Archäologiekoffer Mittelalter
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Archäologiekoffer Mittelalter
© STARCH Geschichte zum Auspacken – Didaktische Archäologie-Koffer für Schulklassen Mittelalter Werner Wild Renata Windler Annamaria Matter Christian Bader Lotti Frascoli Andrea Tiziani Peter Stöckli Donatus Stemmle Luigi Bazzigher © STARCH «Geschichte zum Auspacken – Didaktische Archäologie-Koffer für Schulklassen» ist ein Projekt der Stiftung STARCH, realisiert durch die Kantonsarchäologie Zürich KAZ in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich PHZH und dem Musée Suisse, Landesmuseum Zürich LM. Die Realisierung dieses Projektes wurde ermöglicht durch Beiträge des Fonds für gemeinnützige Zwecke des Kantons Zürich und der Vontobel Stiftung Zürich. Impressum Autoren: Werner Wild, KAZ; Annamaria Matter, KAZ; Christian Bader, KAZ; Lotti Frascoli, KAZ; Renata Windler, KAZ; Andrea Tiziani, KAZ; Peter Stöckli, PHZH; Donatus Stemmle, PHZH; Luigi Bazzigher, PHZH. Objektfotos: Martin Bachmann, KAZ. Projektleitung und Redaktion: Andrea Tiziani, KAZ. Layout, Satz und Druck: Stäubli AG Zürich. © 2004 STARCH – Stiftung für Archäologie im Kanton Zürich © STARCH INHALT VORWORT ARBEITEN MIT DEM ARCHÄOLOGIE-KOFFER 1 Didaktische Absichten 2 Grundsätzliches zur Methodik 3 Arbeitsvorschläge 4 Fachdidaktische Literaturhinweise ARCHÄOLOGIE – EINE EINFÜHRUNG MITTELALTER 1 Einleitung 2 Gesellschaft und Alltag 3 Religion und Glauben 4 Landwirtschaft, Handwerk und Handel 5 Bauen und Siedlungswesen 6 Bildung und Wissenschaft 7 Spiel und Kurzweil 8 Musik ANHANG OBJEKTBLÄTTER © STARCH VORWORT Archäologische Ausgrabungen treffen in der Öffentlichkeit und insbesondere bei Schulklassen auf ein reges Interesse; Kinder sind von der Arbeit der Archäologinnen und Archäologen fasziniert. Im Lehrplan für die Volksschule des Kantons Zürich wird denn auch die Bedeutung der Archäologie für die Erkenntnis historischer Zusammenhänge hervorgehoben (Richtziele für den Unterrichtsbereich Mensch und Umwelt). Das didaktische Angebot in diesem Bereich ist vielerorts jedoch unbefriedigend. Die Arbeitsweise der archäologischen Wissenschaft, wie etwa die Interpretationsweise menschlicher Zeugnisse im Boden, die Techniken der Fundbestimmung oder die Datierungsmethoden von Funden und Strukturen werden in den bestehenden Lehrmitteln wenig berücksichtigt. Die Idee, Archäologie-Koffer zu den wichtigsten Epochen der Menschheitsgeschichte, zur Steinzeit, zu den Metallzeiten (Bronze- und Eisenzeit), zur römischen Epoche und zum Mittelalter für den Schulunterricht anzubieten, ist in verschiedenen Köpfen, in verschiedenen Institutionen gleichzeitig entstanden. Alle waren sich einig, dass solche ArchäologieKoffer dem vielerorts bestehenden Bedürfnis Rechnung tragen, in ein pädagogisch-didaktisches Konzept eingebettete und sinnlich (be)greifbare archäologische Objekte für den Schulunterricht zur Verfügung zu stellen. Beim Projektstart zu Beginn des Jahres 2002 konnte sich kaum jemand vorstellen, neben dem Tagesgeschäft und unter dem momentanen Spardruck in Bildung und Kultur ein pädagogisches Projekt dieser Grössenordnung anzupacken. Katalytische Wirkung hatte dabei die Unterstützung der Stiftung STARCH: Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung hat zum wichtigsten Ziel, das Interesse für die Archäologie und Kulturgeschichte des Kantons Zürich zu wecken und zu fördern. Das Projekt «Geschichte zum Auspacken – Didaktische Archäologie-Koffer für Schulklassen» entsprach genau dieser Intention, so dass die Stiftung STARCH die Trägerschaft des Projektes übernahm. Aufgrund des bereits bestehenden Netzwerkes konnte sie zudem ein Projektteam zusammenstellen, das alle Bedürfnisse eines solchen Vorhabens abdecken konnte. Für die archäologischen Inhalte, die Beschaffung der Originalobjekte und Repliken, für die Gesamtrealisation sowie die Projektleitung konnte die Kantonsarchäologie Zürich gewonnen werden. Das Musée Suisse (Landesmuseum Zürich) hat verschiedene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für die Herstellung von Repliken und für Lektoratsarbeit zur Verfügung gestellt. Mitarbeiter der Pädagogischen Hochschule Zürich haben zudem das Projekt von Anfang an didaktisch begleitet. Die Projektarbeit mit einem Team aus verschiedenen Institutionen und Experten aus den unterschiedlichsten Fachbereichen mit unterschiedlichem Hintergrund war für alle Beteiligten ein Novum. Das überzeugende Resultat bestätigt uns darin, dass sich die manchmal aufwändigere Koordinationsarbeit gelohnt hat. Die Archäologie-Koffer enthalten in erster Linie Fundobjekte (Originale und Repliken) – also Sachquellen unserer Vergangenheit –, die von den Schülerinnen und Schülern mit ihrem eigenen Vorwissen, ihrer Neugier und dann auch mit Zusatzinformationen untersucht werden. Ausführliche Unterlagen zur archäologischen Arbeitsweise und zu den wichtigsten Themen der jeweiligen Epoche dienen den Lehrkräften als Vorbereitung und Hintergrundinformation. Von zentraler Bedeutung ist der Lehrerkom- Vorwort 1 2 Vorwort © STARCH mentar im Kapitel «Arbeiten mit dem Archäologie-Koffer», worin das didaktische Konzept und der methodische Einsatz der Archäologie-Koffer dargestellt sind. Ein Verzeichnis aktueller Lehrmittel und Anschauungsmedien bietet zudem einen übersichtlichen Zugang zu weiterführenden Materialien. Die Stiftung STARCH konnte dieses Projekt nur dank grosszügiger Beiträge des Fonds für gemeinnützige Zwecke (Finanzdirektion des Kantons Zürich), der Vontobel Stiftung und namhafter Eigenleistungen der Kantonsarchäologie Zürich und des Musée Suisse (Landesmuseum Zürich) realisieren. Beide Institutionen haben enorme Personalressourcen in dieses Projekt gesteckt, ohne die es nie zu Stande gekommen wäre. Ein ganz besonderer Dank gilt hier dem ganzen Projektteam, das trotz manchmal überbordendem Tagesgeschäft das Projekt nie aufgegeben hat und mit grossem Effort und Durchhaltevermögen zum Gelingen beigetragen hat: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Luigi Bazzigher, Pädagogische Hochschule Zürich Ulrich Eberli, Kantonsarchäologie Zürich Christian Foppa, externer Berater Adrian Huber, Kantonsarchäologie Zürich Verena Jauch, Kantonsarchäologie Zürich Andreas Mäder, Kantonsarchäologie Zürich Salome Maurer, Müsée Suisse (Landesmuseum Zürich) Donatus Stemmle, Pädagogische Hochschule Zürich Peter Stöckli, Pädagogische Hochschule Zürich Werner Wild, Kantonsarchäologie Zürich Ich wünsche allen Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften viel Spass beim «Geschichte auspacken». Andrea Tiziani, Kantonsarchäologie Zürich, Projektleiter © STARCH Thema: Didaktische Absichten 3 ARBEITEN MIT DEM ARCHÄOLOGIE-KOFFER 1 Didaktische Absichten Ein Archäologie-Koffer bietet die einzigartige Möglichkeit, weit zurückliegende Geschichte erlebbar zu machen. Die Objekte erlauben ein handelndes Lernen, das das erworbene Wissen nachhaltig verfügbar werden lässt. Die Faszination, die die Originalfunde ausstrahlen, ist durch nichts zu ersetzen: Es bleibt für die meisten Menschen ein einmaliges Erlebnis, ein echtes Steinzeitwerkzeug oder eine bronzene Fibel in der Hand gehalten zu haben! Aus diesen Gründen lohnt es sich, einmal im Verlauf eines Klassenzuges die Arbeit mit einem Archäologie-Koffer auf sich zu nehmen, sich wie Forschende mit geschichtlichen Funden auseinander zu setzen und sich dadurch ein Bild von vergangener Zeit zu machen. Wir gehen davon aus, dass die Epoche, zu der ein Koffer bestellt worden ist, Inhalt einer längeren Unterrichtssequenz ist und die Schülerinnen und Schüler bereits ein Vorwissen erworben haben. Sie kennen die vergangene Zeit aus Bildern und Texten und freuen sich nun auf die direkte Begegnung mit den Originalen. Sie sind weiter in der Lage, sich intensiv mit Objekten auseinander zu setzen und verfügen über Fähigkeiten und Fertigkeiten zu Beobachten, Protokollieren und Präsentieren. Sie sind sich gewohnt, auch selbstständig Informationen zu beschaffen und sind vertraut mit Bibliothek und Internet. Damit die kurze Zeit, in der der Koffer zur Verfügung steht, auch optimal genutzt werden kann, haben Sie sich als Lehrperson intensiv mit dem Kommentar befasst und sich die Stundenabläufe zurecht gelegt. Das didaktische Hintergrundwissen, die vorgeschlagenen Methoden und die Liste aktueller Literatur und Lernmedien im Kapitel «Fachdidaktische Literaturhinweise» sollen Ihnen die Planung erleichtern. Kernstück der Unterlagen ist die Checkliste (siehe weiter unten), die Ihnen die Grundlagen für eine eigene, auf die Bedürfnisse Ihrer Klasse zugeschnittene Arbeitsanleitung liefert. In den Ausführungen zur Didaktik können Sie nachlesen, warum es wichtig ist, das Vorwissen abzurufen und die Beziehung zum Objekt zu klären, bevor Vermutungen und auftauchende Fragen notiert werden. Erst dann soll – möglichst selbstständig – nach Antworten gesucht werden. Die beiliegenden Objektblätter sind mit dem Bewusstsein einzusetzen, dass sie in der Sprache der Erwachsenen verfasst sind. Das Verstehen bedingt also der Hilfe der Lehrperson. Dasselbe gilt für die Thementexte und die Ausführungen zur Wissenschaft der Archäologie. Die methodischen Vorschläge sind als Anregung gedacht: In ihrer Anlage können sie für sämtliche Koffer verwendet werden. Das Ziel ist die Vertiefung und Vernetzung des erworbenen Wissens. Projekt und Text: Peter Stöckli, Donatus Stemmle, Luigi Bazzigher Geschichte zum Auspacken Neben den Bild- und Textquellen sind Sachquellen der dritte grosse Bereich historischer Zeugnisse. Entsprechend den Objekten im Archäologiekoffer sind damit bewegliche Objekte, Gegenstände des alltäglichen oder 4 Thema: Didaktische Absichten © STARCH des kultischen Gebrauchs gemeint, die man nur ungefähr nach Oberbegriffen gliedern kann: ■ ■ ■ ■ ■ Werkzeuge und Geräte aller Art Einrichtungsgegenstände Kleidung Spielzeug Geld Im Unterricht spielen Sachquellen zu Unrecht nur eine bescheidene Rolle. Ein Archäologiekoffer vermag dies zu ändern und darüber hinaus bei den Schülern und Schülerinnen die Forscherneugier zu wecken. Denn gerade in der Andersartigkeit und Ungewohntheit von Sachquellen liegen vielfältige Unterrichtsmöglichkeiten. Bei Text- und Bildquellen eines Schulbuches handelt es sich nicht um Originale, sondern um Übertragungen und Reproduktionen. Objekte dagegen treten in ihrer natürlichen Gestalt, Grösse und Materialität in Erscheinung. Anders als die meisten sonstigen Quellen sind Objekte nicht durch eine ideologische historische Perspektive geprägt. Sie bieten (auch als Repliken) die einzigartige Möglichkeit, weit zurückliegende Geschichte «handfest» erlebbar zu machen. Sachquellen vermitteln meist die den Schülerinnen und Schülern zugänglichere Alltagsgeschichte. Und selbst wenn sie nur bruchstückhaft überliefert oder durch Gebrauch beschädigt sind, sind sie zugleich Hinweis auf vergangene Nutzungssituationen und Lebenszusammenhänge. Nie wird es nur um die technische Funktion oder das Objekt an sich gehen, so interessant es auch sein mag. Es geht darum, mit seiner Hilfe zu einer allgemeineren historischen Einsicht über die jeweilige Zeit zu gelangen und um die historische Bedeutung, die das Objekt hatte und zu deren Erforschung und Reflexion es Anstoss gibt. Objektbetrachtung Objekte, wie sie im Archäologie-Koffer zu finden sind, nehmen wir meist als Kunstobjekte wahr. Mitunter sind sie in ihrer Epoche zu solchen geworden, ihr ursprünglicher gesellschaftlicher Wert und das Prestige aber bleiben uns vorerst verschlossen. Deshalb sind über alle narrativen Forscher-Fragen hinaus zwei Punkte bedeutsam: ■ Objekte rekonstruieren wie alle anderen Quellen nicht die historische Realität, sondern können lediglich Lehrpfad in der Betrachtung und Interpretation der Vergangenheit sein. ■ Objekte sind andererseits nicht bloss Quellen. Ihre Objekthaftigkeit und Konkretheit, ihre Erscheinungsform als Gegenstand entfaltet erst nach der entsprechenden Betrachtung und Würdigung ihre besondere Aussagekraft. Aus welcher Zeit stammt das Objekt? Wozu diente es, wer hat es früher einmal benutzt? Wie lange wurde es in dieser Form verwendet? Welchen Stand der Technik lässt es erkennen? Jede neue Frage lässt ein Objekt in einem anderen Licht erscheinen. Objektarbeit ist wie jede historische Quellenarbeit einer «kontrollierten Imagination» gleichzusetzen. Und «an der Quelle soll die Wahrheit der © STARCH Geschichte entgegensprudeln», kühl und klar. Diese Analogie ist nur auf den ersten Blick eindeutig. Schauen wir nämlich in einen Quellgrund – was sehen wir? – uns selbst... Objekte der Geschichte sind stumme Reste einer vergangenen Kultur. Erst durch die Entdeckung, beziehungsweise deren Interpretation, werden wir sie über unser Denken zum «Sprechen» bringen. Die nachhaltige Arbeit an und mit Objekten erfordert denn auch verhältnismässig viel Zeit. Lernwege und Lernergebnisse sind für Lehrpersonen wohl weniger klar definiert als etwa in der Arbeit mit Text und Bild in einem Lehrbuch. Die Faszination darüber aber wird dafür Schüler, Schülerinnen und Lehrperson für die Mehrarbeit umso mehr entlöhnen! Geschichte entsteht im Kopf Das Besprechen von Objekten, selbst wenn es noch so fleissig und fantasievoll betrieben wird, garantiert aber noch nicht eine wahre Geschichte. In «unserer Geschichte» fliessen dann zweierlei zusammen: Objekte als Überreste der Geschichte und die Erzählung über sie. Es gilt zu bedenken, dass das, was «unsere Geschichte» zusammenhält, nie in der Vergangenheit ruht, sondern immer Projektion aus der Gegenwart ist und nie die beschriebene Epoche selbst sein kann. Deutung wird hier verstanden als Einordnung der Fundstücke zu einem der unzähligen «Geschichtsbilder». Anders ausgedrückt heisst das: Objekte der Vergangenheit setzen wir als Überreste einer Epoche in Beziehung zueinander und füllen die Lücken zwischen ihnen mit unserer Vorstellungskraft. Eine «Geschichte an sich» existiert nie, denn Geschichtsbetrachtung ist das eine, Interpretation das andere. So entsteht ein Geschichtsbild immer durch gedankliche Konstruktion, abhängig von ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ der Wahl der Objekte, der Qualität unseres Vorwissens, der Neugier und den damit verbundenen Fragen, der Sicht für das Ganze oder für das Detail, den Ergebnissen der Objektbetrachtung, der gewählten Zusatzinformationen und der Objektbetrachtung auch «gegen den Strich». Beim Betrachten von Objekten ist weiter zu beachten, dass es in der Menschheitsgeschichte weder die reine Wiederholung noch die Idee eines permanenten Fortschritts gibt. Wesentlich scheint, dass angesichts der Primitivität einzelner Objekte wir uns vor der Vorstellung zu hüten haben, dass frühere Menschen lediglich «Dorftrottel» waren und eben noch nicht wie wir mit «Hightech» vertraut… Weiterführende Literatur M. SAUER, Geschichte unterrichten (Kallmeyer, Seelze-Velber 2001), Kap. 5.1.3 Sachquellen. G. SCHNEIDER, Sachzeugnisse. Steine zum Reden bringen. In: Dittmer/Siegfried (Hg.), Spurensucher (Seinheim/Basel 1997). Thema: Didaktische Absichten 5 © STARCH 2 Thema: Grundsätzliches zur Methodik 7 Grundsätzliches zur Methodik Arbeit am Objekt In diesem Kapitel geht es um den methodischen Einsatz der ArchäologieKoffer. Neben einer allgemein einsetzbaren Checkliste als «Rückgrat» für die Ausarbeitung eigener Arbeitsanleitungen werden Vorschläge gemacht für eine weiter gehende Vertiefung und Vernetzung der Untersuchungen am Objekt, indem die Fundgegenstände in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden. Diese Vertiefung verlangt allerdings eine längere Vorbereitungsphase vor dem Einsatz eines Archäologie-Koffers, eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Zeit und dem Leben der Epoche. Es ist uns wichtig, dass Sie sich vorgängig die Objekte anschauen und einige ausgewählte in die Hand nehmen. Vielleicht finden Sie Zeit, sich dieselben Gedanken zu machen wie später Ihre Schülerinnen und Schüler. Verschaffen Sie sich eine Übersicht über das beigelegte Bildmaterial und die Zeittafel. Wir sind der Ansicht, dass die von den Archäologen und Archäologinnen verfassten Objektblätter den Schülerinnen und Schülern nicht zeitgleich mit den Objekten verteilt werden sollten, da sie die eigenständige Beobachtung sofort behindern würden und in der Regel nicht ohne Kommentar der Lehrperson verstanden werden können. Der einleitende Text gibt eine aktuelle Übersicht über die Forschungsergebnisse der Epoche. Es bleibt Ihnen überlassen, inwiefern sie Ausschnitte daraus (z.B. für Gruppenarbeit) zur Verfügung stellen möchten. Dasselbe gilt für die Einführung in die Archäologie. Ausarbeitung eigener Arbeitsanleitungen Zu Beginn der Untersuchung arbeiten die Schülerinnen und Schüler nur mit dem Objekt, ohne weitere Unterlagen. Je nach Fähigkeit können sie skizzieren, beschreiben oder sich Fragen notieren. Sie sind allein auf ihr Vorwissen und auf ihre Neugier angewiesen. Das einfache In-die-HandNehmen erschöpft sich aber, sobald der Begriff und die Funktion feststehen. Um das Objekt und seine Bedeutung zu entschlüsseln, braucht es eine weiter führende Anleitung und eine geschulte Fragehaltung. Die eigene Wahrnehmung reicht freilich nicht aus: In Partner- oder Gruppenarbeit werden zusätzliche Meinungen zusammen getragen. Trotzdem: Es werden zusätzliche Informationen zu Entstehung, Funktion und Geschichte gebraucht. Neben den im Schulzimmer bereits vorhandenen Lehrmitteln und Sachbüchern kann im Internet recherchiert werden. Im Koffer selber finden sich die Objektblätter mit Illustrationen und Texten. Der Präsentation der Ergebnisse kommt eine grosse Bedeutung zu: Es interessiert nicht nur zu wissen, wie das Objekt heisst und wozu es dient, von Bedeutung ist auch, wie die Schülerinnen und Schüler zu ihren Ergebnissen gekommen sind. Dabei geht es darum darzustellen, welchen Hypothesen (Vermutungen) und Fragen nachgespürt wurde und was sich im Verlauf der Untersuchungen verändert hat. 8 Thema: Arbeitsvorschläge © STARCH Ceckliste Die Lehrperson soll aus der nachstehenden Checkliste eine Auswahl treffen und neu zusammenstellen: ■ Das Vorwissen abrufen: Betrachten, untersuchen, beschreiben. ■ ■ ■ ■ ■ Worum handelt es sich bei diesem Objekt? Aus welcher Zeit stammt es? Wozu dient das Objekt? Wie verwendet man es? Die eigene Beziehung zum Objekt klären. Woran erinnert mich das Objekt? Welches sind meine Assoziationen? In welches Umfeld gehört es (persönliches Umfeld, Zeit, Kultur)? Als Skizze anfertigen (und in einen Alltagszusammenhang stellen). Vermutungen anstellen, vorläufige Antworten suchen, Hypothesen bilden... …zur Herkunft des Objekts. …zum Gebrauch des Objekts. …zu den verwendeten Materialien und Techniken. …zur Funktion. Wer stellte es her? Welche technischen Voraussetzungen bedingte die Existenz des Objekts? Welche Möglichkeiten eröffnete der Gebrauch des Objekts? Und wenn es dieses Objekt nicht gäbe...? Fragen stellen. Mit welchen Alltagsthemen kann das Objekt in Verbindung gebracht werden? Wie lebte man in der Zeit, aus der dieses Objekt stammt? Welche Rolle spielte das Objekt für die Gesellschaft? Welcher Gesellschaftsschicht lässt sich das Objekt zuordnen? Wie hat sich der Umgang mit dem Objekt im Laufe der Zeit – bis zum heutigen Tag – geändert? Wo erhalte ich zusätzliche Informationen? Antworten finden. In Medien, in Museen, im Kontakt mit Fachleuten, eventuell bei Zeitzeugen. Auswerten. Antworten zusammentragen, vorstellen, diskutieren, vergleichen. Überprüfen der Hypothesen: Welche der vorläufigen Antworten waren zutreffend? Erkenntnisse gewinnen: Bild des Lebens in früheren Zeiten beschreiben. Gruppieren und beschriften (Material: Stein, Holz, Metall, Glas, Keramik, Papier, künstliche Stoffe). Gruppieren und beschriften (Funktion). Gruppieren und beschriften (Bedeutung einst und jetzt). Rollenspiel. Planspiel. Übertragen: Fülle einen 2000-er Koffer! Übertragen: Suche Gegenstände, die für die anderen ein Rätsel sind – jetzt beginnt die Arbeit der Archäologinnen und Archäologen! © STARCH 3 Thema: Arbeitsvorschläge 9 Arbeitsvorschläge Ein Beispiel aus der Literatur Literatur Der Katalog zeigt auf, was aus der Arbeit mit Fundobjekten entstehen kann: Neben der Abbildung steht ein Text, der von Studierenden der Universität Zürich auf Grund einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Gegenstand entstanden ist, indem vorhandenes Wissen mit der eigenen Beobachtung verbunden wird. Längst nicht alle Legenden bleiben beim reinen Faktenwissen stehen. Es werden Fragen aufgeworfen, Vermutungen angestellt, Zweifel eingeräumt. Es wird phantasiert, gestaunt, bewundert und verglichen. Wenn die Lehrperson den Titel des Katalogs als Programm umsetzt und die Objekte durch die Schülerinnen und Schüler erzählen lassen will, soll ein Teil des Schulzimmers umgestaltet werden, um die Objekte auf geeignete Art auszustellen: auf Augenhöhe, gut beleuchtet und mit einer Legende versehen. Wie in einem richtigen Museum gibt es zusätzliche Angebote: Ausstellungskatalog, Plakat und Führungen. Nachdem sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig informiert haben, besteht die Möglichkeit, eine Parallelklasse zum Besuch einzuladen – selbstverständlich mit Führung – oder die Ausstellung am Besuchsmorgen zu präsentieren. Die Ergebnisse können fotografiert und auf die Homepage der Schule gestellt werden. Es entsteht eine Dokumentation, die neben Skizzen auch die Legenden enthält, aber auch eventuelle Fotos, den Ausstellungskatalog, das Plakat. Die Lehrperson kann die Dokumentation zu einem Nachschlagewerk zum Thema ausbauen, indem sie geeignete Sachtexte und Bilder kopiert und eine weiterführende Literaturliste inkl. Websites anfügt. Für ihr persönliches Mensch und Umwelt-Heft (oder Ordner) zum Thema erhalten die Schülerinnen und Schüler eine Kopie des Ausstellungskatalogs. Die Pfahlbauer – 150 Objekte erzählen 150 Geschichten. Begleitband zur Ausstellung im Schweizerischen Landesmuseum (Zürich 2004). 150 grossformatige Fotos von einzelnen Fundobjekten aus der Schweiz belegen den neusten Wissensstand der Feuchtbodenarchäologie auf einzigartige Weise. Link www.musee-suisse.ch Beispiele für Ideen zur Vernetzung Weil wir der Ansicht sind, dass die Arbeit mit dem Archäologie-Koffer nicht isoliert, sondern in einer Unterrichtsreihe (z.B. Steinzeit) geschehen soll, stellen wir vier Beispiele als Ideenskizze vor. Dabei kann gleichzeitig die Absicht der Vernetzung verfolgt werden: Das Thema wird in einen grösseren Zusammenhang gestellt, die Arbeit mit dem ArchäologieKoffer ist eingebettet in eine Abfolge von Lektionen, Fragen werden dabei beantwortet, aber auch neue Fragen tauchen auf. Neben dem Generieren von Wissen werden auch Fähigkeiten und Fertigkeiten trainiert. Eine zusätzliche Vertiefung ist durch die Beschäftigung mit den Methoden der Archäologie möglich (Kapitel Archäologie – eine Einführung). Steinzeit: Der Mann aus dem Eis Literatur Seit der Entdeckung des Eismannes auf dem Similaungletscher (I) im Jahr 1991 ist die Faszination für «Ötzi» und sein Leben und Sterben ungebrochen: Kein Jahr vergeht ohne neue Forschungsergebnisse und immer wieder von neuem müssen die Zeittafeln korrigiert werden. Das Südtiro- G. SULZENBACHER (Hg.), Thema Ötzi – Didaktische Materialien zum Mann aus dem Eis (Folio-Verlag, Wien/Bozen 1999). Link www.iceman.it 10 Thema: Arbeitsvorschläge © STARCH ler Archäologiemuseum in Bozen publiziert ausgezeichnete Unterlagen für den Schulunterricht (siehe oben), die Website ist geeignet für Schülerinnen und Schüler, und die interessierte Lehrperson wird den Aufwand für einen (persönlichen) Besuch in Bozen nicht bereuen. Diese Informationsmöglichkeiten und verschiedene Objekte aus dem Archäologie-Koffer, die aus dem Besitz des Eismannes stammen könnten, sind die Gründe für den Vorschlag, diese mit seiner Person zu verknüpfen. Die Schülerinnen und Schüler überlegen sich, ob ihr Objekt etwas mit «Ötzi» zu tun habe und begründen ihre Meinung in der Präsentation. Festhalten des Wissens Die Schülerinnen und Schüler gestalten in Partner- oder Gruppenarbeit eigene Hefteinträge zu verschiedenen Themen. Sie verwenden neben den genannten didaktischen Materialien Informationen aus dem Internet und aus zusätzlichem Unterrichtsmaterial (Werkstatt, Sach- und Schulbücher), aber auch aktualisiertes eigenes Wissen (Sachbücher, Museumsbesuche, Zeitungs- und Fachartikel etc.). Die Ergebnisse werden in geeigneter Form präsentiert und allen Schülerinnen und Schülern zugänglich gemacht (Dokumentation, Zusammenfassung, Ausstellung). Varianten ■ Planspiel: Der Eismann stellt seine Ausrüstung zusammen, bevor er aufbricht. ■ Rollenspiel: Der Eismann begegnet auf seiner Wanderung verschiedenen Personen an verschiedenen Orten. Bezug zur Umgebung Vergleiche Anhang (Exkursionsziele, Museen). Metallzeiten: Eine glänzende Idee Literatur DECURTINS, HUBER: mitenand 1, Geschichte und Gegenwart für Schweizer Primarschulen, Vom Zeltlager zum Alamannendorf. «thema» 2, S. 32ff. (mit Begleitband S. 66ff.). Mit der Bronzeverarbeitung tritt ein neuer Handwerkszweig in den Siedlungen auf. Für den Abbau, das Schmelzen, Giessen und Schmieden waren spezialisierte Sachkenntnis und handwerkliche Begabung Voraussetzungen. Neue Techniken sind oft Folge neuer Herausforderungen oder Bedürfnisse. Zudem gehören Handelsleute zu den wichtigsten Medien in der Entwicklungsgeschichte. Während der Bronzezeit erreichten Handelsströme eine geographische Weiträumigkeit, die für die vorangehenden Zeiten bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Neue Techniken können aber auch innerhalb einer Gruppe entwickelt werden. So sind Erfindungen vielfach das Resultat vieler kleiner Verbesserungen und Erkenntnisse. Entsprechend zeigen viele Alltagsgegenstände keinen plötzlichen technischen Fortschritt gegenüber der Jungsteinzeit. Vielmehr entwickelten sich die Objekte schrittweise. Was beispielsweise den Anstoss gab, Sicheln fortan aus Bronze anzufertigen, ist unklar, zumal mit den ersten Exemplaren möglicherweise weniger effektiv als mit den Steinsicheln gearbeitet werden konnte. Der neue Werkstoff bedingte die Herausbildung von Berufen. Dazu gehört Wissen und Können, über das andere nicht (selbstverständlich) verfügen. Im Rahmen der Bearbeitung von Metall ist man auf Feuer angewiesen. Der Schmied gewinnt Metall aus Stein und stellt daraus einen © STARCH Thema: Arbeitsvorschläge 11 neuen Gegenstand her. Diese Verwandlung hat stets etwas Magisches an sich: So war die Metallverarbeitung in vielen Kulturen religiös eingebettet. Das Thema «Eine glänzende Idee» ist gegliedert in Impulse von aussen, von innen, Berufe und die Kraft des Feuers. Der Begleitband liefert zu allen Texten und Bildern konkrete Vorschläge zur Umsetzung: Fragen, Anweisungen, Arbeitsmöglichkeiten, Hinweise im Sinne einer Ausweitung und Aktualisierung. Eine solche Text- und Bildarbeit erleichtert die Vernetzung mit den Objekten im Archäologiekoffer. Festhalten des Wissens Vier Teilthemen werden als Gruppenarbeit bearbeitet, die Ergebnisse auf Plakaten festgehalten und mit den entsprechenden Gegenständen aus dem Koffer in Verbindung gebracht. Varianten ■ Planspiel: Arbeitsvorgänge in der Schmiede nacherzählend spielen (Lage der Schmiede im Dorf, Einrichtung, Rohstoffe, Blasebalg, Feuer machen, Holzkohle, Gussform, Giessen, Gussstücke bearbeiten, Gedanken des Schmieds über seine Arbeit und sein Leben). ■ Rollenspiel: Einer Gruppe, die abwesend war (auf Jagd, Vieh hüten, Beeren sammeln), vom Besuch der Händlerinnen erzählen. Die eingetauschten Gegenstände (aus dem Koffer) vorstellen und rühmen. Bezug zur Umgebung Vergleiche Anhang (Exkursionsziele, Museen). Römische Epoche: Augst – Augusta Raurica Literatur Die Lehrperson wird darauf hin arbeiten, dass sich die Schülerinnen und Schüler wie auf einem Stadtplan einer vertrauten Stadt zurechtfinden. In ihrer Vorstellungskraft füllt sich der Plan mit Häusern, Wohnungen, Plätzen, Menschen. Sie suchen sich Wege durch Gassen und Tore, stellen sich vor, wie sie sich in der Stadt bewegen würden zum Spielen, Einkaufen, auf dem Weg zur Schule. Sie überlegen sich, wo und wie sie selber mit ihren Eltern und Geschwistern wohnen würden und wie es im Haus und der unmittelbaren Umgebung aussähe. Im Unterricht haben sie sich bereits mit dem Leben der Römer vertraut gemacht. Nun sind sie in der Lage, ihr Objekt aus dem Römerkoffer an einem selbst gewählten Ort zu platzieren. In der Präsentation legen sie dar, weshalb sie diesen Ort ausgewählt haben und was sie über ihr Objekt herausgefunden haben. Nach Möglichkeit sollen die Schüler Bezug nehmen auf die Ausführungen ihrer Mitschülerinnen. Mit diesem Vorschlag nähern sich die Schülerinnen und Schüler der Arbeit der Archäologinnen und Archäologen, die sich aufgrund der Ausgrabung von Objekten, Mauern, Plätzen, Strassen etc. ein Bild einer Stadtanlage machen. Festhalten des Wissens Für ihr persönliches Mensch und Umwelt-Heft (oder Ordner) zum Thema «Römer» tragen die Schülerinnen und Schüler auf einer Kopie des Stadtplanes die Lage ihres Objektes ein und zählen auf, was man hier auch S. MARTIN-KILCHER, M. ZAUGG, Fundort Schweiz. Die Römerzeit, Bd. 3 (Verlag Aare, Solothurn 1983), S. 38–41 (vergriffen, aber in vielen Schulhäusern noch vorhanden). Die Doppelseite zeigt eine Ansicht der Stadt zur Römerzeit. 