grammatikalisch sind, die kommunikativen
Konventionen und die textnormativen Elemente weichen aber von der Zielsituation ab. Der Sprachgebrauch lehnt sich an die AS-Situation an, sodass
man dabei mit dem Eindruck bleibt, man hat mit einer Translation zu tun.
Dieser Fall entspricht der verfremdenden Übersetzungsweise.
Im Gegensatz dazu spiegelt die „covert translation“ die kommunikativen und
textuellen Normen der Zielsprache wider. Solche Übersetzungen werden von
der zielkulturellen Gemeinschaft wie ein Original gelesen. Der Unterschied
zur AK und das Spezifikum dieser verschwinden in diesem Fall. In der deutschen Fachsprache entspricht dieser Typ der eindeutschenden oder adaptierenden Übersetzungsweise.
Es ist schon klar, dass man bei der Übersetzung eines Films den Geist des
Originals wiederzugeben versucht. Eine einheitliche Wirkung aber wird man
nie erzielen können, da das Betrachten eines Films ein höchst individuelles
Erlebnis darstellt, das von Alter, Bildung, sozialer Stellung oder persönlichen
Erfahrungen des Rezipienten abhängt. Außerdem wirken auf den Zuschauer
verschiedene Bilder, die er auf seine eigene Weise interpretiert. Das erschwert die Arbeit des Filmübersetzers, der nicht einfach Mittler zwischen
zwei Kulturen ist, sondern als Mitglied der Zielkulturellengesellschaft, im
Idealfall, eine Filterfunktion ausübt. Juliane House verwendet dafür den Begriff „cultural filter“10, der ein theoretisches Konstrukt ist, das für die bewussten und unbewussten Entscheidungen steht. Vermeer/Vitte vertreten in
diesem Sinne die Meinung, dass der Translator als „kulturelles Filter“ das
Fremdartige, d.h. das Anders-Kulturelle durch Vertrautes zu ersetzen oder es
anzugleichen hat, damit es nicht störend oder bedrohlich empfunden wird.11
Die Translationen, die das Englische als AS haben, bilden einen Spezialfall.
8 Juliane House, op. cit. 2004.
9 Ders.., 1997.
10 House 1997.
11 Vermeer/Vitte 1990, S.48.
294
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Der Einfluss audiovisueller Translation englischsprachiger Filme auf die deutsche Sprache
Es geht dabei, vor allem bei Filmsynchronisierungen, um das Verschwinden
dieses Filters. Die Globalisierung und Internationalisierung des sozialen,
kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens, die sogenannte Informationsrevolution von der Hälfte des 20. Jh. haben aus dem Englischen eine
globale Sprache gemacht. Wörter, die aus dieser Sprache ursprünglich als
Fremdwörter in Übersetzungen verwendet wurden, werden im Deutschen
heute als ganz üblich angesehen.
Nicht nur die Sprache, die diese Veränderungen verursacht hat, ist wichtig,
sondern auch die Mittel und Kanäle, wodurch das erfolgt. Man kann behaupten, dass die Sprachvariationen, die von Translationen verursacht werden,
nicht in gleichem Maße von allen Arten von Übersetzungen, wie Belletristik,
Audiobücher, Zeitschriftenartikel, wissenschaftliche Schriften oder Filme
verursacht werden. Die Translationsart, die am meisten das alltägliche gesprochene Deutsch beeinflusst, ist die Übersetzung von Filmen und TV-Serien aus dem Englischen ins Deutsche. Man sollte daran denken, dass
Deutschland DAS „Synchronisierungsland“ ist, da hier seit Mitte der 40er
Jahren, d.h. seit Einführung der gesprochenen Filme, alle Filme synchronisiert werden. Herbst stellt im Jahre 1994 die ausführlichste Analyse der Englisch-Deutschen Übersetzungen in TV-Serien anhand von zahlreichen Beispielen vor. Die Allgegenwärtigkeit der Synchronisierung der englischen Filme in der deutschsprachigen Welt macht aus diesen übersetzten Texten
einen Teil der deutschen Sprache und obwohl die Filmsprache oft sich von
der authentischen Sprache unterscheidet, ist ihre Verwendung als einen potentiell relevanten Faktor in der Sprachänderung zu betrachten. 12 Indem er
sich auf die lexikalischen und syntaktischen Interferenzen auf deutschen
Translationen bezieht, behauptet Herbst:
Angesichts der hohen Zahl von Anglizismen in Synchrontexten und angesichts
des großen Anteils aus dem englischen synchronisierter Fernsehproduktionen
im Programm der deutschen Fernsehanstalten, sowie der hohen Zuschauerbeteiligung, die viele dieser Programme erreichen, kann mit Sicherheit festgestellt werden, dass synchronisierte Filme ein wesentlicher Faktor im Hinblick
auf das Eindringen von Anglizismen in die deutsche Sprache darstellen. 13
In diesem speziellen Fall der Synchronisierung englischer Filme verschwindet der kulturelle Filter in einem hohen Maße. Da die linguistischen Struktu12 Herbst 1994, S. 1.
13 Ebd., S.150.
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295
Mihai Draganovici
ren und auch der kulturelle Hintergrund der AS kein unbekanntes Feld für
die Rezipienten mehr sind, passt sich die Übersetzung sowohl sprachlich als
auch kulturell dem Original an. Folglich entsteht dabei eine Mischung zwischen „overt und covert translations“, d.h. Übersetzungen, die sich stark an
den AT halten, aber zugleich auch für den Rezipienten natürlich klingen
müssen. Außer dem Bekanntheitsgrad der angloamerikanischen Kultur, erleichtert der verfremdende Teil der Translation bei filmen auch die Synchronisierung, da wegen den verwendeten Fremdwörtern auch die Lippensynchronizität leicht zu erzielen ist. Die deutsche Stimme muss ihre Aussage fertig haben im Moment, wo die Lippen des Darstellers sich nicht mehr bewegen. Unter diesen Umständen entsteht eine lineare Nachahmung der englischen Phrasierung und des Satzbaus des Ausgangstextes im Deutschen. Das
führt oft zu Änderungen des üblichen deutschen Sprachusus.
Im Folgenden werden ein paar Änderungen angeführt, die in den deutschen
Sprachusus durch die Synchronisierung englischsprachiger Filme eingedrungen sind:
Englisch
Deutsch
(synchron)
Deutsch
(„traditionell“)
Oh, my God!
Oh, mein Gott!
Um Gottes Willen!
Not really.
Nicht wirklich.
Eigentlich nicht.
Hi dad!
Hi dad!
Hallo Vater!
Is everything OK?
Ist alles OK?
Ist alles in Ordnung?
Makes sense (for me).
Macht Sinn (für mich).
Ist sinnvoll/Ergibt Sinn
I’ll see you later.
Ich seh’ dich später.
Bis später.
Listen!
Hör zu!
----------
Sir
Sir
-/Herr
What’s up?
Was geht ab?
Was ist los?
Give me five!
Gib´ mir fünf!
--------------
Englische Aussprache der
Namen
296
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Der Einfluss audiovisueller Translation englischsprachiger Filme auf die deutsche Sprache
Wie man anhand der oben angegebenen Beispiele bemerken kann, hat die
Synchronisation der englischsprachigen Filme den alltäglichen Gebrauch der
deutschen Sprache beeinflusst. In den meisten Fällen hat sich der übliche
Sprachusus geändert und, vor allem die junge Generation, die sich an das
Englische anlehnende Variante wurde übernommen. Die deutsche, allgemein akzeptierte Variante wird allmählich aus der Gegenwartsprache verdrängt. Es gibt auch Fälle, wo einfach die Lehnübersetzung übernommen
wurde, wobei es ursprünglich dafür kein Äquivalent im Deutschen gab. Ein
Sonderfall, den man meiner Meinung nach auch auf die Verbreitung der englischsprachigen Filme zurückführen kann, ist der Trend für englische Namen
bei den deutschen Kindern. Nicht nur die Internationalisierung dieser Namen durch die Medien, aber auch ihre Erscheinung als solche in den synchronisierten Filmen haben dazu beigetragen.
***
Die audio-visuelle Translation im Falle der Synchronisierung von Filmen hat
eine andere Geschichte in jedem Land. So gibt es traditionelle Synchronisierungsländer wie Deutschland, Frankreich oder Spanien, oder sogenannte
Untertitelungsländer wie Belgien, Dänemark und Schweden. In jeden Fall
hat man für die Wahl des Übersetzungssystems mehrere Faktoren berücksichtigt, wie zum Beispiel in erster Reihe die Tradition des Landes, aber auch
wie wohlhabend das Land ist, welches das kulturelle Niveau der Zuschauer,
ihr Bildungs- oder Sozialhintergrund ist oder die Beziehung zwischen der
Ausgangs- und Zielsprache, bzw. Ausgangs- und Zielkultur. Audio-visuelle
oder multidimensionale Translation mit ihrer Anlehnung an die Ausgangssprache im Falle der deutschen Synchronisierungen von englischen Filmen
sollte nicht in ihrer Wirkung und ihren Folgen als eine Verunstaltung der
Zielsprache betrachtet werden und man sollte nicht mit jedem Mittel gegen
ihren Einfluss kämpfen. Man sollte dieses Phänomen als eine Bereicherung
der Sprache betrachten, als einen kulturellen Input, der zur Sprachdiversität
beitragen kann. Die deutsche Gesellschaft hat diese Tendenz und dadurch
auch die natürliche Sprachentwicklung akzeptiert und hat versucht das Beste
daraus zu machen, im Vergleich zu Frankreich, das sich jedem aus dem Englischen stammenden Änderungsprozess widersetzt hat.
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
297
Mihai Draganovici
Literatur:
1.
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2.
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3.
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GAMBIER, Yves/ GOTTLIEB, Henrik (Hrsg.): (Multi)Media Translation: Concepts,
Practices and Research. Amsterdam, Philadelphia 2001.
5.
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6.
GERZYMISCH-ARBOGAST, Heidrun/ Will, Martin: Kulturtransfer oder ‚Voice
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Kohn, Kurt (Hrsg.): Sprache(n) in der Wissensgesellschaft. Proceedings der 34.
Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik. Frankfurt 2005.
7.
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23-30.
8.
HERBST, Thomas: Linguistische Aspekte der Synchronisation vonFernsehserien:
Phonetik, Textlinguistik, Übersetzungstheorie. Tübingen 1994.
9.
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Characteristics of a Special Form of Translation. in: Anna Trosborg (Hrsg.). Text
Typology and Translation. Amsterdam, Philadelphia 1997, S. 291-308.
10. HOUSE, Juliane: Translation Quality Assessment. A Model Revisited . Tübingen
1997.
11. HOUSE, Juliane: Zwischen Sprachen und Kulturen: Dialog und Dominanz in der
Übersetzung. in: Jörg Albrecht, Heidrun Gerzymisch-Arbogast, Dorothee RothfußBastian (Hrsg.): Übersetzung – Translation – Traduction: Neue Forschungsfragen
in der Diskussion. Festschrift für Werner Koller. Tübingen 2004, 107-125. (2004b)
12. HOUSE, Juliane: Culture-specific elements in Translation. In: Handbuch Translati on – Übersetzung – Traduction. International Handbook of Linguistics and Com munication. Berlin 2004, S. 494-505. (2004a)
13. O`CONNEL, Eithne: Screen Translation, in: Piotr Kuhiwczak, Karin Littau – The
298
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Der Einfluss audiovisueller Translation englischsprachiger Filme auf die deutsche Sprache
Companion to Translation Studies. Clevedon u. a. 2007.
14. PETTIT, Zoë: The Audio-Visual Text: Subtitling and Dubbing Different Genres. in:
Meta, XLIX, 1/ 2004, S. 25-38.
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channels im translatorischen Handeln. Heidelberg 1990.
16. ZATLIN, Phyllis: Theatrical Translation and Film Adaptation. A Practitioner's
View. Clevedon, Buffalo, Toronto 2005.
***
The influence of the audio-visual translation of English-spoken movies
on the German language. Special case – dubbing
Abstract
The audio-visual translation has a different history and tradition in each country.
Thus, there are countries which traditionally use dubbing, such as Germany, France
or Spain, or others, the so-called “subtitle-countries” such as Belgium, Denmark and
Sweden. English-spoken movies have influenced more or less not only the society of
each country where they were presented, but also their audio-visual environment,
while multi-media translations have induced changes in the target languages. The
present paper aims to give a theoretical overview on the synchronizing method and
to investigate the extent to which the synchronization of English-spoken movies has
influenced the German language.
