Grundkurs Deutsche Literatur, 9. Stunde

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Grundkurs Deutsche Literatur, 9. Stunde
Grundkurs Deutsche Literatur, 9. Stunde
Zur Stilanalyse
Zum Begriff „Stil“: Unter Stil versteht man die sprachlichen Eigentümlichkeiten eines Textes. Dazu
gehört zum Beispiel die Stillage bzw. Stilebene. Man spricht von gehobenem und vulgärem, von
sachlichem und pathetischem, von gewundenen und primitiven Stil etc. Die kleinste Einheit, die es
dabei zu untersuchen gilt, ist das Wort.
Die am Anfang von Döblins Roman Berlin Alexanderplatz auftauchenden Wörter Schwein, Brägen,
Kerl z. B. gehören zum Vokabular der Umgangssprache und zeigen eine niedrige Stilebene an –
wenn auch die Klassifizierung in „hohem“ und „niederem“ Stil nicht ganz unproblematisch ist, da
man die Sprache der gebildeten Mittelschicht als „normale“ Stilebene empfindet.
Dass man in Döblins Roman stellen weise eine niedrige Stillage findet, sagt natürlich nichts über
die Qualität des Textes aus. Es ist nach der Funktion der Stilllage zu fragen. In Döblins Berlin Alexanderplatz signalisiert die Stillage dem Leser das soziale Milieu, in dem das Geschehene spielt
und das für die sozialkritische Thematik des Romans von großer Bedeutung ist. Insofern erfüllt die
Umgangssprache eine wichtige Funktion innerhalb des Textganzen. Außerdem ist zu unterscheiden
zwischen dem Stil des Autors (Döblin) und des Erzählers (des epischen Mediums) in dem Roman
und dem Figurenstil (hier dem Stil von Franz Biberkopf). Man behauptet zum Beispiel allgemein,
dass Thomas Mann einen eigenen, typischen Stil habe, der sich u. a. durch lange, komplizierte Sätze
und ausschweifende Beschreibungen auszeichne. Aber auch hier ist zu unterscheiden zwischen Autoren- und Figurenstil:
Hier der Beginn von Thomas Mann Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull:
Der Rheingau hat mich hervorgebracht, jener begünstigte Landstrich, welcher, gelinde
und ohne Schroffheit sowohl in Hinsicht auf die Witterungsverhältnisse wie auf die
Bodenbeschaffenheit, reich mit Städten und Ortschaften besetzt und fröhlich bevölkert,
wohl zu den lieblichsten der bewohnten Erde gehört.
Es handelt sich hier um einen bewusst gehobenen und verzierten Stil, und zwar um Figurenstil:
Fie Hauptfigur ist ein Hochstapler und soll dem Leser von Anfang an als solcher vor Saugen
geführt werden. Felix Krull dekuvriert sich selbst als Hochstapler dadurch, dass er von sich in
einem Stil berichtet, er alles, auch das Banalste, im Licht des Exquisiten erscheinen lässt.
Im nächsten Beispiel finden wir (in der ersten Strophe) eine ausgesprochen feierliche Passage:
Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Der Gebrauch von Fremdwörtern, die Länge bzw. Kürze der Sätze, der Satzbau etc. gehören
gleichfalls zu Fragen des Stils.
Hier der Beginn von Heinrich Bölls Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum:
Am Mittwoch, dem 20.2.1974, am Vorabend von Weiberfastnacht, verlässt in einer
Stadt eine junge Frau von siebenundzwanzig Jahren abends gegen 18.45 Uhr ihre
Wohnung, um an einem privaten Tanzvergnügen teilzunehmen.
Das Satzgefüge besteht aus Hauptsatz und finalem Nebensatz, der Stil ist also weder primitiv
noch gekünstelt, sondern erscheint als ein neutraler Bericht.
Zum Phänomen des Stils gehört auch die Verwendung von verschiedenen Stilmitteln bzw.