12 Thema: Arbeitsvorschläge © STARCH noch hätte finden können. Es ist der Lehrperson überlassen zu bestimmen, wie ausführlich diese Liste sein soll. Varianten ■ Planspiel: Das «Tourismusbüro von Augusta Raurica» plant eine Führung zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. ■ Rollenspiel: Ein Mädchen macht einen Rundgang durch den Markt und trifft auf Marktleute, Handwerker, Soldaten, Händlerinnen, Gaukler... Bezug zur Umgebung Vergleiche Anhang (Exkursionsziele, Museen). Mittelalter: Auf der Gasse und hinter dem Ofen Literatur J. MÜLLER, A. SIEGFRIED, J. SCHNEIDER, Auf der Gasse und hinter dem Ofen: Eine Stadt im Spätmittelalter (Verlag Sauerländer, Aarau 1995). Dieses Lehrmittel ist im Archäologie-Koffer Mittelalter enthalten. Das Lehrmittel enthält vier Gänge durch eine fiktive mittelalterliche Stadt. Zu jedem Gang gehören eine Erzählung und ein Bildausschnitt. Die Lesenden begleiten dabei die Hauptperson und können die Reise auf sehr detaillierten grossformatigen Bildern verfolgen. Die wechselweise Umsetzung Text-Bild-Text erhöht die Spannung dadurch, dass die Lesenden im Laufe der Zeit immer wieder den gleichen Personen begegnen und dabei erfahren, was aus ihnen geworden ist. Diese Voraussetzungen prädestinieren die vier Gänge für Gruppenarbeiten: Es gibt in den einzelnen Bildern viel zu entdecken, und die Zusammenhänge halten das Interesse für das Ganze aufrecht. Sowohl in den Erzählungen als auch in den Bildern tauchen Objekte auf, die die Schülerinnen und Schüler im Koffer Mittelalter auswählen. Es liegt also auf der Hand, in der Gruppenpräsentation Bild, Geschichte und Objekte zusammen zu fügen. Die Objekttexte vertiefen dabei die Zusammenhänge weiter. Damit ist die Gruppe in der Lage zu erklären, was für ein Gegenstand hier zu sehen ist, warum man ihn ausgerechnet hier findet, wie er funktioniert und welche Bedeutung er für das Leben der Bewohner der Stadt hatte. Festhalten des Wissens Für ihr persönliches Mensch und Umwelt-Heft (oder Ordner) zum Thema «Mittelalter» gestalten die Schülerinnen und Schüler einen eigenen Beitrag in der Gruppe in einer kopierfähigen Form, so dass er der ganzen Klasse zur Verfügung gestellt werden kann. Varianten ■ Planspiel: Die Schicksale der dargestellten Personen werden weitergeführt. ■ Rollenspiel: Die Erzählung wird in einem Rollenspiel dargestellt. Bezug zur Umgebung Vergleiche Anhang (Exkursionsziele, Museen). © STARCH 4 Thema: Fachdidaktische Literaturhinweise 13 Fachdidaktische Literaturhinweise Alle Epochen Links www.archaeologie-online.de www.pfahlbauten.ch www.pfahlbauten.de www.mediatime.ch/museum/pfahlbau www.latenium.ch www.wasistwas.de www.blindekuh.de www.milkmoon.de www.aeiou.at Zur Unterrichtsvorbereitung S. BOLLIGER SCHREYER, S. REBSAMEN (Hg.), Pfahlbau und Uferdorf. Leben in der Steinzeit und Bronzezeit, Glanzlichter aus dem Bernischen Historischen Museum 13 (Bern 2004), ISBN 3-0340-0653-5. Inhalt: Einzigartiges Fenster in das Leben der Stein- und Bronzezeit (4300–800 v.Chr.). P. BROKEMPER, Projekt Geschichte. Vorgeschichte bis Mittelalter, Bd. 1 (Verlag an der Ruhr, Mühlheim 1993), ISBN 3- 86072-128-3. Inhalt: I Wie Archäologen arbeiten, Methoden, Techniken; II Epochenteil; III Kreativ durch die Zeiten. CH. FOPPA , Urgeschichte. Der Weg unserer Heimat bis zu den Römern (Lehrmittelverlag Graubünden, Chur 1994). Inhalt: Didaktische Hinweise und Materialien, Ortshinweise zur Bündner Geschichte. CH. FOPPA u.a., UrgeschiCHte, Leben in der Ur- und Frühgeschichte (Basel 2004), ISBN 3-908006-76-714. Inhalt: Lebensbilder von den Rentierjägern der Altsteinzeit bis zu den frühmittelalterlichen Dorfbewohnern; 14 Farbfolien; Lesetexte, Bildlegenden, Erklärungen; konkrete Arbeitsaufträge und wissenschaftliche Informationen. U. HUBER, G. DECURTINS, Vom Zeltlager zum Alamannendorf, mitenand 1 (Sauerlädner, Zürich und Aarau 1992), ISBN 3-252-05051-1 (-X). Inhalt: Geschichte und Gegenwart, Viele Aktualisierungsaufgaben – handlungsorientiert. P. KNOCH, Spurensuche Geschichte. Vorgeschichte bis Frühmittelalter, Bd. 1 (Klett Verlag Balmer, Zug 1994), ISBN 3-12-42001 0-1. Inhalt: Anregungen für einen kreativen Geschichtsunterricht. G. LÜSCHER, Wanderungen in die Urgeschichte der Schweiz (Ott Verlag, Thun 1986), ISBN 3-7225-6400-X. Inhalt: 17 kommentierte Ausflüge zu Stätten der Stein- und Metallzeit. F. MÜLLER, Götter – Gaben – Rituale. Religion in der Frühgeschichte Europas (Zabern, Mainz 2002), ISBN 3-8053-2801-X. M. SAUER, Geschichte – Das Methodenbuch (Friedrich, Velber 2000), ISBN 3-617-92300-3. Inhalt: Lernbox über das instrumentelle Lernen; Orientierung, Recherche, Quellen, Darstellung, Medien, Präsentation. 14 Thema: Fachdidaktische Literaturhinweise © STARCH Zur Unterstützung und Animation zur Freiarbeit I. BAUER, S. KARG, R. STEINHAUSER, Kulinarische Reise in die Vergangenheit. Schriften des Kantonalen Museums für Urgeschichte Zug 44 (Zug 1995), ISBN 3-9520098-5-7. Inhalt: Ein Kochbuch mit Rezepten von der Steinzeit bis ins Mittelalter. S. BOLLIGER, Kleidung und Schmuck in der Urgeschichte (Museum für Urgeschichte, Zug 1992), ISBN 3-9520098-2-2. Inhalt: Leseheft mit anschaulichen Bildern. Mit Corax durchs Moor. Eine archäologische Spurensuche für Kinder von der Steinzeit bis ins Mittelalter, Kinder-CD, (Niedersächsisches Landesmuseum, Hannover 2002), ISBN 3-00-010073-3. Inhalt: Hörspiel basiert auf der Ausstellung «Der Tempel im Moor». J. FITZSIMMONS U.A ., Tolle Ideen. Arbeitsergebnisse präsentieren und ausstellen (Verlag an der Ruhr, Mülheim1996), ISBN 3-86072-254-9. L. HALL , Tolle Ideen, Geschichte für Kinder (Verlag an der Ruhr, Mühlheim 1987), ISBN 3-86072-015-5. Inhalt: Methodische Tipps, Grundlagen für handlungsorientierten Unterricht. M. KINSKY, Pfahlbaumuseum Unterhuldingen. Lernort Pfahlbauten (Pfahlbaumusuem Unterhuldingen 1997), ISBN 3-0946-0519. H. J. MÜLLER, Ein Schultag im Pfahlbauland (Lehrmittelverlag, Zürich 1990). Inhalt: Arbeitsblätter für Schüler. S. NOON, A. MILLARD, Die Geschichte einer Strasse. Eine Reise durch die Jahrtausende (Bibliographisches Institut Mannheim 1999), ISBN 3-411-07401-9. Inhalt: Zeitreise aus der Steinzeit über die mittelalteriche Stadt zur heutigen Zeit. Die Pfahlbauer – 150 Objekte erzählen 150 Geschichten. Begleitband zur Ausstellung im Schweizerischen Landesmuseum (Zürich 2004). Inhalt: 150 Jahre Entdeckung der schweizerischen Pfahlbauten. Verzauberte Welten. Göttinnen und Götter (Time Life, Amsterdam 1986), ISBN 90-6182-932-1. Archäologie-Koffer Steinzeit Zur Unterrichtsvorbereitung CH. OSTERWALDER, Von den Fundort Eiszeitjägern zu den ersten Bauern, Fundort Schweiz Bd. 1 (Aare Verlag, Solothurn 1990), ISBN 3-7260-0168-0. Inhalt: Bilder, Illustrationen, Quellen, Texte. U. STODIEK , H. PAULSEN, Mit dem Pfeil, dem Bogen... Techniken der steinzeitlichen Jagd (Isensee Verlag, Oldenburg 1996), ISBN 3-89598-388-8. Inhalt: Technik der steinzeitlichen Jagd. Zur Unterstützung und Animation zur Freiarbeit F. SEEBERGER, Steinzeit selbst erleben! Waffen, Schmuck und Instrumente – nachgebaut und ausprobiert. Mit einem Vorwort von E. KEEFER (Theiss Verlag, Stuttgart 2003), ISBN 3-8062-1861-7. © STARCH Thema: Fachdidaktische Literaturhinweise 15 Archäologie-Koffer Metallzeiten Zur Unterrichtsvorbereitung S. BOTHEROYD, P. BOTHEROYD, Lexikon der keltischen Mythologie (Diederichs, München 1992), ISBN 3-424-01077-4. K. BRODERSEN, Asterix und seine Zeit. Die grosse Welt des kleinen Galliers (Ehapa, München 2001), ISBN 3-406-45944-7. A. FURGER, F. MÜLLER (Hg.), Gold der Helvetier. Ausstellungskatalog des Schweizerischen Landesmuseums (Zürich 1991). A. FURGER-GUNTI, Die Helvetier. Kulturgeschichte eines Keltenvolkes (NZZ Verlag, Zürich 1984), ISBN 3-85823-152-5. R. GROSSE , Der Silberkessel von Grundestrup. Ein Zeugnis des Läuterungsund Einweihungsweges bei den Kelten (Goetheanum, Dornach 1983), ISBN 3-7235-0296-2. L. LENGYEL , Das geheime Wissen der Kelten. Druidisch keltische Mythik und Symbolik (Bauer, Freiburg i. Breisgau 1988), ISBN 3-7626-0-0200-X. CH. OSTERWALDER, Von den ersten Bronzegiessern zu den Helvetiern, Fundort Schweiz Bd. 2 (Aare Verlag, Solothurn 1991), ISBN 3-7260-0176-X. Inhalt: Bilder, Illustrationen, Quellen, Texte. O. SCHERTLER, Die Kelten und ihre Vorfahren. Burgenbauer und Städtebauer (Battenberg, Augsburg 1999), ISBN 3-89441-424-3. G. SULZENBACHER (Hg.), Thema Ötzi. Didaktische Materialien zum Mann aus dem Eis (Lernmaterialien) (Folio Verlag, Wien/Bozen 2000), ISBN 3-85256-153-1. Inhalt: Kopiervorlagen, Folien, Rekonstruktionen, Memory, Quartett, Zeitleiste. B. VERHAGEN, Götter – Kulte und Bräuche der Nordgermanen. Kulturelle Wurzeln des Abendlandes in der nordeuropäischen Bronzezeit (Grabert Verlag, Tübingen 1983), ISBN 3-88199-291-X. Zur Unterstützung und Animation zur Freiarbeit I. BAUER, W. H. SCHOCH, Geräte und Werkzeuge aus Holz in der Bronzezeit (Museum für Urgeschichte, Zug 1993), ISBN 3-9520098-3-0. Inhalt: Informationen und Anleitungen. I. BAUER, Feuer am See. Eine Geschichte aus der Bronzezeit (Metz Verlag, Gaggenau 1999), ISBN 3-927655-31-7. H. EGGMANN, Die Helvetier – ein Keltenvolk. «thema» 1 (Lehrmittelverlag SG, Rorschach 1993). Inhalt: Arbeits- und Leseheft. M. SÉNÉCHEAU, Die Zeit der Kelten in Kinder- und Jugendbüchern (Museum für Ur- und Frühgeschichte, Freiburg i. Breisgau 1998), Tel. 0049 761 201 2500. Inhalt: 21 Sach- und Geschichtenbücher werden ausführlich vorgestellt. A. SIEGFRIED, Mond im Kreis (Sauerländer, Aarau 1993), ISBN 3-293-21054-6. Inhalt: Roman über die junge Keltin Macha und dem etruskischen Händler Laris. J. VLADISLAV, Keltische Märchen (Breitschopf, München 1992), ISBN 3-7004-0196-5. Inhalt: Märchen zum Lesen und Spielen und Diskutieren. 16 Thema: Fachdidaktische Literaturhinweise © STARCH Archäologie-Koffer römische Epoche Zur Unterrichtsvorbereitung Alltag im antiken Rom, Geschichte lernen, Heft 45 (Friedrich in Velber 1995), Best.Nr.17045. Inhalt: Handlungsorientierte Praxisberichte, mit Modellbaubogen. W. DRACK , R. FELLMANN, DIE SCHWEIZ ZUR RÖMERZEIT. FÜHRER ZU DEN DENKMÄLERN (ARTEMIS, ZÜRICH 1991), ISBN 3-7608-1045-4. Inhalt: Führer zu den Denkmälern; Anregungen für kulturhistorische Ausflüge; 300 römische Fundorte im Gelände sowie Führer zu den Museen. W. HÜRBIN, Römisches Brot. Mahlen, Backen, Rezepte. Augster Blätter zur Römerzeit 4 (Römermuseum Augst 1994), ISBN 3-7151-2204-8. U. LASSERT, Die Menschen damals. Bei den Römern – Kopiervorlagen zur Freiarbeit (Auer Verlag, Donauwörth 1998), ISBN 3-403-02757-0. Inhalt: Alltagswelt der Römer erleben; Handlungs-, Spiel- und Bastelanleitungen. D. SIMKO, Die Maskenspiele im römischen Theater. Geschichte für Kinder und Jugendliche. Augster Museumshefte 11 (Römermuseum Augst 1989). SYNAULIA . Musik des antiken Rom, CD 1 und 2 (Amiata Records DDD, Florenz 1996), ISBN 8-015297 139601 / 8-015297 0302 05. Inhalt: Nachempfundene Musik auf nachgebauten Instrumenten. Zur Unterstützung und Animation zur Freiarbeit H. EGGMANN, Römer in Helvetien. «thema» 4 (Lehrmittelverlag SG, Rorschach 1994). Inhalt: Arbeits- und Leseheft. S. HOJER, Antike Spiele (Museumspädagogisches Zentrum, München 1996). Inhalt: Diverse Spiele mit Anleitungen, Material und Hintergrundinformationen. H. HUBER, Lernspiele Römerzeit (Verlag an der Ruhr, Mühlheim 1999), ISBN 3-86072-408-8. Inhalt: 10 Spiele, die das alte Rom (fast) wieder lebendig werden lassen. D. SIMKO, Prisca und Silvanus, Comics, 2 Bde. (Unruhige Zeiten in Augusta Raurica/Die Zerstörung von Augusta Raurica), Augster Museumshefte 15 und 18 (Römermuseum Augst 1995 und 1996), ISBN 3-7151-1015-5 und 1018-X. Archäologie-Koffer Mittelalter Zur Unterrichtsvorbereitung U. ANDRAE , Projektmappe Mittelalter. Materialien für einen handlungsorientierten Unterricht (Cornelsen, Berlin 2001), ISBN 3-464-64861-3. M. BLACK , Küchengeheimnisse des Mittelalters. Kulinarische Entdeckungen und Rezepte (Flechsig, Würzburg 1998), ISBN 3-88189-240-0. Inhalt: Faszinierender Streifzug durch die mittelalterliche Kochkunst. Mehr als 50 für heute bearbeitete Rezepte. F. BÜNZLI, M. ILLI, Hirsebarden und Heldenbrei (Zytglogge, Bern 1995), ISBN 3-7296-0519-4. Inhalt: Comics und Hintergrundinformationen © STARCH Thema: Fachdidaktische Literaturhinweise 17 H. HOEFS, Durchblick – Freies Lernen in Projekten. Ritter, Bauern, Bürger (Verlag an der Ruhr, Mühlheim 2002), ISBN 3-86072-089-9. J. MÜLLER, A. SIEGFRIED, J. E. SCHNEIDER, Auf der Gasse und hinter dem Ofen. Eine Stadt im Spätmittelalter (Verlag Sauerländer, Aarau 1995), ISBN 3-7941-3890-2. Inhalt: Bilder, Texte, Erzählungen. H. SCHNEIDER, Entdecken und Verstehen, Arbeitshefte. Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit (Cornelsen, Berlin 1997), ISBN 3-464-64158-9. D. STEMMLE , Die Bauern und die Herren, mitenand 2 (Sauerländer, Zürich und Aarau 1994), ISBN 3-252-05052-8-6. Inhalt: Schülerband und Begleitband, 500 Vorschläge zur Aktivierung. J. TAUBER, F. HARTMANN, Das Hochmittelalter, Fundort Schweiz Bd. 5 (Aare Verlag, Solothurn 1988), ISBN 3-7260-0296-0. Inhalt: Von den Karolingern bis zur grossen Pest; Bilder, Illustrationen, Quellen, Texte. Zur Unterstützung und Animation zur Freiarbeit L. CARLSON, Wir spielen Mittelalter. Eine Mappe zum Basteln, Malen, Kochen, Spielen, Lernen (Verlag an der Ruhr, Mühlheim 1998), ISBN 3-86072-380-4. I. FLOERKE , B. SCHÖN, Markt, Musik und Mummenschanz. Stadtleben im Mittelalter (Münster 1999), ISBN 3-931902-43-9. Inhalt: Zum Singen, Tanzen, Spielen, Schmökern, Basteln und Kochen (mit CD). K. HOFFMANN-PIEPER U.A ., Das grosse Spektaculum. Kinder spielen Mittelalter (Ökotopia, Münster 1997), ISBN 3-925169-78-4. CH. JACKWERTH, E. RÜGER, Mittelalter. I like Geschichte 1 (AOL-Verlag, Lichtenau 2002), ISBN 3-89312-561-2. Inhalt: Geschichtswerkstatt, ungewöhnliche/einfallsreiche Arbeitsblätter. R. PERNOUD, Ein Tag im Leben eines Troubadours. Welt des Mittelalters, von Hof zu Hof, von Burg zu Burg, von Stadt zu Stadt (Echter, Würzburg 1996), ISBN 3-429-01844-7. Die Stadt im Mittelalter, CD-Rom (Sauerländer, Aarau 1995), ISBN 3-7941-3977-1. Inhalt: Alltagsleben hinter Turm und Mauern. Die Welt einer mittelalterlichen Stadt wird in den detailreichen Bildern durch eine multimediale Anwendung und Interaktionen sowie zeitgenössische Bilder lebendig. F. STEPHAN-KÜHN, Viel Spass im Mittelalter (Arena; Würzburg 1984), ISBN 3-401-04089-8. Inhalt: Handlungsorientierter Umgang mit Quellen, Bildern und Fiktionen. H.-J. VAN DER GIETH, Leben und Alltag im Mittelalter. Alltagsgeschichte handlungsorientiert aufbereitet (Buch Verlag, Kempen 2003), ISBN 3-932519-13-2. © STARCH Einführung 19 ARCHÄOLOGIE – EINE EINFÜHRUNG Mit dem Begriff «Archäologie» werden oft ägyptische Pyramiden, griechische Tempel oder römische Theater verbunden. Spektakuläre Funde wie etwa der «Ötzi» oder «Eismann», das heisst die jungsteinzeitliche Gletschermumie aus dem obersten Ötztal im Südtirol, erregen Aufsehen. Eine grosse Zahl archäologischer Fundstellen gibt es aber auch ganz in unserer Nähe, im Kanton Zürich. Bis heute sind rund 5000 bekannt. Über lange Zeiten der Menschheitsgeschichte bilden archäologische Spuren die einzigen Informationsquellen. In den jüngeren Epochen, seit der Römerzeit, vor allem aber ab dem Mittelalter, können die archäologischen Überreste zusammen mit schriftlichen und bildlichen Quellen ein facettenreiches Bild der Vergangenheit vermitteln. Die Zahl archäologischer Funde nimmt durch neue Entdeckungen und Ausgrabungen einerseits jedes Jahr zu, andererseits werden durch die Zersiedelung der Landschaft, durch Bauvorhaben aller Art, aber auch durch natürliche Erosion laufend archäologische Stätten zerstört. Im Kanton Zürich hat die Kantonsarchäologie die Aufgabe, diese Quellen zu schützen oder zumindest vor der Zerstörung deren Informationsgehalt durch Rettungsgrabungen zu sichern. Mit den prähistorischen Seeufersiedlungen, den so genannten Pfahlbauten, ist im Kanton Zürich eine Fundstellengruppe besonders gut vertreten, die im internationalen Rahmen dank der Erhaltung des organischen Materials (beispielsweise Holz oder Textilien) einen hohen Stellenwert einnimmt. Eine Aufnahme in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes steht derzeit zur Diskussion. Aber auch aus den anderen Epochen sind wichtige Fundstellen und Fundgegenstände zu verzeichnen. Taucher bei der Untersuchung der urgeschichtlichen Siedlungen («Pfahlbauten») von Meilen-Roorenhab ZH. Stadt Zürich, Büro für Archäologie, Tauchequipe. Womit beschäftigt sich die Archäologie? Gegenstand der archäologischen Forschung sind die materiellen Hinterlassenschaften des Menschen seit seinem Auftreten vor rund 2 Millionen Jahren. Der älteste Fundgegenstand aus der Schweiz ist etwa 250’000, der älteste aus dem Kanton Zürich – aus Schlieren – etwa 100’000 Jahre alt. Es handelt sich um Faustkeile, Werkzeuge der Menschen in der älteren Altsteinzeit (Altpaläolithikum). In beiden Fällen ist über die Fundzusammenhänge nichts Genaueres bekannt, und ebenso wenig kennen wir Feuerstellen oder Spuren von Behausungen dieser Menschen. In der Archäologie wird zwischen den mobilen Funden – zum Beispiel den erwähnten Faustkeilen – und den immobilen Befunden wie etwa Feuerstellen, Pfostenlöchern, Mauern und Gräbern unterschieden. Das Spektrum an möglichen Befunden aus den verschiedenen Epochen von der Altsteinzeit bis an die Schwelle zur Gegenwart ist überaus breit. Es reicht von fest gefügten Mauern bis zu kaum sichtbaren Verfärbungen, die trotz ihres unscheinbaren Aussehens wichtige Aufschlüsse geben können. Bahnbrechend für die archäologische Wissenschaft war die «Entdeckung» des Pfostenlochs, das heisst die Erkenntnis, dass Holzkonstruktionen – etwa von Häusern – auch nach dem Zerfall des Holzes sich noch nach Jahrtausenden im Boden als dunkle (weil humusreichere) Verfärbungen abzeichnen können. «Pfostenlöcher»: die runden Verfärbungen zeugen von Holzpfosten (Ausgrabung mittelalterlicher Siedlungsreste in Oberwinterthur ZH). Kantonsarchäologie Zürich. 20 Einführung © STARCH Bei den Funden interessieren nicht nur die von Menschen gefertigten Gegenstände wie etwa Geschirr aus Keramik, Glas, Metall oder Holz sowie Geräte, Schmuck oder Waffen, sondern auch Tierknochen und Pflanzenreste. Bei ersteren kann es sich beispielsweise um Schlacht- oder Speiseabfälle, bei letzteren um Vorräte oder Fäkalien handeln. Sowohl bei den Befunden wie auch bei den Funden ist die Erhaltung äusserst unterschiedlich. Während Keramik, Stein, Knochen, Glas und Metall in der Regel verhältnismässig gut erhalten bleiben, vergehen organische Materialien in unseren abwechselnd feuchten und trockenen Böden innerhalb von kurzer Zeit vollständig. Unter Luftabschluss und in stets feuchtem Milieu hingegen können Gegenstände aus organischen Materialien (wie Holz oder Textilien) über Jahrtausende erhalten bleiben. Diese Bedingungen sind in den urgeschichtlichen Seeufersiedlungen, den «Pfahlbauten», vorhanden, wo sich deshalb eine grosse Breite der materiellen Kultur erschliesst. Auch stets trockene Verhältnisse ermöglichen die Erhaltung verschiedenster organischer Reste. Diese Bedingungen liegen vor allem in Wüstengebieten (zum Beispiel in Ägypten) vor, selten auch bei uns in Innenräumen, beispielsweise in Kirchen. Schliesslich können chemische Veränderungen wie Verkohlung oder Oxidation organische Materialien überliefern. Befunde und Funde Für weiterführende Deutungen ist die kombinierte Untersuchung von Funden, den mobilen Gegenständen, und Befunden, den immobilen Strukturen, von zentraler Bedeutung. Es gilt deren Zusammenhänge zu klären. Wie wichtig diese sind, zeigen die folgenden zwei Beispiele: ■ Aus dem römischen Gutshof von Dietikon ZH sind die Fundamentreste eines viereckigen Gebäudes mit Umgang (porticus) bekannt. Auf Grund der Architektur kann es als gallorömischer Tempel gedeutet werden. Im Zentrum des Tempels fand sich eine Grube, in der sich ein Pfostenloch abzeichnete. In der Grubenauffüllung lagen zahlreiche Münzen. Diese sind als Weihegaben an jene Gottheit zu interpretieren, deren hölzerne Statue einst im erwähnten Pfostenloch gestanden hatte. Da die Prägezeiten der Münzen bestimmbar sind, wissen wir zudem, dass der Tempel bis ins 4. Jh. hinein aufgesucht wurde. Fundamentreste eines gallorömischen Vierecktempels im Gutshofareal von Dietikon ZH. Das Areal am rechten Bildrand ist noch nicht ausgegraben. Im Zentrum des Vierecks eine mit Steinen überlagerte Grube, in der einst die hölzerne Kultstatue stand. Kantonsarchäologie Zürich. Plan der Überreste des gallorömischen Vierecktempels im Gutshofareal von Dietikon. Kantonsarchäologie Zürich. Rekonstruktion des gallorömischen Vierecktempels von Dietikon. Kantonsarchäologie Zürich. © STARCH Einführung 21 ■ In einem frühmittelalterlichen Männergrab aus der Winterthurer Altstadt ZH fanden sich unter anderem eine Gürtelschnalle und eine Pferdetrense. Da wir auf Grund zahlreicher Grabfunde die Gürtelmode jener Zeit gut kennen, lässt sich das Grab recht genau an den Beginn des 7. Jh. datieren. Während ähnliche Gürtelschnallen aus verschiedenen Gräbern im Kanton Zürich bekannt sind, ist die Tatsache, dass dem Verstorbenen eine Pferdetrense mit ins Grab gegeben wurde, etwas ganz Besonderes. Wie grossräumige Untersuchungen gezeigt haben, kommen Pferdetrensen im 6. und 7. Jh. ausschliesslich in reich ausgestatteten Gräbern einer germanischen Oberschicht vor. Dazu passt der «Befund» in Winterthur, denn der besagte Mann hatte nicht nur eine Pferdetrense für das Jenseits mit ins Grab bekommen, sondern war auch in einer besonders grossen Grabgrube, ja in einer eigentlichen Grabkammer, bestattet worden. Wie reich die weitere Grabausstattung einst gewesen war, wissen wir jedoch nicht. Denn bereits Jahrhunderte, bevor Archäologen das Grab bei einer Rettungsgrabung untersuchten, war es von Grabräubern ausgeplündert worden. Mit den beiden Beispielen aus dem römischen Gutshof von Dietikon ZH und dem frühmittelalterlichen Gräberfeld in der Winterthurer Altstadt wurden bereits verschiedene Methoden der Archäologie angesprochen. In der Arbeit von Archäologinnen und Archäologen ist die Ausgrabung nur ein Schritt unter mehreren: vom Auffinden von beziehungsweise dem gezielten Suchen nach Fundstellen über die Ausgrabung oder Bauuntersuchung und Dokumentation bis hin zur Auswertung, Interpretation und Präsentation. Diese Pferdetrense aus einem Männergrab des 7. Jh. bezeugte den hohen sozialen Stand des Verstorbenen (Fundort Winterthur, Schmidgasse ZH). Kantonsarchäologie Zürich. Prospektion und Inventar Nur ein kleiner Teil der archäologischen Fundstellen ist noch heute im Gelände anhand von Ruinen, Wallgraben-Anlagen oder etwa Grabhügeln zu erkennen, die Mehrzahl ist nicht mehr sichtbar. So führen vor allem Bauarbeiten zur Entdeckung archäologischer Fundstellen. Bei Baggerarbeiten ist indes die Gefahr, dass die Fundstellen unerkannt zerstört werden, sehr gross. Wichtig ist deshalb die archäologische Prospektion, das heisst die gezielte Suche nach Fundstellen. Dabei können verschiedene Methoden, Feldbegehungen, Luftbildarchäologie und geophysikalische Messungen (unter anderem mit Radar oder Magnetik), zum Einsatz kommen. Auch Namen geben wichtige Hinweise: Flurnamen wie «Steinmüri» oder «Heidenkeller» weisen auf römische Gutshöfe, «Leeberen» auf Gräber hin. Siedlungsnamen im Wald oder in offenen Fluren wie zum Beispiel «Waldikon» und «Mullikon» südlich von Adlikon ZH oder «Nuningen» südlich von Oberstammheim ZH zeugen von aufgelassenen mittelalterlichen Siedlungen, so genannten Wüstungen. Für die Arbeit der Kantonsarchäolo- Luftbild eines römischen Gutshofs bei Kloten ZH. Im Bewuchs des Getreidefeldes zeichnen sich Mauern ab. Kantonsarchäologie Zürich. 22 Einführung © STARCH Massstäbliche Zeichnung der Grundmauern einer römischen Räucher- oder Darranlage in Oberwinterthur ZH. Verschiedene Materialien werden mit bestimmten Farben angegeben (blau=Sandstein, orange=Ziegel). gie Zürich ist die Erfassung der archäologischen Fundstellen in einem Inventar von zentraler Bedeutung, denn so können – bei Meldung des Bauvorhabens durch die Gemeinden – vor Aushubarbeiten Sondierungen, gegebenenfalls auch Rettungsgrabungen durchgeführt werden. Kantonsarchäologie Zürich. Ausgrabungen und Bauuntersuchungen Freilegen mittelalterlicher Siedlungsspuren in Niederglatt-Nöschikon ZH. Kantonsarchäologie Zürich. Bei Ausgrabungen und Bauuntersuchungen spielen technische Arbeiten eine wichtige Rolle. Beim Freilegen kommen verschiedene Geräte wie Bagger, Pickel, Schaufel, Maurerkelle, Spachtel und – selten – Pinsel zum Einsatz. Zerbrechliche und schlecht erhaltene Fundgegenstände oder auch komplizierte Befunde wie Gräber mit Beigaben können eingegipst und «en bloc» geborgen und darauf im Labor freigelegt und konserviert werden. Einen zentralen Teil der Ausgrabung und Bauuntersuchung bildet die Dokumentation, die neben Plänen und Fotografien Beschreibungen und Interpretationen beinhaltet. Grundlage für die massstäblichen Flächenund Profilpläne bildet ein Vermessungsnetz, das in die Landeskoordinaten eingebunden ist. Damit können Pläne aus mehreren Grabungsflächen zu einem Gesamtplan zusammengefügt werden, und die Ausgrabung lässt sich auch Jahre später wieder genau im Gelände lokalisieren. Bei einer Ausgrabung geht es keineswegs in erster Linie darum, schöne oder spektakuläre Gegenstände zu finden, Ziel ist es, der Geschichte eines Fundplatzes in all ihren Facetten nachzuspüren, auch den unscheinbaren. Wichtig sind beispielsweise Spuren, die zeigen können, wie ein Gebäude aussah und wofür es genutzt wurde, wann der erste Bau errichtet wurde, wann Reparaturen oder Erweiterungen erfolgten und wann ein Gebäude oder eine ganze Siedlung zerstört oder auch einfach verlassen wurde. Von zentraler Bedeutung ist es, die Abfolge der verschiedenen Befunde, Mauern, Bauhorizonte, Böden, Abbruchschichten oder Zerstö- © STARCH rungsniveaus zu untersuchen und die Fundgegenstände nach diesen Befunden getrennt zu bergen. Vergleichbar mit der Geologie spielt dabei die Stratigraphie, das heisst die Beschreibung der Schichtabfolge, eine wichtige Rolle. Solche Schichtabfolgen entstehen in erster Linie dort, wo über Jahrhunderte hinweg an der gleichen Stelle gesiedelt wurde oder wo natürliche Ablagerungen Siedlungsreste überlagerten. Dabei gilt der Grundsatz, dass die unteren Schichten älter, die oberen jünger sind. Bei der Ausgrabung wird dabei nach Möglichkeit so vorgegangen, dass zuerst die jüngsten, dann fortlaufend ältere Befunde freigelegt werden. So wird gewissermassen die Geschichte eines Fundplatzes im «Rückwärtsgang» nachvollzogen. Die jüngeren Befunde werden dabei in der Regel mit dem Grabungsfortgang zerstört. Von zentraler Bedeutung sind deshalb die Dokumentation und das Bergen von Fundmaterial, allenfalls auch die Entnahme von Proben. Besonders interessant sind Hinweise auf gewerbliche Tätigkeiten, so beispielsweise die Reste von Töpferöfen, Webstühlen oder Schmiedeanlagen. Grosse Aufmerksamkeit gilt auch den Abfällen aller Art. Fehlbrände, Schlacken und Hammerschlag können Anhaltspunkte zur Produktion und zu technologischen Fragen geben. Wichtig ist dabei stets die Frage, wo und in welchem Zusammenhang diese Gegenstände gefunden werden. Tierknochen und Pflanzenreste aus Latrinen geben Hinweise auf die Ernährung. Werden sie hingegen in Gräbern gefunden, belegen sie nicht in erster Linie, was gegessen, sondern was den Verstorbenen für die Reise ins Jenseits mitgegeben wurde. Bei der Ausgrabung sind nicht nur das sorgfältige Freilegen und eine genaue Dokumentation von Bedeutung; ganz entscheidend ist es, im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen. Nur so können die Befunde sowie die Zusammenhänge zwischen Befunden und Funden gezielt untersucht und dokumentiert sowie die richtigen Proben genommen werden. Im Nachhinein ist dies anhand der Dokumentation und der geborgenen Funde nur noch beschränkt möglich. Einführung 23 Profil mit verschiedensten sich überlagernden Böden, Planieschichten usw. aus dem 11. bis 13. Jh. (Winterthur, Marktgasse 9 ZH). Kantonsarchäologie Zürich. Konservierung und Restaurierung von Funden... Nach der Bergung müssen gewisse Funde konserviert und unter speziellen Bedingungen gelagert werden. Besonders heikel sind organische Materialien wie Holz oder Textilien, die sich unter Sauerstoffabschluss in feuchten oder nassen Böden erhalten haben. Bei der Konservierung kommen verschiedene Technologien zum Einsatz. Diese sollen den nach der Fundbergung sofort einsetzenden Zerfall unterbinden oder zumindest aufhalten. Vor allem bei Gegenständen aus Eisen sind die ursprüngliche Form oder Verzierungen wegen der Korrosion oft nicht mehr erkennbar. Erste Anhaltspunkte zum ursprünglichen Aussehen geben Röntgenaufnahmen, je nach Bedeutung werden die Eisenobjekte anschliessend restauriert. Dabei wird unter anderem die ursprüngliche Oberfläche frei- Gürtelgarnitur des 7. Jh. aus Flurlingen ZH. a Foto des Fundzustandes b Röntgenbild des Fundzustandes, erkennbar ist die Verzierung mit im Eisen eingelegten Silberdrähten (so genannte Tauschierung) c Zustand nach der Restaurierung. Kantonsarchäologie Zürich. 24 Einführung © STARCH gelegt, auseinander gebrochene Teile werden geklebt. Um die Korrosion aufzuhalten, müssen die Eisengegenstände darauf noch entsalzt werden. Zusätzliche Ansprüche an die Restaurierung erfordern Gegenstände, die in einer Ausstellung präsentiert werden sollen. ...und Befunden Da Ausgrabungen in der Schweiz heute in der Regel im Rahmen von Notmassnahmen, also vor einem geplanten Bauvorhaben, erfolgen, sind meist keine Möglichkeiten zur Erhaltung und Präsentation des archäologischen Befundes vorhanden. Ausnahmen sind gut erhaltene Mauerreste, bei welchen sich die Möglichkeit einer Präsentation bieten. Beispiele im Kanton Zürich sind die römischen Thermen von Zürich oder archäologische Spuren unter Kirchen beispielsweise in Elgg, Winterthur-Stadtkirche, Oberwinterthur, Meilen und Zell sowie der römische Gutshof von Seeb, der als Freilichtmuseum mit römischem Garten gestaltet ist. Besondere Probleme stellen sich bei der Konservierung dachloser Bauten, meist Burgruinen. Da ihr Mauerwerk nicht mehr vor der Witterung geschützt ist, befinden sie sich in einem instabilen Zustand. Oft besitzen sie einen grossen Identifikationswert für die Bevölkerung und sind beliebte Ausflugsziele. Sicherheit, Anschaulichkeit und Nutzung der Ruine sind bei Konservierungsmassnahmen ebenso zu berücksichtigen wie das erstrangige Ziel einer Erhaltung der originalen Bausubstanz. Auswertung Typologische Entwicklung von Fibeln (Gewandspangen) aus der Latènezeit (jüngere Eisenzeit, etwa 450–15 v. Chr. Jahrringbreite Chronologie. Archäologische Daten der Schweiz. Antiqua 15 (Basel 1986). Nach der Ausgrabung beziehungsweise Bauuntersuchung muss eine Auswertung von Dokumentation und Fundmaterial erfolgen. Nur so können wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und Fragestellungen für weitere Untersuchungen gewonnen werden. Grundfragen sind jene nach der zeitlichen Abfolge und dem Alter der ausgegrabenen Befunde und Funde. Bei der Untersuchung der zeitlichen Abfolge, der «relativen Chronologie», ist das zeitliche Verhältnis der Befunde und Funde zueinander zu untersuchen. Fragen wie «was ist jünger, Zeit Prinzip der dendrochronologischen Datierung. Lernort Pfahlbauten. Materialien für die Projektarbeit mit Schülern (Unteruhldingen 1994), Abb. 28. © STARCH was ist älter» sind zu beantworten. Daraus ergibt sich eine zeitliche Abfolge von Befunden und Funden. Bei den Befunden bieten die Stratigraphie, Befundüberlagerungen und Bauabfolgen eine Grundlage. Bei den Funden gilt es typologische Entwicklungen zu erkennen. Nach der Erarbeitung einer relativen Chronologie stellt sich die Frage nach der «absoluten Chronologie», das heisst der Datierung nach Jahren beziehungsweise Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Zum einen stehen naturwissenschaftliche Datierungsmethoden zur Verfügung, wovon die wichtigsten für die Archäologie die C14-Datierung und die Dendrochronologie sind. Die C14-Analyse lässt sich an allen Materialien, die Kohlenstoff (C) enthalten, besonders an Holz und Holzkohle, anwenden. Die aufgrund des radioaktiven Zerfalls des Kohlenstoffisotops C14 gewonnenen Daten geben Altersangaben im Rahmen eines oder weniger Jahrhunderte. Die Dendrochronologie basiert auf der Tatsache, dass je nach Witterung die Bäume unterschiedlich breite Jahresringe ausbilden. Bei der Untersuchung wird die Breite der Jahrringe gemessen und die daraus gewonnene Kurve in standardisierte Mittelkurven eingefügt. Sind bei einer Probe genügend Jahrringe (rund 30) und die Waldkante vorhanden, lassen sich so auf das Jahr oder gar Halbjahr (Frühjahr/Herbst) genaue Datierungen gewinnen. Für die Eiche ist eine Mittelkurve der Jahrringentwicklung bekannt, die bis weit in die Jungsteinzeit zurückreicht. So lässt sich etwa bei den verschiedenen jungstein- und bronzezeitlichen «Pfahlbau»-Dörfern an den Zürcher Seen eine bisweilen auf das Jahr genaue Bauzeit ermitteln. In den jüngeren Epochen können zum Teil archäologische Befunde mit bestimmten Ereignissen oder Personen in Zusammenhang gebracht werden. Beispiele dafür sind etwa militärische Anlagen der Römer, welche mit Eroberungszügen und Verteidigungsmassnahmen verknüpft werden können. Für einzelne liegen Inschriften vor, so etwa für das unter Kaiser Diocletian im Jahr 294 errichtete Kastell auf dem Kirchhügel in Oberwinterthur ZH. Andere Anlagen können mit den Angaben antiker Autoren in Verbindung gebracht werden. Paradebeispiel eines archäologischen Befundes, der nicht nur auf Grund schriftlicher Quellen genau datiert, sondern sogar mit einer historischen Person verbunden werden kann, ist das Einführung 25 Die Bauinschrift des spätrömischen Kastells von Oberwinterthur aus dem Jahr 294 n. Chr. Kantonsarchäologie Zürich. Rekonstruktion des römischen Gutshofs bei Buchs ZH. Kantonsarchäologie Zürich. CAD-Rekonstruktion von Ettlin & Grando Gmbh, Forch. 