***
Schlüsselwörter/Keywords: übersetzungsrelevante Texttypologie, audio-visuelle
Translation, multimediale Translation, Synchronisierung, Globalisierung, Sprachänderung
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299
DEUTSCH FÜR AKADEMISCHE ZWECKE
Ein didaktischer Vorschlag
Vassiliki Palasaki
1. EINLEITUNG
Das steigende Interesse der Studenten aus verschiedenen Fakultäten der
Universität von Volos an der Fachsprache Deutsch, stellte neue Anforderungen an den didaktisch zu strukturierenden Lehr- und Lernstoff und regte
mich an interdisziplinäre Aufgaben-Aktivitäten vorzuschlagen. Diese sind für
Fortgeschrittene gedacht und zielen darauf ab, dass die Studenten ihr
sprachliches Verhalten in ihrem akademischen Leben und zukünftigen Beruf
trainieren. Hier muss noch hinzugefügt werden, dass meine Berufserfahrung
als Lektorin im Postgraduiertenstudium für Germanisten an der griechischen Fernuniversität und das von mir gesammelte Lehrmaterial dabei sehr
geholfen haben.
Im Folgenden werden Aufgaben- Aktivitäten mit einer integrierten aus vier
Fertigkeiten: Hör- und Sprechverständnis, akademisches Lesen und Schreiben- bestehenden Herangehensweise angeboten.
Als Muster für ihre Bearbeitung dienen in hohem Maße die Anleitungen für
die Sprachprüfung der Universität von Göttingen1.
1 “Bitte antworten Sie kurz” bedeutet, dass die Lernenden nur die wichtigsten Informationen
wiedergeben sollen.
“Bitte antworten Sie in Form einer Liste” und “Bitte antworten Sie in Stichworten” bedeutet,
dass sie nicht in ganzen Sätzen, sondern in Einzelwörtern bzw. Wortgruppen antworten
sollen.
-“Bitte antworten Sie in Form einer nominalen Liste”: Die Aufgabe erfordert hier, dass sie in
Einzelwörtern bzw. Wortgruppen antworten und die entsprechenden Inhalte in nominaler
Form wiedergeben, d.h. sie müssen eventuell Nominalisierungen durchführen.
-“Bitte ergänzen Sie die Tabelle”: Hier sollen sie die fehlenden Informationen in eine Tabelle
eintragen. Die Form ihrer Eintragung sollte dabei der Form bereits vorgegebener
Eintragungen entsprechen.
- Bei der Aufgabe “Bitte ergänzen Sie den Satz” oder “Bitte lesen Sie nur den ersten Satz und
schreiben Sie den zweiten und den dritten Satz” sollen sie entweder einen Satz oder einen
Textabschnitt vervollständigen. Es ist wichtig, dass ihre Ergänzung eine sinnvolle Einheit entweder mit dem Satzanfang oder mit dem vorgegebenen Satz bildet.
-Die Aufgabe “Argumentieren Sie bitte” erfordert, dass sie auf Beweisen beruhend eine
Vassiliki Palasaki
2. HÖRVERSTÄNDNIS
a) Ziel
Hier wird die Fähigkeit ausgeübt, Vorlesungen und Vorträgen aus dem wissenschaftlichen Bereich mit Verständnis zu folgen, sinnvoll Notizen dazu anzufertigen und damit zu arbeiten.
b)Vorgehensweise
Wissenschaftliche Texte zum Training des Hörverständnisses finden die Studenten
auf
folgenden
Homepages:
http//www.land-der-ideen.de
http://www.world-lecture-project.org/ Sie hören den Text zweimal. Beim ersten Hören konzentrieren sie sich auf den Inhalt und Aufbau des Textes. Sie
versuchen die Grobstruktur des Inhalts mit den wichtigsten Inhalts- oder
Schlüsselwörtern zu erfassen und notieren nur die wichtigsten Informationen. Dann lesen sie die Aufgaben genau durch und notieren die Ziffern der
Aufgaben, um beim zweiten Hören gezielt und effektiv mitschreiben zu
können.Während des zweiten Hörens können sie aufgabenbezogenen Notbestimmte Sichtweise auf einen Weltausschnitt etablieren.
-“Erklären Sie bitte” bedeutet, dass die Lernenden Zusammenhänge zwischen den Details
herstellen und die Funktions- oder Verfahrensweise erläutern. Sie sollen sich aber in die
Perspektive der Zuhörer, Leser oder Gesprächspartner versetzen und sich vorstellen, was die
letzten wissen und begreifen wollen.
- “Präsentieren Sie /Erzählen Sie /Notieren Sie bitte”: Hier sollen sie eine Vorstellung von
einem Sachverhalt, einem Ereignis vermitteln oder sachlich darstellen.
-Für die Lösung der Aufgabe “Ordnen Sie bitte die folgenden Überschriften den entsprechenden Textsorten zu” sollen sie nach Übereinstimmungen zwischen den Textsorten und
den Überschriften suchen.
- Bei der Aufgabe “Setzen Sie das Puzzle bitte richtig zusammen” sollen sie den Textabschnitten die Ziffern der richtigen Reihenfolge zuordnen.
-“Übersetzten Sie bitte aus dem Deutschen ins Griechische” bedeutet, dass die deutschen
Inhalte in der griechischen Sprache wiedergegeben werden sollen.
- Die Aufgabe “Schreiben Sie bitte um” erfordert, dass Einzelwörter oder Sätze umgeformt
werden.
-Bei der Aufgabe “Schriftliche oder Mündliche Zusammenfassung, Anfertigung,
Formulierung, Textwiedergabe,” geht es darum, die wesentlichen Aussagen eines Textteils zu
erkennen und in vollständigen Sätzen als zusammenhängenden Text schriftlich oder
mündlich zu formulieren.
302
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Deutsch für akademische Zwecke. Ein didaktischer Vorschlag
izen machen. Sie versuchen keine vollständigen Sätze mitzuschreiben; dafür
ist das Lesetempo zu schnell und sie verlieren den inhaltlichen Zusammenhang aus dem Gedächtnis. Danach lesen sie ihre Notizen gründlich durch
und überprüfen sie den Zusammenhang mit der jeweiligen Aufgabe. Sie korrigieren oder ergänzen sie ihre Notizen und bringen sie diese in eine dem
Text und der jeweiligen Aufgabenstellung angemessenen Reihenfolge.
c) Aufgabenstellung
►Hören Sie fünf wissenschaftliche Texte und finden Sie ihre Textgattung,
ihre Funktion und ihre Überschrift. Bitte antworten Sie in Form einer Liste.
►Im Anschluss an das Hören der wissenschaftlichen Texte notieren Sie bitte
in Stichworten, was Ihnen an Informationen in Erinnerung geblieben ist und
was Ihnen aufgefallen ist.
►Antworten Sie bitte in Stichworten, was jeweils der Sprecher mitteilen will
und was Sie als Hörer verstehen.
►Antworten Sie bitte kurz, welche Schwierigkeiten Sie selbst beim Verständnis der Hörtexte hatten.
► Hören Sie bitte noch einmal die Texte und geben Sie schriftlich wieder,
was Sie verstanden haben.
►Fertigen Sie bitte eine Zusammenfassung der Hörtexte an.
►Legen Sie bitte die Texte, die Sie gehört haben schriftlich nieder und üben
Sie, sie vorzutragen. Stellen Sie dazu einige angemessene Verständnisfragen.
Formulieren Sie die von Ihnen erwarteten Antworten.
►Hören Sie verschiedene wissenschaftliche Textsorten und notieren Sie bitte kurz alle Signale, die einen Hörerbezug herstellen.
►Ergänzen Sie bitte die Tabelle: In der ersten Spalte finden Sie Charakteristiken von Konstellationen zwischen Sprechern und Hörern. Notieren Sie in
der zweiten Spalte Situationen, in denen die jeweiligen Konstellationen realisiert sein können.
Der Hörer beherrscht den Kode des
Sprechers nicht
Dem Sprecher ist nicht bewusst, dass er
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
303
Vassiliki Palasaki
einen Kode verwendet, den der Hörer
nicht versteht
Der Sprecher verwendet absichtlich
einen Kode, von dem er weiß, dass der
Hörer nicht über ihn verfügt, weil er
nicht will, dass der Hörer ihn versteht
Der Sprecher verwendet einen Kode,
den einige seiner Hörer beherrschen,
andere nicht
►Ein deutscher Professor kommt nach Volos, um an der Universität von
Thessalien vor Studenten einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten.
Welche Erwartung richten Sie über den Inhalt hinaus-an diesen Vortrag im
Kontrast zu Ihren Erwartungen an einen Aufsatz, den Sie zum selben Thema
in einer Fachzeitschrift finden? Argumentieren Sie bitte.
►Sie haben einen Vortrag, eine Vorlesung oder ein Seminar auf Deutsch
verfolgt. Denken Sie darüber nach, ob die Ausführungen interessant und gut
strukturiert waren. Welche Mängel haben Sie festgestellt und wie könnten
sie vermieden werden? Argumentieren Sie bitte.
3. SPRECHVERSTÄNDNIS
a) Ziel
Hier wird die Fähigkeit ausgeübt, sich klar strukturiert und ausführlich zu
studienbezogenen und wissenschaftsorientierten Themen mündlich auszudrücken und dabei verschiedene Mittel zur Textverknüpfung angemessen
zu verwenden. Außerdem wird versucht, dass die Studenten die Fertigkeit erwerben, Informationen aus verschiedenen wissenschaftlichen Quellen zu
berichten/erzählen und Erklärung und Argumentation in einer zusammenhängenden Darstellung wiederzugeben.
b)Vorgehensweise
Zum mündlichen Ausdruck wird ein Aufgabenblatt mit Situationen vorgegeben. Es wird nämlich den Studenten immer die Situation beschrieben, in die
sie sich hineinversetzen sollen. Es wird gesagt, wo sie sich befinden, mit wem
304
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Deutsch für akademische Zwecke. Ein didaktischer Vorschlag
sie sprechen sollen und worum es geht. Unter der Situationsbeschreibung
steht die Aufgabenstellung. Meistens besteht die Aufgabe aus mehreren Aspekten, die sie bearbeiten sollen. Die Lernenden sollen also genau die Situationsberschreibung lesen und die Hinweise zu ihrer Rolle, ihrem Ansprechpartner, dem Thema und eventuell zum Ort unterstreichen. Dann lesen sie
die Aufgabenstellung und überlegen sich während der Vorbereitungszeit,
was sie sagen sollen. Sie können sich kurze Notizen machen. Während der
Sprechzeit sollen sie darauf achten, dass sie alle Punkte der Aufgabenstellung behandeln. Sie vermeiden bei ihrer Antwort die Sätze aus der Aufgabenstellung zu übernehmen, weil sie zeigen sollen, wie gut sie Deutsch beherrschen.
c) Aufgabenstellung
► Verschiedene mündliche und schriftliche Textsorten sind hier zusammengestellt. Ordnen Sie bitte die folgenden Überschriften von Textfunktionen
den entsprechenden Textsorten zu.
Informationsfunktion
Appellfunktion
Obligationsfunktion
Kontaktfunktion
Buchbesprechung, Frage, wissenschaftliche Diskussion, Vortrag, Werbespot, Lexikoneintrag, Garantieschein, Vertrag
►Ihre Firma hat eine Werbeagentur beauftragt einen Werbespot für die von
Ihnen konstruierten Solarthermie-Anlagen zu erarbeiten. Wie finden Sie den
Vorschlag der Werbeagentur? Inwiefern scheinen Ihnen die von der Werbeagentur gewählten Mittel hilfreich zu sein, damit die Solarthermie-Anlagen verkauft werden? Argumentieren Sie bitte.
►Ein Stammkunde/Eine Stammkundin hat reklamiert, weil das von Ihner
Filiale gekaufte Düngemittel nicht geholfen hat, den Ertrag zu steigern.
Rufen Sie den Kunden/ die Kundin an und machen Sie ihm/ihr folgendes
Angebot:
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Vassiliki Palasaki
- Wenn das Düngemittel in die Filiale zurückgebracht wird, wird es natürlich
kostenlos umgetauscht.
- fϋr die entstandene Unannehmlichkeit: 10% Rabatt beim nächsten Einkauf.
- nur in Ausnahmefällen Rücknahme des Düngemittels und Gutschrift in
Höhe des Kaufwerts.
►Als Bauingenieur sind Sie eingeladen, bei einer Veranstaltung zum Thema
“Innovatives Bauen” Ihre Bauwerke zu präsentieren.