Stilfiguren von rhetorischen Figuren und Tropen.
Rhetorische Figuren:
Alliteration: Mehrere Wörter in einem Satz oder einer Verszeile (oder mehrerer Zeilen)
beginnen mit demselben Buchstaben bzw. Laut:
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo […]
Anapher: Wiederkehr desselben Wortes zu Beginn zweier oder mehrerer aufeinanderfolgenden Sätze, Verse oder Strophen:
Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief. [...]“
Aus: Der Krieg von Georg Heym
Parallelismus: Entsprechungen im syntaktischen Bau:
O Mutter! Was ist Seligkeit?
O Mutter! Was ist Hölle?
Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit,
Und ohne Wilhelm Hölle! –
Aus: G. A. Bürger: Lenore)
Antithese: logisch-inhaltlicher Gegensatz, siehe die Schlusswörter der Verse im vorigen Beispiel.
Chiasmus. Überkreuzstellung syntaktischer oder gedanklicher Elemente (a : b = b : a):
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück
Aus: Goethe: Willkommen und Abschied
Oxymoron: eine rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander (scheinbar) widersprechenden oder sich gegenseitig ausschließenden Begriffen gebildet wird:
Oh, wer unter uns hält die stummen Schreie der Marionetten aus…
Wolfgang Borchert: Mein bleicher Bruder
Ein Schrei kann eigentlich nicht stumm sein, d. h. das Attribut stumm scheint aufgrund seiner
Semantik in einem Widerspruch zum Wort Schrei zu stehen. Der Widerspruch lässt sich jedoch auflösen: Gemeint ist der Schrecken, der von toten Soldaten ausgeht.
Klimax: Steigerung im Aussageinhalt:
Ich kam, ich sah, ich siegte
Antiklimax: Abfallender Aussageinhalt:
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen
Aus: Goethe: Faust I
Figura etymologica: Verbindung zweier stammverwandter Wörter:
gar schöne Spiele spiel ich mit dir… […]
Aus: Goethe: Erlkönig
„…der schrecklichste der Schrecken…“
Aus: Thomas Mann: Budenbrooks
Hyperbel: eine inhaltliche Übertreibung, die als solche unmittelbar erkennbar ist:
Pompeius hat mehr Kriege geführt,
als die anderen gelesen haben.
Euphemismus: eine verschönende Umschreibung eines Sachverhalts:
Hand an sich legen für ‚Selbstmord begehen‘, entschlafen für ‚sterben‘
Anakoluth: Änderung des Gedankengangs, der zu einem Bruch im Satzbau führt:
Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muss fort.
Sie ist wieder in der Stadt bei einer Freundin. Und Albert – und – ich muss fort!
Aus Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
Ironie: Redeweise, bei der das Gegenteil des eigentlichen Wortlautes gemeint ist
„Du bist mir ja mal wieder ein ganz besonders kluges Bürschchen.“ – „Das ist ja eine
schöne Bescherung!“ (wenn ein Missgeschick passiert ist)
Tropen
Tropen (Singular: der Tropus oder die Trope) sind Formen des „uneigentlichen Sprechens“:
das eigentlich Gemeinte kommt nicht direkt, sondern zum Beispiel durch den Gebrauch eines
Bildes zum Ausdruck:
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein
Auf der ein Schäfers Kind wird spielen mit den Herden.
Gryphius: Es ist alles eitel
Das Bild von dem Schäferkind, das mit seiner Herde auf einer Wiese spielt, dient hier zur
Versinnbildlichung der Vergänglichkeit der Dinge.
Metapher: von griechisch meta-phorein = ‚übertragen, übersetzen, transportieren‘ ist eine
Trope, bei der ein Wort nicht in seiner wörtlichen, sondern in einer übertragenen Bedeutung
gebraucht wird, und zwar so, dass zwischen der wörtlich bezeichneten Sache und der übertragen gemeinten Sache eine Beziehung der Ähnlichkeit besteht.