26 Einführung Rekonstruktionszeichnung eines frühmittelalterlichen Klappstuhls. A. BURZLER u.a., Das frühmittelalterliche Schleitheim – Siedlung, Gräberfeld und Kirche. Schaffhauser Archäologie 5 (Schaffhausen 2002), Taf. 63. Eisenstäbe wie dieser aus einem Frauengrab des späten 5. Jh. in Flaach ZH dienten als Mittelachsen von Klappstühlen (vgl. Rekonstruktion). Kantonsarchäologie Zürich. © STARCH Grab des fränkischen Königs Childerich, der 482 im belgischen Tournai mit grossem Pomp beigesetzt worden war. Anhand des beigegebenen Siegelrings konnte das Grab bereits bei der Entdeckung 1653 identifiziert werden. Die dem König beigegebenen Münzen bestätigen die Datierung auf Grund schriftlicher Quellen. Münzen sind besonders für die römische Zeit eine wichtige Datierungshilfe, da sich ihre Prägezeit oft auf das Jahr oder doch auf wenige Jahre genau bestimmen lässt. Für das Mittelalter sind neben dendrochronologischen Datierungen historische Quellen, vor allem über Zerstörungen oder Brandereignisse, wichtig. Archäologisch gut fassbar ist beispielsweise ein Stadtbrand von 1313 in der Winterthurer Altstadt, den der Chronist Johannes von Winterthur in seiner Jugendzeit selber miterlebte. Neben der Datierung eines Fundgegenstandes oder eines Befundes stellen sich die Fragen nach dem ursprünglichen Aussehen und der Funktion. Differenzierte Untersuchungen konnten in den letzten Jahren beispielsweise zu römischen Gutshöfen im Kanton Zürich durchgeführt werden. Dabei stand einerseits die Rekonstruktion der Architektur und der Gebäudeausstattung im Vordergrund, andererseits ist auch die Funktion und wirtschaftliche Basis der Anlagen untersucht worden. Die bis zu etwa 15 ha grossen Anlagen waren in verschiedene Bereiche, einen Herrschafts- und einen Wirtschaftsteil, gegliedert. Ersterer konnte sehr repräsentativ, mit Malereien, Mosaiken, Badegebäude und einer Gartenanlage (nachgewiesen in Dietikon ZH), angelegt sein. Im Wirtschaftsteil sind Wohngebäude der im Gutsbetrieb arbeitenden Personen sowie unter anderem Töpferöfen, Schmieden, Viehtränken und Räucheranlagen belegt und geben Hinweise auf die wirtschaftliche Basis der Anlagen. Durch den Vergleich verschiedener Anlagen zeigt sich zudem eine Differenzierung: Während etwa der römische Gutshof von Neftenbach ZH unter anderem auf Viehzucht spezialisiert war, dürfte die Anlage von Dietikon ZH mit den gallorömischen Tempeln auch für das Umland oder für Reisende Funktionen eines lokalen Heiligtums besessen haben. Die Frage nach der Funktion stellt sich indes nicht nur bei Gebäuden und gewerblichen Anlagen, sondern auch bei Gegenständen. Da oft nur Teile der ursprünglichen Objekte erhalten sind, bereitet die Deutung der Funktion nicht selten Kopfzerbrechen. Beispiel dafür sind etwa rund 40 cm lange Eisenstäbe, die in mehreren gut ausgestatteten frühmittelalterlichen Frauengräbern zum Vorschein gekommen sind. Ohne überzeugende Argumente wurden sie als Bratspiesse oder Waagebalken gedeutet, bis schliesslich Holz- und Lederreste zur überzeugenden Interpretation als Achsen von Klappstühlen führten. Damit ist die praktische Funktion in Zusammenhang mit dem ursprünglichen Objekt nun geklärt, es fragt sich aber dennoch, weshalb Klappstühle reichen Frauen mit ins Grab gegeben wurden. Welche Funktion und Bedeutung haben diese Objekte als Grabbeigabe? Auf Grund weiterer Vergleiche stellt sich heraus, dass Klappstühle wie andere spezielle Beigaben den gesellschaftlichen Stand der Verstorbenen im Jenseits deutlich machen sollten. © STARCH Einführung 27 Zu den Aussagemöglichkeiten der Archäologie Anhand der archäologischen Überreste lassen sich in erster Linie längerfristige Entwicklungen, so zum Beispiel Aspekte der Kultur-, Siedlungsund Wirtschaftsgeschichte fassen. Unter Einbezug der Archäobiologie und der Klimageschichte können zudem Rückschlüsse auf die Umweltentwicklung und Umweltnutzung gezogen werden. Bereits für die römische Zeit lassen sich in bestimmten Gebieten Anzeichen einer Übernutzung feststellen, während am Übergang zum Mittelalter eine Reduktion der Ackerflächen zu beobachten ist. Themen der Archäologie sind auch verschiedenste Aspekte der Alltagsgeschichte, vom Wohnen über Kleidung bis hin zur Ernährung. Hier lassen sich Unterschiede feststellen, die auf soziale Gliederungen schliessen lassen. Werkstätten und Produkte erlauben Rückschlüsse auf Handwerk, technologische Entwicklungen, Wirtschaft und Handel. Oft sind allerdings nur Deutungsansätze möglich. So müssen Gegenstände aus entfernten Produktionsorten nicht unbedingt durch Handel zu uns gelangt sein, sondern können auch als Geschenk oder Raubgut mitgebracht worden sein. In Kultbauten wie Kirchen, Synagogen und Tempeln aber auch in Gräbern spiegeln sich Glaubensvorstellungen. Während bei heute noch lebendigen Religionen oder solchen, die durch Schriftquellen überliefert sind, eine nähere Deutung meist möglich ist, zeigen sich besonders in urgeschichtlichen Epochen sehr rasch die Grenzen der Archäologie in Bezug auf geistesgeschichtliche Fragestellungen. Archäologische Fundstellen – ein bedrohtes Archiv Durch Baumassnahmen aller Art, intensive Landwirtschaft und Erosion sind die archäologischen Fundstellen heute stark bedroht. In den meisten Kantonen der Schweiz gibt es deshalb kantonale Dienste, welche die Aufgabe haben, Fundstellen zu schützen oder, wo dies nicht möglich ist, Rettungsgrabungen, Notbergungen und Dokumentationen durchzuführen. Kantonsarchäologien sind damit gewissermassen die Hüterinnen des archäologischen Staatsarchivs im Boden. Im Kanton Zürich besteht die Kantonsarchäologie seit 1958. Neben Rettungsgrabungen hat sie die Aufgabe, ein Inventar aller archäologischen Fundstellen und ein Fundstellenarchiv zu führen sowie die dem Kanton gehörenden Funde zu lagern. Seit der Einführung des eidgenössischen Zivilgesetzbuches 1912 ist die Eigentumsfrage geregelt. Bodenfunde gelangen in den Besitz jenes Kantons, in dem sie gefunden werden. Von grosser Bedeutung für eine erfolgreiche Tätigkeit der Kantonsarchäologie ist ein möglichst vollständiges Inventar Rettungsgrabung am Rand einer Kiesgrube bei Weiach ZH. Kantonsarchäologie Zürich. 28 Einführung Öffentliche Führung auf einer Ausgrabung in Oberwinterthur ZH. Kantonsarchäologie Zürich. © STARCH der archäologischen Fundstellen. Um dieses ergänzen zu können, betreibt sie eine intensive archäologische Prospektion. Klar fassbare Fundstellen werden als archäologische Zonen ausgeschieden. Bauvorhaben auf solchen Verdachtsflächen werden von den Gemeinden im Rahmen des Bewilligungsverfahrens der Kantonsarchäologie angezeigt. So können vor Baubeginn Sondierungen, gegebenenfalls Rettungsgrabungen durchgeführt, in einzelnen Fällen auch Schutzmassnahmen erlassen werden. Neben der «Feldarbeit», der Ausgrabung oder Bauuntersuchung, sind die wissenschaftlichen Auswertungen Bestandteil der archäologischen Untersuchungen. Die Ergebnisse werden in wissenschaftlichen Publikationen vorgelegt. Ein wichtiges Anliegen ist auch die Vermittlung an ein interessiertes Laienpublikum, sei es durch Tage des offenen Bodens, Führungen und Vorträge, temporäre Ausstellungen, populäre Publikationen oder die vorliegenden Schulkoffer. Renata Windler © STARCH MITTELALTER 1 Einleitung Aus dem Mittelalter sind ungleich viel mehr Zeugen erhalten und sichtbar geblieben als aus allen vorangehenden Epochen. Spuren lassen sich noch heute in unseren Städten und Dörfern, seltener auch in der Landschaft entdecken. Fast alle heutigen Siedlungen gehen, sofern sie nicht wie Zürich und Oberwinterthur noch ältere Wurzeln besitzen, in ihren Ursprüngen ins Mittelalter zurück. Das gängige Bild des Mittelalters ist indes ganz wesentlich durch die schriftliche Überlieferung geprägt. Zudem werden wichtige Bauwerke, Kathedralen und Klöster, Burgen und befestigte Städte, mit dem Begriff «Mittelalter» verbunden. Einzelne prägende Persönlichkeiten, von Karl dem Grossen und Richard Löwenherz bis zu Franz von Assisi und der Legendengestalt des Wilhelm Tell, tauchen beim Stichwort «Mittelalter» in unserem Bewusstsein auf. Ein Bild von Belagerungen und Kämpfen von Ritterheeren wird durch verschiedene Computerspiele, die im Mittelalter angesiedelt sind, projiziert. Hier können die meist unspektakulären, aber dennoch aussagekräftigen archäologischen Objekte das Bild des Mittelalters erweitern und verändern. Sie sind meist im Alltag der Leute angesiedelt und decken verschiedene Lebens- und Tätigkeitsbereiche ab. Zeitlich ist die Auswahl der vorliegenden Objekte auf das Hoch- und Spätmittelalter beschränkt, vereinfacht gesagt auf die Zeit der Burgen, des Aufblühens der Städte, von Handwerk und Handel sowie auf die Krisenzeit des Spätmittelalters, die Zeit des Umbruchs kurz vor der Reformation und den Übergang zur frühen Neuzeit. Es kann und soll damit kein allgemeiner Überblick über die Geschichte des Mittelalters vermittelt werden. Dazu stehen verschiedene Übersichtswerke, für den Kanton Zürich namentlich die Zürcher Kantonsgeschichte, zur Verfügung (vgl. das Literaturverzeichnis). Die Gegenstände geben in erster Linie Einblick in den Bereich der Archäologie, die Objektbeschreibungen zeigen aber verschiedenste Verbindungen zu anderen Quellengruppen auf, die zur Erforschung des Mittelalters einbezogen werden. Denn waren es für die vorangehenden Epochen nur oder doch fast ausschliesslich archäologische Überreste im Boden, so besitzen wir aus dem Mittelalter auch zahlreiche schriftliche Quellen (beispielsweise Urkunden, Verwaltungsakten, Chroniken, literarische Werke) sowie Gebäude und bildliche Darstellungen. Unsere Kenntnisse über das Mittelalter sind deshalb viel breiter als jene über die vorangehenden Epochen. Allerdings sind diese Informationsquellen zeitlich sehr ungleich über die rund 1000 Jahre Mittelalter verteilt. Schriftliche Quellen Die schriftlichen Quellen werden erst im Laufe des 13. Jh., vor allem aber im 14. und 15. Jh. zahlreich, decken also im Wesentlichen das Spätmittelalter ab. Während im Früh- und Hochmittelalter der Schriftgebrauch fast ausschliesslich auf den kirchlichen Bereich konzentriert war und Einleitung 1 2 Einleitung © STARCH die Schreiber auch für weltliche Geschäfte meist aus dem kirchlichen Umfeld stammten, entwickelte sich im Spätmittelalter eine in viel stärkerem Masse als zuvor verschriftlichte Kultur. Dies betraf besonders alle Arten von Rechtsgeschäften und die Verwaltung namentlich der Städte. Auch die Zahl der Chroniken und literarischen Werke nimmt im Laufe des 14. und 15. Jh. sehr stark zu. Lesen und Schreiben, die schriftliche Kommunikation, hatte in der Gesellschaft einen viel höheren Stellenwert gewonnen (vgl. das Thema Bildung und Wissenschaft). Allerdings waren daran nach wie vor nur bestimmte Gruppen der Gesellschaft beteiligt, was auch das Bild, das durch diese Schriftzeugnisse vermittelt wird, prägt. Bildquellen Noch viel stärker als die Schriftquellen betreffen die bildlichen Darstellungen aus dem Früh- und Hochmittelalter den kirchlich-religiösen, erst im Spätmittelalter vermehrt auch den weltlichen Bereich. Bilder sollten in erster Linie eine bestimmte Botschaft vermitteln, sie dienten der Selbstbestätigung durch Symbole. Eine im modernen Sinne dokumentarische Darstellung war dem Mittelalter hingegen fremd. Dies müssen wir uns stets vor Augen halten, wenn wir mittelalterliche Bilder wie etwa jene in der Manessischen Liederhandschrift betrachten. Dort sollte ein (idealisiertes) Bild der ritterlich-höfischen Lebenswelt in Form einer Selbstdarstellung vorgeführt werden. Mittelalterliche Bauten und archäologische Überreste Im Gegensatz zur Urgeschichte und – auf dem Gebiet der Schweiz – weitgehend auch zur römischen Archäologie sind die archäologischen Überreste des Mittelalters nicht nur im Boden, sondern auch in zahlreichen Gebäuden erhalten und als Ruinen auch ohne Ausgrabung sichtbar. So kann denn eine archäologische Untersuchung ebenso Bauforschung wie Ausgrabung beinhalten, neben dem Grundriss kann auch die dritte Dimension, die Konstruktion im Aufgehenden, untersucht werden. Neben der Erforschung von Kirchen, Häusern und Burgen spielt wie in den vorangehenden Epochen auch in der Mittelalterarchäologie die Untersuchung von Gräbern und ihres vielfältigen Fundmaterials eine wichtige Rolle. Während die schriftlichen Dokumente aus dem Mittelalter von wenigen Ausnahmen abgesehen wohlbehütet in den Archiven aufbewahrt werden, ist der Bestand an mittelalterlichen Bauten bzw. Bauteilen wie auch an archäologischen Überresten im Boden gefährdet. Am wenigsten gilt dies für Kirchen und Klöster sowie Burgen, deren Schutzwürdigkeit in der Regel heute nicht mehr bestritten wird. Bedroht sind die unscheinbareren, deswegen aber nicht von vorneherein weniger interessanten Bauten und Bauteile sowie die ohne Freilegung nicht sichtbaren archäologischen Spuren. In grösseren Städten, vor allem in Zürich, aber auch in Winterthur und in der Stadt Rheinau ZH, sind Gebäudeteile, die ins ausgehende Mittelalter zurückgehen, gar nicht so selten. Meist sind es gemauerte Teile von Häusern, die die Jahrhunderte überdauert haben. Vor allem Brandmauern alter Altstadthäuser gehen häufig ins Spätmittelalter (13.–15. Jh.) zurück, während die Fassaden fast immer bei Renovationen © STARCH später ersetzt wurden. Selten sind mittelalterliche Dachstühle oder Teile der Innenausstattung eines Hauses – etwa mit Wandmalereien – erhalten. Solche mittelalterlichen Bauteile kommen oft erst bei Umbauten zum Vorschein. Diese bedeuten leider gleichzeitig oft einen Verlust an mittelalterlicher Bausubstanz, vor allem wenn neue und andersartige, einem Gebäude nicht angepasste Nutzungen realisiert werden sollen. In den Dörfern ist, abgesehen von den Kirchen, mittelalterliche Bausubstanz bedeutend seltener als in den Städten. Die ältesten im Kanton Zürich erhaltenen Bauernhäuser gehen ins 1. Viertel des 15. Jh., einzelne Bauteile auch noch weiter zurück. Die Schweiz ist im europäischen Vergleich besonders reich an frühen ländlichen Holzhäusern. In der Innerschweiz gibt es, wie sich dank Bauuntersuchung und Dendrochronologie erst in den letzten 10 Jahren gezeigt hat, sogar noch einzelne bis ins 12. Jh. zurückgehende Holzhäuser. Trotz der grossen historischen Bedeutung ist die Erhaltung hoch- und spätmittelalterlicher Bauernhäuser aber keineswegs selbstverständlich, sondern im Gegenteil praktisch in jedem Fall gefährdet. Verschiedene Quellen – verschiedene Aussagen Je nach Quellenart – Schriftquelle, archäologischer Befund oder Fund, bildliche Darstellung – sind die Aussagemöglichkeiten sehr unterschiedlich, und je nach Themenbereich, Fragestellung und Zeitabschnitt innerhalb des Mittelalters besitzen die verschiedenen Quellengattungen einen anderen Stellenwert. Mit der Archäologie lassen sich vor allem längerfristige, allmähliche, meist nicht personifizierte Entwicklungen in verschiedensten Bereichen der materiellen Kultur verfolgen. Eine Stärke ist zweifellos die Anschaulichkeit: Die Befunde (Mauern, Gruben, Gräber) und die vielfältigen Funde sind handgreiflich. Während aus den schriftlichen Quellen bekannte oder auch unbekannte Personen unmittelbar zu uns sprechen, legen die archäologischen Befunde und Funde ein indirektes Zeugnis ab; sie wurden meist nicht absichtlich hinterlassen. Man spricht deshalb häufig von archäologischen Überresten, seien es nun Siedlungsabfälle (wie Keramikscherben, Tierknochen usw.), Reste von Bestattungen (Skelette, z.T. mit Beigaben) oder Ruinen bzw. Verfärbungen von Holzbauten (Balkengräbchen, Pfostenlöcher). Mit Hilfe der Mittelalterarchäologie können verschiedenste Fragen der Siedlungs-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte untersucht werden. Wichtige Themen sind z. B. die Entstehung und Entwicklung von Städten und Dörfern, Bau und Funktionen von Burgen, Veränderungen im Hausbau und in der Wohnkultur, Entstehung sowie Entwicklung von Architektur und Funktionen von Kirchen, Bestattungsbräuche, aber auch technische Innovationen im Handwerk usw. Mittelalterarchäologie im Kanton Zürich Wie die ur- und frühgeschichtliche Archäologie geht auch die Archäologie des Mittelalters auf das 19. Jh. zurück. Sie erfuhr jedoch in den vergangenen rund 40 Jahren einen grossen Aufschwung. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren wurden bei Renovationen zahlreiche Kirchen ausgegraben. Im Laufe der 1970er Jahre – z.T. auch etwas früher – gerieten die Städte ins Zentrum des Interesses. Bei Neubauten, Restaurierungen, Einleitung 3 4 Einleitung © STARCH Platzgestaltungen und Werkleitungsbauten wurden zahlreiche Rettungsgrabungen, Bauuntersuchungen und Beobachtungen durchgeführt. Die Burgenarchäologie kam in dieser Zeit zwar umfangmässig ins Hintertreffen, wurde nun aber vom Stand lokaler Heimatforschung auf ein wissenschaftliches Niveau gehoben. Den Dörfern und allgemein den ländlichen Siedlungen hingegen wurde lange Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in den letzten 10 Jahren sind auch in der Schweiz vermehrt Untersuchungen auf diesem Gebiet durchgeführt worden. Doch bis heute wissen wir aus der Archäologie bedeutend mehr über die Entwicklung von Städten und Burgen als über jene von Dörfern. Folgende Beispiele aus dem Kanton Zürich sollen in knapper Form einen Einblick in Aussagemöglichkeiten der Mittelalterarchäologie – oft in Verbindung mit schriftlichen, z.T. auch bildlichen Quellen – vermitteln. Einige Themenbereiche werden dabei in den einführenden Thementexten und Objektbeschreibungen wieder aufgenommen. Beispiel 1: Frühmittelalterliches Zürich – Aufstieg eines Herrschaftszentrums Der Lindenhof in Zürich aus der Vogelperspektive. Kantonsarchäologie Zürich. Wie erst jüngst archäologische Untersuchungen gezeigt haben, war Zürich bereits in der späten La-Tène-Zeit (ab etwa 60–40 v. Chr.) eine befestigte, damals noch keltische Siedlung. In römischer Zeit bildete es als kleinstädtische Siedlung (vicus) und Zollstation das wirtschaftliche Zentrum der Region. Massgebend für die Bedeutung von Zürich war seine hervorragende verkehrsgeographische Lage. Zentrum der Siedlung war von spätkeltischer Zeit bis ins Hochmittelalter der Lindenhof, der als Endmoränenhügel den Seeausgang beherrscht. Das dort in spätrömischer Zeit errichtete Kastell bildete den Kern des frühmittelalterlichen Herrschaftszentrums. Reparaturen belegen eine länger dauernde Nutzung. Zur Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter (etwa 5.–7. Jh.) geben vor allem verschiedene Bestattungsplätze Auskunft. Ein Gräberfeld lag an der Strasse Richtung Baden AG, westlich des Stauffacher-Platzes. Neben Gräbern der einheimischen, noch römisch geprägten Bevölkerung wurden dort um die Mitte des 6. Jh. einzelne Fränkinnen und Franken bestattet. Diese fremde Herkunft ist an Tracht und Waffenausrüstung zu erkennen. Nachdem um 536/37 Zürich wie auch die Nordostschweiz unter die Herrschaft des fränkischen Merowingerreiches gelangt war, kamen diese fränkischen Gruppen hierher, um die neu erlangte Herrschaft zu sichern und durchzusetzen. Dazu liessen sich Amtsträger des fränkischen Mero- © STARCH wingerreichs bei den bestehenden Zentren, namentlich den spätrömischen Kastellorten wie Zürich und Oberwinterthur, nieder. Am Südabhang des Hügels bei St. Peter hingegen bestatteten noch im 7. Jh. die Nachkommen der einheimischen, römischen Bevölkerung. Im 7. oder 8. Jh. ist auch an der Stelle von St. Peter eine erste Kirche errichtet worden. Dort bildete sich ein Siedlungsteil, der in schriftlichen Quellen als curtis, Herrenhof, bezeichnet wird. Ein weiterer Siedlungsteil ist auf Grund einer anderen Gräbergruppe um 700 rechts der Limmat, im Bereich Neumarkt, zu lokalisieren. Zentrum der Siedlung war aber weiterhin der Lindenhof, was auch ein im 8.–10. Jh. angelegter Befestigungsgraben (Rennweg – Fortunagasse) zeigt. Umfangreiche Neubauten in karolingischer und ottonischer Zeit (800–1000) belegen die Entwicklung zur Pfalz, dem temporären Aufenthaltsort von Kaisern und Königen. Auch in kirchlichen Belangen erlebte Zürich in jener Zeit einen gewaltigen Aufschwung. Nach dem Bau des Grossmünsterstiftes an der Stelle der legendären Gräber von St. Felix und Regula wurde im Jahr 853 durch König Ludwig den Deutschen das Fraumünsterstift gegründet und im 10. Jh. entstand die Wasserkirche an der Stelle des Martyriums der Stadtheiligen, woraus sich eine Wallfahrt entwickelte, die der werdenden Stadt weiteren Auftrieb verlieh. Einleitung 5 Feintopographie von Zürich mit den frühen Kirchen Grossmünster, Fraumünster, St. Peter, Wasserkirche und der nicht mehr bestehenden Kirche St. Stefan beim heutigen Annahof. Zudem ist der Standort des Lindenhofs eingetragen. Zeichnung Amt für Städtebau der Stadt Zürich/ Archäologie, Urs Jäggin. Beispiel 2: Gesellschaftliche Veränderungen im Spiegel frühmittelalterlicher Gräber Ein standesgemässes Begräbnis war im Mittelalter von grosser Bedeutung. So lassen sich auf Grund von Bestattungsbräuchen auch Rückschlüsse auf gesellschaftliche Strukturen und deren Veränderungen gewinnen. Beispiel dafür sind Entwicklungen, die sich an den frühmittelalterlichen Bestattungsplätzen in Bülach ZH beobachten lassen. In Bülach ist einerseits ein nordöstlich des Zentrums gelegenes Gräberfeld des 6. und 7. Jh. bekannt, andererseits wurde ab der Mitte des 7. Jh. auch in bzw. bei der Kirche bestattet. Im 6. und 7. Jh. war es üblich, die Verstorbenen für das Jenseits mit Beigaben auszustatten: Die meisten Toten wurden in ihrer Tracht, die Männer oft zusätzlich mit Waffen ausgerüstet, begraben. Zum Teil wurden weitere Beigaben wie Geschirr mit ins Grab gegeben. Anhand dieser Beigaben lassen sich klare Abstufungen in der Qualität der Grabausstattungen feststellen, die soziale Strukturen widerspiegeln. Interessant ist nun die Beobachtung, dass im Gräberfeld von Bülach einige sehr reiche Gräber des 6. Jh. belegt sind. Hier hatten sich offensichtlich Angehörige der Siedlungstopographie von Bülach. 1–3 römische Siedlungsstellen; 4 Gräberfeld des 6./7. Jh.; 5 Grab der Mitte oder des 3. Drittels des 7. Jh.; 6 Kirche mit Gründergrab des mittleren 7. Jh.; Ortsname eingerahmt: Ausstellungsort einer Urkunde vor dem Jahr 1000. Kantonsarchäologie Zürich. 6 Einleitung Die Kirche von Bülach ZH lässt sich durch das darin angelegte Grab einer hochgestellten Dame seit dem mittleren 7. Jh. nachweisen. Schweizerisches Landesmuseum. Bei der auf dem Üetliberg-Uto Kulm ZH gefundenen Mörtelscheibe handelt es sich um ein frühmittelalterliches Mörtelmischwerk. Zu erkennen sind die Rechenspuren und die Lage eines zentralen Pfostens. Kantonsarchäologie Zürich. Rekonstruktion eines Mörtelmischwerks. D. GUTSCHER, Mechanische Mörtelmischer. Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 38, 1981, S. 186, Abb. 19. © STARCH Oberschicht bestatten lassen. Daneben finden sich aber auch in grösserer Zahl einfach ausgestattete Gräber des 6. Jh. Anders ist das Bild im 7. Jh. Nun sind keine reich ausgestatteten Gräber mehr vorhanden. Die lokale Oberschicht liess sich nun, wie ein reiches Frauengrab der Mitte des 7. Jh. zeigt, getrennt von der gewöhnlichen Bevölkerung in der wohl kurz zuvor errichteten Kirche bestatten. Ab dem 8. Jh. war der Friedhof bei, aber nicht in der Kirche dann auch für die breite Bevölkerung der übliche Bestattungsort. In der Wahl des Bestattungsplatzes zeigt sich damit im 7. Jh. eine Separierung der Oberschicht. Der Fall in Bülach ist dabei keineswegs ein Einzelfall. Im Gegenteil, dies ist geradezu ein zeittypisches Phänomen, dessen Ursache in einer verstärkten Abgrenzung der sozialen Oberschicht von der breiten Bevölkerung zu suchen ist. Beispiel 3: Ein Bauvorhaben des Königs Rudolf von Hochburgund auf dem Üetliberg? Seit der Jungsteinzeit wurde der Üetliberg immer wieder begangen und besiedelt. Neben Überresten aus den urgeschichtlichen Epochen, der römischen Zeit, dem Hochmittelalter und der Neuzeit wurden bei den Ausgrabungen von 1985/86 auf dem Uto-Kulm auch Spuren aus dem 10. Jh. entdeckt: drei Mörtelmischwerke, ein Reitersporn und eine Silbermünze. Die drei Anlagen zum Mörtelmischen zeigen, dass damals auf dem Üetliberg ein grosses Bauvorhaben im Gang war, denn vergleichbare Mörtelmischwerke finden sich andernorts bei bedeutenden Bau- © STARCH Einleitung 7 werken. Interessanterweise sind auf dem Üetliberg aber kaum Mauern aus dieser Zeit vorhanden. Es ist deshalb anzunehmen, dass das Projekt nicht über erste Arbeiten hinauskam, also nie fertig gestellt wurde. Die erwähnte Münze dürfte Aufschluss über den Bauherrn geben. Es handelt sich um einen in Zürich geprägten Pfennig des Königs Rudolf von Hochburgund. Nur über kurze Zeit konnte dieser – kurz nach 914 – seine Herrschaft in das Gebiet der schwäbischen Herzöge bis in den Raum Zürich ausdehnen. Bereits 919 wurde sein Heer in einer Schlacht bei Winterthur ZH geschlagen. Die Münze vom Üetliberg und ein in Zürich gefundener Bleiabschlag mit einem Münzbild (vielleicht ein Gewicht) sind die einzigen unmittelbaren Zeugnisse seiner Herrschaft in Zürich. Die Münze und die Mörtelmischwerke weisen nun darauf hin, dass König Rudolf von Hochburgund auf dem Üetliberg eine Burg errichten wollte, diese aber während seiner kurzen Herrschaft über das Zürcher Gebiet nicht fertig stellen konnte. Beispiel 4: Burgen – Herrschaftszentren und Keimzellen des Landesausbaus Burgen spielten im Hochmittelalter als Herrschaftszentren eine wichtige Rolle. Je nach Besitzerfamilie konnten Grösse und Ausstattung einer Anlage ganz unterschiedlich sein. Prominente Beispiele wichtiger Anlagen im Kanton Zürich sind die Burgruine Alt-Regensberg sowie Mörsburg und Kyburg. Der mächtige Wohnturm auf der Mörsburg wurde im 13. Jh. an der Aussenseite mit grossen Findlingen ummantelt. Etwa aus der gleichen Zeit stammt der in Bossenquadern gefügte Bergfried der Kyburg. Bauherren waren in beiden Fällen die Grafen von Kyburg, die bis zu ihrem Aussterben 1264 in der Nordschweiz eine wichtige Rolle gespielt hatten. In beiden Bauwerken wird die Macht der Besitzer, aber auch deren Bedürfnis nach Repräsentation sichtbar. Der fortifikatorische Aspekt spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Aber auch kleine Burganlagen, die wie z.B. die heute zerstörte Burg Bonstetten lediglich aus einem von einem Graben umgebenen Wohnturm bestanden, hoben sich deutlich vom Gehöft einer gewöhnlichen Bauernfamilie ab. Archäologische Funde, darunter eine elfenbeinerne Schachfigur, belegen einen adeligen Lebensstil. Für den Alltag und die wirtschaftliche Existenz der Burgbewohnerinnen und -bewohner spielte allerdings der Wirtschaftsbetrieb eine entscheidende Rolle. Von der landwirtschaftlichen Tätigkeit zeugen z.B. Sicheln und Rebmesser, die regelmässig bei Burgengrabungen zum Vorschein kommen. Viele Burgen wurden auf neu gerodetem Land errichtet. Charakteristisches Bei- Silbermünze des Königs Rudolf II. von Hochburgund, gefunden auf dem Üetliberg-Uto Kulm ZH. Kantonsarchäologie Zürich. Die Burg Schauenberg bei Hofstetten ZH wurde durch österreichische Amtsleute zusammen mit Bürgern von Zürich und Winterthur vor 1344 zerstört. Diese Zerstörung ist sowohl aus der schriftlichen Überlieferung als auch aus der archäologischen Untersuchung eindeutig belegt. Kantonsarchäologie Zürich. 