- Begrüßen Sie die ZuhörerInnen und stellen Sie sich vor.
- Präsentieren Sie ein Gebäude, das ohne fossile Brennstoffe auskommt.
- Gehen Sie auf die Besonderheiten in der Planung, in der Ausführung und in
der Nutzung des Gebäudes ein.
►Ein Bio-Thermenhotel wird gerade umgebaut. Die Zimmer sollen mit
hochwertigen, möglichst naturnahen Möbeln ausgestattet werden. Sie haben
dem Hotel, als Vertreter eines Innenarchitektenbüros, ein Angebot für Vollholzbetten und Naturmatratzen unterbreitet. Verhandeln Sie mit einem Vertreter/ einer Vertreterin des Hotels nun folgende Details und argumentieren
Sie:
- Vollholzbett (Bett aus Buche natur, Vollholz, keine Metallverbindungen,
einfach aufzubauen und wieder zu zerlegen) : 500 Euro
- Naturmatratze (Naturlatex, Baumwolle und Schafwolle) : 750 Euro (Rosshaar mit Aufpreis möglich)
- Rabatt : 11-30 Stück: 10%, 31-50 Stück: 20%
- bei Anzahlung von 50% Preisnachlass von 6%: bei Zahlung innerhalb von
10 Tagen 4% Skonto
- Lieferzeit: 4 Wochen ab Bestellung
►Sie möchten eine Frage an einen Referenten richten. Wie würden Sie die
Frage mündlich formulieren, um auch wirklich eine –möglichst ausführliche- Antwort zu erhalten? Erklären Sie bitte.
►Wie würden Sie in einer Diskussion über ein wissenschaftliches Thema
vorgehen? Welche Prinzipien würden Sie befolgen? Erklären Sie bitte.
►Sie beginnen in einer wissenschaftlichen Diskussion einen Satz, ohne ge306
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Deutsch für akademische Zwecke. Ein didaktischer Vorschlag
nau zu wissen, wie sein Ende aussieht. Meistens kommt jedoch etwas Sinnvolles dabei heraus. Bitte ergänzen Sie den Satz, den Sie begonnen haben,
indem Sie in die linke Spalte alle Variationen, die Ihnen als sinnvolle Fortsetzung einfallen, schreiben; schreiben Sie in die rechte Spalte ebenso viele Unmöglichkeiten, wie der Satz nicht fortgesetzt werden kann.
►Sie haben an einer wissenschftlichen Diskussion teilgenommen oder Sie
haben einen Vortrag gehalten. Erklären Sie bitte folgendes: Gab es irgendeine Anregung von außen- von Ihrem Diskussionspartner oder von Ihrem/Ihren Zuhörer(n)-, die Sie in eine bestimmte Richtung trieb? Wie reagierten Sie darauf, wenn Sie unterbrochen wurden ? Haben Sie am Ende
wirklich das gesagt, was Sie sagen wollten ? Wurden Ihnen während des
Sprechens Zusammenhänge bewusst, die Sie zuvor nicht kannten?
►Sie haben einen Vortrag gehört und sich Notizen gemacht. Geben Sie bitte
Ihre Notizen in zusammenhängenden Sätzen mündlich wieder.
►Wählen Sie bitte einen Text Ihres Fachgebiets aus, der ein interdisziplinäres Thema hat und geben Sie ihn mündlich wieder. Es soll danach ein Gespräch mit Ihren Kommilitonen folgen, die auch auf die gleiche Weise vorgehen, damit die jeweils herausgefundenen Informationen gesammelt, miteinander verglichen und ergänzt werden.
4. AKADEMISCHES LESEN
a) Ziel
Hier wird die Fähigkeit ausgeübt, einen schriftlich vorgelegten wissenschaftsorientierten Text zu verstehen und sich damit auseinanderzusetzten.
b) Vorgehensweise
Ein studienbezogener und wissenschaftsorientierter Text wird vorgelegt und
von den Studenten genau gelesen. Dann sollen sie die Textstellen, auf die
sich die Aufgaben beziehen heraussuchen und mit den Ziffern der entsprechenden Fragen versehen. Abschließend vergleichen und überprüfen sie
den logischen Zusammenhang von Fragen und Antworten nochmals mit den
entsprechenden Textstellen.
c) Aufgabenstellung
► Bitte notieren Sie in Stichworten die Merkmale, die für den wissenschaftZGR 1-2 (37-38) / 2010
307
Vassiliki Palasaki
lichen Kode typisch sind.
►Wählen Sie bitte einen naturwissenschaftlichen und einen geisteswissenschaftlichen Text aus. Präsentieren Sie ihre Unterschiede in Bezug auf ihren
Wortschatz, ihre Morphologie, ihre Semantik und ihre Syntax.
►Sie finden hier -alphabetisch geordnet- schriftliche und mündliche Textsorten. Suchen Sie bitte aus dieser Zusammenstellung die Überschriften
heraus und setzten Sie sie über die unten stehende Tabelle. Tragen Sie dann
die Textsorten in die Tabelle ein.
Tagungsband -Korrespondenz-Telefongespräch-Diskussionsrunde-Sendung
über ein wissenschaftliches Thema- Statistik- Studienheft-FormulareGebrauchsanweisung-GeschäftsnotizGespräch
unter
Freundenöffentlich/unpersönlich-privat/persönlich-öffentlich/unpersönlichprivat/persönlich- Wörterbuch-Vorlesung- Zugfahrplan
mündlich schriftlich
►Ordnen Sie bitte die folgenden Überschriften von Lesestrategien den entsprechenden schriftlichen Textsorten zu.
Orientierende Lesestrategie
Selektive Lesestrategie
Suchende Lesestrategie
308
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Deutsch für akademische Zwecke. Ein didaktischer Vorschlag
Detaillierte Lesestrategie
Katalog, Fachzeitschrift, Anleitung, Weihnachtskarte, Zeitung, Rezept, Grafik, Roman
►Lesen Sie bitte fünf wissenschaftliche Texte verschiedener Textsorten aus.
Präsentieren Sie bitte die Unterschiede dieser Textsorten.
►Wählen Sie bitte einen Text Ihres Fachgebiets aus und zerstückeln Sie ihn.
Nachdem Sie dessen einzelne Teile umgestellt haben, setzen Sie das Puzzle
bitte richtig zusammen.
►Welche Art Wissen aktivieren Sie zum Verständnis dieses Textes: textspezifisches Wissen, sprachliches Wissen oder Weltwissen? Antworten Sie bitte
anhand von Beispielen in Stichworten.
►Notieren Sie bitte in Form einer Liste die Kontext- und Textsignale, die Ihnen helfen den von Ihnen ausgewählten Text zu verstehen.
►Beantworten Sie bitte kurz die folgenden Fragen: Welche ist die Aussage
und welche die Funktion des Textes, den Sie gelesen haben? Welche Absicht
verfolgt der Autor?
►Zeigen Sie bitte, wie die Kohärenz des Textes, sowohl sprachlich als auch
inhaltlich realisiert wird und erklären Sie bitte anhand von Beispielen aus
dem Text.
►Notieren Sie bitte in Form einer nominalen Liste alle Wörter im Text, die
Sie unter Oberbegriffen zusammenfassen können.
► Finden Sie bitte die Nominalkomposita im Text und lösen Sie sie vom Typ
Substantiv+ Substantiv und Adjektiv+Substantiv in Form einer Liste auf.
►Notieren Sie bitte in Form einer Liste die grammatischen Besonderheiten
im Text, die Ihnen Schwierigkeiten verursachen.
►Schreiben Sie bitte den Text in eine andere Zeitform um.
►Notieren Sie bitte in Form einer Liste alle Fremdwörter Ihres Textes, d.h.
Wörter, die keine ursprünglich deutschen Wörter sind.
►Notieren Sie bitte in Form einer Liste alle Wörter, die Ihnen einigermaßen
als bekannt vorkommen und die man als Internationalismen bezeichnen
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
309
Vassiliki Palasaki
kann.
►Das Altgriechische hat einen besonders großen Einfluss auf das Deutsche
ausgeübt. Unterstreichen Sie bitte im wissenschaftlichen Text die deutschen
Wörter altgriechischer Herkunft und notieren Sie mit Hilfe eines etymologischen Wörterbuchs, in Form einer Liste aus welchen altgriechieschen Wörtern sie stammen.
►Es kann sein, dass viele Wörter in Ihrem Text Ihnen unbekannt sind. Erklären Sie bitte wie die unbekannten Wörter semantisch erschlossen werden
können, damit man den Inhalt des Textes versteht.
►Schreiben Sie die wissenschaftlichen Termini aus dem Text heraus und
übersetzen Sie sie aus dem Deutschen ins Griechische.
►Schreiben Sie bitte den gleichen wissenschaftlichen Text in einfaches
Deutsch um. Vergleichen Sie den Text, den Sie gelesen haben und Ihren eigenen. Erzählen Sie: Was wird verändert? Was wird weggelassen? Was wird
ergänzt? Erklären Sie bitte diese Veränderungen.
►Erzählen Sie was Sie über das Gelesene hinausgehend-gerne mehr gewusst
hätten, wo es innerhalb der Texte Informationslücken gibt, wie man etwas
sinnvoller hätte formulieren können, aber auch, was Sie interessant gefunden haben und warum Sie es interessant gefunden haben. Argumentieren Sie
bitte.
5. AKADEMISCHES SCHREIBEN
a) Ziel
Es wird die Fähigkeit ausgübt, sich selbständig und zusammenhängend zu
studienbezogenen und wissenschaftsorientierten Themen schriftlich zu äußern.
b) Vorgehensweise
Zur Textproduktion wird ein Aufgabenblatt mit Zitat zu einem Thema
vorgegeben. Die Schreibaufgabe besteht aus der Stellungnahme der Studenten zu dem Thema. Sie bereiten die Gliederung ihres Textes auf dem Notizpapier vor und formulieren dann den Text. Ihr Text sollte mindestens 200
310
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Deutsch für akademische Zwecke. Ein didaktischer Vorschlag
Wörter lang sein, einen Einleitungs-, einen Haupt- sowie einen Schlussteil
haben und durch Absätze strukturiert sein. Ihre Aussagen sollen sie mit Fakten und Beispielen belegen.
d) Aufgabenstellung
►Wie gehen Sie bei der Vorbereitung und Verfassung eines Textes vor?
Erklären Sie bitte.
►Lesen Sie nur den ersten Satz von drei Textsorten (es sind folgende: wissenschaftlicher Artikel, Erzählung, Bewerbung). Schreiben Sie bitte jeweils
den zweiten und dritten Satz.
►Bitte tragen Sie in Form einer Liste zusammen, was Ihnen am Stil wissenschaftlicher Texte auffällt und die Merkmale, anhand derer man sie von anderen Textsorten unterscheiden kann?
►Wählen Sie bitte einen wissenschaftlichen Text aus und formulieren Sie
ihn in Ihren eigenen Worten.
►Leisten Sie bitte die Feinarbeit an Ihrem Text. Korrigieren Sie –soweit
möglichdie
grammatischen
Fehler
und
die
stilistischen
Ungeschicklichkeiten, die Ihr Lehrer unterstrichen hat.
►Kürzen Sie bitte den wissenschaftlichen Text Ihrer Auswahl etwa auf die
Hälfte. Erklären Sie, welche der folgenden Kürzungsmöglichkeiten (Auslassen, Selektieren, Generalisieren und Konstruieren oder Integrieren) Sie anwenden.
►Schreiben Sie in Form einer Liste und erklären Sie bitte auf welchen Textsorten sich beim Prozess der Textkürzung Streichungen am Ende des Textes,
Streichungen innerhalb des Textes und Zusammenfassungen finden können.
►Lesen Sie bitte einen wissenschaftlichen Text und fassen Sie in wenigen
Worten zusammen, von was er erzählt. Überlegen Sie sich, welche inhaltlichen Schwerpunkte Sie setzten wollen.
►Welche Funktion erfüllt Ihre Zusammenfassung? Soll sie zum Lesen des
ganzen Textes anregen, soll sie einen ersten Eindruck vermitteln oder den
Inhalt exakt wiedergeben? Soll Ihre eigene Meinung dazu abgegeben werden? Argumentieren Sie bitte.
►Schreiben Sie an eine Fachzeitschrift eine kurze Kritik des wissenschaftlichen Artikels, den Sie gelesen haben.