… jetzt donnern die Beschwerden.
Gryphius: Es ist alles eitel
Ein Gewitter donnert und wirkt damit Unheil verkündend, ebenso wie hier die körperlichen
Beschwerden, die sich mit dem Alter einfinden.
Die Ähnlichkeit besteht in einem gemeinsamen semantischen Merkmal (Sem) zwischen dem
Gemeinten und dem Gesagten. Man unterscheidet u. a. verblasste Metaphern (Tischbein,
Fuß des Berges) und kühne Metaphern („Balkons, geranienzerfetzt … Aus Benn: Viele
Herbste)
Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand
Dir endlich mit der Zeit um deine Brüste streichen,
Der lieblich Korall der Lippen wird verbleichen;
Der Schultern warmer Schnee wird werden kalter Sand
Aus: Hofmann von Hofmannswaldau
Korallen und Lippen haben als gemeinsames Bedeutungsmerkmal die rote Farbe, die Schultern und der Schnee die weiße Farbe.
Wer unter uns, steh auf, bleicher Bruder, oh wer unter uns hält die stummen Schreie
der Marionetten aus, wenn sie von den Drähten abgerissen so blöde verrenkt auf der
Bühne rumliegen?
Wolfgang Borchert: Mein bleicher Bruder
Im obigen Zitat stehen die Marionetten metaphorisch für ‚Soldaten‘. Beiden ist gemeinsam,
dass sie keinen eigenen Willen haben, sondern Befehlen „von oben“ gehorchen. Zudem wird
in dem Zitat die Metapher Marionette zu einem literarischen Bild von einer Theaterbühne
ausgebaut.
Metonymie: mit der Metapher verwandt, da auch hier eine Bedeutungsübertragung stattfindet, indem ein Begriff durch einen anderen, ihm gedanklich nahestehenden Begriff ersetzt
wird. Allerdings entsteht hier keine bildhafte Vorstellung:
Das Weiße Haus suchte im Herbst 2001 Verbündete für den geplanten Irak-Feldzug,
aber Berlin wollte sich an solch einem „Abenteuer“ nicht beteiligen.
Es lässt sich, linguistisch gesehen, kein gemeinsames Sem finden; die Verbindung besteht auf
der außersprachlichen, praktisch-pragmatischen Ebene.
Synekdoche: Wahl eines von der Bedeutung her engeren Begriffes statt des umfassenden,
insbesondere des Teiles statt des Ganzen (Pars pro toto), oder umgekehrt (Toto pro pars):
unser täglich Brot gib uns heute (Vaterunser) – sich sein Brot erwerben
(Brot steht für ‚Lebensmittel‘ oder Lebensunterhalt‘ = Pars pro toto)
Die Armee half der Bevölkerung bei der Bekämpfung der Flutkatastrophe. (Armee steht
hier für ‚Soldaten‘ = Toto pro pars)
Personifikation nennt man die persönliche Darstellung eines leblosen oder abstrakten Begriffes:
Jetzt lacht das Glück uns an / bald donnern die Beschwerden.
Allegorie: In der Stilkunde gilt die Allegorie als fortgesetzte, d. h. über ein Einzelwort hinausgehende Metapher oder Personifikation. Die Allegorie ist ein Bild, bei dem abstrakte Begriffe und Gedankengänge sinnbildlich dargestellt werden. Zum Beispiel wird der Tod als
Sensenmann, der Staat als Schiff, die Liebe als Amor, die Gerechtigkeit als Frau mit Augenbinde und Waage dargestellt. Allegorien treten in der Literatur und in der bildenden Kunst
auf.
Kriegsfackel von Alfred Kubin: Allegorie des Krieges und Todes. Vergleiche das Gedicht
Der Krieg des Expressionisten Georg Heym, eine Allegorie des Krieges:
Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.
[…]
Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.
Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.
Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.
In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.
Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.
Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.
Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,
Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.