8 Einleitung © STARCH spiel einer kleinen Rodungsburg ist die Burg Schauenberg bei Hofstetten, die im 13. Jh. auf einer abgelegenen Anhöhe auf fast 900 m über Meer erbaut wurde. Beispiel 5: Winterthur – der Wandel zur Stadt Im brandzerstörten Nebengebäude der Mörsburg ZH haben sich neben Vorräten aus der landwirtschaftlichen Produktion auch Sicheln erhalten. Kantonsarchäologie Zürich. Rekonstruktion der Siedlung Winterthur um 1100. Ab dem 11. Jh. wurden längs der heutigen Marktgasse rechtwinklig dazu ausgerichtete Häuser gebaut. Kantonsarchäologie Zürich. Die Rekonstruktion der Siedlung Winterthur um 1200 zeigt die Befestigung der Kernstadt, die neu angelegten Gassenzüge und den Stadtbach. Kantonsarchäologie Zürich. Im Jahr 1180 lässt sich die Siedlung in der heutigen Altstadt von Winterthur zum ersten Mal mit Sicherheit in einer Urkunde fassen. Die schriftlichen Quellen des 13. Jh. zeugen von der Entwicklung zur Stadt. Die vorangehende, bis ins 6. Jh. zurückreichende Entwicklung kann auf Grund der archäologischen Überreste verfolgt werden. In der Zeit um 1000 richtete sich ein Adelsgeschlecht in der Kirche im Zentrum der Siedlung, der heutigen Stadtkirche, eine Begräbnisstätte ein (vgl. das Thema Religion und Glaube). Das erste Gotteshaus war bereits im 7. oder 8. Jh. errichtet worden. Nach einem ersten Neubau im 9./10. Jh. entstand im 11. Jh. eine grosse romanische Kirche mit einem Anbau für die Adelsgrablege. In der gleichen Zeit erlebte auch die Siedlung einen Aufschwung. Entlang der heutigen Marktgasse entstand eine regelmässige Bebauung. Importgüter wie Hering und damals noch seltene und entsprechend kostbare Trinkgläser gelangten nach Winterthur, wo vermutlich bereits damals regelmässig ein Markt abgehalten wurde. Ein weiterer Ausbau, ja eine eigentliche Umstrukturierung der Siedlung erfolgte in der Zeit um 1200. Winterthur wandelte sich zur Stadt. Der Kern der Siedlung mit der Kirche im Zentrum wurde nun befestigt, der Aushub aus den Gräben grossflächig planiert, Gassenzüge wurden neu ausgeschieden und gleichzeitig Stadtbäche angelegt. Noch im 13. Jh. erhielt Winterthur auch eine Trinkwasserversorgung. Über hölzerne Wasserleitungen wurden Brunnen mit Quellwasser gespiesen. In der gleichen Zeit entstanden mehrere Steinhäuser, die Kirche wurde zur städtischen Pfarrkirche umgebaut. Mit all diesen Baumassnahmen hatte sich innerhalb eines Zeitraums von nur 50 bis 100 Jahren Winterthur radikal verändert. Beispiel 6: Werkstätten eines gefragten Handelsgutes Der Bodenseeraum ist seit dem 12. Jh. als bedeutendes Produktionsgebiet von Leinenstoffen bekannt. Zahlreiche schriftliche Quellen geben Auskunft über den Handel, der weit über die engere Region bis in den Nordsee- und in den Mittelmeerraum eine wichtige Rolle spielte. Schriftlich fixierte Vorschriften sollten die Qualität der Produkte garantieren. Die schriftlichen Quellen geben z.B. auch Auskunft über Zölle oder über Perso- © STARCH nen, die in der Leinwandproduktion und im -handel tätig waren. Einen anderen Aspekt dieses Handwerkszweigs kann die Archäologie beleuchten. In der Altstadt von Winterthur konnten mehrere Webkeller aus dem 13. und 14. Jh. untersucht werden (vgl. Objekt 27). Wie Spuren von Webstühlen belegen, standen in den Kellern auf engem Raum bis zu vier Webstühle. Neben feinem Leinengewebe wurde hier auch Hanftuch gewoben. Bei den Webstühlen handelt es sich um Trittwebstühle, die ab dem 11./12. Jh. bei uns den Gewichtswebstuhl (vgl. Objekt 26) verdrängten. Mit dem Trittwebstuhl konnte viel schneller gewoben werden. Erst dies dürfte den Aufschwung der Leinwandproduktion zur «Exportindustrie» überhaupt ermöglicht haben. Renata Windler Einleitung 9 Unter der Obergasse in Winterthur kamen die mit Rutengeflecht gesicherte Böschung des Stadtbachs und im Hintergrund eine hölzerne Wasserleitung aus dem 13. Jh. zum Vorschein. Kantonsarchäologie Zürich. Weiterführende Literatur H. BOXLER, J. MÜLLER, Burgenland Schweiz. Bau und Alltag (Solothurn 1990). Burgenkarte der Schweiz, Blatt 2: Nordostschweiz (Wabern 1978), eine Neuauflage erscheint 2005/2006. N. U. M. FLÜELER, Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch – Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992). N. U. M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1: Frühzeit bis Spätmittelalter (Zürich 1995). A. FURGER, C. JÄGGI, M. MARTIN, R. WINDLER, Die Schweiz zwischen Antike und Mittelalter (Zürich 1996). Geschichte der Schweiz und der Schweizer (Basel/Frankfurt am Main 1986). M. GRAF u.a., Hintergrund – Untergrund. Archäologische Entdeckungsreise durch Winterthur. Neujahrsblatt der Stadtbibliothek 331, 2001 (Zürich 2000). M. ILLI, Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt (Zürich 1992). Lexikon des Mittelalters, Bde. 1–9 (München 1980–1998). R. MARTI, L. STEINER, R. WINDLER (Hg.), Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter, Band 6: Frühmittelalter (5.–8. Jahrhundert), erscheint 2005 in der Reihe «Antiqua». W. MEYER, E. WIDMER, Das grosse Burgenbuch der Schweiz (Zürich 19782). J. TAUBER, F. HARTMANN, Fundort Schweiz. Von den Karolingern bis zur grossen Pest (Solothurn 1988). L. VISCHER, L. SCHENKER, R. DELLSPERGER (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte (Freiburg i.Ü./Basel 1994). © STARCH 2 Thema: Gesellschaft und Alltag 11 Gesellschaft und Alltag Die mittelalterliche Gesellschaft Grundsätzlich war das Mittelalter durch eine ländliche Gesellschaft geprägt. Der allergrösste Bevölkerungsteil lebte von den selber erwirtschafteten Bodenerträgen. Im frühen Mittelalter beruhte das Gesellschaftsmodell auf der Unterscheidung zwischen Freien und Unfreien sowie Geistlichen und Weltlichen. Erst im Hochmittelalter (ab 11. Jh.) tauchte die Dreigliederung in Betende (geistlicher Stand), Kämpfende (Adel und Ritter) und Arbeitende (Bauern und Handwerker) auf. Es ist allerdings sehr umstritten, wie stark der Wirklichkeitsbezug dieses Modells tatsächlich war, denn es gab abweichende Gesellschaftsgliederungen und – wenn auch in Ausnahmefällen – eine soziale Mobilität zwischen den Ständen. Innerhalb dieser drei Stände wurden dann insbesondere im Spätmittelalter weitere Untergliederungen getroffen: z.B. die «Kämpfenden» in Hochadel und Dienstadel oder die «Arbeitenden» in eine Vielzahl von in sich wiederum hierarchisch geordneten Handwerkern. Die Familie war die Grundgemeinschaft der durchwegs patriarchalisch geordneten Gesellschaft. Jeder Mensch war Teil einer Gruppe oder Familie und kein Individuum im modernen Sinn. Die Familie war auch Modell für grössere, nicht verwandtschaftlich begründete Gemeinschaften wie Königsherrschaft, Grundherrschaft oder Klostergemeinschaft (Mönchskonvent), an deren Spitze der König, Graf oder Abt wie ein pater familias stand. Sogar die ganze Menschheit wurde als Familie mit Gott als Vater angesehen. Zur kleinsten Familieneinheit gehörten nach mittelalterlichem Verständnis alle in einem Haus lebenden Personen (inkl. Gesinde, Gesellen). Bereits im Wochenbett führten mangelnde Hygiene und schlechte medizinische Kenntnisse zu Krankheit und Tod. Mütter- und Kindersterblichkeit waren im Mittelalter sehr hoch (vgl. das Thema Religion und Glaube). Dies führte zu «Patchwork-Familien», wo der Mann mit Frau und Kindern aus mehreren Ehen zusammenlebte. Kinder hinterlassen in archäologischen Quellen selten Spuren. Spielsachen, meist in Form von Tonfiguren, erlauben einen Einblick in die Die Gliederung der mittelalterlichen Gesellschaft nach Ständen: links oben die Geistlichen, rechts oben der Adel und unten das arbeitende Volk. Nach einem Holzschnitt aus dem 15. Jh. N. FLÜELER, M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 408. 12 Thema: Gesellschaft und Alltag © STARCH Kinderwelt. Sowohl auf dem Land wie in der Stadt mussten die Kinder bei der täglichen Arbeit mithelfen, zur Schule gingen die wenigsten. Mit der Rolle als Mutter und Hausfrau waren die Frauen sehr früh konfrontiert, denn sie heirateten bereits mit rund 15 Jahren. Frauen waren generell im Gewerbe oder in der Landwirtschaft tätig. Der Tagesablauf der Menschen im Mittelalter Objekte 22, 23 Monatsbilder auf dem Wandgemälde im «Haus zum langen Keller» in Zürich, Rindermarkt 26, Datierung 1320/30. Links oben ist eine offene Herdstelle zum Kochen und Fleischräuchern dargestellt, die in den Wintermonaten (1. Bild: Januar) eine beliebte Wärme- und Lichtquelle war. Als bäuerliche Tätigkeiten sehen wir Schneiden der Bäume (2. Bild: Februar), Aussähen der Sommersaat (3. Bild: März), Überprüfen des Wachstums (6. Bild: Juni), Kornernte (7./8. Bild: Juli/August), Weinernte (9. Bild: September), Schlachten von Schweinen und Rindern (10./11. Bild: Oktober/November). Schliesslich wärmt sich im Dezemberbild ein Mann an einem Kachelofen. N. FLÜELER, M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 291. Spätmittelalterliche Anhänger, Zierbleche von Kleidungsstücken und Nestelspitzen (Blechhülsen). Diese Metallgegenstände gingen bei Kirchenbesuchen in der Winterthurer Stadtkirche verloren. Kantonsarchäologie Zürich. Im Mittelalter richteten sich die Menschen nach der Natur, der Tag begann mit dem Sonnenaufgang und endete mit dem Sonnenuntergang. Die bäuerliche Tätigkeit war durch den natürlichen Wechsel von Tag und Nacht und der Jahreszeit bestimmt. Die Arbeitszeit war von der Dauer der Helligkeit abhängig; Kerzen und Talglämpchen waren wenig effizient. Gearbeitet wurde an sechs Tagen, lediglich der Sonntag und religiöse Feiertage sowie Feste waren frei. Wichtige Tätigkeiten des mittelalterlichen Menschen sind in den Monatsbildern auf dem Zürcher Wandgemälde im Haus «Zum langen Keller» dargestellt (vgl. Abb.). Die alltägliche Hauptsorge der (meisten) Menschen im Mittelalter war, überhaupt genügend zu essen zu bekommen. Bauern mussten zudem viele Nahrungsmittel ihrer Herrschaft abliefern. Die Kleidung Objekte: 24–28 Neben der monatlichen Tätigkeit zeigt uns das Zürcher Monatsbild, wie die mittelalterlichen Menschen gekleidet waren. Sowohl bei Frauen wie bei Männern waren Röcke üblich. Im archäologischen Fundmaterial sind Trachtbestandteile aus nicht vergänglichem Material überliefert, z. B. Gürtelschnallen, Fibeln und winzige Funde wie Zierbleche, Stecknadeln sowie Nestelspitzen (Blechhülsen) aus Metall, mit denen die Enden von Schnüren oder Bändern verstärkt waren (vgl. Abb.). Zur frühmittelalterlichen Kleidung geben Grabfunde aus dem 6. und 7. Jh. Auskunft. Damals wurden die Verstorbenen noch in ihrer Tracht begraben. Männern wurde teilweise die Waffenausrüstung mit ins Grab gegeben. In Gräbern des 6. und 7. Jh. werden deshalb oft Gürtelschnallen, Schwerter, Lanzen- und Pfeilspitzen sowie Schmuck gefunden (vgl. das Thema Religion und Glaube). Mittelalterliche Kleider sind wegen der schlechten Erhaltungsbedingungen im archäologischen Material nur sehr selten überliefert, dafür geben uns Darstellungen von mittelalterlichen Menschen © STARCH sowohl in der Malerei, Bildhauerkunst oder Buchmalerei wie auch auf Ofenkacheln oder in Form von Tonfiguren eine Vorstellung der damaligen Kleidung (vgl. auch die Textilherstellung bei den Objekten 24–27). Die Kleidung war abhängig von der Mode und von der sozialen Stellung des Trägers oder der Trägerin. Farben, Stoffe und Schnitt der Kleider sind je nach sozialer Stellung unterschiedlich. So wurden Rot und Blau oder Grün vorwiegend vom Adel getragen, mit dunkel, oft braun gefärbten Kleidern waren geistliche Personen aber auch Diener gekleidet. Darstellungen auf Ofenkacheln und Tonfiguren aus dem Kanton Zürich führen uns durch eine spätmittelalterliche Modeschau. Eine Ofenkachel aus der Moosburg ZH zeigt ein stehendes Liebespaar, welches nach höfischer Manier elegant gekleidet ist (vgl. Abb.). Der mit Locken frisierte Mann trägt einen knielangen Rock. Die Beinlinge, d.h. lange Strümpfe, enden in charakteristischen spitzen Schnabelschuhen. In seiner linken Hand hält der Mann einen Jagdfalken, das soziale Rangzeichen des Adels. Die Frau ist mit einem langen Kleid mit Stehkragen gekleidet, darüber trägt sie einen weiten Überwurf. Thema: Gesellschaft und Alltag 13 Fibel aus Bronze mit Glaseinlagen aus der Burg Schauenberg ZH. Datierung 13. Jh. Broschen dieser Art dienten als dekorativer Verschluss der Bekleidung und wurden an gut sichtbaren Stellen getragen. Kantonsarchäologie Zürich. Ofenkachel mit höfischem Paar von der Moosburg ZH, kurz nach 1425. TH. BITTERLI, D. GRÜTTER, Alt-Wädenswil. Vom Freiherrenturm zur Ordensburg. SBKAM 27 (Basel 2001), Abb. 97. 14 Thema: Gesellschaft und Alltag Tonfiguren aus Winterthur, Datierung 14. Jh. Kantonsarchäologie Zürich. © STARCH Die Dame unter den Tonfiguren aus Winterthur (vgl. Abb.) hat einen Pagenschnitt, der in einem langen Zopf endet, und trägt ein Kleid mit für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts charakteristischem Décolleté und hochgeschnürter Taille. Die andere Tonfigur ist mit einem Kapuzenmantel bekleidet. Die Kopfbedeckung, die sogenannte Gugel, war neben modischem Element auch ein Standeszeichen. Mäntel mit Kapuzen wurden von den unteren Volksschichten getragen. Die Körperpflege Objekte 13, 14 Der badende Jakob von Warte umkreist von drei höfischen Damen. I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a.M. 1988), Nr. 20. Baden galt bei den gehobenen Schichten als Vergnügen, wobei gleichzeitig gegessen und getrunken wurde. Bekannt ist die Abbildung der Manessischen Liederhandschrift, wo Jakob von Warte in einem hölzernen Badezuber von drei Damen bedient wird. Das Badewasser ist mit roten Blüten übersät und eine Hofdame reicht ihm einen goldenen Kelch (vgl. Abb.). Im städtischen Badehaus hatten der Bader und der Barbier neben der Betreuung der Kunden auch heilkundliche Aufgaben, wie Aderlassen und Schröpfen oder die Behandlung von Kopf- und Zahnschmerzen (vgl. das Thema Bauen und Siedlungswesen). Der Haarpflege wurde besondere Beachtung geschenkt, trugen doch die Frauen häufig langes Haar. Gegenseitiges Entlausen gehörte zur Körperpflege. Essen und Trinken Objekte 1, 2, 4, 5, 6, 8, 15 Vor dem Essen wurden die Hände gewaschen; eine dafür mit Wasser gefüllte Holzschale stand auf dem Tisch bereit. Adlige reinigten sich die Hände mit einem eleganten, häufig in Tierform gestalteten Wasserbehälter aus Metall oder aus Keramik, dem sogenannten Aquamanile (vgl. Abb.). Gegessen wurde mit den Fingern aus einem Holzteller, in einfachen Haushalten gar aus einer einzigen Schüssel, © STARCH Thema: Gesellschaft und Alltag 15 zum Besteck gehörten Löffel und das meist persönliche Messer. Gabeln gab es im Mittelalter noch nicht. Auf einer für die Zeit um 1300 charakteristischen, vornehmen Tafel (vgl. Abb.) fallen neben Wasser- und Weinkrügen aus Keramik und Trinkgläsern die zahlreichen Holzgefässe auf. Behälter aus Holz erhalten sich nur unter feuchten Bedingungen. Deshalb finden sie sich nur selten bei archäologischen Grabungen. Bis zum 12. Jh. wurden aus Ton fast nur Töpfe hergestellt, erst ab dem 13. Jh. wird das Spektrum des Keramikgeschirrs durch weitere Formen erweitert, dies betrifft besonders das Servier- und Essgeschirr (Schüsseln, Krüge; vgl. Abb.). Ab dem 15. Jh. werden, nicht zuletzt aus hygienischen Gründen, die Gefässe vermehrt mit einer Glasur versehen. Der Inhalt von Latrinen und die häuslichen Abfälle geben uns Auskunft über die Essgewohnheiten des mittelalterlichen Menschen. Als Grundnahrung spielte sowohl beim Adligen wie auch beim Bauern neben Milchprodukte der Getreidebrei aus Hafer, Hirse oder Gerste, der mit Gemüse und Gewürzen oder mit Früchten angereichert wurde, eine wichtige Rolle. Bei den Bauern war Fleisch eine Festtagsspeise, Adlige hingegen konnten sich häufiger mit kostbaren Gewürzen, Datteln oder Feigen verfeinertes Fleisch leisten. Die Jagd war im Mittelalter dem Adel vorbehalten, Wildtiere gelangten aber trotzdem nur selten auf den Tisch. Saures und Salziges wurden häufig gleichzeitig mit Süssem, etwa Honig, aufgetragen. Ab dem 14. Jh. tauchten Gewürze wie Safran, Zimt und Sandelholz in den Rezepten auf. Als Getränke wurden neben Wasser, verdünntem Wein, Met (eine Mischung aus Honig und Wasser), Bier und Ein Aquamanile in Form eines Widders aus der Stadtkirche in Winterthur. Datierung um 1300. Kantonsarchäologie Zürich. Bügelkanne (Wasserbehälter), Dreibeintöpfe zum Kochen, ein Deckel und ein Öllämpchen aus Winterthur. Datierung um 1400. Kantonsarchäologie Zürich. Mittelalterliche «Speisezettel» aus Winterthur Mittelalterliche Latrinen geben Aufschlüsse zur Ernährung. Obstkerne, Knochensplitter und Fischgräten gelangten mit den menschlichen Fäkalien in den Boden, anderes wurde als Abfall entsorgt. Der Latrineninhalt erlaubt auch Rückschlüsse auf die soziale Stellung der Benutzer, z.B. durch den Nachweis von teuren, importierten Früchten, Gewürzen oder grossen Fleischmengen. Eine erste Durchsicht des geschlämmten Probematerials aus zwei spätmittelalterlichen Latrinen am Oberen Graben 26/28 in Winterthur hat eine aufschlussreiche Pflanzenliste geliefert. Doch erhalten sich bei weitem nicht alle Nahrungsmittel. Getreidesorten, die zu Mehl verarbeitet werden, oder pulverisierte Gewürze, Wurstwaren, Milchprodukte wie Käse hinterlassen keine Spu- ren. Hier folgt die Liste der pflanzlichen Funde aus der Latrine. n Obstarten Pflaumen (sehr viel), Zwetschgen, Süss- und Sauerkirschen, Erdbeeren, Äpfel, Hagebutten, Himbeeren, Brombeeren, schwarzer und roter Holunder, Weintrauben. n Nüsse n Getreide Hafer, Gerste, Roggen, Saatweizen, Einkorn, Dinkel. n Senf n Gemüse- und Salatpflanzen u.a. Rüben, Hülsenfrüchte, Linsen. n Zahlreiche Unkräuter, wenige Heilpflanzen n Fischknochen, Insekten und Holzreste Tier- und Fischknochen aus einer Latrine (Obere Kirchgasse 4/6 in Winterthur) geben Auskunft über die Essgewohnheiten der städtischen Oberschicht im 12. Jh. Es sind über 4000 Knochen nachgewiesen, am häufigsten Schafe und Ziegen, gefolgt von Rindern und Schweinen. Geflügel und Hirsch finden sich seltener. Der grösste Teil der Tierreste besteht allerdings aus kleinen, weniger als 10 cm langen Fischen. Es sind u.a. Groppen, Egli, Hechte, Aale, Bachforellen und Felchen belegt. Als Besonderheit sind Heringe nachgewiesen, die eingesalzen von der Nordsee nach Winterthur importiert wurden. 16 Thema: Gesellschaft und Alltag © STARCH Die gedeckte Tafel mit Keramik-, Glas- und Holzgefässen. Um 1300. C. BRINKER, D. FLÜHLER-KREIS, Die Manessische Liederhandschrift in Zürich (Zürich 1991), S. 196. Obstsaft aufgetischt. Gewürze wurden sowohl verdauungsfördernd als auch als Gegengift und färbend verwendet. Es sind auch Sellerie, Petersilie und Portulak, seltener Koriander wie auf der Mörsburg ZH, nachgewiesen (vgl. Beilage: Rezept). Exotische Gewürze wie Pfeffer, Zimt, Nelken, Kardamom und Muskat konnten sich die wenigsten leisten. Annamaria Matter Weiterführende Literatur H. BOXLER, J. MÜLLER, Burgenland Schweiz. Bau und Alltag (Solothurn 1991). C. BRINKER, D. FLÜHLER-KREIS, Edele frouwen – schoene man. Die Manessische Liederhandschrift in Zürich (Zürich 1991). W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde. Auf den Spuren des mittelalterlichen Lebens in der Schweiz (Olten 1986). J. TAUBER, F. HARTMANN, Fundort Schweiz, Band 5: Das Hochmittelalter. Von den Karolingern bis zur grossen Pest (Solothurn 1988). © STARCH 3 Thema: Religion und Glauben 17 Religion und Glauben Älteste Zeugnisse des Christentums in unserem Gebiet Konstantin der Grosse tritt 313 zum Christentum über und im Jahre 391 n. Chr. wird das Christentum im Römischen Reich durch Kaiser Theodosius zur Staatsreligion erklärt. In diese Zeit (Mitte 4. Jh.) reichen auch die ältesten Zeugnisse des christlichen Glaubens im Gebiet der Schweiz zurück. Allerdings war die galloromanische Bevölkerung am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter nicht vollständig christianisiert. Vor allem im Versteckten dürften die Menschen z.T. noch die alten römischen Gottheiten verehrt haben. Mit der Ansiedlung von Alemannen im 7. Jh. wurden wohl verstärkt wieder Elemente heidnischen Glaubens in der Nordschweiz wirksam. Wie die zahlreichen Kirchenbauten des 7. und 8. Jh. zeigen, hatten sich damals – zumindest nach aussen hin – das Christentum und seine Organisation, die Kirche, bereits weitgehend durchgesetzt. Im Kanton Zürich lässt sich das Christentum anhand einzelner Gegenstände mit christlicher Symbolik bis ins 6. Jh. zurückverfolgen. Spätestens im 7. Jh. wurden hier die ersten Kirchen errichtet; zu den ältesten gehören jene von Bülach, Meilen, Winterthur (Stadtkirche) und Zürich (St. Peter). Die kirchliche Organisation lehnte sich an die römischen Verwaltungsstrukturen an. Das Zürcher Gebiet gehörte anfänglich zum Bistum Vindonissa (Windisch). In das späte 6. Jh. fällt die Entstehung des Bistums Konstanz, zu welchem fortan auch das Zürcher Gebiet gehörte. Die unterste Verwaltungsebene bildeten die Pfarreien, denen die Gläubigen ihrem Wohngebiet entsprechend angehörten und denen sie ihren Zehnten (Abgabe des zehnten Teils aller landwirtschaftlichen Erträge) zum Unterhalt der Pfarrkirche entrichteten. Eine wichtige Rolle spielten im Mittelalter die Klöster, die nicht nur religiöse und kulturelle Funktionen besassen, sondern auch herrschaftpolitisch und wirtschaftlich wichtige Stellungen übernehmen konnten. Dies Ersterwähnungen von Pfarrkirchen sind von den Zufällen der schriftlichen Überlieferung abhängig. Deshalb liegen für die Zeit vor 1000 nur wenig Belege vor. Informationen über den Zeitpunkt der Kirchengründungen liefern archäologische Untersuchungen. Da längst nicht alle Kirchen des Kantons Zürich archäologisch untersucht wurden, veranschaulicht diese Karte den Minimalbestand. N. FLÜELER, M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.) Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 142. 18 Thema: Religion und Glauben © STARCH Kirchengrabungen In den Jahren zwischen 1960 und 1980 wurden zahlreiche Kirchen mit Fussbodenheizungen ausgestattet oder sogar teilweise unterkellert. Dies führte zu einer grossen Anzahl von Rettungsgrabungen. Die Untersuchungen der Stadtkirche Winterthur zeigen exemplarisch, welche Erkenntnisse eine Kirchengrabung bringen kann. Gründungszeit: Vor Beginn der Untersuchungen galt Winterthur als kyburgische Stadtgründung der Zeit um 1180. Man ent- deckte aber die Überreste einer Holzkirche aus dem 7./8. Jh., die im 9./10. Jh. durch einen Steinbau ersetzt wurde. Somit liegen auch die Wurzeln der Siedlung Winterthur im Frühmittelalter. Bauentwicklung: Generationen bauten an der Stadtkirche, die laufend vergrössert und dem architektonischen Zeitgeschmack angepasst wurde. Die ältesten aufrecht stehenden Bauteile (unterer Teil des Nordturms und Chor) stammen aus dem späten 12. bzw. dem 13. Jh. Die Vergrösserung der Bauentwicklung der Stadtkirche Winterthur im Überblick. M. ILLI, R. WINDLER, Stadtkirche Winterthur, Archäologie und Geschichte (Winterthur 1994), S. 19. Kirche lässt ein stetes Wachstum der Siedlung vermuten. Funktionsänderungen: Beim Umbau um 1000 erweiterte man das Kirchenschiff um Anbauten, die als Begräbnisplatz dienten. Die adligen Bauherren sind in den Schriftquellen nicht überliefert. Im 13. Jh. verzichtete man auf diese Grabanbauten, worin sich der Wandel von der adligen Grablege zur städtischen Pfarrkirche widerspiegelt. Gräber: Bei Kirchengrabungen kommt eine Vielzahl von Gräbern zum Vorschein. Einige befanden sich einst im Kirchhof einer kleinen Kirche und kamen bei deren Vergrösserung ins Innere der neuen Kirche zu liegen. In diesem Fall kann man die Gräber relativ genau datieren. AnthropologInnen untersuchen die Skelette, um den Altersdurchschnitt und die Geschlechterverteilung zu bestimmen. An den Knochen ablesbare Spuren von Mangelerscheinungen, Krankheiten und Unfällen geben Einblick in die Gesundheit der Bevölkerung. Kleinfunde: Beim Kirchgang gingen oft kleine Dinge verloren, die zwischen Ritzen von Holzböden fielen. So finden sich in der Nähe der Opferstöcke häufig Münzen. Auch Ringe von Gebetsschnüren (Paternoster) oder Bestandteile der Kleidung (Stecknadeln, Nestelspitzen) gingen verloren. Grabbeigaben: Um 700 hört die Sitte, den Toten Beigaben mit ins Grab zu geben, weitgehend auf. Nur ganz selten erhielten die Verstorbenen im 9.–15. Jh. religiöse Objekte – Pilgerzeichen, Jakobsmuscheln oder Anhänger – mit ins Grab. © STARCH Thema: Religion und Glauben 19 zeigt sich etwa bei der 853 gegründeten Fraumünsterabtei, einer wichtigen Grundherrin, die bis ins Spätmittelalter hinein in Zürich die Stadtherrschaft innehatte. Frömmigkeit im Mittelalter Die Frömmigkeit des mittelalterlichen Menschen – egal ob arm oder reich – war geprägt durch die Allgegenwart des Todes. Die Sorge um das Seelenheil stand bei ihm im Zentrum seines Denkens. Dabei galt die Kirche als Vermittlerin des Heils. Dem Pfarrer oblag es, den Gläubigen die Sakramente (Taufe, Beichte, Eucharistie und Sterbesakramente) zu spenden, ohne die das ewige Leben nicht möglich war. Die Predigt nahm eine wichtige Stellung ein, da die Gläubigen über die richtige Ausübung des Glaubens unterrichtet werden wollten. Denn gute Werke im Diesseits minderten die Strafen im Fegefeuer und ebneten den Weg ins Paradies am Tag des Jüngsten Gerichts. Im Gebet wurden Gott und die Heiligen um Schutz und Hilfe angerufen. Die wichtigsten religiösen Texte, die jeder Gläubige kannte, waren das Vaterunser, das Ave-Maria, das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote (vgl. das Klangbeispiel 16 auf der CD Musik und Text). Andachtsbilder Objekt 16 Für die Ausübung privater Frömmigkeit waren Andachtsbilder weit verbreitet. Es handelt sich hierbei um Gemälde, Holzschnitte, Kupferstiche oder gar kleine Skulpturen, die an das Leben und Wirken von Jesus Christus erinnerten. Beliebt waren kleine Christusfiguren aus Terrakotta. Häufig hatten die Menschen auch religiöse Bildchen bei sich, von deren Betrachtung sie sich Schutz- und Wunderwirkung erhofften. Beispielsweise sollte der Anblick des Heiligen Christophorus den Gläubigen vor plötzlichem Tod schützen. Die gleiche Funktion wie die Andachtsbilder erfüllten Anhänger, die meist an Ketten um den Hals getragen wurden. Die Gussform eines Anhängers in Kreuzform (Objekt 16) wurde in Winterthur gefunden. Eine verstärkte Wirkung versprach man sich offensichtlich davon, die Anhänger während des Gebetes in der Hand zu halten. Dies lässt sich daran erkennen, dass Amulettanhänger zuweilen stark abgegriffen sind. Am Tag des Jüngsten Gerichts erheben sich die Toten aus den Gräbern. Christus, flankiert von den Heiligen, richtet: Die Seligen ziehen ins Paradies, die Verdammten versinken im Höllenschlund. Köln (D), um 1460–1480. P. JEZLER, Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter (Zürich 1994), S. 340. Rosenkranz Objekte 18.1–18.3 Die im Mittelalter jedoch am häufigsten verwendete Devotionalie (der Andacht dienender Gegenstand) ist ohne Zweifel der Rosenkranz. Aus der seit dem 13. Jh. entwickelten Tradition, eine Anzahl Paternoster (Vaterunser) zu beten und dazu eine zusammengebundene Gebetsschnur mit aufgereihten Knochenringen (Objekte 18.1–18.2) zum Abzählen zu verwenden, entwickelte sich im 15. Jh. der heute noch gebräuchliche Rosenkranz mit 50 Ave-Maria-Perlen und 5 Paternoster-Perlen (Objekt 18.3). Gedruckter Pilgerzettel von der Wallfahrtsstätte «Unserer Lieben Frau im Pflasterbach» an der Lägeren ob Sünikon ZH aus dem Anfang des 16. Jh. Diese Zettel erwarb man als Andachtsbild und Erinnerung an den Besuch der Gnadenstätte. N. FLÜELER, M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.) Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 447. 20 Thema: Religion und Glauben © STARCH Zur Verankerung der Rosenkranz-Gebetsform gründete der Dominikaner Jakob Sprenger 1475 in Köln (D) die erste Rosenkranzbruderschaft, der Arme und Reiche, Männer und Frauen kostenlos beitreten konnten. Die Mitglieder beteten mindestens dreimal wöchentlich den Rosenkranz und erwirkten so einen Ablass von Sündenstrafen im Fegefeuer. Für einen Verstorbenen konnte ein Lebender das Gebet übernehmen. Ablass und Wallfahrt Objekte 17, 19 «Paternosterer» stellten Ringe aus Knochen und anderen Materialien her, die für die seit dem 13. Jh. verbreiteten Gebetsketten benötigt wurden. Aus diesen entstand 1475 der Rosenkranz. Der Name «Paternosterer» leitet sich vom Beginn des Gebets «Vater unser» ab. Darstellung aus dem 15. Jh. N. U. M. FLÜELER (Hg.), Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992), S. 416. Dieser Mann bekam eine Pilgermuschel mit ins Grab, die entweder auf dem Gewand oder einer beigegebenen Pilgertasche aufgenäht war. Er wurde zwischen dem 12. und dem 15. Jh. bei der Stadtkirche Winterthur bestattet. Später wurde sein Grab zur Hälfte beim Bau eines Fundaments zerstört, als man die Kirche erweiterte. Kantonsarchäologie Zürich. Eine Möglichkeit zur Tilgung der Sünden bestand im Erwerb von Ablässen. Dies brachte der katholischen Kirche erhebliche Summen, führte aber im 16. Jh. zur Kritik der Reformatoren, die eine Käuflichkeit des Seelenheils bestritten. Eng verbunden mit dem Ablassgedanken waren Wallfahrten und Pilgerreisen zu Heiligengräbern oder den Aufbewahrungsorten berühmter Reliquien. Man hoffte auf Heilung von Krankheiten oder Hilfe in besonderen Nöten. Oft erfolgte die Pilgerreise auch als Erfüllung eines Gelübdes oder als Busse in der Hoffnung auf Sündenvergebung. Wer es vermochte, brauchte die beschwerliche Reise nicht unbedingt selbst anzutreten, sondern konnte gegen Bezahlung einen Berufspilger auf den Weg schicken. Besonders für arme Leute konnte das eine willkommene Art sein, Geld © STARCH Thema: Religion und Glauben 21 zu verdienen. Erkennbar war der Pilger an seinem Pilgerzeichen, das zum Beweis der Reise an seiner Kleidung aufgenäht war. Pilger, die aus Santiago de Compostela in Nordspanien kamen, brachten z. B. die so genannte Jakobsmuschel mit (Objekt 17). Pilgerzeichen wurden oft in Flüssen gefunden, wo sie als Dankopfer für die glückliche Heimkehr hinein geworfen wurden. Als Grabbeigabe waren sie dem Verstorbenen hilfreich zur Fürbitte des Heiligen am Tag des Jüngsten Gerichts. Die wichtigsten Pilgerziele waren Jerusalem (IL), Rom (I) und Santiago de Compostela (E). Für kürzere Pilgerreisen bot sich unter anderem Einsiedeln SZ an. Heiligenkult und Reliquienverehrung Objekt 19 Das Pilgern und Wallfahren ist im Zusammenhang mit einer im Mittelalter laufend zunehmenden Heiligenverehrung zu sehen. Beliebt waren vor allem jene Heilige, von denen sich die Gläubigen Beistand in der Todesstunde versprachen. Besondere Wirkung versprach man sich von der Fürbitte der Heiligen aus der Gruppe der 14 Nothelfer. Mit dem Heiligenkult wuchs auch die Reliquienverehrung, die Verehrung von sterblichen Überresten der Heiligen oder Gegenständen, die zu Christus oder den Heiligen in Verbindung standen. Reliquien wurden in bestimmten, eigens dafür angefertigten Behältern aufbewahrt, dem Reliquiar (Objekt 19). Stiftungen Auch mit Stiftungen suchten die Gläubigen ihr Seelenheil günstig zu beeinflussen und die Strafzeit im Fegefeuer zu verkürzen. Gestiftet wurde vom Messgewand bis zum Altar alles, was für den liturgischen Kult nötig war. Kirchenbauten oder gar Klostergründungen und damit das Recht, an bevorzugter Lage bestattet zu werden, konnten sich allerdings nur begüterte adlige Stifter leisten. Viele Stiftungen erfolgten als einmalige Abgeltung für das Lesen jährlicher Seelenmessen. Solche Jahrzeiten konnten auch durch einen Zins erworben werden. Auch wenn der Zins bescheiden war, konnte sich längst nicht jeder Gläubige eine eigene Seelenmesse leisten. Darstellung der Graböffnung von Felix und Regula, der Stadtheiligen von Zürich, im 8. Jh. Um ein Grab, über das nichts Näheres bekannt war, bildete sich die Legende von Felix und Regula. Die damit verbundene Begründung des Wallfahrtsortes Zürich erscheint aus heutiger Sicht als Schwindel, führte aber dem mittelalterlichen Menschen das Martyrium bildlich vor Augen. H. F. ETTER (Hg.), Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula (Zürich 1988), Abb. 65. Orden in der Stadt Seit dem 13. Jh. erfreuten sich die Bettelorden grosser Beliebtheit. Die Franziskaner nahmen sich Christus als Vorbild, lebten in Armut und verschrieben sich der Seelsorge. Die Dominikaner sahen ihre Aufgabe vor allem in der Predigt und unterrichteten das Volk im rechten Glauben. Im Chor der Klosterkirche, der durch eine Schranke vom Kirchenschiff ab- getrennt war, versammelten sich die Mönche sieben Mal am Tag zum Stundengebet. Neben den Männer- und Frauenklöstern gab es auch religiöse Gemeinschaften frommer Frauen, die ohne Gelübde zusammenlebten und sich vor allem der Krankenpflege widmeten: die Beginen. In einer mittelalterlichen Stadt konnte bis zu einem Viertel des ummauerten Gebiets von Kirchen, Klosteranlagen und Wohnhäusern des Klerus (Priesterschaft) überbaut sein. Entsprechend gross war der Anteil der Geistlichen und ihres beschäftigten Personals: in Basel dürfte er im 15. Jh. bei einer Gesamtbevölkerung von 15 000 etwa 1000 bis 1500 Personen umfasst haben. 