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Vassiliki Palasaki
►Suchen Sie bitte einen wissenschaftlichen Text aus, der für das Erweitern
geeignet ist. Welche Vorgaben bzw. Arbeitstechniken verwenden Sie für das
Erweitern dieses Textes? Erklären Sie dabei wie, warum und für wen dieser
Text erweitert werden soll. Achten Sie auch darauf, dass der nach der Bearbeitung entstehende Text die Vorschriften eines vollständigen Textes erfüllen muss (Anfang, Hauptteil, Ende).
►Schreiben Sie mündliche oder schriftliche Textsorten in den Ketegorien
deskriptive, explikative, argumentative und narrative Themenentfaltung. Ergänzen Sie bitte die Tabele:
deskriptive T.:
explikative T.:
argumentative T.:
narrative T.:
►Beschreiben Sie bitte, wie Sie die Gliederung eines Textes, der sich für eine
narrative Themenentfaltung eignen sollte, erarbeiten.
►Schreiben Sie bitte anhand eines wissenschaftlichen Textes einen formellen Brief an eine Behörde. Sie sollen dabei die argumentative Themenentfaltung entwickeln.
►Welche Passagen des Textes wählen Sie aus, wenn Sie den Emfängern
Ihres formellen Briefes von Ihren Behauptungen überzeugen wollen ? Argumentieren Sie bitte.
►Geben Sie ausgehend von verschiedenen wissenschaftlichen Artikeln, je
einen deskriptiven, explikativen, argumentativen und narrativen Text wieder. An welchem inhaltlichen Detail Sie dabei ansetzen, bleibt Ihnen überlassen.
►Anhand eines von Ihnen ausgewählten wissenschaftlichen Textes fertigen
Sie einen anderen Text an. Für welche Art der Themenentfaltung und für
welche Textsorte Sie sich entscheiden, bleibt Ihnen überlassen.
312
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Deutsch für akademische Zwecke. Ein didaktischer Vorschlag
6. SCHLUSSFOLGERUNGEN
Abschließend soll betont werden, dass mittels dieser Aufgaben-Aktivitäten
die Studenten die angemessenen Fähigkeiten erlangen, um:
● den Wortschatz ihres Fachgebiets zu lernen, zu erweitern und die Richtlinien für das akademische Lesen und Schreiben einzuhalten,
● wissenschaftliche Beiträge und Bücher zu studieren und zu verstehen,
● Vorträge mit Verständnis zu verfolgen, nachvollziehbare Notizen aufzuschreiben, kritisches Denken zu entwickeln und Fragen zu stellen,
● Aufsätze, Berichte, Zusammenfassungen und einfache akademische Hausarbeiten zu schreiben und
● flüssig und präzis zu sprechen, an wissenschaftlichen Diskussionen teilzunehmen und kurze Referate zu halten.
***
Literatur:
1.
Lektorat Deutsch als Fremdsprache (2006) Anleitungen für die Bearbeitung der
Aufgaben der Sprachprüfung (DSH) Georg-August-Universität Göttingen
www.uni-goettingen.de/en/12457.html
2.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der mündlichen Kommunikation.
Mündlicher Ausdruck, Band A, Patra.
3.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der mündlichen Kommunikation.
Mündlicher Ausdruck, Band B, Patra.
4.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der mündlichen Kommunikation.
Hörverstehen, Band A, Patra.
5.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der mündlichen Kommunikation.
Hörverstehen, Band B, Patra.
6.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der schriftlichen Kommunikation.
Leseverstehen, Band A, Patra.
7.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der schriftlichen Kommunikation.
Leseverstehen, Band B, Patra.
8.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der schriftlichen Kommunikation.
Schriftlicher Ausdruck, Band A, Patra.
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
313
Vassiliki Palasaki
9.
THEISEN, J. (2000) Sprachliche Fertigkeiten in der schriftlichen Kommunikation.
Schriftlicher Ausdruck, Band B, Patra.
***
German for Academic purposes: A Didactic Proposal
Abstract
In the present paper there is an attempt to design activities/exercises concerning the
subjects of the German language for academic purposes. From my experience as a
German teacher at tertiary level, I noticed that activities in foreign language classes
can be appropriate to motivate advanced students. The aims and objectives of the
suggested activities focus on the development of student’s language skills, their scientific literacy and the rising of their critical thinking and conscience. The originality
of the suggested activities lies on the interdisciplinary feature, as the teaching material derives from scientific fields of different departments and schools of the University of Thessaly.
***
Schlüsselwörter/Keywords: DaF-Unterricht, Hochschulstudium, akademische Kompetenzen, Aufgaben – Aktivitäten, Interdisziplinarität.
314
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
DIE ZGR STELLT VOR
FESTIVAL TRADURRE (IN) EUROPA, 22.-30. November,
Neapel 2010
PICCOLI GRANDE LETTERATURE – GROSSE KLEINE LITERATUREN
Vom 22.-30. November 2010 fand in Neapel eines der größten europäischen Festivals der Übersetzungen statt: Europa – spazio di traduzione, das von den Universitäten „L'Orientale“ in Neapel, Wien und Paris unter Mitwirkung der Universitäten in
Istanbul, Bukarest und Dresden veranstaltet und von der Europäischen Union finanziert wurde. Die ganze Woche gab es volles Programm. Vertreten waren die bedeutendsten Epochen der Kulturgeschichte der Menschheit von der Antike bis zur Gegenwart sowie fast alle bedeutenden Kulturlandschaften Europas, so dass das Festival sowohl diachronisch als auch diastratisch angelegt war. Namhafte Exegeten sowie Künstler und Autoren nahmen an den vielfältigen Veranstaltungen in der Metropole an der neapolitanischen Bucht teil. Unter dem Titel Piccoli grande letterature
wurden Literaturen aus dem Westen, Norden und Südosten Europas vorgestellt, deren wenig verbreitete Sprachen ihnen die weltweite Zirkulation unmöglich machen.
Deshalb galt die Übersetzung auch in diesem Fall als Möglichkeit der Grenzüberschreitung, der Völkerverständigung und -annäherung, als interkultureller Translationsprozess von unschätzbarer Bedeutung in der grenz- und kulturgeprägten Begegnung von Eigenem und Fremdem. Das den südosteuropäischen „kleinen“ Literaturen in rumänischer, bulgarischer, ungarischer und slowenischer Sprache gewidmete Modul bot Autoren und Autorinnen aus diesen Ländern die Möglichkeit, ihre
Gedichte in der Originalsprache zu lesen, während die Italienische und deutsche
Übersetzung an große Leinwände projiziert wurde, damit alle sich im Saal Befindlichen beides, Lesung und Lesen, wahrnehmen konnten. Die Organisation und Moderation dieses Modulls besorgte Prof. Dr. George Guţu von der Universität Bukarest,
in Zusammenarbeit mit Doz. Dr. Monica Lumachi von der Universität „L'Orientale“
Neapel. Die slowenische Autorin Jasminka Domas las ein Fragment aus Ihrem frisch
im Verlag La Mongolfiera in italienischer Übersetzung erschienenen Roman Rebecca nel profondo dell’anima. Die italienischen Übersetzungen der rumänischen Lyrikerin Ana Blandiana wurden von ihrem Übersetzer, Prof. Dr. Bruno Mazzoni von der
Universität Pisa, gelesen. Die Gedichte von Mirela Ivanova (Bulgarien) und Márton
Kalász (Ungarn) wurden italienischen Ausgaben entnommen. Der gesamte Abend
dieser im unmittelbar an der neapolitanischen Bucht gelegenen historischen Rektoratsgebäude abgehaltenen Veranstaltung war von der Modernität und vom Gefühlsreichtum der dichterischen Produktion dieser Autoren angenehm geprägt. (G.G.)
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
ANA BLANDIANA (Rumänien)
1. NEALEGERE
Adusă la marea judecată
Care se termină prin trimiterea pe pământ,
Eu, găsită nevinovată,
Am primit dreptul
Să mă aleg pe mine.
Dar nu bărbat, şi nu femeie,
Şi nici un animal n-am vrut să fiu,
Şi nici o pasăre, şi nici o plantă.
Se-aud secundele căzând
Din marele drept de-a alege
Se-aud lovindu-se de piatră:
Nu, nu, nu, nu.
Zadarnic adusă la judecată,
Zadarnic nevinovată.
NON SCEGLIERE
Convocata al supremo giudizio
che termina spedendoci in terra,
io, dichiarata non colpevole,
ho avuto il diritto
di scegliere me stessa.
Ma né uomo, e né donna,
e neppure un animale scelsi di essere,
e neppure un uccello, e neppure una pianta.
Si odono i secondi cadere
dal diritto supremo della scelta.
Li si ode battere sulla pietra:
no, no, no, no.
Invano convocata in giudizio,
invano non colpevole.
(Ü: Bruno Mazzoni)
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ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
NICHTWAHL
Vor das Höchste Gericht gestellt,
das mit der Verbannung auf die Erde endet,
wurde mir, als unschulding befunden,
das Recht zugesprochen,
mich selbst zu wählen.
Doch kein Mann, auch kein Weib,
und auch kein Tier wollte ich sein,
weder ein Vogel noch eine Pflanze.
Zu hören sind die Sekunden, die herabfallen
aus dem höchsten Recht, wählen zu dürfen.
Zu hören, gegen Steine prallend, ist:
nein, nein, nein, nein,
vergebens vor Gericht gestellt,
vergebens als unschulding befunden.
(Franz Hodjak)
2. PIAŢA BUZEŞTI
Lasă, Doamne, câinele şi copilul
Să muşte din aceeaşi bucată de pâine
Printre grămezi de moloz
Şi grămezi de gunoaie,
Sub soarele moleşitor
Reuşind să-i adoarmă
Încolăciţi şi-mpăcaţi,
Cu universul redus
La bucata de pâine
În care se mai văd
Dinţii îngerului.
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
PIAZZA BUZEŞTI
Lascia, o Signore, che il cane e il bimbo
addentino lo stesso pezzo di pane
tra cumuli di calcinacci
e cumuli di spazzatura,
sotto il sole cocente
che può farli dormire
raggomitolati e placati,
con l’universo ridotto
a quel pezzo di pane
in cui si vedono ancora
i denti dell’angelo.
PIAZZA BUSESCHT
Lass doch, Herr, den Hund und das Kind
beißen vom selben Stück Brot
aus dem selben Haufen Abfall
und Dreck
unter der sengenden Sonne,
in der sie umschlungen
einschlafen mögen, versöhnt
mit der auf das Brotstück beschränkten Welt,
in dem noch die
Zähne des Engels zu sehen sind.
(Hans Bergel)
3. NEC PLUS ULTRA
Mi s-a spus să te caut
Şi eu însămi nu voiam decât căutarea.
Nici măcar nu mă gândisem
Ce m-aş face cu tine
320
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
Dacă te-aş găsi.
Te-aş pune în pământ ca pe o sămânţă?
Te-aş hrăni ca pe un animal domestic
Socotindu-ţi foloasele blănii şi cărnii,
Lânii şi laptelui?
Sau, dimpotrivă, m-aş lăsa eu devorată
Ca de o fiară?
Sau ca printr-o pădure
M-aş rătăci cu spaimă prin tine?
Sau ca într-o prăpastie
M-aş lăsa să cad nebănuind adâncimea?
Sau ca într-o mare
M-aş înmormânta în peşti?
Mi s-a spus să te caut,
Nu să te găsesc.
NEC PLUS ULTRA
Mi è stato detto di cercarti
e io stessa non volevo che cercare.
E non ho mai pensato
a cosa fare di te
nel caso ti trovassi.
Ti affiderei alla terra come un seme?
Ti nutrirei come un animale domestico
soppesando il valore della pelliccia, della carne,
della lana, del latte?
O, al contrario, mi lascerei sbranare
come da una fiera?
O come in una foresta
mi smarrirei sgomenta in te?
O come in un burrone
Mi lascerei cadere senza saperne il fondo?
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321
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
O come dentro un mare
nei pesci mi seppellirei?
Mi è stato detto di cercarti,
non di trovarti.
(Ü: Bruno Mazzoni)
NEC PLUS ULTRA
Man sagte mir, ich soll dich suchen,
und ich selbst hatte nur das Suchen im Sinn.
Nicht im geringsten dachte ich daran,
was ich mit dir anfangen könnte,
wenn ich dich fände.
Würde ich dich in die Erde setzen wie einen Samen?
Würde ich dich füttern wie ein Haustier,
den Nutzen berechnend des Pelzes und des Fleisches,
der Wolle und der Milch?
Oder, im Gegenteil, ließe ich mich zerfleischen
wie von einem Raubtier?
Oder verirrte ich mich wie in einem Wald
voll Entsetzen in dir?
Oder ließe ich mich wie in einen Abgrund fallen,
ohne die Tiefe zu ahnen?
Oder begrübe ich mich wie in ein Meer
in Fische?
Man sagte mir, ich soll dich suchen,
nicht, ich soll dich finden.
(Ü: Franz Hodjak)
322
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
MÁRTON KALÁSZ (Ungarn)
1. KRÉTAKÖR
Mivé léssz, kis népek hazája?
Úton vagyunk; és szomorú,
mindig magányos nyelved kering,
téli madárhad, koponyánkban.
Nap tűz; minden a csikorgásig
dermedt, üres, fehér –
s íme, a madarak rívatlanul
rajzolják, önként, az örökkévalónak
vésett szánutak, autónyomok,
nyílt ólak, árván fölnéző vadászok,
költők, üzemek, kocsmából többé
ki nem érkező háromkirályok
fölé, úristen,
amúgy is bezárult
életünkhöz: a krétakört.
KREIDEKREIS
Was wird aus dir, du kleiner Völker Vaterland?
Wir: unterwegs. Doch deine Sprache, einsam stets
und kummervoll, sie kreist
in unserm Schädel: Winters Vogelschar.
Die Sonne sticht: zum Knirschen alles starr und alles leer und alles weiss und siehe da: die Vögel unerfleht,
sie zeichnen über der für ewig eingeschnittnen Schlittenbahn,
der Autospur und offnen Ställen und
verwaistem Jäger, der plötzlich aufblickt,
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
323
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
Fabriken, Dichtern und aus Kneipen nimmermehr
heraustretenden Heilgen drei Königen, Herrgott,
von selbst
mit ihrem ohnehin beschlossnen Leben; den Kreidekreis.
(Ü: Günter Kunert)
CERCHIO DI GESSO
Cosa diventerai tu, patria di piccoli popoli?
Siamo in viaggio; e la tua lingua
triste e sempre solitaria gironzola
nelle nostre teste, uno stormo di uccelli d’inverno.
Il sole splende; tutto è intirizzito,
vuoto, bianco fino allo stridore –
Ed ecco; sopra le piste per le slitte incise per l’eternità,
sopra le orme delle macchine, le stalle aperte,
i cacciatori che solitari mirano in alto,
i poeti, le fabbriche, i re magi
che non escono mai dalle taverne,
oddio, spontaneamente
per le nostre vite ormai chiuse
gli uccelli disegnano: il cerchio di gesso.
(Ü: Judit Papp)
2. ÁT A PALLÓN
mintha egy báránynak kellene átmennie a keskeny pallón, megriad
körülötte ég, föld, levél lüktetni kezd
fölötte a fán, a sárguló búza, a
szőlőlevél retteg: mi lesz veled? az erdő
suttog, biztat messze, mintha segítene
324
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
a bárány maga van, s kellene átmennie a keskeny pallón – (mondom: így
szavak félnek fehérben, tétováznak
ha szemük volna, nézne át könyörgőn)
mintha egy bárány szánná el magát
szánná magát, átmegy a pallón, vakmerő lesz
könnyű, igaz bárány: hiába nem hisz
abban, segít, hogy tárt karral vársz odaát
ÜBER DEN STEG
Als ob so ein Lamm heftig erschrickt,
weil es über den Steg muss, den schmalen, Hímmel und Erde pulsen,
es regt sich das Laub über dem Steg am Baum, das gilbende Feld, das
Weinblatt fragt sich entsetzt: was wird das? die Bäume des Waldes raunen,
reden Mut zu von fern, Trost –
das Lamm ist allein und es müsste gehen über den schmalen Steg - ich sage:
so
fürchten die Worte auf Weiss sich, sie zögern,
hátten sie Augen, inständig blickten sie rüber
als ob sich das Lamm nun ein Herz fasste,
es ginge hinüber über den Steg, tollkühn,
leicht, ein wirkliches Lamm: es nützt nichts, dass es nicht glaubt,
es hilft, dass du mit offenen Armen mich drüben erwartest.
(Ü: Brigitte Struzyk)
ATTRAVERSO LA PASSARELLA
come se una pecorella dovesse attraversare
una stretta passerella e s’impaurisse, intorno
il cielo,la terra iniziano a pulsare,
le foglie sull’albero, le spighe dorate, i pampini
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
325
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
tremano: che ne sarà di te? Il bosco
sussurra, incoraggia da lontano, come per aiutare –
la pecorella è sola, e dovrebbe attraversare
la passerella stretta – (dico: così
le parole temono, sul bianco, titubano,
se avessero occhi, guarderebbero supplicanti)
come se la pecorella si decidesse
ad attraversa la passerella, divenuta impavida,
leggera, una vera pecorella: non serve che non creda
che è d’aiuto che mi aspetti oltre di essa a braccia aperte.
(Ü: Judit Papp)
3. EGYÜTT, ESCHEDÉBEN
Marianne és Günter Kunertnek
közben, mondják, repedeznek a birodalmak,
az évszakok szitaszövésű
anyaga már szakadozik,
mielőtt belefekszik
bárki egy versírásra, egy szeretkezésre
értelme a beszédnek
kilenc vagy másfélezer év után,
leképeznünk egymást, itt, északon,
mint rég talán Mezopotámiában vagy Szigligeten,
Buchban; leolvasni egymás arcáról: ilyen az öröm
ez a baráti ölelés
a fogadó óráját sem ijeszti, s nem éleszti meg,
kvarcszemet sem csúsztat egy fanyar töltetű vidékbe,
szálkát sem emel a világ szemébe,
különben mi itt másból érkezünk
326
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
enni, inni csöndben, fonódni fényvető szavakba,
a tudatban: félnap ez az idő,
múló, de lehet belőle száz évig élni;
két édes nő, két férfi – lesznek, aligha így számítanak
érzelmükben még egy találkozásra
ZUSAMMEN, IN ESCHEDE
für Marianne und Günter Kunert
Inzwischen, so wird erzahlt, fallen die Reiche auseinander,
die spinnwebvernetzten
Jahreszeiten beginnen zu reisssen,
ehe sich einer drin niederlegt,
das Gedichi zu schreiben, auf eine Umarmung.
Sinn der Rede
nach neun oder Jahren der Ewigkeit
in uns uns abzubilden, hier im Norden
wie früher schon in Mesopotamien, in Szigliget,
in Buch; einander aus dem Gesicht zu lesen; Freude ist so.
Diese Umarmung von Freunden
verschreckt nicht, beschleunigt nicht die Zeit in der Gastwirtschaft
kein Quarzkorn fällt in die herbgefüllte Gegend,
kein Splitter ins Auge der Welt,
wir kommen übrigens aus etwas Anderem.
Essen, Trinken, verwickelt in Worte aus Licht,
das Wissen davon: diese Zeit, ein halber Tag
und vergänglich, davon lebst du, ganzes Jahrhundert;
zwei schöne Fraun, zwei Männer - es wírd die noch geben, auch
rechnen die Gefühle anders mit sich und den andren.
(Ü: Gregor Laschen)
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
327
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
INSIEME, A ESCHEDE
Per Marianne e Günter Kunert
Nel frattempo, dicono, gli imperi si sgretolano,
la stoffa porosa delle stagioni
ormai si strappa,
prima che qualcuno si distenda
per scrivere una poesia, per un amplesso.
Il significato del discorso
dopo nove anni o mille e cinquecento anni
è di farci proiettare qui a nord,
come in un tempo in Mesopotamia o a Szigliget,
a Buch; leggere dai nostri volti: così è la gioia.
Questo abbraccio di un amico
non spaventa, e l’orologio dell’oste non accelera,
non un grano di quarzo scorre nella campagna aspra,
non una scheggia penetra negli occhi del mondo,
e d’altronde noi veniamo da qualcos’altro.
Mangiare, bere, avvolti in parole luminose,
nella consapevolezza: di questo tempo, mezza giornata,
passeggero, si può vivere cent’anni;
due donne deliziose, due uomini – ancora esisteranno,
i loro sentimenti contano ancora su un incontro.
(Ü: Judit Papp)
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ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
MIRELA IVANOVA (Bulgarien)1
1. ENDLICH
Ich öffnete die Tür einen Spalt weit
und sah das ungemachte Bett
auf dem Fußboden die Bücherhaufen
den runden Tisch mich selbst von hinten
die grüne Vase und die rote Kanne
den gelben Flicken auf der Gardine
ich sah die Muttergottes mit dem Kind
eine Kopie aus dem 16. Jahrhundert die Talgkerze
halbniedergebrannt erloschen den Sessel
voller Kleider und Zeitungen
den phosphoreszierenden Staub im Dunkeln
die vergoldeten Buchstaben wie Sommersprossen
auf den Rücken der dicken Wörterbücher
ich trat hinzu um sie zu streicheln
und weiß jetzt bin ich heimgekehrt und weiß
die Freiheit ist ein Zimmer zur Untermiete
in dem ich endlich zu Hause bin.
(Ü: Norbert Randow)
FINALMENTE
Ho dischiuso la porta
e ho visto un letto disfatto
libri ammonticchiati in terra
la tavola rotonda e me stessa di spalle
un vaso verde un termos rosso
la toppa gialla sulla tenda
1 Aus redaktionellen Gründen können wir die bulgarischen Originaltexte hier nicht wiedergeben. Wir bitten um Verständnis. (Die ZGR-Red.)
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329
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
ho visto la Madonna col Bambino
una lancia del XVI secolo una candela di sego
spenta a metà sulla poltrona
di libri ricolma e giornali
polvere fosforescente nel buio
dorate le lettere sui dorsi
di grandi vocabolari sono lentiggini
e mi sono avvicinata per accarezzarle
e ho capito che farò ritorno e ancora
che libertà è una stanza in affitto
dove sono
finalmente a casa.
(Ü: Lara Fortunato)
2. EURIDYKE
Ich will nicht zurück in die tote Frau – dreh dich nicht um.
Ich folge dir,
und doch – zu jäh ist die Hoffnung, wieder ein Antlitz
zu haben, eine Quelle im Wald, worin ich es schaue,
den Mond, meine Hände, auf die sein Licht mir herabfließt,
die kühle Umarmung des Grases,
deine heiße Umarmung, dreh dich nicht um.
Ich will kein Schatten unter den Schatten mehr sein,
nicht einmal der Schatten,
eingemauert in dein Klagelied.
Ich will nicht zurück in die tote Frau – dreh dich nicht um.
Glaub mir, ich folge dir,
du glaubst doch an die Worte und die Melodien,
mit denen du mich einst besungen hast und eingeführt ins Leben.
Ich bin nur erst Seele, du hörst keine Schritte,
aber ich folge dir.
Einzig der Liebe folgen die Seelen,
und doch – zu jäh ist die Hoffnung. Dreh dich nicht um.
330
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
Weit öffnet der Tag seine Tore,
dort schimmert die Quelle im Wald, ein Horizont scheint auf,
er strahlt der Vogel auf den Zweigen, ich folge dir,
deine heiße Umarmung,
die kühle Umarmung des Grases, dort ist es hell,
dreh dich nicht um, glaub mir, dort bist du und dort werde ich sein,
die Melodien, die Worte, dreh dich nicht um.
Ich will nicht zurück in die tote Frau –
dreh dich nicht um!
Leb wohl,
leb wohl,
leb wohl.
(Ü: Norbert Randow)
EURIDICE
Non voglio tornare donna morta – non ti voltare.
Ti seguo,
anche se impervia è la speranza di avere nuovamente
un viso e una sorgente boschiva nella quale vederlo,
luna e palmi, sui quali la luce si riversa,
freddo abbraccio dei prati,
abbraccio infuocato delle tue mani, non ti voltare.
Non voglio più essere ombra tra ombre
non voglio neanche essere ombra
murata nel canto tuo addolorato.
Non voglio tornare donna morta – non ti voltare.
Credi, ti seguo,
basta che creda alle parole, ai suoni,
che cantano me e me portano alla vita.
Poiché sono anima non senti i passi,
io cammino dietro a te.
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
331
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
Solamente al seguito di amore tornano le anime,
anche se impervia è la speranza.
Il giorno apre immenso le sue porte,
sgorgherà la sorgente dei boschi, l'orizzonte sorgerà,
raggiante sarà l'uccello sui rami, vengo dietro a te,
abbraccio infuocato delle tue mani,
freddo abbraccio dei prati, dove è luce,
non ti voltare, credi, dove sei tu e io sarò,
anche i suoni, e le parole, non ti voltare,
non voglio tornare donna morta non ti voltare!
Addio, addio,
addio.