22 Thema: Religion und Glauben © STARCH Das Bild des Oetenbachklosters in Zürich von 1520 zeigt die wichtigsten Teile eines Klosters: die Kirche, dahinter Kreuzgang mit den Konventsgebäuden, einige Ökonomiebauten und die Umfassungsmauer. N. FLÜELER, M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 223. Glockengeläute Das Glockengeläut richtete sich nach den Gebetszeiten, den Horen. Diese variierten während des Jahres, denn sie richteten sich nach dem Lichttag. Ausserdem wurde für jede Kirche eine eigene Zeit geschlagen. Das Geläut rief zum Gebet und bestimmte die Arbeitszeiten. Dieses sogenannte Tagwerk begann am Morgen mit dem Ave-Maria-Läuten, wurde vom Mittagsläuten unterbrochen und endete vor dem Sonnenuntergang mit einem weiteren Ave-Läuten. Kirchhof Kirchen mit Bestattungsrecht besassen einen Friedhof. Für die Kirchgenossen herrschte Pfarrzwang, wozu auch die Bestattung zählte. Einfache Holzkreuze oder schmale Bretter markierten die Gräber, selten zierte eine Steinplatte das Grab eines Vermögenden. Die Friedhöfe mussten mit Zäunen oder Mauern von frei herumstreunendem Vieh geschützt werden. Als geweihte Stätte war Wahrscheinlich liegen in diesem Massengrab die Opfer der Pestepidemie von 1519. Damals «was ein grosser sterbet ze Winterthur an der pestilenntz und sturbend by fünfhundert menschen, jung und altt», wie der Chronist Laurentius Bosshard berichtet. Kantonsarchäologie Zürich. Massenbestattung von Pestopfern auf dem Kirchhof von Tournai (B) im 14. Jh. N. U. M. FLÜELER (Hg.), Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992), S. 489. der Gottesacker auch ein Ort des Sonderfriedens und des Kirchenasyls. Aber er hatte nicht nur sakrale Funktion: Hier kamen die Menschen auch zum Austausch von Nachrichten zusammen oder hielten Markt. © STARCH Thema: Religion und Glauben 23 Fastengebot Der kirchliche Kalender schrieb verschiedene Fastenzeiten vor. So an den 40 Tagen vor Ostern, den Fronfastentagen, den Vortagen vor den Apostelfesten und weiteren kirchlichen Festtagen wie Allerheiligen, Mariahimmelfahrt und Weihnachten. Während der Fastenzeit war den 21- bis 60-Jährigen nur eine tägliche Mahlzeit erlaubt, die weder Fleisch warmblütiger Tiere noch Eier und Milchprodukte enthalten durfte. Diese Abstinenz wurde im Spätmittelalter aber nicht mehr strikte eingehalten und immer öfter gewährte der Papst Fastenerleichterungen. Christian Bader Weiterführende Literatur S. BEISSEL , Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland im Mittelalter (Darmstadt 1988). J. BLUM, Jakobswege durch die Schweiz (Thun 2001). K. EDER MATT, Reliquienkult im mittelalterlichen Basel. In: B. MELES (Hg.), Der Basler Münsterschatz (Basel 2001), S. 322–328. H. F. ETTER (Hg.), Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula (Zürich 1988). N. FLÜELER, M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 136–146. B. HELBLING, M. BLESS-GRABHER, I. BUHOFER, Bettelorden, Bruderschaften und Beginen in Zürich (Zürich 2002). M. ILLI, R. WINDLER, Stadtkirche Winterthur, Archäologie und Geschichte (Winterthur 1994). N. OHLER, Pilgerstab und Jakobsmuschel (München 2000). D. SCHUMACHER, Kirche und Frömmigkeit. In: Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk, Handel 1350–1525 (Stuttgart 2002), S. 89–125. L. VISCHER, L. SCHENKER, R. DELLSPERGER (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz (Freiburg i. Ü. 1994). Von den Arbeitsgängen zum Guss einer Glocke bleiben meistens nur die Gruben als archäologisch fassbares Relikt übrig. 1 Gestell zum Modellieren der Gussform. 2 Modellieren der Gussform aus Ton und Wachs. 3 Gussform nach Ansetzen der Kronen (Aufhängung) und der Öse für den Klöppel. 4 Herunterlassen der Gussform in die Grube. 5 Brennen der Gussform. 6 Einleiten der flüssigen Bronze in die Gussform. M. ILLI, R. WINDLER, Stadtkirche Winterthur, Archäologie und Geschichte (Winterthur 1994), S. 86. 24 Thema: Religion und Glauben © STARCH Aberglaube Der Aberglauben war im Mittelalter allgegenwärtig, hinterliess aber nur in Ausnahmefällen archäologische Spuren. Kleinfunde wie durchbohrte Bärenzähne oder Anhänger mit rätselhaftem Inhalt weisen auf das Bedürfnis ihrer TrägerInnen hin, sich vor Widerwärtigkeiten zu schützen oder von einem Talisman Kraft zu erhalten. Einen äusserst seltenen Einblick gewährte auch ein 2003 untersuchtes Grab in Elsau ZH. Im 9. Jh. begrub man in einem Anbau einer Steinkirche eine etwa 42jährige Frau, die von schweren Krankheiten – Knochenentzündungen und schwerer Arthrose im Kniegelenk – gezeichnet war. Kurze Zeit, evtl. lediglich ein Jahr nach der Bestattung, öffnete man das Grab erneut, um gezielt die Lage einzelner Knochen zu verändern: Nachgewiesen sind das Verteilen der Fussknochen im Bereich der Unterschenkel und der Knochen der rechten Hand seitlich des Oberkörpers und das Verdrehen der Schlüsselbeine. Der Schädel rollte nach rechts. Nach etwas Erde verlegte man eine dichte Steinpackung über dem Skelett. Darüber deponierte man im Bereich des Schädels einen Seeadlerfuss sowie im Bereich der Knie Teile eines Fuchsfusses. Interessant sind in diesem Zusammenhang die gegensätzlichen Inhalte, die in der christlichen Symbolik mit diesen beiden Tieren verbunden werden. Während der Adler als Symbol der Auferstehung und Himmelfahrt Christi gilt, ist der Fuchs Symbol des Teufels und allgemein des Bösen. Die ungewöhnlichen Handlungen nach der Beisetzung und die Beigabe dieser Tierfüsse erfolgten vielleicht, weil die Frau als Wiedergängerin (zurückkehrende Tote) galt. Angst vor Wiedergängern stellte sich ein, wenn sich eine Anzahl von Unglücksfällen, Todesfällen oder schlechten Ereignissen wie Naturkatastrophen auffällig häuften und zuvor jemand gestorben war, dem nach Meinung der Hinterbliebenen der Zugang zum Jenseits verwehrt war. So sollten die Handlungen am Grab von Elsau offenbar das Böse überwinden helfen und der Seele so das Tor zum Himmel öffnen. Offenbar reichte dies aus, weil die endgültige Lösung des Problems, die Verbrennung der Leiche nämlich, nicht zur Anwendung kam. Mit der Entwicklung der Vorstellung des Fegefeuers versuchte dann die katholische Kirche im Verlauf des 12. und 13. Jh., jenen armen Seelen, die keinen Zugang zum Jenseits fanden, einen Platz zuzuweisen. © STARCH 4 Thema: Landwirtschaft, Handwerk und Handel 25 Landwirtschaft, Handwerk und Handel Quellen zur Wirtschaft im Mittelalter Das Mittelalter ist nicht nur die Zeit der Ritter und Burgbewohner, sondern vor allem der Bauern, Handwerker und Händler. Fragen zur Wirtschaft eines bestimmten Gebietes stehen darum bei der Auswertung einer archäologischen Ausgrabung oder beim Studium der Funde oft im Vordergrund. Wer stellte die gefundenen Gegenstände her und unter welchen Bedingungen geschah das? Woher stammten die dafür benötigten Rohstoffe wie Farben, Tone, Wolle, Knochen oder Eisen? Wie wurden die fertigen Gegenstände gehandelt und verkauft? Solche Fragen sind für das Spätmittelalter eindeutiger zu beantworten, da in diesem Zeitabschnitt schriftliche und bildliche Quellen zusätzliche Informationen geben. Für das Früh- und Hochmittelalter dagegen sind Hinweise zur Lebensart und zur Wirtschaft fast ausschliesslich von der archäologischen Wissenschaft zu erwarten. Von der Rohstoffgewinnung zur Produktion Objekt 22 Archäologische Ausgrabungen bringen manchmal Spuren und Funde ans Tageslicht, die Hinweise auf die mittelalterliche Wirtschaft vor Ort geben. Man findet einerseits Orte der Gewinnung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen: Alte Terrassierungen um Dörfer und Städte zeigen, wo die Bauern Getreide, Gemüse, Reben oder Färbepflanzen anbauten, oder im Wasser erhaltene Holzreusen weisen auf den Fischfang in der Vergangenheit. Es sind andererseits Spuren der mittelalterlichen Rohstoffgewinnung erhalten geblieben: Heute noch erkennbare Schächte oder Einbuchtungen am Berg weisen auf Eisen- oder Goldabbau durch Minenarbeiter oder in tonhaltigen Regionen sind manchmal Lehmgruben erhalten geblieben, die den Ort der mittelalterlichen Tongewinnung in der Feintopographie noch zeigen. Bei der Nahrungsmittelproduktion oder der Rohstoffgewinnung benötigte man spezielle Werkzeuge, die manchmal bei der Arbeit auf freiem Feld verloren gingen und nach Jahrhunderten durch Zufall oder bei einer archäologischen Grabung wieder gefunden werden. Diese Werkzeuge (beispielsweise ein Rebmesser, Objekt 22) sind für den Archäologen oder die Archäologin – wenn ihr Fundort bekannt ist – insofern von grosser Bedeutung, als sie für die ursprüngliche Tätigkeit am Fundort eine weitere Informationsquelle sind. Herstellung von Glas: Oben wird der Rohstoff Sand gewonnen, in die Glashütte unten transportiert und dort unter Zusatz von Pflanzenasche geschmolzen und zu Gegenständen geblasen. Böhmisches Manuskript aus dem 15. Jh. E. BAUMGARTNER, I. KRUEGER, Phönix aus Sand und Asche. Glas des Mittelalters (München 1988), S. 22. Glasschale, welche in einem Grab des Frühmittelalters zum Vorschein gekommen ist. Fundort: Flaach ZH. Kantonsarchäologie Zürich. 26 Thema: Landwirtschaft, Handwerk und Handel © STARCH Ländliche Nahrungsmittel- und Güterproduktion Objekte 1, 4, 8, 23–28 Die gewonnen Rohstoffe werden in die Siedlungen transportiert, verarbeitet und oft in neuen Kombinationen gebraucht – aus Weizen wird Getreidebrei, aus Ton ein gebrannter Dreibeintopf mit Füsschen, aus Lein Kleiderstoff (Hinweise darauf sind Schere, Spinngeräte, Webbrettchen, Webgewicht, Schwinghebel), aus Eisen und Holz Messer mit Holzgriffen. Die Herstellung solcher Güter geschah in den Einzelhöfen, den Dörfern, Burgen und Städten, in den Wohnungen, in landwirtschaftlichen Gebäuden und in Werkstätten, aber auch im Freien. In den Dörfern sind vor allem die Schmiede und Müller als spezialisierte Handwerker anzutreffen. Die Dorfbewohner – zieht man statistische Hochrechnungen bei, sind das immerhin etwa 80% der Bevölkerung – rodeten in Zeiten von Landknappheit Wald und kümmerten sich um Nutzpflanzen und Haustiere, stellten daneben aber einen grossen Teil der in der Landwirtschaft und im täglichen Leben benutzten Gegenstände selber her und hielten sie instand (sogenannte Hausgewerbe). Mittelalterliche Dörfer sind im Kanton Zürich archäologisch erst wenig erforscht, mögliche ländliche Gewerbe damit vielleicht gar noch nicht erfasst. Mehr weiss man aus der Siedlung Berslingen SH. Hier gruben die ArchäologInnen einen Ort aus, der sich ab dem 5. Jh. von einem Wohnhaus mit zwei kleinen Nebengebäuden, sogenannten Grubenhäusern (als Lager oder Arbeitsort genutzt) bis um 1000 n. Chr. zu einem Dorf mit sieben bis acht Wohngebäuden und zugehörigen Nebengebäuden entwickelte. Die Bevölkerungszahl erhöhte sich im gleichen Zeitraum von wenigen Personen auf 50 bis 70 Menschen. Schweine und Rinder wurden hier als wichtigste Fleischlieferanten gehalten, aber auch Hunde, Gänse, Hühner, Enten, Ziegen und Schafe wurden aufgezogen. Neben der Landwirtschaft kümmerten sie sich auch um die Herstellung von Textilien und in geringem Masse um Eisengewinnung. Die Handwerker in Städten, Klöstern und Burgen Objekte 1, 2, 4, 6, 10, 11, 16, 18, 23–28 Herstellung von Knochenperlen: Der ganze Langknochen eines Rindes wird in gerade Teile zerlegt. Mittels eines Eisenbohrers dreht der Knochenschnitzer auf einer Werkbank Ringe heraus (rechts im Bild). Kantonsarchäologie Zürich. Spezialisierte Handwerker sind vor allem in den Städten, Klöstern, aber auch auf Burgen nachzuweisen. Aus Grabungen in der Altstadt von Winterthur konnten einige Handwerker archäologisch nachgewiesen werden: es sind dies Metzger (Tierknochen), Weber (Webstühle, Gewebe), Schmiede (Schlacken und Eisengeräte), Glaser (Glasabfall), Töpfer (keramische Gegenstände, vor allem Ess- und Kochgeschirr), Knochenschnitzer (Abfall von Knochenringherstellung), Schuhmacher (Lederreste, Schuhe) und Steinmetze (Steinsplitter). Die Handwerker lebten mit ihren Familien und bei Bedarf mit Gesellen und Mägden in Reihenhäusern entlang der Strassen. Frauen und Kinder arbeiteten mit. Die Werkstatt hatte man oft ebenerdig im Wohnhaus oder im Hinterhofbereich eingerichtet, darin wurden die benutzten Werkzeuge aufbewahrt. Sogar Reste so lär- © STARCH Thema: Landwirtschaft, Handwerk und Handel 27 miger und rauchiger Gewerbe wie Töpfereien und Schmieden findet man im Stadtbereich. Der Fund eines Heuhaufens aus der Zeit um 1400 in einem Haus in Winterthur macht deutlich, dass auch die Handwerker im Umkreis der Stadt Landwirtschaft betrieben, sie besassen oft Weideland und Rebberge. Im Laufe des Spätmittelalters beobachtet man eine zunehmende Aufsplitterung des Handwerks. In einer mittleren Stadt (5000 bis 10 000 Einwohner) waren 80 bis 100 verschiedene Handwerkszweige keine Seltenheit: Erwähnt wird in den Schriftquellen nicht nur ein Schmied, sondern jetzt auch ein Messerschmied, ein Schlosser, ein Nadelmacher, Drahtzieher, Harnischmacher, Klempner oder Kesselmacher. Sie stellten von Stecknadeln über Hämmer, Ketten bis zu Türbeschlägen eine grosse Produktpalette her. In spätmittelalterlichen Schichten ist die Vielfalt an Fundgegenständen entsprechend grösser. Vertrieb und Transport Objekt 30 Handwerkliche Produkte (Töpfe, Stoffe oder Knochenringe) wurden entweder direkt beim Handwerker in der Werkstatt oder im Laden bestellt oder auf Märkten eingehandelt. Dann gab es auch grosse überregionale Märkte, beispielsweise in der Champagne (F) oder auch in Zurzach AG, die mehrere Tage bis Wochen dauerten und wo sich viele Händler einfanden. Waren und Rohstoffe wurden dort über ganz Europa hinweg getauscht und verkauft. Die meisten Gegenstände des Alltags wurden jedoch auf lokalen Tages- und Wochenmärkten gehandelt. Der ursprüngliche Tauschhandel wurde auch auf lokalen Märkten durch die Geldwirtschaft abgelöst. Im Mittelalter wurde während Jahrhunderten als einzige Münzsorte der Pfennig geprägt (selten auch Halbstücke des Pfennigs). Erst ab 1330/40 tauchten in unserer Gegend Goldmünzen und grössere Silbermünzen auf, die alle fremder Herkunft waren. Münzen wurden an zahlreichen Orten geprägt. Allein auf dem Gebiet der heutigen Schweiz und den Nachbarregionen waren über 20 verschiedene Münzorte tätig. Verschiedene Münzen wurden nebeneinander gebraucht, weil sie – trotz der unterschiedlichen Münzbilder – die gleiche Machart aufwiesen. Es bildeten sich Währungsgebiete, in denen Münzen gleicher Art, aber vielfältiger Herkunft verwendet wurden. Münzfunde sind neben schriftlichen Dokumenten eine wichtige Informationsquelle zum Geld im Mittelalter. Bei den Münzfunden ist zu unterscheiden zwischen absichtlich deponierten bzw. vergrabenen Münzen (Schatzfunden, Bauopfern und Grabbeigaben) und zufällig verlorenen Münzen aus Siedlungen und Kirchen. Eine kleine Oberschicht – Adlige, Priester und Kaufleute – benutzte neben alltäglichen Gegenständen auch solche, die aus kostbareren Materalien bestanden: Becher aus Gold und Silber, verzierte Messer, exotische Gewürze, speziell schöne Stoffe. Kirchen und Klöster bewahrten Reliquienbehälter und Goldkreuze auf, ihre Marktfahrer mit Ware. Ausschnitt aus der Wandmalerei von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico in Siena von 1338. A. U. CH. FRUGONI, Storia di un giorno in una città medievale (Bari 1998), Abb. 19. Markt in Bologna, Anfang 15. Jh. Il mercato di Porta Ravegnana. Miniatur aus dem Manuskript Matricolae Societatis Draperorum. A. U. CH. FRUGONI, Storia di un giorno in una città medievale (Bari 1998), Abb. 38. 28 Thema: Landwirtschaft, Handwerk und Handel © STARCH Reste einiger Webstühle aus dem 14. Jh. Fundort Winterthur, Tösstalstrasse. Erhalten haben sich neben einigen Pfostenresten die hölzernen Pedale, mit denen die Kettfäden angehoben werden konnten. Kantonsarchäologie Zürich. Fenster waren mit bunten Glasbildern versehen. Gerade für solch aufwändig gestaltete Produkte waren hochspezialisierte Handwerker nötig; ihre Waren werden allerdings selten in Grabungen gefunden. Manchmal kann man über die Verteilung bestimmter Funde in einem grösseren Gebiet herausfinden, bis in welche Regionen ein Gegenstand gehandelt wurde. Besonders gut gelingt dies mit Gütern, deren spezielle Machart für eine einzelne Handwerkerfamilie oder eine Handwerkerverbindung in einer bestimmten Stadt oder Region typisch war. Häufig werden solche Güter entlang der damals für den überregionalen Transport genutzten Strassen und Wasserläufe gefunden. Im mittelalterlichen Europa waren Rhein und Rhone, aber auch kleinere, heute nicht mehr zum Warentransport benutzte Wasserwege wie die Limmat oder der Zürichsee von grosser Wichtigkeit. Lotti Frascoli Weiterführende Literatur K. BÄNTELI, M. HÖNEISEN, K. ZUBLER, Berslingen – ein verschwundenes Dorf bei Schaffhausen. Mittelalterliche Besiedlung und Eisenverhüttung im Durachtal. Schaffhauser Archäologie 3 (Schaffhausen 2000). U. LINDGREN (Hg.), Europäische Technik im Mittelalter. Ein Handbuch (Berlin 1996). S. LORENZ , TH. ZOTZ (Hg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Ausstellungskatalog Karlsruhe. Aufsatzband (Karlsruhe 2001). R. WINDLER, Das Gräberfeld von Elgg und die Besiedlung der Nordostschweiz im 5.–7. Jh. Zürcher Denkmalpflege, Archäologische Monographien 13 (Zürich und Egg 1994). © STARCH Thema: Landwirtschaft, Handwerk und Handel 29 Ein frühmittelalterlicher Kleiderverschluss und seine mögliche Herkunft Knöpfe und Reissverschlüsse kannte man im Frühmittelalter als Kleiderverschlüsse noch nicht – so benutzten die Frauen und Mädchen stattdessen zum Zusammenhalten von Kleidungsstücken Fibeln, eine Art schön verzierte Spangen. Starb die Besitzerin, so wurde sie in ihren Kleidern mit den Fibeln begraben. In Elgg ZH fanden ArchäologInnen auf dem frühmittelalterlichen Friedhof ein junges Mädchen, dessen Mantel von einer bronzenen Scheibenfibel zusammengehalten wurde. Zeichnet man die Fundorte weiterer ähnlich dekorierter Fibeln auf, so finden sie sich hauptsächlich in Nordwestfrankreich und im angrenzenden Belgien. Etliche Fragen tauchen auf: Welcher Handwerker stellte die schöne Fibel her? Wurde die Kleiderspange über eine weite Strecke getauscht? Wanderte das junge Mädchen mit seiner Familie ein? Grabbeigaben im Mädchengrab; neben einem Kamm aus Geweih (5), einer Gürtelschnalle (2) und Schuhgarnitur (3 und 4) kam die runde Scheibenfibel (1) zum Vorschein (in vier Ansichten abgebildet). Kantonsarchäologie Zürich. Verbreitungskarte mit ähnlichen Fibeln wie im Mädchengrab von Elgg ZH (roter Fundpunkt). Die meisten Punkte liegen östlich des Flusses Seine im heutigen Frankreich. Kantonsarchäologie Zürich. Das durchwühlte Mädchengrab aus Elgg ZH mit der Scheibenfibel 1. Kantonsarchäologie Zürich. Die Archäologin, welche das Mädchengrab untersuchte, kam anhand weiterer Hinweise zum Schluss, im Gräberfeld von Elgg seien tatsächlich aus dem nördlichen Frankreich, dem Kerngebiet des Frankenreichs, eingewanderte Personen begraben worden. Menschen als Mitträger von Gegenständen, aber auch von Ideen sind wichtige Motoren des wirtschaftlichen und politischen Geschehens. © STARCH 5 Thema: Bauen und Siedlungswesen 31 Bauen und Siedlungswesen Die antike Siedlungslandschaft wurde im Frühmittelalter grundlegend verändert. In Orten mit antiken Wurzeln setzte eine Neuorganisation ein, die bis ins Spätmittelalter auch zur Verlegung der zentralen Siedlung führen konnte, wie es das Beispiel von Oberwinterthur und Niederwinterthur, dem heutigen Winterthur, zeigt. Zahlreiche neue Siedlungen, die in vielen Fällen bis heute bestehen, wurden teils im Umfeld der Ruinen römischer Gutshöfe (z.B. Dällikon ZH), teils an neu gewählten Standorten gegründet. Durch Rodung erschloss man dafür neue Siedlungsräume. In den meisten Fällen bestanden Siedlungen bereits lange, bevor sie das erste Mal in den Schriftquellen zufällig Erwähnung fanden. Winterthur und Zürich entwickelten sich bereits seit der Jahrtausendwende in verschiedenen Schritten zur Stadt. Zahlreiche Kleinstädte wurden im 13. Jh. im Umfeld einer Burg oder eines Klosters gegründet. Oftmals bildeten sie den Versuch, die herrschaftlichen Rechte über umstrittenes Gebiet zu festigen (z.B. Glanzenberg ZH, Rheinau ZH). Dies war auch ein wichtiges Motiv für die Gründung von Klöstern (z. B. Töss bei Winterthur). Ausgegrabenes Grubenhaus in Niederglatt-Nänikon ZH (10.–12. Jh). Die Löcher in den Ecken der Grube dienten zur Fixierung der Hauspfosten. In den kleinen Löchern entlang der Grubenwände sassen die Staketen des Rutengeflechts, das die Hauswand bildete. Da sich das Holz im Boden zersetzte, sind die Vertiefungen nur noch anhand von Farbunterschieden erkennbar (stellenweise weiss markiert). Kantonsarchäologie Zürich. Bäuerliche Landsiedlungen Objekte 22, 26 In früh- und hochmittelalterlichen Landsiedlungen erhoben sich mehrere Bauernhöfe, die aus verschiedenen Holzbauten bestanden. Das einstöckige Wohnhaus enthielt auch Stallungen. Offene Feuerstellen dienten zum Kochen, zum Heizen und für handwerkliche Tätigkeiten. Grubenhäuser, die halbkellerartig in den Boden eingetieft waren, dienten meistens als Webkeller oder Lagerraum. Zudem gab es Speicherbauten. Der Bau von mehrgeschossigen Fachwerkhäusern setzte erst im Spätmittelalter ein. Archäologische Ausgrabungen von Landsiedlungen gestalten sich schwierig. Die Überreste der Holzbauten sind nur als unscheinbare Bodenverfärbungen erhalten, Feuerstellen zeichnen sich als orange, gelblich verfärbte Lehmlinsen ab. Meist sind als Funde nur wenige Keramikscherben, Tierknochen (Speiseabfälle) und vereinzelte Eisengeräte zu verzeichnen. Bei Bauarbeiten in heutigen Dörfern wer- Diese Rekonstruktion mit zum Teil gedecktem Dach zeigt die Konstruktion eines Grubenhauses. Experimentelle Archäologie, Bilanz 1991, Archäolog. Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 6, Abb. 2. 32 Thema: Bauen und Siedlungswesen © STARCH den diese unscheinbaren Siedlungsreste häufig unerkannt zerstört. Bessere Erhaltungsbedingungen bieten verlassene Dörfer, die unter Wies- oder Waldland liegen. Wohnen in der Stadt Objekte 20, 21, 31–34 Winterthur im Frühmittelalter (um 700). Entlang der wohl ursprünglich römischen Fernstrasse von Zürich nach Oberwinterthur, der heutigen Marktgasse, entstand im 6./7. Jh. Niederwinterthur. Nördlich der Strasse erstreckte sich ein Friedhof. Dieser wurde im 7./8. Jh. nach Süden zur ältesten, in Holz errichteten Kirche verlegt, welche am Platze der heutigen Stadtkirche stand. Die Gehöfte waren locker über das Gelände verteilt. Kantonsarchäologie Zürich. Winterthur um 1300. Bereits um 1000 n. Chr. setzte die Entwicklung zur Stadt ein, welche mit dem Stadtrecht von 1264 einen Abschluss fand. Über dem vergessenen Friedhof des 6./7. Jh. entstand ein parzellierter Siedlungsteil. Um 1200 erhielt Winterthur eine Stadtmauer und neue Gassen. In der zweiten Hälfte des 13. Jh. erweiterte man die Stadt mit zwei Vorstädten, die zunächst noch mit einem Wall befestigt waren. Kantonsarchäologie Zürich. Die Entwicklung zur Stadt konnte sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken (Zürich und Winterthur). Die Ausgrabungen in einer Stadt ermöglichen als einzige Geschichtsquelle die Rekonstruktion der verschiedenen Ausbauschritte. Besonders im 13./14. Jh. kam es zu zahlreichen Neugründungen von Kleinstädten auf unbesiedeltem Gelände (z. B. Glanzenberg ZH) oder im Vorfeld einer Burg (z. B. Regensberg ZH, Greifensee ZH). Wichtigste Charakteristika der mittelalterlichen Stadt sind die Befestigung, der Markt und das Stadtrecht. Kirchen, Klöster und Wohnbauten wohlhabender Einwohner waren in Stein errichtet und ragten über die Bauten der Umgebung heraus. Die grosse Bevölkerungszahl auf engem Raum zwang zum Bau mehrgeschossiger Häuser – in gewissem Sinne mit heutigen Hochhäusern vergleichbar – und funktionierender Versorgungsund Entsorgungsanlagen. Massive Steinhäuser wurden von der städtischen Oberschicht seit dem 13. Jh. gebaut. Im Erdgeschoss befanden sich Lagerräume, zuweilen auch Werkstätten und Verkaufsläden. Im ersten Obergeschoss lagen eine beheizbare, manchmal mit aufwändigen Wandmalereien verzierte Stube und die Küche. Zur Ausstattung der Stuben gehörten Kachelöfen. Deren Beheizung von der Küche aus ermöglichte einen rauchfreien Aufenthalt. Die Entwicklung neuer Kachelformen erlaubte das Darstellen ganzer Bildprogramme mit religiösen und ritterlich-höfischen Motiven. Von den Möbeln sind in der Regel nur noch Bestandteile aus Eisen erhalten (Beschläge, Schlüssel). Zur Ausstattung der Stuben vornehmer Häuser gehörten im Spätmittelalter mit Butzenscheiben besetzte Fenster. Die oberen Geschosse, welche die Wohn- und Schlafräume enthielten, konnten auch aus Holz gefügt sein. Zu diesen Wohnbauten gehörten meist hölzerne Nebenbauten. Hölzerne Wohnhäuser, die ebenfalls Höhen bis zu drei Geschossen erreichten, waren zwar zahlreich, entziehen sich aber wegen der späteren Umbauten oftmals dem archäologischen Nachweis. © STARCH Thema: Bauen und Siedlungswesen 33 Das Haus in Winterthur an der Oberen Kirchgasse 18 wurde gemäss dendrochonologischen Untersuchungen im Jahr 1311 unterkellert. Die ansehnliche Breite des Kellerabgangs von 2,2 Meter erlaubte unter anderem auch die Einlagerung von Weinfässern im Keller. Kantonsarchäologie Zürich. Erst im Verlaufe des 14. Jahrhunderts führte die zunehmende Raumnot zur Unterkellerung bestehender Häuser. Dazu untergrub man stückweise die Fundamente, stellte sie auf Holzpfosten ab und mauerte zwischen diesen die Kellermauer hoch. Die «Versteinerung» des städtischen Hauses und die Bedachung mit Ziegeln führte natürlich zu einem verbesserten Brandschutz. Die steinernen Mauern zwischen den Stadthäusern trugen darum schon damals den Namen «Brandmauern», weil sie bei Hausbränden das Übergreifen auf benachbarte Häuser verhindern sollten (vgl. das Textbeispiel 19 auf der CD Musik und Text). Städtische Infrastruktur Objekte 14, 28, 30, 35 Gassenoberflächen in mittelalterlichen Städten bestanden aus festgetretenem Kies, auf dem sich nach Regengüssen Pfützen bildeten. Schwere Die Steinbauten des 13. Jh. in Winterthur verfügten meistens nur über wenige und kleine Fenster. Kantonsarchäologie Zürich. Im Süden der heutigen Altstadt von Winterthur standen um 1300 mehrere Steinhäuser, die direkt an die Stadtmauer gebaut wurden. Viele Bauteile wie Obergeschosse, Dachstühle und Laubengänge waren aus Holz konstruiert. Bis in heutige Zeit überdauerten die Brandmauern. Kantonsarchäologie Zürich. 34 Thema: Bauen und Siedlungswesen Wasserleitung aus Tonröhren in Zürich, welche das Dominikanerkloster um 1230 mit Trinkwasser versorgte. Eine derartige Wasserleitung war damals einzigartig. Büro für Archäologie der Stadt Zürich. Dieser gemauerte Schacht in Zürich diente als Latrine. Auf einer Abdeckung aus Brettern stand das WC-Häuschen. Nicht mehr gebrauchte Latrinen füllte man mit Abfall auf. Damit werden die Latrinen zur archäologischen Fundgrube; ausser im zersetzten Kot enthaltenen Fischgeräten und Kirschensteinen findet sich auch Hausrat, der anders als heute auch in der Latrine entsorgt wurde. Büro für Archäologie der Stadt Zürich. Diese Latrine besitzt zwei Sitzlöcher, die nicht abgetrennt waren. Im Mittelalter hiess das stille Örtchen im Gegensatz zu heute «sprachhus», weil man beim Geschäft miteinander diskutieren konnte. W. MEYER, HIRSEBREI UND HELLEBARDE (Olten 1985), S.182. © STARCH Karren sowie Abdrücke der Füsse von Pferden, Kühen und Schweinen liessen zahlreiche Unebenheiten zurück. Tierische Exkremente sowie Speiseabfälle, die auf den Gassen liegen blieben, führten zu heute nicht mehr vorstellbaren Geruchsbelästigungen. Mehrmals bedeckte man die Gasse mit neuen Kiesschüttungen. Kopfsteinpflaster kamen erst im Verlaufe des 15. Jh. auf. Das Holen von Wasser war ein mühsames, zeitraubendes Tagewerk. Brunnenschächte befanden sich in den Hinterhöfen, oft neben Latrinengruben. Dies führte zur Verunreinigung des Wassers. Winterthur besass bereits um 1200 einen offenen, durch wichtige Gassen geführten Stadtbach, welcher Brauchwasser in die Stadt leitete. Aus Tonröhren oder aneinander gesetzten, ausgebohrten Holzstämmen (sogenannten Teucheln) bestehende Wasserleitungen kamen vereinzelt im 13./14. Jh. auf. Sie spiesen Brunnen in Klöstern oder auf Plätzen. Öffentliche Brunnen galten im späten Mittelalter als wichtiges Repräsentationsobjekt einer Stadt und waren reich mit Statuen verziert. Als Toilette standen Latrinengruben in den Hinterhöfen zur Verfügung. Waren diese voll, liess man sie ausschaufeln und führte die Fäkalien als Dünger auf die Felder. Einige Häuser verfügten über Aborterker, welche sich in schmale Gässchen zwischen den Häusern entleerten. Mittels Bächen oder bei heftigen Regenfällen wurden diese dann durchgespült. Gerade im warmen Sommer boten überlaufende Latrinen häufig den Grund für nachbarliche Streitigkeiten. In den Städten befanden sich die verschiedenartigsten Handwerke. Archäologisch sind vor allem jene Gewerbe nachweisbar, deren technische Einrichtungen wie Öfen (Töpfer, Hafner, Bäcker), Feuerstellen (Buntmetallgieser, Schmiede) oder Bottiche (Gerber) im Boden erhalten blieben oder deren Abfallprodukte als Müll in Aufschüttungen gelangten (Knochenschnitzer, Glaser). Eine Vielzahl von Berufen entzieht sich weitgehend dem Nachweis (Küfer, Drechsler, Pergamentmacher usw.), da die Werkstätten keine Spuren hinterliessen. Zur Stadt gehörten das Badehaus, in dessen Umfeld sich oft zerschlagene Schröpfköpfe finden, sowie Spitäler. Im ersten 1173 gegründeten Spital in Zürich fanden Arme und Kranke, Fremde und Pilger Aufnahme. © STARCH Thema: Bauen und Siedlungswesen 35 Sondersiechenhäuser, vor allem für Aussätzige gebaut, befanden sich ausserhalb der Stadtmauern. Diese Spitäler finanzierten sich durch die Erträge aus gestiftetem Grundbesitz, womit sich die Spender eine Sicherung ihres Seelenheils erhofften. Kirchen und Klöster Objekte 16, 19 Kirchen und Klöster mit den dazugehörenden Friedhöfen spielten im Mittelalter eine herausragende Rolle. Mit Umbauten und Vergrösserungen auf der Höhe des Zeitgeists stellte sich die Bauherrschaft selber dar. Der romanische Ausbau des Zürcher Grossmünsters dauerte mit kürzeren Unterbrüchen rund hundert Jahre bis um 1230. Eine besondere Herausforderung war, die Kirche trotz der Bautätigkeit in Funktion zu halten. In die laufend abgeänderten Baupläne flossen englisch/französische, oberrheinische und oberitalienische Ideen ein. Anders als heute nutzte man den Kirchhof (angrenzend an die Kirche) als Friedhof. Kirche und Friedhof waren Treffpunkte; hier traf man sich zu Gedächtnisfeiern für Verstorbene und Ratsbeschlüsse wurden vor versammeltem Kirchenvolk verlesen. Zürich um 1250. Noch ist das Gelände beidseits des Flusses locker überbaut. Deutlich heben sich die in Stein gebauten Kirchen und Häuser ab. 1 Fraumünster, 2 Grossmünster, 3 St. Peter, 4 Bebauung am Münsterhof, 5 Obere Brücke, 6 Wasserkirche, 7 Untere Brücke, 8 Rathaus, 9 Fischmarkt, 10 Umfriedung des Klosterareals Fraumünster, 11–13 Adelstürme, 14 Wies- und Rebgelände, 15 Rindermarkt-Neumarkt. M. U. N. FLÜELER (Hg.) Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992), S.81. Burgen Die Burg, wehrhafter Wohnsitz adliger Familien und Verwaltungsmittelpunkt einer zugehörigen Herrschaft, war ein weithin sichtbares Merkmal des hoch- und spätmittelalterlichen Landschaftsbilds. Als Burgenbesitzer treten uns im 11. und 12. Jh. Hochadlige – beispielsweise die Grafen von Kyburg und die Freiherren von Regensberg –, später auch zahlreiche An- Das Leben auf der Burg Die Dichter mittelalterlicher, höfischer Ritterromane stellten das Leben auf der Burg in den prächtigsten Farben dar. Weitgehend vorbehaltlos übernahm die Romantik im 19. Jh. diese idealisierten Beschreibungen, was bis in heutige Zeit nachwirkt. Archäologische Erkenntnisse korrigieren dieses Bild. Die zahlreichen kleinen Burgen waren eigentlich befestigte Landwirtschaftsbetriebe, in denen man auch Tiere hielt. Zuweilen lagen Stallungen direkt unterhalb der Wohnstuben, da die Wärme der Tiere die Heizleistung der Kachelöfen verbesserte. Noch fehlte Fensterglas weitgehend, um die Räume gegen die Winterkälte isolieren zu können. Ein wichtiger Teil des Alltags bestand aus häuslichen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten, an denen sich auch die meisten niederen Adligen beteiligten. Natürlich fiel der Alltag der Hochadligen komfortabler aus, die sich ihren grundherrlichen Pflichten zu widmen hatten, während Mägde und Knechte das Tagewerk vollbrachten. Der romanische Umbau des Zürcher Grossmünsters. Die neue Kathedrale wurde so um den älteren Kirchenbau herumgebaut, dass dieser möglichst lange gebraucht werden konnte. Das bereits verkürzte Schiff war mit einer provisorischen Bauwand abgedichtet. Um die Kirche muss man sich noch die Werkstätten von Steinmetzen, Schmieden sowie Mörtelmischwerke vorstellen. D. GUTSCHER, Grossmünster Zürich, Schweizerischer Kunstführer 326 (Bern 1983), Abb. 4 u. 5. 36 Thema: Bauen und Siedlungswesen Baustelle auf einer Burg. Im Hintergrund sind Steinmetze und Zimmermänner zu sehen. Im Vordergrund erkennt man das Kalkbrennen, Mörtelmischen sowie das Hochziehen von Quadern mit einem einfachen Kranen. H. BOXLER, Burgenland Schweiz, Bau und Alltag (Solothurn 1990). Burgruine Alt-Regensberg ZH. Im Zentrum steht der Hauptturm. Innerhalb der Ringmauer erhoben sich Wohn- und Wirtschaftsbauten. © STARCH gehörige niederer Adelsschichten entgegen. Gerade bei deren Burgen beschränkten sich zugehörige Herrschaftsrechte vielfach auf die gerodeten Flächen im unmittelbaren Umfeld der Burg, die landwirtschaftlich genutzt wurden. Im Kanton Zürich standen vor allem kleine Burgen, die meist nur einen Hauptturm, ein Wohngebäude und landwirtschaftliche Bauten aufwiesen. Nur wenige Burgen verfügten über mehrere Steingebäude und eine Kapelle. Die Wasserversorgung stellten ausser Zisternen auch Sodbrunnen sicher. Deren bis in wasserführende Gesteinsschichten abgeteufte Schächte mit Tiefen bis zu 57 Metern sind herausragende Zeugnisse mittelalterlicher Tiefbaukunst. Burggräben wurden zur Gewinnung des Baumaterials in die Felsen gehauen, waren aber zusamment mit den Ringmauern auch wehrhafte Teile. Die militärische Bedeutung einer Burg war entgegen landläufiger Meinung äusserst gering, die Ausstattung bot im besten Fall Schutz vor einem handstreichartigen Überfall. Stand hingegen eine geplante militärische Aktion bevor, blieb den Bewohnern vielfach nur die Flucht (Schauenberg ZH). Die Entstehung von grossflächigen Herrschaftsgebieten mit wenigen Verwaltungssitzen sowie die Wirtschaftskrise führten im Spätmittelalter zur Aufgabe zahlreicher Burgen. Im Umfeld von Zürich erstanden einige Familien aus dem städtischen Patriziat Burgen, die sie mit grossem Aufwand ausbauten und so an die adlige Lebensweise anknüpften. Die Wehrhaftigkeit war nunmehr Zierde. Werner Wild Weiterführende Literatur Kantonsarchäologie Zürich. CH. BADER, Die mittelalterlichen Siedlungsreste von NiederglattNöschikon. In: Archäologie im Kanton Zürich 1999–2000, Berichte der Kantonsarchäologie 16 (Zürich und Egg 2002) S. 121–140. K. BÄNTELI, M. HÖNEISEN, K. ZUBLER, Berslingen – ein verschwundenes Dorf bei Schaffhausen. Mittelalterliche Besiedlung und Eisenverhüttung im Durachtal. Schaffhauser Archäologie 3 (Schaffhausen 2000). H. BOXLER, Burgenland Schweiz, Bau und Alltag (Solothurn 1990). N. U. M. FLÜELER (Hg.) Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992). D. FLÜHLER-KREIS, Farbfolien mit Kommentar zum Ausstellungskatalog Schloss Kyburg (Zürich 2001). R. GLATZ, Burgdorf – Ehemaliges Siechenhaus. Ergebnisse der archäologischen Grabungen und Bauforschungen 1989 bis 1991 (Bern 1995). M. GRAF u.a., Hintergrund – Untergrund. Archäologische Entdeckungsreise durch Winterthur, Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 331 (Zürich 2000). M. ILLI, Von der Schîssgruob zur modernen Stadtentwässerung (Zürich 1987). M. ILLI, R. WINDLER, Stadtkirche Winterthur, Archäologie und Geschichte (Winterthur 1994). © STARCH 6 Thema: Bildung und Wissenschaft 37 Bildung und Wissenschaft Ein Verständnis für die mittelalterliche Struktur von Bildung setzt Abstrahierung von seither entfalteten Denkformen voraus. Insbesondere das 18. Jh. hat die Konzeption von Bildung als Leitbegriff für die Individualitäts- und Freiheitsidee der Aufklärung bis in unsere Zeit hinein geprägt. Bildung wurde damals vor allem auf eine Lese- und Schreibfähigkeit verengt und das Analphabetentum verpönt. Im Mittelalter war Analphabetentum dagegen nicht mit Unbildung deckungsgleich. Das Mittelalter kennt neben dem althochdeutschen Wort zucht eine Vielzahl lateinischer Begriffe (educatio, eruditio, disciplina, doctrina, informatio, formatio morum, institutio, ars, scientia, sapientia, peritia), die allesamt Nähe zu Unterweisung, Lernen bzw. Lehren, Gehorsam sowie zu Wissenschaft oder Erfahrung widerspiegeln und damit ein weites Bedeutungsspektrum von Bildung und Erziehung aufzeigen. Die Eigenart der ständisch differenzierten Bildung und Erziehung im Mittelalter wurzelte im Erbe aus zwei Kulturen: In der Völkerwanderungszeit traf die aus mediterranen Schriftkulturen gewachsene spätrömische Welt auf das Germanentum, das bis ins Hochmittelalter eine schriftlose Bildung kultivierte. Die Kirche fungierte während des Mittelalters als Kontinuitätsträgerin von römischer Administration und lateinischer Schriftlichkeit, während die weltlichen Gesellschaftsschichten – vom Bauern bis hin zum regierenden Hochadel – lange in der volkssprachlichen Schriftlosigkeit verharrten. Bildung, Erziehung und Wissenschaft waren im mittelalterlichen Weltbild getragen von der philosophischen Idee einer theologischen und hierarchisch gestuften Einheit der Schöpfung. In diese Hierarchie fügten sich auch die verschiedenen Wissenschaften ein, wobei nicht deren Erkenntniszweck, sondern vielmehr die Erkenntnisweisen ihre Position auf der Stufenleiter bestimmten. Im Vordergrund stand oft eine normierte und standardisierte, ausschliesslich auf Erfahrung beruhende Wissenschaft, die in der Scholastik eine Blüte fand. So standen die sieben artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) in der Hierarchie über den artes mechanicae, die der «blossen» Ingenieurtätigkeit zugeschrieben wurden. In der Zeit vor 1100 wurden Bildung und Wissenschaft vor allem in den Klöstern gepflegt. Mönche schrieben alte Bücher ab und kommentierten sie. So entstanden u.a. in den Skriptorien (Schreibstuben) der Klöster Rheinau ZH, St. Gallen und Reichenau (D) Schätze der Buchmale- «Hier erschafft Gott den Himmel, die Erde, die Sonne, den Mond und alle Elemente.» So lautet auf Altfranzösisch die Überschrift über diesem Bild, mit dem in einer französischen Bibel des 13. Jh. das erste Buch der Genesis beginnt. Der Zirkel, mit dem Gott die Grenzen des Universums definiert, ist ein typisches Arbeitsgerät auf den Baustellen im Mittelalter. Gott symbolisiert damit auch den bedeutenden Beruf des Baumeisters, der nur freien Männern offen stand und eine lange Lehrzeit sowie profunde Kenntnisse in Mathematik und Geometrie voraussetzte. R. TOMAN, Das hohe Mittelalter. Besichtigung einer fernen Zeit (Köln 1988), S. 98. Links: Im Mittelpunkt dieser Weltkarte des 13. Jh. liegt Jerusalem. Oben befindet sich Asien, links unten Europa, rechts Afrika, an dessen Rand seltsame Geschöpfe dargestellt sind. R. BARLETT (Hg.), Die Welt des Mittelalters. Kunst, Religion, Gesellschaft, Enzyklopädie mit 800 Bildern (Stuttgart 2001), S. 208. Rechts: Ausschnitt einer Karte von 1513. Der Norden befindet sich unten. Nun sind einzelne Ortschaften, Hügel und Gewässer gut erkennbar. Ihre Darstellung richtet sich nach Bekanntheit und Bedeutung. In der Bildmitte liegt Zürich (Turegum), am oberen Rand Schwyz. N. U. M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.) Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 393. 38 Thema: Bildung und Wissenschaft Dieser Mönch auf einem um 1170 gemalten Bild ist dabei, einen Text zu schreiben. Rechts hält er die Schreibfeder, links ein Radiermesser, um Fehler auskratzen zu können. R. TOMAN, Das hohe Mittelalter. Besichtigung einer fernen Zeit (Köln 1988), S. 98. © STARCH reikunst. Der grösste Teil der antiken Literatur – die Schriften der altgriechischen Gelehrten wie Archimedes, Aristoteles und Pythagoras – wurden im Mittelmeerraum ins Arabische übersetzt und gelangten erst allmählich ab dem 11. Jh. über das muslimische Spanien in den mitteleuropäischen Raum. Die Kirche versuchte aber die wissenschaftliche und philosophische Auseinandersetzung mit antikem Gedankengut weitgehend zu unterbinden. Gelehrte wie etwa der im süddeutschen Raum geborene Albertus Magnus (um 1200–1280) wagten als Mönche den Spagat zwischen Wissenschaft und Kirche, setzten sich mit den antiken Autoren auseinander und waren immer drohenden kirchlichen Sanktionen (z. B. Exkommunikation) ausgesetzt. Das Aufblühen der städtischen Kultur, das Aufkommen einer rudimentären Verwaltung und die Ausdehnung des Handels im Spätmittelalter führten zu einer rasanten Zunahme schriftlicher Zeugnisse im Laufe des 13. Jh., vor allem aber im 14. und 15. Jh. Wenn noch im Hochmittelalter der Schriftgebrauch und damit die Wissenschaft fast ausschliesslich auf den kirchlichen Bereich konzentriert war, weitete sich dieser im Spätmittelalter insbesondere auch auf die Städte aus. Im Zuge der frühen Entdeckungsreisen wurde das mittelalterliche Weltbild und seine kartographische Darstellung revolutioniert. Die schematische und sicherlich auch symbolische Darstellung der Welt als Scheibe, in deren Mittelpunkt Jerusalem lag, mit den vom Meer und Ungeheuern umgebenen Landmassen hatte geringen praktischen Nutzen für die Seefahrt. Im 15. und 16. Jh. entstehen immer detailliertere Landkarten, sowohl von den entdeckten Küstenabschnitten Afrikas und Asiens wie auch von der näheren Umgebung – etwa der Umgebung von Zürich. Auswendiglernen in den mittelalterlichen Schulen Da Bücher als Schulmaterial weitgehend fehlten, bestand das Lernen aus dem endlosen mündlichen Nachsagen von Texten. Memorieren durch Repetieren beherrschte den Schulalltag. Da vor allem religiöse Texte eingeübt wurden – die Schule bot natürlich die Gelegenheit, die gesellschaftliche und gottgewollte Ordnung einzutrichtern –, fühlt man sich bei der Vorstellung des Unterrichts in einem mittelalterlichen Schulzimmer an die Bilder der heutigen Koranschulen erinnert. Das Textbeispiel auf dem Bild zeigt den «Cisiojanus», ein Lehrgedicht, welches die wichtigsten Daten des Heiligenkalenders mnemotechnisch einprägen soll. Im lateinischen um 1200 entstandenen Original ist jeder S. LORENZ, Th. Zotz (Hg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Ausstellungskatalog Karlsruhe. Katalogband (Karlsruhe 2001), S. 243. Monat in zwei Versen gefasst und besteht aus einer Aneinanderreihung der Anfangssilben der Heiligenfeste sowie des Monatsnamens. Es beginnt: Cisio Janus Epi = Circumcisionis Christi Janus Epiphaniae = Christi Beschneidungsfest (1.1.), Januar, Dreikönigstag. Komplette Januarverse: «Cisio Janus Epi sibi vendicat Oc Feli Mar An Prisca Fab Ag Vincen Ti Pau Po nobile lumen». Das Gedicht wurde bis weit ins 15. Jh. gebraucht und wie vorliegendes Beispiel von 1524 zeigt, ins Deutsche übersetzt: «Jenner hat XXXI tag. Jesus das kind ward beschnitten. drey künig von orient komen geritten. und opfferten dem herzen lobesan.» © STARCH Thema: Bildung und Wissenschaft 39 Nur aufgrund archäologischer Funde weiss man, dass die Wikinger von Skandinavien gegen das Ungewisse im Westen gesegelt waren und die Inseln Island, Grönland und den Norden des amerikanischen Kontinents erreichten. Diese Leistung wäre ohne geeignete Schiffe, ohne grossen Mut und Entdeckungswillen unmöglich gewesen. Schulen im Mittelalter Objekt 35, Klangbeispiele auf der CD Musik und Text. Die Ausbildung war bis ins 13./14. Jh. auf Klöster beschränkt, noch gab es erst wenige Universitäten (Bologna: 1118; Paris: 1150 gegründet). Das Aufkommen der Städte, die Organisation des Handwerks und die Zunahme des Handels führten auch zur Verbesserung im Bildungswesen. Nach wie vor bildeten die Klöster ihren eigenen Nachwuchs aus. Zu diesen Klosterschulen, deren Anzahl durch die Gründungen der Bettelmönchsorden anstieg, gesellten sich Lateinschulen. Deren Schulmeister wurde von der Stadt angestellt. Latein war nach wie vor die internationale amtliche Schriftsprache, auch wenn allmählich im späten 13. Jh. deutsch verfasste Urkunden auftauchen. Das damals gesprochene Mittelhochdeutsch wurde immerhin bereits seit dem 12. Jh. neben dem Latein als Sprache der Literatur verwendet (Ritterromane, Minnelieder: vgl. die Klangbeispiele 13–15, 17–18 auf der CD Musik und Text). Die Schulen blieben den Jungen vorbehalten, weshalb sie Knabenschulen genannt wurden. Hier erfolgte die Grundausbildung in Latein und Chorgesang. Letzterer entsprach den Bedürfnissen der kirchlichen Litur- Dieses Bild aus der zweiten Hälfte des 14. Jh. zeigt eine Vorlesung an der Universität von Bologna. Hier sind auch ältere Männer sowie zwei Frauen zu sehen. N. U. M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 191. Wachstafeln für Schreibübungen und Notizen Natürlich mussten auch Schreibübungen erledigt werden. Dafür boten sich die seit der Antike bekannten hölzernen Schreibtäfelchen an. Die häufig aus Buchenholz geschnittenen Tafeln wiesen eine eingetiefte Fläche auf, die G. P. FEHRUNG, Stadtarchäologie in Deutschland (Stuttgart 1996), Abb. 70. mit Bienenwachs aufgefüllt wurde. In dieses Wachs konnte man mit einem spitzen Gegenstand Texte schreiben. Das andere Ende dieser Griffel war flach, sodass man die Fläche wieder glätten und erneut darauf schreiben konnte. Die abgebildeten Schreibtäfelchen wurden in Lübeck (D) gefunden. Da sich Holz im Boden zersetzt, findet man meistens nur die aus Eisen oder Bronze hergestellten Griffel. Die Unterscheidung von Nadeln, Nägeln und kleinen Ahlen ist aber schwierig und nur möglich, wenn sich das flache hintere Ende erhalten hat. Die Griffel unten stammen alle von der Burg Alt-Wädenswil ZH. Der Fundort erstaunt auf den ersten Blick. Zwischen 1300 und 1549 war die Burg aber im Besitz der Jo- hanniter, eines geistlichen Ritterordens, dessen Mitglieder grösstenteils über Schreib- und Lesekenntnisse verfügten. Kantonsarchäologie Zürich. 40 Thema: Bildung und Wissenschaft Dieses Bild aus der Manessischen Liederhandschrift zeigt zwei Schulstuben (Anfang 14. Jh.). Beide Lehrer erheben den Zeigefinger und halten eine Rute in der Hand. Die grüne Rute war das Symbol für Grammatik bei der Darstellung der sieben Künste (Fächer). Der grosse Lehrer links trägt einen Bart, der für Alter und Weisheit steht, und ist weltlich gekleidet. Unter ihm sitzen zwei Schüler, wobei der linke aufgrund seiner Tonsur zum geistlichen Stand gehört. Der Lehrer rechts ist auch Geistlicher. I. F. WALTHER, Codex Manesse. Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 96. © STARCH gie, die auf den lateinischen Wechselgesang von Priestern und ausgebildetem Chor basierte. In den Städten gab es die unter Aufsicht der städtischen Oberschicht geführten deutschen Schulen für jene, die nicht für die Lateinschule geeignet oder zugelassen wurden: Handwerksburschen und Mädchen. Daneben gab es sogar ein Angebot für private Kurse, wie ein Beispiel aus Basel zeigt. Hier bot Oswald Geisshüsler 1526 neben dem regulären Kirchenunterricht Schnellkurse für jeden, Mann und Frau, Jung und Alt, in «deutsch Schreiben und Lesen» sowie in Buchhaltung an. Im 15. Jh. kam es im süddeutschen Raum zur Gründung von Universitäten (u. a. Basel und Freiburg im Breisgau D 1460). Die Studiengänge waren europaweit einheitlich strukturiert. Beim Eintritt mit 14 bis 16 Jahren musste man über genügende Lateinkenntnisse verfügen. Das Grundstudium der freien Künste (Artisten) ist etwa mit der heutigen gymnasialen Oberstufe vergleichbar. Danach folgten die höheren Fakultäten der Juristen, Mediziner und Theologen. Spätestens seit dem 15. Jh. hatten Lehrer in der Regel ein Universitätsstudium absolviert. Das Salär setzte sich aus Geld- und Naturalbeiträgen der Schulleitung, der Schüler und kirchlicher Stiftungen zusammen. Dem Lehrer ging meistens ein Gehilfe zur Hand, der den Ofen in der Schulstube beheizte, über die Disziplin wachte und beim Abfragen der Schüler half. Die Anzahl Schüler, die zusammen in einem Raum unterrichtet wurden, konnte 60 bis 70 erreichen. Schulalltag Der Schuleintritt erfolgte ungefähr nach Abschluss des 7. Lebensjahres. Alle Alterstufen wurden zusammen in einem Zimmer unterrichtet. Dabei gab es aber kein nach Jahrgang gegliedertes Programm; ältere Schüler unterschieden sich von jüngeren hauptsächlich durch die Anzahl Wiederholungen desselben Stoffs. Über den Übertritt an die Universität entschieden die Kenntnisse im Latein und das vorhandene Geld für den eigenen Lebensunterhalt. Wie den autobiographischen Berichten beispielsweise des Wallisers Thomas Platter (1499–1582) zu entnehmen ist, entschieden die Gelegenheiten zum Betteln oder bezahlten Singen über die Wahl des Studienorts. Almosen an Schüler zu vergeben gehörte zu den «guten Werken» im Sinne der eigenen Jenseitsvorsorge (je mehr Geld man spendete, desto früher durfte man das Fegefeuer verlassen). Die Beschaffung des Lebensunterhalts war auch verantwortlich für Unterbrechungen oder Abbruch des Schul- und Universitätsbesuchs. Dabei wurden jüngere ABC-Schützen von den älteren Burschen brutal zum Betteln und Stehlen gezwungen. Der Abschluss des Universitätsstudiums war nicht nur von den fachlichen Leistungen abhängig. Zum Erwerb des Doktortitels mussten die Studenten ein grosses Essen für die Professoren veranstalten und ihnen und ihren Ehefrauen Geschenke machen. © STARCH Thema: Bildung und Wissenschaft 41 Auch bezüglich Pensum und Ferien manifestieren sich Unterschiede zu heute. Schulfrei waren der Donnerstag- und Samstagnachmittag, dafür wirkten die Schüler an Sonn- und Feiertagen an Gottesdiensten mit. Eigentliche Schulferien waren unbekannt, doch fiel an den vielen kirchlichen Feiertagen des Jahres der Unterricht aus. Diese Freitage entsprachen etwa der Dauer der heutigen Schulferien. Die Schulfeste boten Unterbrechungen des trockenen Schulalltags. Heute noch beliebt ist der Schulsilvester, der auf das am Tag der Unschuldigen Kindern am 28. Dezember gefeierte Narrenfest zurückgeht. Da wurde die «verkehrte Welt» inszeniert. Schüler wählten einen «Schülerbischof» und verkleideten sich als Narren und Kapläne. Abends gingen sie in ein Wirtshaus zum Nachtessen oder veranstalteten ein Tanzfest. Hierfür war die Fraumünsterschule in Zürich berühmt. Wegen den Schulferien findet heute der Schulsilvester vor Weihnachten statt. Das Herauslärmen der Lehrer und Umherziehen lassen noch deutliche Bezüge zur verkehrten Welt erkennen. Im frühen 16. Jh. erfahren wir auch erstmals von Schülertheatern. Die Schüler des Zürcher Grossmünsters führten zu Neujahr 1514 ein «Spiel von den alten und jungen Eidgenossen» auf, in dem sie den Solddienst der Zeitgenossen kritisierten und Genügsamkeit, Frömmigkeit und Fleiss der Vorfahren priesen. Wissen und Bildung ausserhalb der Schulen Objekte 1, 6, 10, 20, 21, 27, 34, 35 Die Darstellung des spätmittelalterlichen Schulwesens darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass schulische Bildung ein Privileg war. So gingen Bauernkinder auf dem Land nicht zur Schule, sie wurden früh als Arbeitskräfte eingesetzt. Auch die grossen Erfindungen und Leistungen in Handwerk und Technik entstanden nicht an den Hochschulen, sondern in den Werkstätten und auf den Bauplätzen. Nach der Ausbildung in der Werkstätte folgten die Wanderjahre, wie man sie heute etwa noch von den Zimmerleuten her kennt. Da gelangten natürlich neue Errungenschaften sehr rasch von einer Stadt in die andere. Auch die Bildung von Zünften in den spätmittelalterlichen Städten führte zu einem guten Informationsaustausch und der Festlegung von Qualitätsnormen innerhalb eines Berufsstandes. Anhand der archäologischen Funde kann der Austausch von Innovationen nachvollzogen werden, wie folgende Beispiele zeigen. Bei der Ofenkeramik erfolgt das Auftauchen neuer Kachelformen, etwa der viereckigen Blattkacheln in der Das Reisen und die Kontakte der Oberschicht förderte die Vermittlung fremder Einflüsse. In ihrer Burg Neu-Regensberg ZH liessen die Freiherren von Regensberg einen runden Hauptturm errichten, wie er im westschweizerischen Raum Mode war. N U. M. FLÜELER (Hg.), Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992), S. 25. 42 Thema: Bildung und Wissenschaft © STARCH ersten Hälfte des 14. Jh. im Raum Basel, Bern, Zürich, Winterthur, derart rasch, dass nicht mehr zu entscheiden ist, wo die Erfindung erfolgte. Interessant sind auch Beobachtungen bei der Geschirrkeramik: Bis zum 12./13. Jh. gab es noch regionale Unterschiede in Aussehen und Machart. Ab dem späten 13. Jh. finden sich Gefässe wie die Dreibeintöpfe, die, ob aus Winterthur oder Basel stammend, zum Verwechseln ähnlich aussehen. Auch im Glasbläserhandwerk führte die Entwicklung zu weiträumigen Vereinheitlichungen, wie vor allem die Nuppenbecher zeigen. Einige im Archäologie-Koffer versammelte Objekte stehen als Beispiele für die zahlreichen Errungenschaften des hohen und späten Mittelalters. Kachelöfen trugen zur Steigerung des Wohnkomforts bei, ermöglichten sie doch die rauchfreie Beheizung von Innenräumen. Glasfenster wiesen in wohlhabenden Haushalten die Kälte ab. Der Hufbeschlag von Pferden verbesserte u.a. deren Einsatz im Krieg und auf Reisen. Pferde konnten dank der Kummetbespannung ab dem 13. Jh. in der Landwirtschaft eingesetzt werden und waren gegenüber den Ochsengespannen weitaus leistungsfähiger. Die Entwicklung des horizontalen Webstuhls führte zu Verbesserungen in der Tuchherstellung. Handgeschöpftes Papier (anstelle des teuren Pergamentes) war Voraussetzung für die grössere Verbreitung von Büchern und Flugblättern. Mit den Modeln zur Dekoration von Gebäck und Ofenkacheln fassen wir eine Vervielfältigungstechnik. Ein Höhepunkt dieser Technik ist der nur in seltenen Fällen archäologisch fassbare Buchdruck in der zweiten Hälfte des 15. Jh. Andrea Tiziani / Werner Wild Weiterführende Literatur R. BARLETT (Hg.), Die Welt des Mittelalters. Kunst, Religion, Gesellschaft, Enzyklopädie mit 800 Bildern (Stuttgart 2001). N. U. M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1: Frühzeit bis Spätmittelalter (Zürich 1995), S. 462–463. U. LINDGREN (Hg.), Europäische Technik im Mittelalter. Ein Handbuch (Berlin 1996). D. MERTENS, Bildung. In: S. Lorenz, Th. Zotz (Hg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Ausstellungskatalog Karlsruhe. Katalogband (Karlsruhe 2001), S. 239–246. E. ROTH KAUFMANN, Spätmittelalterliche reliefierte Ofenkeramik in Bern (Bern 1994). G. WIELAND, Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Tübingen 2002). © STARCH 7 Thema: Spiel und Kurzweil 43 Spiel und Kurzweil Spiel und Fest waren sowohl für Kinder wie auch für Erwachsene bedeutend im Alltagsleben. Zahlreiche mittelalterliche Geschicklichkeits-, Beweglichkeits- wie auch Brett- und Kartenspiele bestehen bis heute (Reifen, Stelzen gehen, Windrädchen, Seilspringen, Ringen, Steinstossen, Schiessen, Wettrennen, Fechten). Manchmal sind die Spielplätze sogar am gleichen Ort geblieben: Auf dem Zürcher Lindenhof gab es bereits im Jahr 1474 Schaukeln und Tische mit Schachspielen. Spiele für Kinder und Erwachsene Von den zahlreichen auf bildlichen Darstellungen gezeigten Spielgeräten haben nur wenige die Zeit überdauert: Murmeln und Figürchen aus Ton, Kindergeschirr und selten Holzpuppen. Ähnlich wie heute ahmten die Kinder die erwachsene Welt nach und übten so bereits die späteren gesellschaftlichen Rollen ein. Einer grossen Beliebtheit erfreuten sich Gesellschafts- und Glücksspiele. Zum Würfeln gesellte sich nach 1370 das Kartenspiel. Weil oft um Geld gespielt wurde, war die Problematik der Spielsucht allgegenwärtig. Die Kirche kritisierte deshalb diese Spiele als unchristlich und forderte deren Verbot. Auch die Stadtbehörden versuchten im 14./15. Jh. erfolglos, Spielverbote durchzusetzen, um Schlägereien zu verhindern. In sportlichen Wettkämpfen massen sich Kinder wie Erwachsene. Beliebt waren Wettrennen, Ringen, Schiessen und Imitationen von Turnie- 1560 malte Pieter Bruegel der Ältere das berühmte Bild «Kinderspiele», das sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindet. Zahlreiche der 78 dargestellten Spiele sind heute noch beliebt. JEANETTE HILLS, Das Kinderspielbild von Pieter Bruegel d. Ä. (1560), Eine volkskundliche Untersuchung. Veröffentlichungen des Österreichischen Museums für Volkskunde, X (Wien 1957). 44 Thema: Spiel und Kurzweil © STARCH ren. Ein sportliches Vergnügen der Oberschicht war die Jagd. Besonders aufwändig wegen der Abrichtung der Vögel war die Falknerei. Brettspiele Objekte 36–38 Tricktrack-Spielbrett aus Freiburg im Breisgau (D). Dieses kunstvolle Spiel stammt aus dem 13. Jh. Der Fundort in einer Klosterlatrine wirft Fragen auf. Wurde es von Mönchen absichtlich weggeworfen, um nicht beim Spielen auf dem Abort erwischt zu werden, oder warf es der Abt als Strafe in die Latrine? G. P. FEHRING, Stadtarchäologie in Deutschland (Stuttgart 1996), Abb. 81. Der Teufel schwebt über vier Personen, die eine Partie Tricktrack spielen. Kirche und Obrigkeit sahen in solchen Spielen in erster Linie eine Gefährdung der Menschen. J. BRÜLISAUER, H. DRAEYER, Y. JOLIDON (Hg.), Alltag zur Sempacherzeit. Innerschweizer Lebensformen und Sachkultur im Spätmittelalter. Ausstellungskatalog des Historischen Museums Luzern (Luzern 1986), Titelbild. Die wichtigsten Brettspiele waren Schach, Tricktrack (das heutige Backgammon) und Mühle. Die beiden letztgenannten Spiele blicken auf antike Vorläuferspiele zurück, die auch in unserer Gegend gespielt wurden. Das vermutlich bereits im 3./2. Jh. v. Chr. in Indien erfundene Schach erreichte dagegen erst im 6./7. Jh. n. Chr. den persisch-arabischen Raum, wobei es nach dem persischen Wort für König «Shah» benannt wurde. Das Schach gelangte dann auf zwei Wegen nach Europa: über Handelswege von Persien durch Russland und den Ostseeraum sowie über den arabischen Mittelmeerraum. Hier führte eine Auslegung des Korans, welche die Darstellung von Figuren verbietet, zur Erfindung von abstrakten Figuren. Bis ins 13./14. Jh. bestanden in Mitteleuropa sowohl abstrakte wie auch figürliche Spielsätze nebeneinander. Das Schach wurde als Abbild der Gesellschaftsordnung gesehen: «Die Welt gleicht einem Schachspiel, sie hat auch Könige und Königinnen, Grafen (Türme), Ritter (Springer), Bischöfe (Läufer) und Bauern.» Auch beim Backgammon dürfte der zunehmende Kontakt des Abendlandes mit der muslimischen Welt im 11./12. Jh. zu einer wachsenden Beliebtheit des Spiels in Europa geführt haben. Die heutigen Regeln entstanden jedenfalls erst im Mittelalter. Der Name «Tricktrack» ist französischen Ursprungs (von triebrac). Eine sprachliche Wurzel ist sicher frz. tricher: austricksen. «Track» könnte noch im heutigen Wort «vertrackt» (schwierig) weiterleben. So gesehen wäre Tricktrack ein sehr sinngemässer Name für dieses strategische Brettspiel. Wertvolle und einfache Spiele Besonders wertvolle Spiele besassen Steine aus Bergkristall, Elfenbein oder Geweih und hölzernen Brettern, deren Felder mit Intarsien oder mit Knochenplatten ausgelegt waren. Daneben gab es natürlich eine Vielzahl von einfachen geschnitzten Holzfiguren und in Holz oder Stein eingeritzte Spielpläne. Diese haben sich aber nur in seltenen Fällen erhalten. Würfel waren aus Knochen oder Holz geschnitzt. Wie in der Römerzeit war auch im Mittelalter das Spielen mit Knöchelchen, den Astragalen aus den Sprunggelenken von Schafen und Ziegen, verbreitet. Wie heute noch in nordafrikanischen Ländern, der Türkei und der Mongolei galt es als unterhaltsames Geschicklichkeitsund Würfelspiel. © STARCH Thema: Spiel und Kurzweil 45 Feste Das Fest war eine willkommene Abwechslung im eintönigen Alltag. Sowohl private Lebensabschnitte wie Taufe, Eintritt ins Erwachsenenleben und Hochzeit als auch öffentliche Handlungen – etwa Bundesbeschwörungen, Verkündung von Verträgen und Besuche hochgestellter Persönlichkeiten – bildeten Anlässe für ausgelassene Feiern. Dazu gesellten sich mehrere Dutzend kirchliche Feiertage, Namenstage von Heiligen – erinnert sei an den Stefans- und den Berchtoldstag –, Kirchweihen und Termine wie Fasnacht, Fruchtbarkeitsund Erntefeste. Auch Kirchweihen und jährliche, gemeinsame Wallfahrten waren mit Tanz und sportlichen Wettkämpfen verbunden. Feste erlebte man als Ausnahmezustand, der die Ordnung und Gesetze des Alltags weitgehend ausser Kraft setzte. Sie boten die Gelegenheit, Nachrichten auszutauschen und überregionale Kontakte zu knüpfen. Begegnungsfeste zweier verbündeter Städte oder auch auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkte Feiern wie ritterliche Turniere oder Zunfttage förderten das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die festliche Stimmung konnte wegen des übermässigen Alkoholgenusses in wüste, mit Händen und Waffen ausgetragene Raufereien münden, deren Kontrolle der Obrigkeit oftmals entglitt. Bildliche Darstellungen von Festen kennen wir aus illustrierten Handschriften. Hingewiesen sei auf die in Zürich im beginnenden 14. Jh. ent- Schützenfest in Konstanz 1458 (Chronik des Diebold Schilling, Luzern). Innerhalb des Zauns steht ein fahrbarer Schützenstand. Rechts ist eine Schlägerei zwischen Einheimischen und Eidgenossen im Gange, deren Münzen als «Kuhplapparte» (Kuhpfennig) beschimpft und abgewiesen wurden. Darauf verwüsteten diese mit Verstärkung aus der Innerschweiz das Umland von Konstanz und waren erst unter Vermittlung Zürichs bereit, mit einer finanziellen Abfindung abzuziehen. W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985), S. 293. Das höfische Fest – Vom Ritterturnier zur Parodie Die spätmittelalterlichen Ritterturniere haben das Mittelalterbild bis heute nachhaltig geprägt. Austragungsort dieser mehrtägigen Feiern mit Banketten, Tänzen, Umzügen und Kampfspielen waren die Städte. Turniere sind für Zürich etwa für 1368 und 1467 belegt, aus Schaffhausen liegt der detaillierte Bericht eines spanischen Teilnehmers aus dem Jahr 1436 vor. Die Teilnahme war für den Adel Pflicht. Zu Beginn fand die Helmschau statt, bei der die Damen unter den ausgestellten Helmen diejenigen zu Boden warfen, deren Träger in der vergangenen Zeit gegen die Standesregeln verstossen hatten (z.B. Heirat eines Adligen mit einer Tochter aus bürgerlichem Haus, unstandesgemässe Kleidung und Auftreten). Beim Turnei, einem innerhalb eines Pferchs durchgeführten Kampf zweier Mannschaften, wurden die dermassen Geächteten gezielt verprügelt. Als Tjost bezeichnet man den Kampf zweier Ritter zu Pferd. Schwere Unfälle veranlassten die Kirche wiederholt, Turnierverbote auszusprechen. Stadtbürger versuchten dem Glanz ritterlicher Ideale nachzuleben und organisierten ebenfalls Turniere. Beliebter waren Turnierparodien, die im Spätmittelalter von Bauern und Bürgern zur Fasnachtszeit aufgeführt wurden. Als Ausrüstung dienten Strohzöpfe, Speckschwarten, Lebkuchen und Kücheneimer, als Reittiere Steckenpferde, Esel und Ziegen. Dieses Bild aus der Zeit um 1470 zeigt einen Turnierritter. Erkennbar ist der für das 15. Jahrhundert charakteristische Stechhelm, der nur an Turnieren getragen wurde. Die Lanze ist beim Aufprall auf den von rechts herangaloppierenden, nicht sichtbaren Ritter in Stücke zerborsten. Kantonsarchäologie Zürich. 