(Ü: Lara Fortunato)
3. NIRGENDWO
Eine Fremde auf der Schwelle,
sie steht wie festgenagelt, ihr Blick ist starr –
Neonstädte stürzen vorüber,
die Schiffe auf der Elbe und die regnerische Dämmerung
in den Gassen von Blankenese, die Gesichter leuchtend,
das Chile-Haus und die Fährschiffe,
langsame Flüsse, langsame,
alles durchdringende Blauäugigkeit –
so viel Schönheit, so viel Großzügigkeit,
unmöglich ist das alles für sie.
Eine Fremde auf der Schwelle
und nichts ist ihr verwehrt,
es regnet nicht, in Salzburg scheint die Sonne,
das Bändchen von Trakl nicht in einer plötzlichen Buchhandlung,
das Café „Tomaselli“ nicht, der Tisch in der Ecke,
die Finger festgeklammert in der Liebe,
332
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Festival „Tradurre (in) Europa“, - Neapel, 22.-30. November 2010
das Hochwasser an Rhein und Neckar nicht,
auch nicht dieses Flüstern in der Umarmung:
„Du kannst dich nicht verirren in einer Stadt,
durch die ein Fluss fließt.“
Eine Fremde auf der Schwelle,
sie dreht ihre Taschen um
und lächelt abwesend:
ein Foto von einem Engel mit Brille, ein Apfel,
Listen mit nicht enden wollendem Alltag,
erfüllte Verse, einige Sehnsüchte
und Brosamen ihrer brüchigen Heimat
und womit sie bezahlen wird.
Eine Fremde auf der Schwelle,
sie ist mutig genug, sie geht weiter
in die Hotelzimmer, in die Raucherabteile,
in die Hallen mit der Aufschrift
„Abreisende Fluggäste“, in die Träume,
in ihr Schicksal, sie lacht:
„Die Welt ist klein, das Leben ist lang,
ich kann mich nicht mehr verirren.“
(Ü: Gabi Tiemann)
NESSUNDOVE
Una straniera sulla soglia,
impietrita, lo sguardo fisso osserva precipitano città di neon,
navi sull'Elba, tramonto piovoso
dalle stradine di Blankenese, visi radiosi,
Chilehaus e battelli,
fiumi lenti
lento azzurro degli occhi penetrante -
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
333
Ana Blandiana, Márton Kalász, Mirela Ivanova
tanta bellezza, tanta generosità,
che siano per lei non è possibile.
Una straniera sulla soglia
e niente a lei è negato,
non cade la pioggia, il sole splende su Salisburgo,
né il volumetto di Trakl in una libreria imprevista,
né il caffé Tomaselli, tavoli ad angolo,
dita aggrappate all'amore,
né le inondazioni del Reno del Neckar,
né questo bisbiglio dentro l'abbraccio:
“Perderti non puoi in una città
dove vi scorre un fiume”.
Una straniera sulla soglia,
rivolta le tasche,
sorride distratta:
foto di un angioletto occhialuto, mela,
liste di sterminata quotidianità,
versi riusciti, un po' di desideri,
e briciole della friabile sua patria,
e con quanto pagherà.
Una straniera sulla soglia,
audace quanto basta, attraversa
stanze d'alberghi, scompartimenti
per fumatori, sale d'attesa per
“viaggiatori in partenza”, sogni,
la propria sorte, ride:
“Il mondo è piccolo, la vita è lunga,
non posso più perdermi.”
(Ü: Lara Fortunato)
***
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ZGR 1-2 (37-38) / 2010
AUTORINNEN UND AUTOREN
ZEITRSCHRIFT DER GERMANISTEN RUMÄNIENS (ZGR)
37-38/2010
Autorinnen und Autoren:
ALTINKAYA NERGIS DILEK: Doz. Dr., Germanistikabteilung, Universität Izmir
(Türkei)
BERGER ELISABETH: DAAD-LEKTORIN DR., GERMANISTIKLEHRSTUHL, UNIVERSITÄT „AL. I.
CUZA“ IAŞI / JASSY
BLANDIANA ANA: Freischaffende Lyrikerin und Essayistin, Bucureşti / Bukarest
DITTRICH KARIN: Lekt. Dr., Germanistiklehrstuhl, West-Universität Temeswar /
Timişoara
DOGARU DANA JANETTA: Lekt. Dr., Germanistiklehrstuhl, Universität „Lucian
Blaga“ Sibiu / Hermannstadt
DRAGANOVICI EVEMARIE: Lekt. Dr., Institut für Germanische Sprachen, Fakultät
für Fremdsprachen, Universität Bukarest / Bucureşti
DRAGANOVICI MIHAI: Lekt. Dr., Institut für Germanische Sprachen, Fakultät für
Fremdsprachen, Universität Bukarest/Bucureşti
GUŢU, GEORGE: Prof. Dr., Institut für Germanische Sprachen, Fakultät für
Fremdsprachen, Universität Bukarest / Bucureşti
IVANOVA MIRELA: Freischaffende Lyrikerin und Essayistin, Veliko Tarnovo
(Bulgarien)
KORY BEATE PETRA: Lekt. Dr., Germanistiklehrstuhl, West-Universität Temeswar / Timişoara
LUCACI ANNA: Lekt. Dr., Germanistiklehrstuhl, Babeş-Bolyai-Universität ClujNapoca / Klausenburg
MIHĂILEASA LAURA-ELENA: Assist., Germanistikabteilung, Universität „Ştefan cel
Mare” Suczawa / Suceava
Autorinnen und Autoren
KALASZ MARTON: Freischaffender Lyriker, Prosaautor und Essayist, Budapest
(Ungarn)
MIRCEAN OVIDIU: Assist., Dd., Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft, Babeş-Bolyai-Universität Cluj-Napoca / Klausenburg
MIYAGI YASUYUKI: Assist. Dd., Institut für Germanistik, Universität Tokio (Japan)
PALASAKI VASSILIKI: Lekt. Dr., Germanistiklehrstuhl, Universität Thessaloniki
(Griechenland)
RINGLER-PASCU ELEONORA: Doz. Dr., Lehrstuhl für Fremdsprachen, Theaterhochschule Timişoara / Temeswar
POPA ANA: Assist. Drd., Institut für Germanische Sprachen, Fakultät für
Fremdsprachen, Universität Bukarest / Bucureşti
POPA CARMEN: Assist., Germanistiklehrstuhl, Universität „Lucian Blaga“ Sibiu /
Hermannstadt
SCHNÖDL GOTTFRIED: Lekt. Dr., Institut für Germanistik, Universität Wien
(Österreich)
SPIRIDON CLAUDIA: Dr., Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen (Deutschland)
STÂNGĂ MARIA: Lekt. Dr., Germanistiklehrstuhl, West Universität, Temeswar /
Timişoara
TEMPIAN MONICA: Lekt. Dr., School of Languages and Cultures, Victoria University of Wellington (New Zeeland)
336
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
ANHANG
GGR-W E R B U N G
GGR-W e r b u n g
Lesen Sie
die Buchreihe
GGR-Beiträge zur Germanistik
Die Buchreihe GGR-Beiträge zur Germanistik wird von George Guţu betreut und
herausgegeben.
"Es ist an der Zeit, eine landesweite Fachreihe Germanistik zu starten, die wir 'GGR-Beiträge zur Germanistik' nennen möchten. Angedeutet wird damit, dass die Reihe allen in
Rumänien lebenden oder aus Rumänien stammenden Germanisten, zugleich auch unseren ausländischen KollegInnen zur Verfügung steht. Auslandsgermanistisch besonders
relevante Aspekte des Daf-Unterrichts, der Interkulturalität, der Imagologie, der Rezeptionsgeschichte und -ästhetik sowie der linguistischen Forschung und der Landeskunde
werden dabei Berücksichtigung finden. 1 bis 2 Bände sollen jährlich Forschungsergebnisse, Dissertationen, Dokumentationen der heutigen Germanistik präsentieren sowie bedeutende frühere Leistungen unserer Vorgänger - sei es als Vorbild, sei es als Beweise
kühnen Forschungswillens - erneut in den Kreislauf der Fachdiskussion einführen.
(George Guţu, 1997)
+ Band 1: Beiträge zur Geschichte der
Germanistik in Rumänien (I). Herausgegeben von George Guţu und Speranţa
Stănescu. Editura Charme-Scott, Bukarest
1997 (320 S.) ISBN 973-96538-10
Eine erste Bestandsaufnahme der
geschichtlichen Entwicklung der
Germanistik in Rumänien. Ohne Zwänge,
unvoreingenommen, informativ.
+ Band 2: Wehn vom Schwarzen
Meer... Literaturwissenschaftliche
Aufsätze. Herausgegeben von George
Guţu. Editura Paideia - D.O.R. GmbH,
Bucureşti 1998 (324 S.) ISBN 973-936808-5
Der Band bietet einen repräsentativen
Querschnitt von Aufsätzen zur deutschen
und rumäniendeutschen Literatur sowie zu
Fragen der Rezeption im ans Schwarze
Meer angrenzenden geistigen Raum
Rumäniens.
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+ Band 3: "Die Sprache ist das Haus des
Seins". Sprachwissenschaftliche Aufsätze. Herausgegeben von George Guţu
und Speranţa Stănescu. Unter Mitarbeit
von Doina Sandu. Editura Paideia - D.O.R.
GmbH, Bucureşti 1998 (348 S.) ISBN 9739368-09-3
+ Band 4: Lieselotte Pătruţ: "Nu credeam să-nvăţ a muri vrodată."
Friedrich Hölderlin şi Mihai Eminescu.
(Studiu de literatură comparată), ["Ich
glaubte, niemals sterben zu müssen."
Friedrich Hölderlin und Mihai Eminescu.
(Eine literaturvergleichende Untersuchung);
in rum. Sprache]. Nachwort von George
Guţu. Editura Paideia, Bucureşti 1998 (234
S.) ISBN 973-9368-41-7
+ Band 5: Cornelia Cujbă: Influenţa
germană asupra vocabularului limbii
române literare contemporane (Der
deutsche Einfluß auf den Wortschatz der
rumänischen literarischen
Gegenwartssprache; in rum. Sprache),
Editura Paideia, Bucureşti 1999 (270 S.)
ISBN 3-89086-776-6
342
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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+ Band 6: Ştefan Alexe: Wissenschaftliche Arbeit im Internet. Ein Handbuch
für Germanisten, Verlag Paideia,
Bucureşti 2000 (132 S.) ISBN 97396538-10
+ Band 7: Gheorghe Nicolaescu: Georg
Büchner und die metaliterarische
Reflexion. Nachwort von George Guţu.
Verlag Paideia, Bucureşti 2001 (205 S.)
ISBN 973-8064-85-6
+ Band 8: Mihaela Zaharia: Die 'andere'
Wirklichkeit: Phantastik in der verfilmten deutschsprachigen Literatur,
Verlag Paideia, Bucureşti 2002 (212 S.)
ISBN 973-596-038-9
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
343
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+ Band 9: "Stundenwechsel". Neue Perspektiven zu Alfred Margul-Sperber,
Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel
Weissglas. Hgg. v. Andrei CorbeaHoisie, George Guţu, Martin A. Hainz.
Editura Paideia, Bucureşti / Editura
Universi-tăţii "Al. I. Cuza" Iasi / Verlag
Hartung + Gore, Konstanz, 2002 (498 S.)
[Zugleich auch als Band 9 der "Jassyer
Beiträge zur Germanistik"] ISBN 973-596066-4 (Paideia-Verlag, Bukarest); ISBN
973-8243-42-4 (Universitätsverlag Jassy);
ISBN 3-89649-796-0 (Hartung-Gore
Verlag, Konstanz)
+ Band 10: Beate Petra Kory: Hermann
Hesses Beziehung zur Tiefenpsychologie. Traumliterarische Projekte. Verlag
Dr. Kovac, Hamburg 2003, 310 S. [Auch als
Schriftenreihe Studien zur Germanistik,
Band 4]; ISSN 1610-8604; ISBN 38300-1171-7
+ Band 11: Identität und Alterität.
Imagologische Materialien für den
Landeskundeunterricht. Hgg. v. George
Guţu und Mihaela Zaharia. Editura
Universităţii din Bucureşti (Verlag der
Universität Bukarest), Bucureşti 2004 (350
S.); ISBN 973-575-846-6
344
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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+ Band 12: Ruxandra Cosma: Aspekte
und Aspektualität. Eine Einführung in
ihre Begriffsbestimmung und Typologie,
Editura Universităţii din Bucureşti (Verlag der
Universität Bukarest), Bucureşti 2004 (372
Seiten); ISBN 973-575-953-5
+ Bd. 15: George Guţu, Doina Sandu:
Zur Geschichte der Germanistik in
Rumänien (II). Der Bukarester
Germanistiklehrstuhl. Editura Universităţii
din Bucureşti, 2005 (357 S.) ISBN 973596-255-1
Band 16: George Guţu, Doina Sandu
(Hrsg.): Interkulturelle Grenzgänge.
Akten der Wissenschaftlichen Tagung
des Bukarester Instituts für
Germanistik zum 100. Gründungstag.
Bukarest, 5.-6. November 2005. Editura
Universităţii din Bucureşti (Verlag der
Universität Bukarest), Bukarest 2007 (464
S.), Band 16 ISSN 1843-0058
Außerdem sind folgende Bände erschienen:
+ Cornelia Eşianu: Hypostasen der Identität beim Jungen Friedrich Schlegel. Eine
Untersuchung von Leben und Werk aus identitätstheoretischer Sicht, Editura Paideia
(Paideia Verlag), Bukarest, Band 13 ISBN 973-596-255-1
+ Elisabeth Martschini: Hans Bergel - Eine Untersuchung zu Leben und Werk. Editura
Universităţii din Bucureşti (Verlag der Universität Bukarest), Bukarest 2005 (174 S.), Band 14
ISBN 973-596-255-1
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+ Iulia Karin Patrut / George Guţu / Herbert Uerlings (Hrsg.), Fremde Arme – arme Fremde. „Zigeuner” in Literaturen Mittel- und Osteuropas. Peter Lang, Internationaler Verlag
der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2007 [272 Seiten] [Reihe: Inklusion/Exklusion.
Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. für den Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut” von Andreas Gestrich, Lutz Raphael und
Herbert Uerlings. Band 3. Zugleich Band 17 zur Schriftenreihe GGR-Beiträge zur Germanistik / Herausgegegeben von George Guţu] ISSN 1860-899X; ISBN 978-3-631-56721-0
+ Minderheitenliteraturen - Grenzerfahrung und Reterritorialisierung. Festschrift für
Stefan Sienerth. Hrsg. v. George Guţu / Ioana Crăciun-Fischer / Iulia-Karin Patrut.
Editura Paideia, Bucureşti 2008 [336 Seiten], Band 19 ISSN 1843-0058
+ „... dass ich in der Welt zu Hause bin.“ Hans Bergels Werk in sekundärliterarischem Querschnitt / Herausgegeben von George Guţu – Bucureşti, Editura Universităţii din
Bucureşti şi Editura Paideia, 2009, Band 18 ISSN 1843-0058-19
+ Mihai Draganovici: Strkturen und Verfahren in rumänischen Übersetzungen deutscher Dramen der Zwischenkriegszeit. Vorwort von George Guţu. Bucureşti, Editura Universităţii din Bucureşti şi Editura Paideia, 2009, Band 20 ISSN 1843-0058-20
346
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Raluca Rădulescu: Europäertum eines Inseldaseins. Identitäts- und Alteritätsbewusstsein im Werk Hans Bergels. Mit einem Nachwort von George Guţu.
Editura Universităţii din Bucureşti şi Editura Paideia, Bucureşti 2009. Band 21 ISSN
1843-0058-21
+
+ 22 Marianne Koch: Einführung in die Methodik - Didaktik des Faches Deutsch als
Fremdsprache, Editura Universităţii din Bucureşti şi Editura Paideia, Bucureşti 2009.
Band 22 ISSN 1843-0058-22
+ Gheorghe Nicolaescu: Ţările de Jos – Cultură şi Civilizaţie, Editura Universităţii din
Bucureşti şi Editura Paideia, Bucureşti 2009. Band 23 ISSN 1843-0058-23
+ Jürgen Egyptien, George Guţu, Wolfgang Schlott, Maria Irod (Hrsg.): Sprachheimat. Zum Werk von Dieter Schlesak in Zeiten von Diktatur und Exil. Editura Universităţii din Bucureşti und Pop Verlag Ludwigsburg, 2009. Band 24 ISSN: 1843-0058
(Bucureşti); ISBN: 978-393713985-2 (Ludwigsburg)
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Das Fachorgan der GGR
Zeitschrift der Germanisten Rumäniens (ZGR)
Die Publikationen der GGR sind (soweit nicht bereits vergriffen) zu beziehen über:
Societatea Germaniştilor din România /
Gesellschaft der Germanisten Rumäniens
Str. Pitar Moş 7-13 RO-010451 Bucureşti
E-mail:
[email protected]
Tel.+Fax: 0040-21-252.59.72
Zeitschrift der Germanisten Rumäniens (ZGR)
Siehe www.ggr.ro/zgr.htm
Schriftleiter: Prof. Dr. George Guţu
[Siehe auch
ZGR online – www.unibuc.ro/n/resurse/zgr/index.php
sowie www.ggr.ro/zgrOnline.htm]
Bisher erschienen: Heft 1 (1992) bis Sonderheft 29-30/2006, 31-32/2007
[bei jedem späteren Heft sind die Leitartikel im Wortlaut online zugänglich]
+ Heft 1 (Januar-Juli) / 1992
Aus dem Inhalt: Zum Geleit (George Guţu,
Grete Klaster-Ungureanu) * Johann Wolfgang von Goethe - 160. Todestag * PaulCelan-Symposium in Bukarest (November
1990) * Der Wolkenreiter bleibt unter uns Zum Ableben Alfred Kittners (1906-1991) *
ZGR stellt vor * Germanistische Beiträge *
Bücher- und Zeitschriftenschau * Die Leseprobe * Tagungen, Symposien, Kolloquien,
Kurse * Mitteilungen der "Gesellschaft der
Germanisten Rumäniens"
+ Heft 2 (August-Dezember) / 1992
Aus dem Inhalt: Lob und Kritik gleichermaßen willkommen (George Guţu)
* Germanistik in Südosteuropa *
Germanistische Beiträge * Paul Celan und
kein Ende... * ZGR stellt vor * Bücher- und
Zeitschriftenschau * Die Leseprobe *
Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse *
Theorie und Praxis des DaF-Unterrichts *
Mitteilungen der "Gesellschaft der
Germanisten Rumäniens"
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ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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+ Heft 1-2 (3-4) / 1993
+ Heft 1-2 (5-6) / 1994
Aus dem Inhalt: Editorische Freuden und
Schwierigkeiten (George Guţu) * "Typisch
moderner Sinn für das seelisch Abgründige"
Adolf Meschendörfer (1877-1963) * "Am
östlichen Fenster" (Celan). Rumänisch-deusche/österreichische Interferenzen *
"Aspekte der zwischenmenschlichen
Kommunikation" (Symposium der GRLA und
der Gesellschaft der Germanisten
Rumäniens) * Rhetorik und
Versammlungskultur * ZGR stellt vor * Die
Leseprobe * Bücher- und Zeitschriftenschau
* Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse
* Mitteilungen der "Gesellschaft der
Germanisten Rumäniens"
Aus dem Inhalt: Ein Jahr der Erfüllungen
(George Guţu) * Der III. Kongreß
rumänischer Germanisten (Sektionen:
Linguistik, Literaturwissenschaft, Didaktik
des DaF/DaM-Unterrichts, Rumänischdeutsche/österreichische Kultur- und
Literaturinterferenzen) * Die Leseprobe *
ZGR stellt vor * Zeitschriften- und
Bücherschau * Tagungen, Symposien,
Kolloquien, Kurse * Mitteilungen der "Gesellschaft der Germanisten Rumäniens"
+ Heft 1-2 (7-8) / 1995
Aus dem Inhalt: Vom III. Kongreß zu den
"Deutschen Kulturwochen 1995 in
Rumänien" (George Guţu) * Der III.
Kongreß der rumänischer Germanisten (II.
Teil) (Sektionen: Linguistik, Literaturwissenschaft, Didaktik des DaF/DaMUnterrichts, Rumänisch-deutsche/österreichische Kultur- und Literaturinterferenzen)
* Germanistik heute: Standortbestimmung
und Perspektiven * Ein Jahrhundertdichter:
Moses Rosenkranz (geb. 1904) * ZGR stellt
vor * Tagungen, Symposien, Kolloquien,
Kurse * Zeitschriften- und Bücherschau *
Mitteilungen der "Gesellschaft der
Germanisten Rumäniens"
+ Heft 1-2 (9-10) / 1996
Aus dem Inhalt: Vielfalt im Fach - Breite
des Horizonts (George Guţu) * Österreichische Literatur. Standortbestimmung und
Neuentwicklungen * Symposion "Junges
Theater" in Österreich, Bukarest * G R E N
Z P Ä S S E. Texte österreichischer Autoren
* Eminescu und kein Ende * Beiträge zur
Geschichte der Germanistik in Rumänien *
Aufsätze zur Literatur- und Sprachgeschichte der Deutschen in und aus Rumänien * Germanistische Beiträge * Oskar
Walter Cisek (1897-1966) * ZGR stellt vor
* Die Leseprobe * Tagungen, Symposien,
Kolloquien, Kurse * Bücher- und Zeitschriftenschau * Zum Ableben Jean Livescus (1906-1996) * Aus der Tätigkeit der
Gesellschaft ehemaliger DAAD-Stipendiaten
- "SOFDAAD" * Mitteilungen der
"Gesellschaft der Germanisten Rumäniens"
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
349
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+ Heft 1-2 (11-12) /1997
Aus dem Inhalt: Vom IV. Kongreß zum
Goethe-Jahr (George Guţu) * IV. Kongreß
der Germanisten Rumäniens (Bericht,
Meinungen, Dokumentation) * Vorträge auf
dem IV. Kongreß der Germanisten
Rumäniens (Sinaia, 2.-5. Juni 1997):
Sektionen Linguistik, Literaturwissenschaft,
Deutsche Regionalliteraturen in Rumänien,
Didaktik des DaF-Unterrichts, Rumänischdeutsche/österreichische Interferenzen *
Theodor Berchem - doctor honoris causa
der Universität Bukarest * ZGR stellt vor *
Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse *
Zeitschriften- und Bücherschau * Die
Leseprobe * In memoriam Stefan Binder *
Mitteilungen der "Gesellschaft der
Germanisten Rumäniens
(siehe: ZGR online: www.escoala.ro/germana/ggr1.html)
Online-Ausgabe
+ Heft 1-2 (13-14) / 1998
Aus dem Inhalt: * Im Goethe-Jubiläumsjahr
1999 (George Guţu) * Goethe-Symposion,
Gründung der Goethe-Gesellschaft in
Rumänien (Bukarest, 15.-16. April 1998;
Bericht, Dokumentation) * Vorträge auf
dem Goethe-Symposion * Vorträge auf dem
IV. Kongreß der Germanisten Rumäniens Sinaia, 2.-5. Juni 1997 * Vorträge auf der
Germanistiktagung in Bukarest, April 1998
* Vorträge auf der Germanistiktagung in
Cluj/Klausenburg * Germanistische Beiträge
* Leipziger Buchmesse: Länderschwerpunkt
Rumänien * Bücher- und Zeitschriftenschau
* Die Leseprobe * Tagungen, Symposien,
Kolloquien, Kurse * Mitteilungen der
“Gesellschaft der Germanisten Rumäniens”
Online-Ausgabe
+ Heft 1-2 (15-16) / 1999
Online-Ausgabe
Aus dem Inhalt: * Vom Goethe-Jubiläumsjahr 1999 bis zum V. Kongreß (George Guţu) *
GOETHE-SYMPOSION IN DER RUMÄNISCHEN AKADEMIE (Ansprachen zum 250. Geburtstag
von Johann Wolfgang Goethe) * VORTRÄGE AUF DEM GOETHE-SYMPOSION IN DER
RUMÄNISCHEN AKADEMIE (Bukarest, 29.-30. Oktober 1999): Zoe Dumitrescu-Buşulenga,
Albrecht Betz, Ştefan Augustin Doinaş, Alexandru Paleologu, George Guţu, Claudiu Baciu,
Vasile Voia, Elena Viorel, Radu Grigorovici, Hans-Gerhard Wyneken, Sorin Toma, Rolf
Willaredt, Andrei Corbea-Hoişie, Peter Göhler, Götz Beck, Ştefan Alexe, Carmen Iliescu,
Dieter Paul Fuhrmann, Dan Mănucă, Petru Forna, Dan Flonta, Elena Cernea, Stefan Straub,
Monica Niculcea, Andras Balógh * LITERATURFORUM OST-WEST: Deutsch-rumänische
Literaturbeziehungen, Düsseldorf, 1998 (George Guţu) * GERMANISTISCHE BEITRÄGE:
Klaus Hammer, Ernest Wichner, Mihai Stroe, Mircea Grigoroviţă, Mihaela Zaharia, George
Guţu, Angelika Ionaş, Hans Bergel, Cornelia Cujbă, Doris Sava, Oana Nora Căpăţână,
Untaru I. Iulian * Bücher- und Zeitschriftenschau * Die Leseprobe (Dieter Schlesak) *
Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse * AUS DER GESCHICHTE DER GERMANISTIK IN
RUMÄNIEN: Hans Gehl über Maria Pechtold * Mitteilungen der “Gesellschaft der
Germanisten Rumäniens”
350
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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+ Heft 1-2 (17-18) / 2000
Aus dem Inhalt:* Der V. Kongreß der Germanisten Rumäniens (George Guţu) * V.