46 Thema: Spiel und Kurzweil © STARCH standene Manessische Liederhandschrift sowie auf die in Bern, Luzern und Zürich verfassten «Schweizer» Bilderchroniken. Bei Hausuntersuchungen in Zürich und Winterthur entdeckte man unter jüngeren Verputzschichten spätmittelalterliche Wandmalereien. Diese zeigen häufig Darstellungen von Festen. Turnierritter, Tanzpaare und Hofnarren waren im 14. und 15. Jh. zudem beliebte Motive auf Ofenkacheln. Gegenstände, die klar ins Umfeld von Fest und Brauchtum gehören, wie eine in Ulm (D) gefundene Fasnachtsmaske aus Ton, stellen die Ausnahme dar, da sie in der Regel aus vergänglichem Material gefertigt waren. Bei metallenen Schellen ist die Funktion nicht bestimmbar, fanden sie doch sowohl als Bestandteile festlicher Kleidung wie auch des Pferdeund des Falknergeschirrs Verwendung. Werner Wild Wettkämpfe in Einsiedeln SZ. Im Vordergrund Weitsprung aus dem Stand, Steinstossen und Wettlauf. Im Hintergrund erkennt man Kleiderringen, eine Form des heutigen Schwingens. Links im Bild befindet sich das Schützenhaus mit der Zielscheibe. Darstellung aus der Luzerner Chronik des Diebold Schilling von 1513. W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985), S. 295. Weiterführende Literatur Topfhelm aus dem 14. Jh., gefunden in der Ruine Gesslerburg SZ. Bislang kamen in der Schweiz drei, in Europa 11 Topfhelme zum Vorschein. Sie wurden sowohl beim Turnier wie im Kampf getragen. W. MEYER, E. WIDMER, Das grosse Burgenbuch der Schweiz (Zürich 1981), S. 94. K. BÄNTELI u.a., Ex terra lux (Schaffhausen 2002), S. 184ff. (Turnierbericht Schaffhausen). W. ENDREI, Spiele und Unterhaltung im alten Europa (Hanau 1988). J. HILLS, Das Kinderspielbild von Pieter Bruegel d. Ä. (1560). Eine volkskundliche Untersuchung. Veröffentlichungen des Österreichischen Museums für Volkskunde, X (Wien 1957). W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985). A. PFEIFFER (Hg.), Spielzeug in der Grube lag und schlief ... Archäologische Funde aus Römerzeit und Mittelalter. museo 5 (Heilbronn 1993). J. E. SCHNEIDER, J. HANSER, Wandmalerei im Alten Zürich (Zürich und Egg 1986). © STARCH 8 Thema: Musik 47 Musik Alle mittelalterlichen Feste – Turniere, Schützenfeste, Kirchweihen – waren von Musik begleitet (vgl. diverse Klangbeispiele auf der CD Musik und Text). An Banketten wurden Musiker und Tänzer engagiert. Der Hofherr lud gerne seine Gäste zum Tanz ein. In Europa waren die Musiker stark umworben. Die Quellenlage zur Spielweise und Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik ist sehr schlecht, es wurde viel improvisiert. Erste Noten für Gesang sind in Europa erst ab dem ausgehenden 9. Jh. überliefert. In der Manessischen Liederhandschrift, einer in Zürich entstandenen Liedersammlung aus der 1. Hälfte des 14. Jh., bilden das ritterliche Leben und das höfische Ideal das Hauptthema. Die Liebessehnsucht wurde mit grosser Leidenschaft besungen, meist von einer Fiedel oder Laute begleitet. Der Minnesang des 12. und des 13. Jh. war offen, Text und Melodie konnten auch geändert werden. Minne bedeutet Liebe (Mittelhochdeutsch), Frau Minne stellt seit dem 12. Jh. in der Lyrik die Personifikation der Liebe dar. Musikinstrumente Objekte 39–41, diverse Klangbeispiele auf der CD Musik und Text. Mehrteilige Musikinstrumente aus Holz wie etwa die Fiedel oder die Laute sind wegen den schlechten Erhaltungsbedingungen selten im archäologischen Fundmaterial überliefert. Einfachere Instrumente wie Maultrommeln, Knochenflöten und Tonpfeifen, die im alltäglichen Leben verwendet wurden, finden sich indessen auf Burgen und in den städtischen Siedlungen (z.B. Bonstetten ZH, Technikumstrasse in Winterthur). Für eine Übersicht der mittelalterlichen Musikinstrumente sind wir darum auf Darstellungen in Buchillustrationen, auf Wandmalereien oder auf Ofenkacheln angewiesen. Im Mittelalter gab es eine grosse Vielfalt an Musikinstrumenten, die in unterschiedlichen Grössen und Ausführungen hergestellt wurden. Sie wurden in «leise» und «laute» Instrumente unterschieden. Flöten und alle Saiteninstrumente gehörten zur ersten Gruppe, Schalmeien, Sackpfeifen und Geradtrompeten zur zweiten (vgl. Abb.). In einer Buchillustration aus der Zeit um 1420 sind fünf musizierende Engel dargestellt (vgl. Abb.): Oben links spielt ein Engel das Portativ, eine kleine, tragbare Orgel (v.a. im kirchlichen Musikleben), darunter eine Fiedel, die auf der Armbeuge gespielt wird. Laut geht es zu und her beim Trompetenspiel (adeliges Standessymbol, nur spezielle Hoftrompeter), hier mit krummem Horn (für Empfänge, Turniere, Alarm und Jagd verAusschnitt aus einem Lied des Zürcher Minnesängers Johannes Hadlaub, aufgeschrieben in der Manessischen Liederhandschrift Al ze hôhe minne Brâchten mich ûz dem sinne Dô ich ir ougen unde mund Sach wol stên und ir kinne, dô wart mir daz herze enbinne von sô süezer tumpheit wunt, Daz mir wîsheit wart unkunt. Allzu grosse Liebe brachten mich um den Verstand. Als ich ihre Augen, ihren Mund und ihr Kinn so wohlgeformt sah, da war mir innen das Herz in so süsser Verrwirrtheit verwundet, Dass mir aller Verstand fehlte. Der Tanz war ein wichtiger Bestandteil der mittelalterlichen Musik. Man tanzte einzeln, in Paaren oder Gruppen. Das Bild aus der Manessischen Liederhandschrift zeigt Heinrich von Stretelingen in höfisch-galantem Schreittanz mit seiner Geliebten. I. F. WALTHER, Codex Manesse. Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 30. Buchillustration aus der Manessischen Liederhandschrift (1300–1340). Meister Heinrich Frauenlob auf dem Thron gibt den Takt an. Im Zentrum hervorgehoben der Fiedelspieler, an seiner rechten und linken Seite Musiker mit Trommeln und Rasseln sowie Schalmeien, Flöten und Sackpfeifen. I. F. WALTHER, Codex Manesse. Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 129. Zitiert nach: C. Brinker, D. Flühler-Kreis, Die Manessische Liederhandschrift in Zürich. Ausstellungskatalog des Schweizerischen Landesmuseums (Zürich 1991), S. 133. 48 Thema: Musik © STARCH wendet). Einen sanften Klang hingegen gibt die Laute wieder, die einen abgeknickten Wirbelkasten und einen im Bild nicht erkennbaren runden Resonanzkasten hat. Schliesslich ist noch ein auf dem Hackbrett spielender Engel (das Hackbrett heute noch in der Volksmusik verwendet) zu erkennen. Fiedel und Laute waren im Mittelalter als Begleitinstrumente sehr beliebt. Annamaria Matter Weiterführende Literatur Darstellung von musizierenden Engeln aus einer Buchillustration (um 1450). Instrumente: a) Portativ, b) Fiedel, c) Krummhorn, d) Laute, e) Hackbrett. J. BRÜLISAUER, H. DRAEYER, Y. JOLIDON (Hg.), Alltag zur Sempacherzeit. Innerschweizer Lebensformen und Sachkultur im Spätmittelalter. Ausstellungskatalog des Historischen Museums Luzern (Luzern 1986), S. 100. C. BRINKER, D. FLÜHLER-KREIS, Die Manessische Liederhandschrift in Zürich. Ausstellungskatalog des Schweizerischen Landesmuseums (Zürich 1991), S. 284ff. C. HOMO-LECHNER, Sons et instruments de musique au Moyen Age (Paris 1996). C. RIOT, Chants et instruments. Trouveurs et jongleurs au Moyen Age (Paris 1995). A. TAMBOER, Ausgegrabene Klänge, Archäologische Musikinstrumente aus allen Epochen (Oldenburg 1999). Ein weiter Weg vom Orient über Spanien bis nach Zentraleuropa Eine einfache Form der Laute war bereits den alten Ägyptern bekannt. Ab dem 9. Jh. spielte die Laute im Orient eine wichtige Rolle, wo in den Königspalästen gut bezahlte Sänger von drei bis vier Lautenisten begleitet wurden. Ofenkachel mit typischer Minneszene: Ein Paar musiziert, die Dame spielt Harfe, der Mann die Laute (aus Arbon TG um 1470/80). J. BRÜLISAUER, H. DRAEYER, Y. JOLIDON (Hg.), Alltag zur Sempacherzeit. Innerschweizer Lebensformen und Sachkultur im Spätmittelalter. Ausstellungskatalog Historisches Museum Luzern (Luzern 1986), S. 104. Der Name Laute stammt aus dem Arabischen «al’ ud», was Holz bedeutet. Dabei handelt es sich meist um eine sogenannte Kurz- halslaute, die aus einem Stück Holz gefertigt wurde. Später ist die Laute aus mehreren Holzteilen zusammengesetzt: ein runder Korpus und ein angesetzter Hals mit abgewinkeltem Wirbelkasten. Die Noten sind in einer speziell für die Laute entwickelten Tabulatur geschrieben, die ebenfalls aus dem Orient stammt. Die Laute verbreitete sich in Europa durch die spanische Eroberung und ist heute noch über die Grenzen Nordafrikas hinaus beliebt (Klangbeispiele 1–3 auf der CD Musik und Text). © STARCH 9 Anhang 49 Anhang Exkursionsziele Museen Ritterhaus Bubikon Link Das Johannitermuseum Bubikon ist in einer ehemaligen Niederlassung des Johanniterordens untergebracht. Die Ausstellung rückt die historische Bedeutung der Kommende (selbständige Niederlassung eines Ritterordens) ins Zentrum. Diethelm von Toggenburg stiftete 1192 die Johanniterkommende. Der weitere Ausbau entstand nicht nach einem Gesamtplan, sondern erhielt seine heutige Gestalt durch Neu-, Um- und Anbauten vom 12. bis 16. Jh. www.ritterhaus.ch Kyburg Link Die auf einem Hügelsporn über der Töss thronende Burg wird 1027 erstmals erwähnt. Hartmann von Dillingen gelangte durch Heirat in den Besitz der Güter und der Burg, baute beides aus und nannte sich nach dem neuen Sitz Graf von Kyburg. Dieses Geschlecht wurde zur wichtigsten Adelsfamilie neben den Habsburgern und den Savoyern im Gebiet des heutigen Schweizer Mittellandes. Nach dem Tod des letzten Kyburgers 1264 sicherte sich Rudolf von Habsburg das Erbe. Die Habsburger verlagerten ihr Interesse später nach Osten (Kärnten, Niederösterreich), so dass im 15. Jh. die Stadt Zürich durch Kauf in den Besitz der Grafschaft gelangte, die sie als Landvogtei verwaltete. Bis 1798 amteten vornehme Zürcher Bürger jeweils für sechs Jahre auf der Kyburg als Vögte, hielten Gericht und trieben die Abgaben ein. www.schlosskyburg.ch Faltblatt Von Kemptthal auf die Kyburg. Archäologische Wanderung (1999), zu beziehen über die Kantonsarchäologie Zürich. Lenzburg Link Die Lenzburg zählt zu den ältesten und bedeutendsten Höhenburgen der Schweiz. Erste Erwähnung eines Lenzburger Grafen in einer Urkunde von 1036. Erste Erwähnung der Burg in einem Chronikeintrag von 1077. Ulrich IV. war der letzte Lenzburger; er hat die Burg vererbt an seinen persönlichen Freund, Friedrich I. von Hohenstaufen, genannt Barbarossa. Über Heiratsverbindungen, Erbgänge und Lehen gelangte sie an die Kyburger (1173–1273). Durch Heirat kam sie an die Habsburger (1273– 1415). 1415 Eroberung durch Bern (Eidgenossen). Ab 1444 während über 350 Jahren diente sie als Landvogteisitz und damit als zentraler Verwaltungssitz, militärischer Stützpunkt und Grosslager für Korn. www.ag.ch/lenzburg Schweizerisches Landesmuseum Literatur Die archäologische Ausstellung «Vergangenheit im Boden – vom Anfang bis 800» bietet einen Überblick von der frühen Menschheitsgeschichte. Es werden bedeutende Hinterlassenschaften, Überreste vergangener Zeiten, Kulturen und Menschen präsentiert. Die mittelalterliche Epoche ist auch im kulturgeschichtlichen Rundgang insbesondere anhand von Öfen und Ofenkacheln thematisiert. Vergangenheit im Boden. Vom Anfang bis 800. Begleitheft zur archäologischen Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich (Zürich 2000). Link www.musee-suisse.ch 50 Anhang © STARCH Burgen Burgruine Alt-Wädenswil Literatur TH. BITTERLI, D. GRÜTTER, Alt-Wädenswil. Vom Freiherrenturm zur Ordensburg. Schweizerische Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 27 (Basel 2001). Urkundliche Ersterwähnung 1267. Einzelne Funde aus dem 12. Jh. deuten jedoch darauf hin, dass die Besiedlung des Burgplatzes wesentlich älter ist. 1287 veräusserte Freiherr Rudolf von Wädenswil Burg und Herrschaft an die Johanniterkommende Bubikon, die nach 1300 hier eine eigne Verwaltung einrichtete. 1550 Verkauf an Zürich. Kantonsarchäologie Zürich. Burgruine Freienstein Literatur Der Turm zu Freienstein: 1254–2204. Jubiläumsschrift (Zürich 2004). Gut erhaltene Turmruine aus dem mittleren 13. Jh., um 1450 verlassen. Burgruine Schauenberg Literatur A. MATTER, A. TIZIANI, J. WINIGER, Die Burg Schauenberg bei Hofstetten, Monographien der Kantonsarchäologie Zürich 33 (Zürich 2000). Faltblatt Die Burg Schauenberg bei Hofstetten (2001), zu beziehen über die Kantonsarchäologie Zürich. Bei der ersten um 1200 durch die kleinadligen Herren von Schauenberg erbauten Burg handelte es sich um eine Holzburg, die im letzten Viertel des 13. Jh. einem Brand zum Opfer fiel. Danach ist ein massiver Turm am selben Ort erbaut worden. Nach 1331 ist Beringer von Hohenlandenberg als Burgherr nachgewiesen. Wegen seiner antizürcherischen Haltung nach der Brunschen Verfassung von 1337 ist die Burg Schauenberg vor 1344 zerstört worden. Kirchen und Klöster Beerenberg Literatur M GRAF u.a., Hintergrund – Untergrund. Archäologische Entdeckungsreise durch Winterthur, Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 331 (Winterthur 2000), S. 138–143. Konservierte Klosterruine. 1355 gegründet, im 16. Jh. verlassen und zerfallen. © STARCH Anhang 51 Kappel am Albis Link Gutes Beispiel einer Klosteranlage: Baubeginn des Zisterzienserklosters um 1210. Bedeutende gotische Kirche aus der Zeit um 1300, Klostergebäude in der Neuzeit umgebaut. Winterthur – Stadtkirche Vgl. Winterthur. Zürich – Grossmünster www.klosterkappel.ch Literatur R. BÖHMER, Das ehemalige Zisterzienserkloster Kappel am Albis, Haus der Stille und Besinnung. Schweizerischer Kunstführer GSK (Bern 2002). Fresken in der Stephanskapelle mit Wappen und Helmzier der Gessler von Brunegg. Auffällige Ähnlichkeit der Adlerköpfe mit der Globi-Figur. Deren Schöpfer wohnte im benachbarten Hausen am Albis, soll Globi aber ohne Kenntnis der Adlerköpfe in Kappel entworfen haben. N. U. M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.) Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995), S. 455. Vgl. Zürich. Städte Bülach Faltblätter Landstädtchen. Stadtmauer an mehreren Stellen sichtbar. Heutige Kirche Neubau von 1508–1514, anstelle eines frühmittelalterlichen Gotteshauses. Besichtigung gut mit Wanderung nach Eglisau kombinierbar. Archäologie in Bülach, Mittelalter (2000), zu beziehen über die Kantonsarchäologie Zürich. Von Bülach nach Eglisau. Archäologische Wanderung (2001), zu beziehen über die Kantonsarchäologie Zürich. Glanzenberg Literatur Stadtwüstung mit konservierter Ruine sowie Ruine der Burg. Nahegelegen Kloster Fahr und Burgruine Schönenwerd. W. DRACK, Glanzenberg. Burg und Stadt: Bericht über die Freilegungs- und Sicherungsarbeiten von 1975 und 1980/81. Zürich : Stiftung für die Erforschung des Uetlibergs (Zürich 1984). G. SIMMEN-KISTLER, Das Kloster Fahr AG. Schweizerischer Kunstführer, GSK (Bern 1988). Winterthur Literatur Diverse, im Führer «Hintergrund – Untergrund» erläuterte Besichtigungspunkte (z.B. Stadtkirche, Stadtbefestigung, Stadtanlage, Sodbrunnen). M. GRAF u.a., Hintergrund – Untergrund. Archäologische Entdeckungsreise durch Winterthur. Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 331 (Winterthur 2000), S. 76–131. M. ILLI, R. WINDLER, Stadtkirche Winterthur, Archäologie und Geschichte (Winterthur 1994). Faltblätter Winterthur Obergasse (2000), zu beziehen über die Kantonsarchäologie Zürich. Winterthur Steinberggasse (1999), zu beziehen über die Kantonsarchäologie Zürich. 52 Anhang © STARCH Zürich Link www3.stzh.ch/internet/hbd/home/erinnern/ baugeschichtliches_archiv.html Literatur D. GUTSCHER, Grossmünster Zürich. Schweizerischer Kunstführer, GSK (Bern 1983). Altstadt: Rundgang zu verschiedenen «archäologischen Fenstern» (z.B. Stadtmauer, Ehgraben, jüdische Wandmalereien an der Brunngasse 8, Lindenhofkeller). Grossmünster: Bedeutendste romanische Kirche auf Zürcher Kantonsgebiet. Lindenhof: Neben den Häusern am südlichen Rand des Plateaus des Lindenhofs befindet sich ein öffentlich zugänglicher Keller, in welchem verschiedene Bebauungsphasen des Hügels sichtbar sind (spätrömisches Kastell, früh- und hochmittelalterliche Pfalz). Der Schlüssel kann im Baugeschichtlichen Archiv abgeholt werden. Weiterführende Literatur Allgemein R. BARTLETT (Hg.), Die Welt des Mittelalters. Kunst – Religion – Gesellschaft (Stuttgart 2001). H. BOXLER, J. MÜLLER, Burgenland Schweiz. Bau und Alltag (Solothurn 1990). F. HÜRLIMANN, L. BAZZIGHER, Spuren der Kultur und Geschichte (Elgg 2001). E. JACOBY (Hg.), Geschichte des Mittelalters. Bauern – Ritter – Priester – Bürger (Hildesheim 2002). W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985). H. SPYCHER, M. ZAUGG, Das Frühmittelalter. Fundort Schweiz 4 (Solothurn 1986). J. TAUBER, F. HARTMANN, Das Hochmittelalter. Fundort Schweiz 5 (Solothurn 1988). I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988). Kanton Zürich N. U. M. FLÜELER-GRAUWILER (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1 (Zürich 1995). Weiterführende Links Archäologische Institutionen www.archaeologie.ch Handschriften lesen www.adfontes.unizh.ch Grösste Sammlung mittelalterlicher Bilder im Internet www.imareal.oeaw.ac.at Schweizerischer Burgenverein www.burgenverein.ch Kunstdenkmäler aller Epochen www.gsk.ch © STARCH 1.1–1.2 Schülerheft: Objekt 1 Dreibeintopf Replik 1.1: Regula Wälti, Bern. Original 1.2: Winterthur, Adlerapotheke. Beschreibung 1.1: Dreibeintopf mit unverdicktem, schräg nach innen abgestrichenem Rand und abgewinkelten Rundstabhenkeln. Auf Schulterhöhe Rädchenverzierung. Fundort des Vorbilds: Winterthur, Obergasse 4. 1.2: Fuss eines Dreibeintopfes mit umgeschlagener Spitze. Datierung 1.1: 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. 1.2: 14. Jahrhundert. Fundort und Fundumstände Das Vorbild dieses Dreibeintopfes wurde nahezu vollständig im Keller eines Hauses gefunden, das in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts abgebrannt war. Die Erhaltung des Dreibeintopfes ist erstaunlich gut, es musste lediglich ein Füsschen angeklebt werden. Mit dem Dreibeintopf wurden weitere Fragmente von mittelalterlichem Geschirr sowie zahlreiche Ofenkacheln geborgen (vgl. Objekt 20). Ein idealer Kochtopf Der Dreibeintopf konnte direkt ins Feuer oder auf die Herdstelle gestellt werden, was eine gute Hitzeverteilung garantierte. Er verfügte mit seinen drei Füsschen – ähnlich einem Fotostativ – über eine gute Stand- festigkeit. Vorbild des Dreibeintopfes war der so genannte Grapen aus Bronze. Bronzegefässe konnten sich aber nur die wenigsten leisten, weshalb die billigere Imitation aus Keramik sehr beliebt war. Schülerheft: Objekt 1 © STARCH Herstellung und modische Weiterentwicklung Der Topf wurde auf der Töpferscheibe hergestellt. In einem zweiten Arbeitsschritt formte man die Henkel und Füsschen und setzte sie an das Gefäss an (siehe Herstellungsspuren am Gefäss, z.B. bei den Füsschen). Darauf liess man das Gefäss trocknen, bis es schliesslich im Töpferofen gebrannt werden konnte. Wie alle Gefässformen ist auch der Dreibeintopf Modeerscheinungen unterworfen, die anhand der unterschiedlichen Rand-, Henkel- sowie Füsschenformen erkennbar sind. Ein letzter Schritt in der Entwicklung des Dreibeintopfes war die Verwendung der Glasur, mit welcher man die Innenseite versah (vgl. dazu glasierte Schüssel, Objekt 2). Kochen im Dreibeintopf Ein typisches mittelalterliches Rezept, das man in einem Dreibeintopf kochte, befindet sich auf diesem Blatt. Speziell an diesem Eintopfrezept ist der Koriander. Solche Gewürze waren im Mittelalter wertvolle Zutaten. Gersten-Linsen-Eintopf mit Speck 2 Tassen gequetschte Gerste 10 Tassen Wasser 1 grosses Stück Speck 1 ⁄2 Tasse Linsen 3–4 Handvoll Lauch oder Bärlauch, Gänsefuss, Brennesseln oder ähnliches etwa 2 Teelöffel Korianderkörner Salz nach Belieben Den Speck in kleine Würfel schneiden und mit der Gerste in einem Topf aufkochen. Die Linsen zugeben. Auf ganz kleiner Flamme mindestens zwei Stunden köcheln lassen. 10 bis 15 Minuten vor dem Essen die gesammelten Gemüse und die zerstossenen Korianderkörner ebenfalls zugeben. Je nachdem, wie viel Wasser beigegeben und wie lange gekocht wird, entsteht am Ende ein Brei oder eine Suppe. Werden Gerste und Linsen eingeweicht, ist der Eintopf schneller gar, aber weniger schmackhaft. Weiterführende Literatur I. BAUER , S. KARG, R. STEINHAUSER, Kulinarische Reise in die Vergangenheit. Schriften des Kantonalen Museums für Urgeschichte Zug 44 (Zug 1995). CH. KELLER, Gefässkeramik aus Basel. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gefässkeramik aus Basel. Materialhefte zur Archäologie in Basel, Heft 15 (Basel 1999). Vergleichsobjekte 2 Schüssel 8 Nahrungsmittel 20 Becherkachel © STARCH 2.1–2.2 Schülerheft: Objekt 2 Schüssel Replik 2.1: Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Original 2.2: Kantonsarchäologie Zürich. Beschreibung Henkelschüssel. Drehscheibenware. Feine Magerung, harter, orangegebrannter Ton. Grüne Bleiglasur auf weisser Engobe. Fundort 2.2: Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil Datierung 15. Jahrhundert und 1. Hälfte 16. Jahrhundert. Glasiertes Geschirr – erneut erfunden Bereits in römischer Zeit gab es vereinzelt glasiertes Geschirr. Nach 500 Jahren, im beginnenden Mittelalter, war diese Technik in Mitteleuropa vergessen. Erst im 13. Jahrhundert begann man wieder, Geschirr zu glasieren. Zunächst waren es ausgewählte Gefässe, bei denen man die Glasur auf der Aussenseite als Verzierung auftrug. Ab dem 14. Jahrhundert glasierte man auch das Gefässinnere. Dies verhinderte das «Anhocken» und Einbrennen der Speisen beim Kochen und erleichterte natürlich das Putzen. Die Gefässe waren dadurch auch wasserdicht. Zunächst war glasiertes Geschirr sehr kostbar. Erst im 15. Jahrhundert konnten auch einfachere Leute glasiertes Geschirr kaufen. Grün, eine Lieblingsfarbe? Die Scherbe stammt von einer Schüssel, die in der Küche wie auch auf dem Esstisch Verwendung fand. Im 15. Jahrhundert gab es beinahe nur grün glasierte Schüsseln und Ofenkacheln. Der Töpfer konnte die Farbe der Glasur bewusst auswählen. Weshalb grünes Geschirr so beliebt war, weiss man heute nicht mehr. Schülerheft: Objekt 2 © STARCH Wie stellt man eine glasierte Schüssel her? Das auf der Drehscheibe getöpferte Gefäss wird mit einem feinen Tonschlicker (Engobe) übergossen und ein erstes Mal gebrannt (Schrühbrand). Die Engobe sieht nach dem Brennen weiss aus. Nun übergiesst man die Schüssel mit der flüssigen Glasurmasse. Beim zweiten Brand (Glasurbrand) mit höheren Temperaturen schmilzt diese und bildet eine feste, glasartige Schicht über dem Ton. Die darunter liegende Engobe bewirkt eine hellere Glasurfarbe. Die Glasurflüssigkeit besteht aus drei Substanzen: dem Quarzsand, dem Flussmittel, welches das Schmelzen der Glasur ermöglicht, und dem Metall, das die Glasurfarbe beeinflusst. Im Mittelalter verwendete man Blei als Flussmittel. Blei besitzt einen tiefen Schmelzpunkt, ist aber hochgiftig. Dies war den mittelalterlichen Menschen aber noch nicht bewusst. Farbgebende Metalle sind u.a. Kupfer (grün) und Eisen (rot). Umweltgifte im Mittelalter Blei ist eine äusserst giftige Substanz. Man gewann es als Nebenprodukt beim Silberbergbau. In den Bergbaugebieten des Mittelalters, z.B. südlich von Freiburg im Breisgau (D), ist die Verschmutzung des Bodens noch heute messbar. Da den unverarbeiteten Bleiglasuren sowie den Glasurbränden giftige Dämpfe entwichen, waren auch Töpfer gefährdet. Wegen der Häufung von Erkrankungen sprach man von der Hafnerkrankheit. Heute arbeiten die Töpfer in der Schweiz mit anderen Substanzen, die beim Glasurbrand höhere Temperaturen benötigen. Im Ausland dagegen kommen noch Bleiglasuren zur Anwendung, weshalb das Bundesamt für Gesundheit (BAG) regelmässig zur Ferienzeit vor dem Kauf von entsprechendem Geschirr warnt. Aus den Gefässen kann nämlich das Blei durch säurehaltige Nahrungsmittel (Zitrusfrüchte, Salatsaucen u. a.) wieder gelöst werden und in die Nahrung gelangen. Im Mittelalter war man sich dieser Gefahren wohl kaum bewusst. Je nach Wohlstand eines Haushaltes konnte man im Spätmittelalter verschiedenes Tischgeschirr antreffen. Die wenigen mit gelben Papier unterlegten Originalfunde zeigen, was davon im Falle der Burgruine Alt-Wädenswil ZH erhalten geblieben ist. Von besonderer Bedeutung waren gedrechselte Näpfe, die als archäologische Funde selten vorkommen, da Holz nur bei bestimmten Bedingungen (z.B. Feuchtboden) die Zeit überdauert. Zinnteller waren teuer. Von den Gläsern blieben nur kleinste Scherben übrig. Nur vom Tongeschirr finden sich grössere Bruchstücke. Kantonsarchäologie Zürich. Weiterführende Literatur CH. KELLER, Gefässkeramik aus Basel. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gefässkeramik aus Basel. Typologie, Technologie, Funktion, Handwerk. Materialhefte zur Archäologie in Basel; Heft 15 A (Basel 1999). A. MOREL , Der gedeckte Tisch. Zur Geschichte der Tafelkultur (Zürich 2001). F. HAMER UND J. HAMER, Lexikon der Keramik und Töpferei. Material, Technik, Geschichte (Augsburg 1990). Vergleichsobjekte 1 Dreibeintopf 4 Messer 5 Holzlöffel 6 Trinkglas 21 Blattkachel © STARCH 3 Schülerheft: Objekt 3 Backmodel Replik Schweizerisches Landesmuseum Zürich. Beschreibung Hölzernes Backmodel in Form des gotischen Buchstabens i mit spiegelverkehrter Darstellung (siehe Abbildung auf der Rückseite). Rückseite mit eingebrannten, nicht mehr identifizierbaren Markierungen. Fundort Unbekannt, Ankauf 1920 von Privatperson aus Mettmenstetten ZH. Datierung 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Backmodel aus Holz und Ton Aus Holz geschnitzte Model, die aus dem späten Mittelalter (14./15. Jahrhundert) stammen, sind sehr selten. Etwas häufiger sind Model aus Ton, die sich als archäologische Funde erhalten haben. Mit einem Model lassen sich Bilder beliebig oft vervielfältigen. Diese Technik machten sich damals auch andere Handwerker – zum Beispiel die Hafner für die Verzierung der Ofenkacheln – zu Nutze. Heute verziert man noch immer Anisgebäck, Biberfladen und die Zürcher Tirggel mit Modeln. Welche Motive gab es? Auf dem Gebäck waren ganz verschiedene Bilder zu sehen: religiöse (z. B. das Lamm Gottes), weltliche (z.B. Liebespaare) oder sogar Szenen aus griechischen Sagen (z. B. Krieg um Troja). Rätselhaft ist aber das Bild auf dem Model von Mettmenstetten. Als Vorlage diente die rechte Hälfte des von Figuren gebildeten Buchstabens n (siehe Abbildung auf der Rückseite). Aus den restlichen Buchstaben dieses Figurenalphabets geht hervor, dass der Künstler die Sitten und Zustände des 15. Jahrhunderts anprangert. Priester und Mönche waren reich – ein Gegensatz zur von Christus gelebten Armut. Die Darstellung im Buchstaben n könnte auch mit dem Wort Narrheit zusammenhängen. Ist nun nur die Hälfte des Backmodels erhalten? Oder wollte der Modelschnitzer nur ein i darstellen, im Sinne des lateinischen Wortes ira (Zorn)? Spielte er so auf die Strafe an, welche die Sünder im Jenseits zu gewärtigen hatten? Diese Fragen sind nicht mehr zu beantworten. Schülerheft: Objekt 3 © STARCH Gebäck im Mittelalter Abgesehen von Broten, Wecken und Brezeln gab es auch süsses Gebäck (z.B. Lebkuchen). Da man den Zucker noch nicht kannte, verwendete man zum Süssen Bienenhonig. Lebkuchen und Marzipan verzierte man mit Gebäckmodeln. Marzipan galt im Mittelalter als Kostbarkeit. Forscher sehen den Ursprung des Marzipans in den kleinen Mandelkuchen, welche die Römer ihren Göttern opferten. Der Name leitet sich vom lateinischen pane Martius, übersetzt «Märzenbrot», ab. Der süsse Mandelteig gelangte vom Orient nach Europa und wurde anfangs von Apothekern hergestellt. Bis ins 18. Jahrhundert galt Marzipan auch als Heilmittel, war aber natürlich zugleich ein beliebtes Dessert am Tisch reicher Leute und ein kostbares Geschenk. Rechts Vorbild für das Backmodel von Mettmenstetten. Eine Frau schlägt mit einer Rute auf den Hintern eines auf dem Boden knienden Mönchs. Dieser liegt auf einem Adler. Der zweite Mönch blickt durch eine Brille. Die Mönche links tragen Narrenkleider. Einer zeigt seinen nackten Hintern, der Zweite leert ein Glas mit Flüssigkeit über den Dritten. J. A. WURST, Das Figurenalphabet des Meisters E.S., Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte 73 (München 1999), Tafel XIII, Abb. 1. Weiterführende Literatur F. ARENS, Die ursprüngliche Verwendung gotischer Stein- und Tonmodel mit einem Verzeichnis der Model in mittelrheinischen Museen. In: Mainzer Zeitschrift 66, 1971, S. 106–131. H. EISELEN (HG.), M. WÄHREN, Gesammelte Aufsätze und Studien zur Brotgeschichte und Gebäckkunde, 1940–1999 (Ulm 2000). J. A. WURST, Das Figurenalphabet des Meisters E.S., Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte 73 (München 1999). Vergleichsobjekte 21 Blattkachel 41 Schelle © STARCH 4 Schülerheft: Objekt 4 Messer Replik Reto Zürcher, Huttwil BE (www.waffenschmiede.ch). Beschreibung Messer mit Griffangel. Griff aus Eschenholz. Fundort des Originals Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil. Datierung Spätmittelalterlich (13. bis mittleres 16. Jahrhundert). Das Messer als Mehrzweckgerät Das Messer war eines der wichtigsten Alltagsgeräte des Mittelalters. Messer verschiedener Grösse und Form fanden in der Küche, am Esstisch, in der Werkstatt und unterwegs Verwendung. Als Gebrauchsgegenstand waren sie kaum zeitlichen Veränderungen unterworfen. Deshalb ist auch das Alter eines Messers meistens nicht genauer bestimmbar. Wozu ein bei einer Grabung gefundenes Messer gebraucht wurde, lässt sich ebenfalls selten herausfinden. Tischgedeck im Mittelalter Messer und Löffel benützen wir auch heute. Die Gabel dagegen fehlte auf dem mittelalterlichen Tisch. An ihrer Stelle verwendete man ein ahlenförmiges Gerät, den Pfriem. Dieser besass zuweilen zwei Zin- ken wie heutige Fleischgabeln. Besuchte man ein Wirtshaus, so musste man