KONGRESS DER GERMANISTEN
RUMÄNIENS, Iaşi/Jassy, 22.-25. Mai 2000
(Bericht und Dokumentation) * VORTRÄGE
AUF DEM V. KONGRESS DER
GERMANISTEN RUMÄNIENS (I. Teil):
Literaturwissenschaft: Gert Mattenklott,
Gerhard Plumpe, Ioana Crăciun,Götz Beck,
Mona Gâlcă, Bernd Leistner, Cornelia
Ioncioaia, Theo Buck, Vasile Robciuc, Iulia
Pătruţ, Beate Kory, Carmen Puchianu, Eleonora Pascu, Maria Staudacher, Alexandru
Boboc; Sprachwissenschaft: Peter
Wiesinger, Boris Djubo, Renée Fürst, Hans
Gehl, Daniela Kohn, Elena Viorel, Anneliese
Poruciuc, Lora Constantinescu, Oana
Căpăţână, Rodica Miclea, Grigore Marcu *
Forum: Hochschuldidaktik und Germanistik:
Beate Schindler-Kovats, Klaus F. Gille,
Stefan Straub
Didaktik des Daf-Unterrichts: Uwe Lehners,
Christiane Krämer-Hus-Hus, Ileana Moise,
Rolf Willaredt, Mathilde und Carsten
Hennig, Marianne Marki, Christiane
Cosmatu, Silvia Florea * ZUR KULTUR- UND
SPRACHGESCHICHTE DER DEUTSCHEN IN
RUMÄNIEN: Alvina Ivănescu, Karin
Dittrich, Eveline Hâncu, Kinga Gall, Ruxandra-Oana Buglea, Maria Elena Muscan, Olga
Kaiter, Enikö Markó * Hans Bergel 75 (George Guţu) * "WORTREICHE LANDSCHAFT" WISSENSCHAFTLICHE TAGUNG DER KULTURSTIFTUNG DER DEUTSCHEN VERTRIEBENEN, Stuttgart, 18.-20. Oktober 2000 (George Guţu) * Bücher- und Zeitschriftenschau *
Die Leseprobe (Karin Gündisch) * Tagungen
* Mitteilungen der “Gesellschaft der Germanisten Rumäniens”
+ Heft 1-2 (19-20) / 2001
Aus dem Inhalt: * GGR, ZGR und die
Germanistik in Rumänien (George Guţu) *
VORTRÄGE AUF DEM V. KONGRESS DER
GERMANISTEN RUMÄNIENS (II. Teil):
Literaturwissenschaft: Axel Barner,
Gabriela-Nóra Tar, Gundula Ulrike
Fleischer, Carmen Iliescu, Irina Schischinaschwili, Nugescha Gagnidse, Horaţiu
Decuble, S. Domurath, Monika Wikete,
Tania Marisescu, Roxana Ghiţă, Laura
Cheie, Margarete Wagner, M. Albu, Delia
Eşian, Delia Anca Şeiculescu, Roxana
Nubert, Daniela Ionescu, Markus Fischer,
Olivia Spiridon; Sprachwissenschaft:
Gertrud Gréciano, Mihaela Secrieu, Anneliese Poruciuc, Maria Ileana Moise, Ildikó
Szoboszlai, Ana Iroaie, Alina Crăciu-nescu,
Monica Niculcea, Ruxandra Cosma, Zoran
Ziletic * GÜNTER GRASS - NOBELPREIS
FÜR LITERATUR 1999: Bjorn Ekmann,
Eleonora Pascu, Ioana Diaconu, George
Guţu * ROSE AUSLÄNDER (1901-1987):
George Guţu * GERMANISTISCHE
BEITRÄGE: Fee-Alexandra Haase, Lieselotte
Pătruţ, Ioana
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
Velica, Dominik Müller, Anca Neamţu, MihaiVictor Stoian, Victor Vascenco, Daria-Maria
Jurcă, Sorin Gădeanu * Die "ZGR" gratuliert
(Stefan Sienerth, Helmut Kelp) * Restitutio
(Alfred Margul-Sperber) * Bücher- und
Zeitschriftenschau * Die Leseprobe (Ion
Barbu) * Tagungen * Mitteilungen der “Gesellschaft der Germanisten Rumäniens”
Online-Ausgabe
351
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+ Sonderheft 1-2 (21-22) / 2002, 1-2
(23-24) / 2003
Aus dem Inhalt: * VI. Kongreß und 100.
Jubiläum (George Guţu) /Vorwort –
www.ggr.ro/vorw22.htm * Zum Verhältnis
zwischen Inlands- und Auslandsgermanistik. Eine internationale Debatte (II) * 100.
Geburtstag von Nikolaus Lenau * Deutschsprachige Literatur in Mittel-, Ost- und
Südosteuropa * Literaturwissenschaftliche
Beiträge * Linguistik * Traduttore… *
Didaktik des Deutschunterrichts * Dokumentation * Standpunkte * Das Interview *
Der andere Blick * Die Leseprobe * Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse * Bücher- und Zeitschriftenschau * Mitteilungen
der Gesellschaft der Germanisten
Rumäniens Online-Ausgabe
+ Sonderheft 1-2 (25-26) / 2004, 1-2
(27-28) / 2005
Aus dem Inhalt: * Stattliches Alter –
ermutigende Perspektiven (George Guţu)
/Vorwort/ * 1905-2005: 100. Jubiläum der
Germanistik in Bukarest * Literatur- und
sprachwissenschaftliche Untersuchungen *
Deutsche Sprache und Literatur in
Südosteuropa * Gestalten der Germanistik in
Rumänien * Jubiläen: Hans Bergel und Peter
Motzan * Zu Besuch in Bukarest / Die
Leseprobe: Michael Astner, Hugo Loetscher
* Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse *
Bücher- und Zeitschriftenschau * Mitteilungen der Gesellschaft der Germanisten
Rumäniens Online-Ausgabe
+ Sonderheft 1-2 (29-30) / 2006, 1-2
(31-32) / 2007
Aus dem Inhalt: * 100. Jubiläum des
Bukarester Germanistiklehrstuhls (2005) und
VII. Kongress der Germanisten Rumäniens
2006 (George Guţu) * Dokumentar zum VII.
Kongress der Germanisten Rumäniens,
Temeswar, 22.-25. Mai 2006 * Berichte vom
VII. Kongress: Kulturell-kommunikative
Interreferentialität | Literatuwissenschaftliche
Zugänge | Linguistische Durchblicke |
Didaktische Zu- und Anwendungen *
Auslandsgermanistische Ehrung: Vanda
Perretta * Die Leseprobe * Aus den Archiven
(Briefe vom E. M. Cioran an Wolfgang Kraus) *
Bücher- und Zeitschriftenschau * Tagungen,
Symposien, Kolloquien Online-Ausgabe
352
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Doppelheft 1-2 (33-34) / 2008, 1-2
(35-36) / 2009
Aus dem Inhalt: * Germanistik in Rumänien –
Ereignisse, Defizite * Dokumentation zum VIII.
Kongress – Cluj-Napoca/Klausenburg 2009 *
Geschichtliche und theoretische
Literaturzugänge * Von Kafka bis Fassbinder –
Literatur und Medialität * Literatur und
nostalgische Utopien * Pragmatik der ÜberSetzungen * Lexikologische und semantische
Verortungen * Didaktische Zu- und
Anwendungen * Die ZGR stellt vor (Dieter
Schlesak) * Buchbesprechungen
Die Web-Seite der Universität Bukarest beherbergt seit kurzem
die
Zeitschrift der Germanisten Rumäniens (ZGR),
die über nachstehende Adresse abrufbar ist:
http://www.unibuc.ro/n/resurse/zgr/index.php
Vorläufig können nur die ersten, auch bibliophil wertvoll gewordenen Hefte
1/1992 bis 9-10/1996
im PDF-Format vollständig abgerufen werden.
Es wird daran gearbeitet, ALLE bisher erschienenen und künftig erscheinenden
ZGR-Hefte auf diesem Wege zugänglich zu machen.
Die vollständigen Inhaltsangaben aller bisher erschienenen Hefte sind
über die Internet-Adresse
http://www.ggr.ro/zgr.htm
zugänglich.
ZGR 1-2 (37-38) / 2010
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Brücken schlagen. Studien zur deutschen Literatur
des 19. und 20. Jahrhunderts
Festschrift für George Guţu
Herausgegeben von Anton Schwob, Stefan Sienerth und Andrei Corbea-Hoişie
IKGS Verlag, München 2004 (490 Seiten) - ISBN 3-9808883-6-3
Zum Inhalt siehe www.ggr.ro/bruecken.htm
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Seit 2002 erscheint auch
transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien
Herausgegeben von der GGR und dem DAAD Editura Paideia, Bucureşti - ISSN 1583-6592
(www.ggr.ro/jahrbuch.htm)
+ Band 1: transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien, 1, 2002. Hrsg. George Guţu
und Beate Schindler-Kovats (In der redaktionellen Verantwortung der GGR-Zweigstelle Bukarest
und des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest. Verantwortliche Herausgeber von Band 1:
George Guţu und Beate Schindler-Kovats; Inhalt
www.ggr.ro/gjr1.htm)
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George Guţu und Reimar Müller (in der redaktionellen Verantwortung der GGR-Zweig-stelle
Sibiu/Hermannstadt und des Germanistiklehrstuhls der Universität "Lucian Blaga" Sibiu/Hermannstadt. Verantwortliche Herausgeber von Band 2: Sunhild Galter und Peter Groth.
+ Band 3-4: transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien, 3, 2004-2005.
Hrsg. von George Guţu und Reimar Müller (in der redaktionellen Verantwortung der GGRZweigstelle Iaşi und des Germanistiklehrstuhls der Universität "Al. I. Cuza" Iaşi. Verantwortli che Herausgeber von Band 3: Andrei Corbea-Hoişie und Alexander Rubel; in Vorbereitung)
+ Band 5-6: transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien, 4, 2006-2007.
Hrsg. von George Guţu und Reimar Müller (in der redaktionellen Verantwortung der
GGR-Zweigstelle Timişoara/Temeswar und des Germanistiklehrstuhls der West-Universität Timişoara/Temeswar. Verantwortliche Herausgeber von Band 5-6: Roxana
Nubert und Johannes Lutz; in Vorbereitung)
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+ Band 7-8: transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien, 7-8, 2008-2009.
Hrsg. von George Guţu und Thomas Schares (Die Verantwortung für den thematischen
Schwerpunkt tragen die GGR-Zweigstelle Cluj/Klausenburg und der Germanistiklehrstuhl der
Universität "Babeş-Bolyai" Cluj/Klausenburg unter der Leitung von Lucia Gorgoi und Emilia
Codarcea-Muncaciu)
+ Band 9: transcarpathica germanistisches jahrbuch rumänien. 9, 2010 Hrsg. George Guţu,
Thomas Schares. (In der redaktionellen Verantwortung der GGR-Zweigstelle Bukarest und des
Instituts für Germanistik der Universität Bukarest in Zusammenarbeit mit dem
Sonderforschungsbereich 600 "Armut und Fremde" der Universität Trier. Verantwortliche
Herausgeber des thematischen Schwerpunkts von Band 8: George Guţu, Herbert Uerlings, Iulia
Patrut). Editura Paideia, Bukarest 2010 (384 Seiten)
Die Publikationen der GGR sind (soweit nicht bereits vergriffen) zu beziehen
über folgende Anschrift:
Societatea Germaniştilor din România /
Gesellschaft der Germanisten Rumäniens
Str. Pitar Moş 7-13
RO-010451 Bucureşti
E-mail: [email protected]; Tel.+Fax: 0040-21-252.59.72
Zur gesamten Tätigkeit der
Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR)
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