sein eigenes Besteck mitbringen. Dies gehörte nämlich zur persönlichen Ausrüstung. «Nit in daz tischlach snawtzen» (lach = Laken = Tuch) In den verschiedenen Texten über die Tischregeln erfährt man aus heutiger Sicht Merkwürdiges. So durfte man mit den Händen essen. Knochen, welche man über die Schulter auf den Boden warf, wurden von den Hunden gefressen. Zwar war es erlaubt, sich den Mund am Tischtuch abzuwischen. Das Hineinschneuzen war aber sehr verpönt. Schülerheft: Objekt 4 © STARCH Der Griff zum Messer – Gewaltbereitschaft im Mittelalter Messer und Dolche gehörten zur Kleidung der Männer und wurden gut sichtbar am Gürtel getragen. Bereits im Mittelalter war der schnelle Griff zum Messer bei einer Rauferei ein Problem. In den Städten versuchte man mit Verboten, Dolche und Messer ohne Futteral zu tragen, den Messerstechereien vorzubeugen. Die ständige Wiederholung solcher Verordnungen zeigt, dass sie offenbar wenig nützten. Die Raufereien zeigen auch, wie schnell auf eine wüste Gebärde oder ein Schimpfwort ein Faustschlag oder ein Messerstich folgen konnte. Folgenschwer war etwa die Verhöhnung einiger Innerschweizer mit Gebärden und Worten wie «Kuhschweizer» an einem Konstanzer Schützenfest im Jahr 1458. Zusammen mit herbeigeeilten Kollegen verwüsteten diese die Umgebung von Konstanz derart, dass die Stadt Konstanz Beitrittsverhandlungen zur Eidgenossenschaft sofort abbrach. So war ein Streit Ursache dafür, dass Konstanz heute nicht zur Schweiz, sondern zu Deutschland gehört. Der Übergang vom Messer zum Dolch war zuweilen fliessend. An der Dolchscheide befanden sich häufig aussen noch Fächer für ein kleines Messer und den auf dem Bild nicht sichtbaren Esspfriem. J. A. WURST, Das Figurenalphabet des Meisters E.S., Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte 73 (München 1999), Tafel VII, Abb. 1. Weiterführende Literatur W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985), S. 337ff. A. MOREL , Der gedeckte Tisch. Zur Geschichte der Tafelkultur (Zürich 2001). G. SCHIEDLAUSKY, Essen und Trinken, Tafelsitten bis zum Ausgang des Mittelalters (München 1956). Vergleichsobjekte 5 Holzlöffel © STARCH 5 Schülerheft: Objekt 5 Holzlöffel Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Geschnitzter Löffel aus Lindenholz. Fundort des Originals Ähnliche Löffel bekannt aus Freiburg im Breisgau und Konstanz (D). Datierung 14./15. Jahrhundert. Das Essgerät am Gürtel Auf zeitgenössischen Bildern werden auf einer mittelalterlichen Tafel eine Menge Gefässe abgebildet: Keramikschüsseln, Glasbecher, Metallkannen, Daubenbecher aus Holzschindeln, Holzteller und anderes. Sie dienten zum Auftragen von Speisen und Flüssigkeiten. Wie wurde damals das Essen zum Mund befördert? Im Spätmittelalter kannte man den Löffel zum Essen der vielen Breispeisen und Suppen, das Messer zum Kleinschneiden fester Speisen. Um die Bissen in den Mund zu schieben, brauchte man die Finger, da Gabeln noch nicht bekannt waren. Gabeln kommen bei uns erst in der frühen Neuzeit auf und stammen ursprünglich aus Italien, wo sie beim Aufwickeln von glatten Nudelspeisen hilfreich waren. Löffel und Messer gehörten zur persönlichen Habe einer Person und wurden oft am Gürtel oder in einem Beutel überall mitgetragen. So konnte man unterwegs oder auf Besuch das persönliche Essgerät benutzen und war nicht auf dasjenige des Gastgebers angewiesen. Löffel kommen in ganz verschiedenen Ausführungen vor. Sie bestehen manchmal aus Buntmetall, meist aber aus Holz wie das hier beigelegte Exemplar. Der Holzlöffel wurde mit einem Messer aus einem geeigneten Stück Holz geschnitzt und manchmal verziert. Einfache Holzlöffel fertigte man oft aus Nadelholz oder Buche, während für solche mit Schnitzverzierungen das stabilere Eiben- und Ahornholz geläufig war. Grosse Holzlöffel dienten zum Schöpfen und Rühren, kleine als Ess-, aber auch als Salzlöffel. Schülerheft: Objekt 5 © STARCH Andere Form – anderer Gebrauch. Oder: Wie halte ich einen Löffel? Im Mittelalter können nicht nur die Formen der Gegenstände anders sein als in unserer Zeit, man muss immer auch mit einer anderen Handhabung der Geräte rechnen. So zeigt ein Bild auf diesem Blatt einen Mann, der elegant ein Trinkglas mit einer Hand am unten spitz zulaufenden Bodenteil hält. Die Löffel, die man in archäologischen Grabungen findet, haben manchmal so kurze Stiele, dass man annehmen muss, man hätte sie mit der ganzen Hand umfasst – etwas, was bei uns als schlechte Manieren gilt (siehe Abbildung). Zwei Ansichten eines aus Eibenholz geschnitzten Löffels, am Stielende verschränkte Hände, eingeschnittene Buchstaben: St. Afra (Schutzpatronin der Stadt Augsburg). Evtl. Salzlöffel? Fundort Konstanz (D),14./15. Jahrhundert. U. MÜLLER, Holzfunde aus Freiburg (Augustinereremitenkloster) und Konstanz. Herstellung und Funktion einer Materialgruppe aus dem späten Mittelalter (Stuttgart 1996), Tafel 23.6. Vielleicht lassen dich deine Eltern einmal essen wie im Mittelalter? Du solltest es aber vorher gut abmachen, dass du nur einen Löffel, ein Messer und die Finger gebrauchst. Möchtest du noch das passende Essen dazu? Kopier doch das Breirezept (Objekt 1 Dreibeintopf)! Mittelalterliche Tischregeln findest du beim Objekt 4, dem Eisenmesser. Das sitzende Kind isst mit Holzlöffel aus einem Breitopf, das stehende Kind braucht ein Sauggefäss (eine Art Schoppen). Altarflügel der Dominikanerkirche Lübeck, 1509. CH. KELLER, Gefässkeramik aus Basel, Materialhefte zur Archäologie, Basel, 15 A (Basel 1999), Abb. 184. Weiterführende Literatur U. MÜLLER, Holzfunde aus Freiburg (Augustinereremitenkloster) und Konstanz. Herstellung und Funktion einer Materialgruppe aus dem späten Mittelalter (Stuttgart 1996). J. BRÜLISAUER , H. DRAEYER , Y. JOLIDON (HG.), Alltag zur Sempacherzeit. Innerschweizer Lebensformen und Sachkultur im Spätmittelalter (Luzern 1986). Essen und Trinken in früheren Zeiten, Archäologie der Schweiz (Zeitschrift) 8, 1985, Heft 3. Familie des Zunftmeisters Faesch, Basel 1559. Der Mann hält das Glas mit einer Hand unten, die Frau im rotem Rock trägt ein Messer und einen Beutel am Gürtel. Die Teller sind Holzscheiben. CH. KELLER, Gefässkeramik aus Basel, Materialhefte zur Archäologie, Basel, 15 A (Basel 1999), Abb. 182. Vergleichsobjekte 1 Dreibeintopf 2 Schüssel 4 Messer 6 Trinkglas © STARCH 6 Schülerheft: Objekt 6 Trinkglas Original Kantonsarchäologie Zürich. Beschreibung Scherbe eines Krautstrunks. Grünes Glas mit aufgesetzter Nuppe. Fundort Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil. Datierung 15./1. Hälfte 16. Jahrhundert. Von Glasbläsern, Glashütten, Waldglas und kostbaren Trinkgläsern Vor rund 2000 Jahren wurde das Glasblasen erfunden. Die Römer brachten Trinkgläser und Flaschen aus Glas in die Schweiz. Glasbläsereien entstanden. Im Frühund Hochmittelalter war Glasgeschirr eine Kostbarkeit. Es existierten nur noch wenige Betriebe nördlich der Alpen, beispielsweise in der Gegend von Köln (D). Exquisite Gläser wurden in Werkstätten des Mittelmeergebiets, besonders in Venedig und Syrien, hergestellt. Wegen des aufwändigen Transports über die Alpen waren solche Gläser selten und sehr kostbar. Im Spätmittelalter entstanden neue Werkstätten, so genannte Glashütten, im Jura, im Schwarzwald (D) und in Böhmen (CZ). Diese beherrschten allerdings die Herstellung von farblosem Glas noch nicht. Deshalb ist das Glas oft grün und heisst Waldglas. Weil die Transportwege nun kürzer waren und der Handel insgesamt zunahm, wurden Gegenstände aus Glas viel billiger und so zur Massenware. Die «Krautstrünck» – Wie trank man mit fettigen Händen? Die Glasscherbe hat einen lustig aussehenden Buckel (Nuppe) auf der Aussenseite. Dies ist ein Glastropfen, den der Glasbläser auf das fertige Trinkglas aufsetzte. Diese Nuppen sassen so dicht, dass das grüne Glas von weitem wie ein entblätterter Strunk eines Kohlkopfs aussah. Deshalb erhielt es bereits im Mittelalter den Namen «Krautstrunk». Auch sonst verwendete man originelle Namen für Trinkgläser: «Teubelein, Brüderlein, Maigelin, Piergleser und feine kleine Trinckgleserlein». Gläser mit Nuppen waren sehr beliebt. Da man häufig mit den Händen ass – die Gabel gehörte damals noch nicht zum Tischgedeck – rutschte einem das Glas dank der Nuppen nicht so schnell aus den fettigen Händen. Schülerheft: Objekt 6 © STARCH Den Glasbläsern über die Schultern geschaut Auf dem im frühen 15. Jahrhundert gemalten Bild sind die verschiedenen Arbeitsschritte sehr gut sichtbar. Oben wird das Rohmaterial für die Glasmasse ausgegraben und in Säcke und Behälter gefüllt. Für die Glasmasse braucht man drei Materialien: Quarzsand, ein Flussmittel (Kalk oder Blei) und einen Stabilisator (Soda oder Pottasche). Das Flussmittel bewirkt, dass das Glas im Ofen bei hoher Temperatur flüssig wird. Das Rohmaterial bringt man zur Glashütte. Die Glashütte befindet sich üblicherweise in einem Waldgebiet, weil man für das Heizen der Brennöfen und für die Herstellung der Pottasche viel Holz benötigt. Der Mann rechts unten schürt das Feuer im Ofen. In der Mitte stehen zwei Glasbläser. Derjenige links bläst in ein langes Rohr, auf dem sich zuvorderst Glasmasse befindet. Durch das vorherige Erhitzen wurde die Masse so flüssig, dass sie der Bläser ballonartig aufblasen kann. Mit weiteren Werkzeugen stellt er die gewünschte Form her. Am Schluss kann er das Glas auf der Aussenseite noch verzieren, indem er wie beim Krautstrunk auf die Aussenseite Tropfen einer anderen Glasmasse aufklebt. Links sieht man fertige Gläser, die sorgfältig begutachtet werden. E. BAUMGARTNER, I. KRUEGER, Phönix aus Sand und Asche. Glas des Mittelalters (München 1988), S. 22. Weiterführende Literatur E. BAUMGARTNER , I. KRUEGER , Phönix aus Sand und Asche. Glas des Mittelalters (München 1988). R. GLATZ , Hohlglasfunde der Region Biel. Zur Glasproduktion im Jura (Bern 1991). Vergleichsobjekte 2 Schüssel © STARCH 7 Schülerheft: Objekt 7 Lavezbecher Replik Hergestellt von A. Gaggi, Chiesa (I). Beschreibung Konischer Becher aus Lavez. Fundorte der Originale Städte (z. B. Zürich und Winterthur), Burgen und Dörfer. Datierung 12. und 13. Jahrhundert. Fundort und Fundumstände Lavez oder Speckstein ist eine mehr oder weniger weiche Gesteinsart (fühlt sich seifig an), die in den Alpen vorkommt. Der Begriff «Lavez» kommt von lat. lapis (Stein) und damit verwandt sind rätoromanisch laveschg (gedrehte Steinpfanne) und italienisch laveggio (der Kochtopf). Bereits ab der Eisenzeit wurden im Alpengebiet Gefässe aus Speckstein hergestellt. Ab römischer Zeit wurden Specksteingefässe aus den alpinen Lagerstätten in weit entfernte Gegenden exportiert. Im Frühund Hochmittelalter sind im Kanton Zürich Lavezgefässe sowohl in ländlichen Siedlungen wie in den Städten belegt. Die häufigste Form ist der Becher. Im Mittelalter sind Lavezgefässe bis ins 13. Jahrhundert verbreitet; so wurden z. B. in Zürich zahlreiche Topf-, Deckel- und Becherfragmente sowie Spielsteine aus dem 12. und 13. Jahrhundert geborgen. Kochgeschirr und Trinkbecher Lavez ist ein Wärmespeicher und eignet sich deshalb sehr gut für die Herstellung von Kochgefässen. Eine Quelle aus dem 18. Jahrhundert nennt die entsprechenden Vorzüge: Laveztöpfe «behalten die Hitze des Feuers weit länger als metallene oder irdene Geschirre, sie bleiben im grössten Feuer unzerbrechlich, sie brechen auf keine andere Weise als durch Fall; was darin gekocht wird, siedet weit geschwinder als in anderen Gefässen, die Speisen darin behalten ihren guten Geschmack und nehmen keinen fremden an» (J. C. Fäsi, Landvogtey Meyenthal, 1766). Dass Lavezgefässe tatsächlich zum Kochen gebraucht wurden, zeigen die vom Herdfeuer stammenden Russspuren an der Aussenwandung der Gefässe. Einfache Becher dienten zudem als Trinkgeschirr. Schülerheft: Objekt 7 © STARCH Die Arbeit an der Drehbank Da das Gestein einen geringen Härtegrad hat, war es möglich, Steinblöcke aus dem Bruch zu lösen, die in ihren Umrissen bereits die Form des Endproduktes erahnen liessen. Der Transport vom Berg ins Tal war voller Hindernisse. Die besten Steine gingen zur Verarbeitung an die Drehbank, die vom Wasser angetrieben wurde. Nachdem der Brocken von aussen bearbeitet wurde, höhlte ihn der Handwerker mit speziell angefertigten Eisenstangen aus, um schliesslich mittels abgerundeten Eisenstäben den Boden zu runden (vgl. Drehriefen am Objekt). Die heikelste Phase ist die Trennung des Gefässes vom Kern. Gelingt dies, so kann man aus einem Gesteinsblock mehrere Gefässe vom grössten zum kleinsten herausdrehen. Handwerker an der Drehbank, mit Eisenstangen für die Bearbeitung des Specksteins und der Kerne. MUSEO DI VALMAGGIA , CEVIO (HG.), 2000 anni di pietra ollare (Locarno 1985), S. 34. Weiterführende Literatur MUSEO DI VALMAGGIA (HG.), 2000 anni di pietra ollare (Locarno 1985). A. MUTZ, Die Technologie der alten Lavezdreherei. Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 73 (Basel 1977). J. SCHNEIDER , D. GUTSCHER , H. ETTER , J. HANSER , Der Münsterhof in Zürich. Bericht über die Stadtkernforschungen 1977/78. Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Band 10 (Olten 1982). Vergleichsobjekte 37 Spielsteine © STARCH 8 Schülerheft: Objekt 8 Nahrungsmittel Originale Tierknochen aus Winterthur, Obergasse. Moderne Stücke Baumnüsse, Schlehensteine und Kirschsteine. Beschreibung und Fundorte Speiseabfälle aus Siedlungsschichten (Tierknochen, Baumnüsse) und Latrinen. Datierung 13. und 14. Jahrhundert. Erhaltung und Bestimmung von Pflanzen- und Tierresten Die Untersuchung von Pflanzenresten und Tierknochen aus archäologischen Ausgrabungen liefert wichtige Informationen zur Ernährung und zum Lebensstandard der Menschen im Mittelalter. Darüber hinaus ist es möglich, die damalige Vegetation anhand der archäologischen Pflanzenreste zu rekonstruieren. Ideale Erhaltungsbedingungen für Pflanzenreste liefern Latrinen (Latrine = Toilette). Die Lagerung in einer feuchten Erdschicht unter Luftabschluss ermöglicht die Erhaltung von unverkohlten Samen, Früchten, Getreideresten und Unkräutern. Auch im verkohlten Zustand können sich Samen und Früchte gut erhalten, z. B. in einer Brandschicht. Auf der Mörsburg bei Winterthur wurde im Keller eines Speichers, der um 1300 abgebrannt war, eine reichhaltige Brandschicht dokumentiert. Auf dem Kellerboden lagen verbrannte Äpfel, Birnen, Nüsse und Getreidereste (vgl. Abbildung). Die Archäozoologie beschäftigt sich mit der Bestimmung der Tierknochen, die bei Grabungen sehr häufig als Küchenabfall geborgen werden. Bei der Bestimmung der Tierknochen benötigt man eine Vergleichssammlung mit ganzen Skeletten heutiger Haus- und Wildtierarten. Dabei ist die Menge und Artenzusammensetzung der Knochen wichtig, z. B. der Anteil von Haus- und Wildtieren. Stark fragmentierte Knochen deuten auf Speise- und Schlachtabfälle (z. B. Rind, Schwein, Schaf und Ziege). In Latrinen finden sich nicht nur Reste von grossen Tieren, sondern auch nicht verdaute Fischknochen oder ganze Skelette von Nagetieren, Katzen oder Hunden, deren Kadaver vermutlich dort entsorgt wurde. Neben Küchenabfällen können auch Tierknochen als Werkabfälle der Gerberei und Knochenschnitzerei vorkommen, z. B. Fuss-, Schädel- und Hornteile von Rindern, Schafen oder Ziegen. Schülerheft: Objekt 8 © STARCH Reichhaltiger Speisezettel aus zwei spätmittelalterlichen Latrinen Von den menschlichen Fäkalien in den mittelalterlichen Latrinen werden Proben entnommen und von der Archäobotanikerin oder vom Archäobotaniker im Labor untersucht. Durch Schlämmen der Erdproben mit Wasser können die Pflanzenfunde ausgelesen und mit optischen Geräten (Binokular und Mikroskop) bestimmt werden. Der Latrineninhalt erlaubt auch Rückschlüsse auf die soziale Stellung der Benutzer, z. B. durch den Nachweis von teuren, importierten Früchten, Gewürzen oder grossen Fleischmengen. Eine erste Durchsicht des geschlämmten Probematerials aus zwei spätmittelalterlichen Latrinen am Oberen Graben 26/28 in Winterthur haben eine aufschlussreiche Pflanzenliste geliefert. Nicht alle Nahrungsmittel erhalten sich, z. B. Getreidesorten, die zu Mehl verarbeitet werden oder pulverisierte Gewürze, Milchprodukte wie Käse. Vergleiche die heutige Vielfalt an Früchten und Gemüsen mit der Liste aus der Latrine. In der Brandschicht im Keller des Speicherbaus auf der Mörsburg lagen verkohlte Baumnüsse und Ofenkacheln. Kantonsarchäologie Zürich. Obstarten Pflaumen (sehr viel), Zwetschgen, Süss- und Sauerkirschen, Erdbeeren, Äpfel, Hagebutten, Himbeeren, Brombeeren, schwarzer und roter Holunder, Weintrauben. Nüsse Getreide Hafer, Gerste, Roggen, Saatweizen, Einkorn, Dinkel Senf Gemüse und Salatpflanzen unter anderem Rüben, Hülsenfrüchte, Linsen Zahlreiche Unkräuter, wenige Heilpflanzen Fischknochen, Insekten und Holzreste Diese am Oberen Graben 26 in Winterthur ausgegrabene Latrine bestand aus einer einfachen Erdgrube. Deren Wand war mit einem Holzgeflecht konstruiert. Kantonsarchäologie Zürich. Weiterführende Literatur P. KAMBER , CH. KELLER, Fundgruben – Stille Örtchen ausgeschöpft (Basel 1996). M. KÜHN, R. SZOSTEK , R. WINDLER U.A ., Äpfel, Birnen, Nüsse – Funde und Befunde eines Speicherbaus des 13. Jahrhunderts bei der Mörsburg. In: Archäologie im Kanton Zürich 1999–2000. Ber. Kantonsarchäologie Zürich 16 (Zürich und Egg 2002), S. 271–308. Vergleichsobjekte 1 Dreibeintopf 15 Mörser 22 Rebmesser © STARCH 9 Schülerheft: Objekt 9 Feuerzeug Replik Hergestellt von Johann Tinnnes, Köln (D). Beschreibung Feuerstahl mit Feuerstein und Zunderschwamm in Lederbeutel. Fundorte der Originale Verschiedenste Dörfer, Städte und Burgen. Datierung Spätmittelalter und Neuzeit. Feuerzeug vor dem Feuerzeug Bevor um 1830 die Entwicklung der Zündhölzer begann und um 1900 die uns bekannten Feuerzeuge entstanden, war das Feuermachen mit Feuerstahl, Silex (Feuerstein) und Zunderschwamm die gängigste Technik. Es brauchte dazu mehr Geduld und Geschick als mit den modernen Feuerzeugen. Da aber in der Vergangenheit das Feuer im Alltag eine zentrale Rolle spielte und darum sorgfältig gehütet wurde, brannte fast immer im Haus ein Feuer, von dem aus Lampen und Kerzen angezündet werden konnten. Zu Beginn der Eisenzeit hat man die Eigenschaft des Feuerstahls erkannt. Dabei handelt es sich um ein kohlenstoffreiches und sprödes Eisen, das bei richtiger Anwendung eine starke Funkenbildung entwickelt. Der Feuerstahl wurde im Mittelalter als bügelförmig gebogenes und handgerechtes Stück Eisen geformt. Beim Silex handelt es sich um einen Quarz. Dieser Stein, der in vielen Farben in ganz Europa vorkommt, ist sehr hart. Er lässt sich in allen Richtungen spalten und eignete sich in der Steinzeit daher gut zum Herstellen von Steinklingen und ähnlichen Werkzeugen. Beim Zunderschwamm handelt es sich um einen Baumpilz, der an abgestorbenen Bäumen (vor allem Birken und Buchen) wächst. Um das zum Feuermachen geeignete Rohmaterial zu gewinnen, musste das ledrige oder korkige Innere des Pilzes von der steinharten Rinde getrennt werden. Das weiche Innere wurde in Scheiben geschnitten und während rund zwei Wochen nitriert. Im Mittelalter wurde es dafür in Urin eingelegt. Danach wurde es getrocknet und mit einem Holzknüppel kräftig geklopft, bis es sich wie weiches Wildleder anfühlte. Schülerheft: Objekt 9 © STARCH Feuer schlagen Zum Feuermachen wird in der einen Hand der Silex gehalten, wobei ein Stück Zunderschwamm darauf gelegt wird. Mit der anderen Hand schlägt man den Feuerstahl mehrmals über eine scharfe Kante des Feuersteins. Dabei werden kleinste Späne des spröden Feuerstahls abgerissen, die durch die Reibung zu glühen anfangen und in Form von Funken nach oben sprühen. Mit etwas Glück und Geduld fallen diese auf den Zunderschwamm, der dadurch zum Glimmen gebracht wird. Vom glimmenden Zunder zum Feuer mit Flammen sind nun weitere Schritte nötig. Der glimmende Zunderschwamm muss in sehr trockenes und feines Material (Hobelspäne, Heu oder Flugsamen) gelegt werden. Durch vorsichtiges Blasen wird dieses Material, das man am besten in den Händen hält, zum Brennen gebracht. So funktionieren mittelalterliche Feuerzeuge. H. A. BRUNNER, Feuer und Feuerschlagmesser (Frauenfeld 1998), S. 35. Nun kann das brennende Material auf die Feuerstelle gelegt, vorsichtig mit feinem Holz belegt und so langsam zu einem richtigen Feuer entfacht werden. Weiterführende Literatur H. A. BRUNNER , Feuer und Feuerschlagmesser (Frauenfeld 1998). Vergleichsobjekte 1 Dreibeintopf 2 Schüssel © STARCH 10 Schülerheft: Objekt 10 Hufeisen Original Fundorte aus dem ganzen Kanton Zürich. Beschreibung Hufeisen. Nagellöcher meistens zugerostet, Hufnägel fehlen weitgehend. Fundorte Burgen, Städte und Dörfer, gepflügte Felder. Datierung Spätmittelalterlich, frühneuzeitich. Hufeisen – eine Erfindung im Dienste des Krieges? Der Hufbeschlag hatte drei Hauptzwecke: n Verhinderung der Abnützung des Hufes, wodurch ein Pferd für längere Feldzüge oder Reisen ohne Zwangspausen benutzt werden konnte. n Verwendung der Pferde auch bei Schneeglätte. n Bessere Beweglichkeit der Pferde in Turnier und Krieg (schnelleres Wenden). Zusammen mit der von Jahrhundert zu Jahrhundert verbesserten Rüstung verschaffte der Hufbeschlag dem Reiterkrieger vorübergehend eine grosse Überlegenheit gegenüber den Fusstruppen. So gelang es den Rittern auf dem ersten Kreuzzug ins Heilige Land (1095–1099), die Gegner förmlich über den Haufen zu reiten. Als ältester Beleg für die Schweiz gilt das Verzeichnis der Abgaben des Klosters St. Gallen, wonach ein Hof im Jahre 826 als Zinsgabe Hufeisen zu liefern hatte. Bislang fehlen archäologische Funde, welche älter sind. Damit steht fest, dass der Hufbeschlag eine Errungenschaft des Mittelalters darstellt. Wie kann man das Alter eines Hufeisens bestimmen? Eine Altersbestimmung ist nur mittels Vergleich mit Fundstellen möglich, deren Besiedlungsdauer bekannt ist. Als Beispiel dient die Burg Schauenberg bei Hofstetten ZH. Da diese vor 1344 zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde, sind die dort gefundenen Hufeisen älter als aus dem Jahr 1344. Hufeisen sind aber Gebrauchsgegenstände, deren Aussehen sich im Mittelalter nur geringfügig veränderte. Deshalb ergibt der Vergleich von ähnlich aussehenden Hufeisen nur eine ungefähre Altersbestimmung (z. B. 13./14. Jahrhundert). Erschwerend ist zudem, dass die Hufeisen bis um 1930 von jedem Schmied selber hergestellt und den Hufen angepasst wurden. Vorder- und Hintereisen unterscheiden sich ebenfalls aufgrund der Anatomie des Hufs. Schülerheft: Objekt 10 © STARCH Pferdezubehör Vom Reitzubehör überdauerten nur die Teile aus Metall die Zeit: Reitsporen, Trensen, Beschläge vom Zaumzeug, Steigbügel, Pferdestriegel, Hufeisen und Hufnägel. In grösserer Zahl kommen solche Gegenstände bei Grabungen auf Burgen zum Vorschein. Zügel, Sattel und andere Teile aus Leder sind meist nicht erhalten. Bei Turnieren schmückte man die Pferde mit kunstvoll verzierten Decken. Dies sieht man auf mittelalterlichen Bildern. Vom Reisen und einer Landwirtschaftsrevolution Pferde waren natürlich beliebte Reittiere für Reisen des Adels und der Kirchen- und Kaufleute. Die Bedeutung des Reisens war für diese Bevölkerungsgruppen immens. Die Könige hatten bis ins späte Mittelalter keine feste Residenz. Sie zogen übers Land und hielten an vorher bekannt gegebenen Orten Hof. Hier konnte man erscheinen und seine Anliegen vortragen. Danach zog der König mit seinem Tross weiter. Anspannung eines Pferdes im Kummetgeschirr (nach moderner Vorlage). Der lederne Kummet wird dem Pferd um den Hals gelegt, wodurch es die Last mit der ganzen Körperkraft ziehen kann. Umzeichnung Kantonsarchäologie Zürich. Im Verlauf des 13. Jahrhunderts hielt das Pferd auch Einzug in die Landwirtschaft. Davon zeugen noch heute Wörter wie «Pferdestärke» (PS) für Motorstärken und «Ackergaul». Bahnbrechend war nämlich die Erfindung des Kummet. Diese Vorrichtung ermöglichte es, Pferde vor den Pflug zu spannen. Ihre Leistung war viel besser als jene eines Ochsengespanns. Das Pferdegespann konnte man auch schneller wenden. Weiterführende Literatur J. CLARK (HG.), The Medieval Horse and its Equipment, c. 1150–1450. Medieval Finds from Excavations in London 5 (London 1995). W. DRACK , Hufeisen – entdeckt in, auf und über der römischen Strasse in Oberwinterthur (Vitudurum). Ein Beitrag zur Geschichte des Hufeisens. Bayerische Vorgeschichtsblätter 55, 1990, S. 191–239. S. FELGENHAUER-SCHMIEDT, Die Sachkultur des Mittelalters im Lichte der archäologischen Funde. Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVIII Archäologie ; Bd. 42, 1993, S. 201ff. N. OHLER, Krieg und Frieden im Mittelalter (München 1997). © STARCH 11 Schülerheft: Objekt 11 Geschossspitze Original Kantonsarchäologie Zürich. Beschreibung Lanzettförmige Geschossspitze mit rhombischem Blattquerschnitt und Tülle, Eisen, geschmiedet. Fundort Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil. Datierung Ausgehendes 12. und 13. Jahrhundert. Pfeilspitze oder Eisen eines Armbrustbolzens Die weitaus häufigsten Relikte von Langbogen und Armbrust, die bei archäologischen Ausgrabungen zutage treten, sind die eisernen Geschossspitzen. Die hölzernen Pfeil- oder Bolzenschäfte haben sich dagegen bei Bodenfunden in den allermeisten Fällen nicht erhalten. Ohne Schaft kann man meist nicht bestimmen, ob es sich um eine Pfeilspitze oder einen Armbrustbolzen handelt. Geschossspitzen sind im Fundgut von Burgen häufig vertreten (z. B. Alt-Regensberg ZH, Alt-Wädenswil ZH und Wulp bei Küsnacht ZH). In Dörfern und Städten dagegen kommen Geschossspitzen nur sehr vereinzelt vor. Dies erstaunt nicht, brauchte man doch Bogen und Armbrust bei der Jagd, die im Mittelalter dem Adel vorbehalten war. In der Schlacht dagegen waren Bogen und Armbrust bei den Rittern verpönt: Man kämpfte mit Schwertern und Lanzen gegeneinander. Das weitgehende Fehlen von Geschossspitzen in Städten ist etwas erstaunlicher, da Armbrustschützen Teil der städtischen Kriegstruppen waren. Mit Bogen und Armbrust auf die Jagd und in den Krieg Als Jagdwaffe besass die Armbrust gegenüber dem Bogen einen wichtigen Vorteil: Sie liess sich im schussfertigen Zustand mitführen und ermöglichte auch ein längeres Verharren mit gespannter Sehne ohne Dauerbelastung des Arms. Ausserdem liessen sich gezieltere und schärfere Schüsse abgeben. Auch im Krieg war die Armbrust dem Bogen vor allem an Durchschlagskraft weit überlegen. Dafür gelang einem geübten Bogenschütze eine bedeutend höhere Schussfrequenz, d. h., während mit der Armbrust etwa zwei bis drei Bolzen pro Minute abgeschossen wurden, war es leicht möglich, in der gleichen Zeit 15 Pfeile zu verschiessen. Dies ist letztlich der Grund, warum der Bogen eher in der offenen Feldschlacht, die Armbrust aber zur Verteidigung einer Burg oder Stadt eingesetzt wurde. Schülerheft: Objekt 11 © STARCH Verarbeitung und Schmiedetechnik Zum Schmieden einer Geschossspitze benötigt man einen etwa 15 cm langen und 1,5 cm dicken runden Eisenstab. Ein Ende wird in der Esse auf etwa 1300 °C erhitzt und zur lanzettförmigen Spitze ausgeschmiedet. Ebenfalls im glühenden Zustand wird das andere Ende flach gehämmert, mit Hilfe eines sogenannten Rundgesenks gebogen und schliesslich mittels eines konischen Zylinders zur Tülle ausgeschmiedet. Ein tüchtiger Schmid benötigt zur Herstellung einer Geschossspitze etwa eine Viertelstunde. Kol von Nüssen geht mit der Armbrust auf Vogeljagd. Manesse-Liederhandschrift. I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 33. Die verschiedenen Arbeitsschritte beim Schmieden einer Geschossspitze mit Tülle. Umzeichnung Kantonsarchäologie Zürich nach B. ZIMMERMANN 2000, Tafel 34. Weiterführende Literatur J. WINIGER , A. MATTER , A. TIZIANI, Die Burg Schauenberg bei Hofstetten. Monografien der Kantonsarchäologie Zürich 13 (Zürich und Egg 2000). B. ZIMMERMANN, Mittelalterliche Geschossspitzen. Kulturhistorische, archäologische und archäometallurgische Untersuchungen. Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 26 (Basel 2000). Vergleichsobjekte 10 Hufeisen © STARCH 12 Schülerheft: Objekt 12 Stecknadel Original Kantonsarchäologie Zürich. Beschreibung Stecknadel aus Messing. Fundort Winterthur, Stadtkirche. Datierung Spätmittelalter (13.–15. Jahrhundert). Ein Teil der Kleidung Die vorliegende Nadel ist unseren modernen Stecknadeln sehr ähnlich. Während diese heute beim Nähen zum Zusammenheften von Stoffen gebraucht werden, waren die Stecknadeln im Spätmittelalter in erster Linie ein Teil der Kleidung. Hauben und Schleier wurden mit Stecknadeln an der Frisur befestigt, wie es das Bild einer wohlhabenden Frau aus dem 15. Jahrhundert zeigt (siehe Abbildung auf der Rückseite). Den feinen Schleier hat sie mit einer Nadel, von der nur der Kopf zu erkennen ist, angeheftet. Neben den einfachen Nadeln, wie diesem Originalfund aus der Stadtkirche Winterthur, gab es auch kostbarere Stücke. Der Nadelkopf wurde zum Teil mit einem eingelegten Edelstein verziert. Betrachten wir das vorliegende Stück genau, so sehen wir, dass hier der Nadelkopf aus einem aufgerollten, kurzen Stück Draht besteht. Schülerheft: Objekt 12 © STARCH In der Kirche verloren Stecknadeln wurden im Spätmittelalter in grossen Mengen gebraucht. So hatten sieben Kaufleute aus Venedig, deren Schiff 1440 den Hafen von Southampton in Südengland anlief, 83 000 Stück in ihrer Ladung. Nadeln gingen auch gelegentlich verloren und werden heute bei Ausgrabungen wieder gefunden. Allein bei den Ausgrabungen in der Stadtkirche von Winterthur kamen gegen 150 Stück zum Vorschein. Die Nadeln waren ebenso wie kleine Zierbleche (siehe Abbildung), Münzen (Objekt 30) und anderes mehr von den Kirchgängerinnen und -gängern verloren worden und in den Ritzen des Bretterbodens verschwunden. Unter dem Holzboden bildete sich so im Laufe der Zeit eine Schicht, in der sich neben Schmutz und Sand allerlei kleine Gegenstände ansammelten. Gemälde eines schwäbischen Malers des 15. Jahrhunderts. Es zeigt das Porträt einer wohlhabenden Frau, deren Haube mit Stecknadeln befestigt ist. E. LAMGMUIR, The National Gallery, Companion Guide (London 1994), S. 91. Auf der Kleidung aufgenähte Zierbleche und andere kleine Gegenstände, die Kirchgängerinnen und Kirchgänger im Mittelalter in der Stadtkirche von Winterthur verloren hatten. Kantonsarchäologie Zürich. Weiterführende Literatur M. ILLI, R. WINDLER , Stadtkirche Winterthur – Archäologie und Geschichte (Zürich 1994). © STARCH 13 Schülerheft: Objekt 13 Holzkamm Replik Stefan Schreyer, Bern. Beschreibung Zweireihiger Kamm aus Buchsbaumholz. Fundort des Originals Konstanz (D). Datierung Im Spätmittelalter bekannt. Gut erhaltene Holzkämme stammen oft aus feuchten Schichten, da sich dort Holz gut erhält. Solche Kämme werden bis in die Neuzeit benutzt. Das Vorbild der Replik: Ein Buchsholzkamm aus Konstanz (D) Die am Bodensee gelegene Stadt Konstanz war im Mittelalter sehr bedeutend, nicht zuletzt als Zentrum von verschiedenen Handwerkern (z. B. Schmiede, Paternosterer, Schuster). In den feuchten Schichten nahe dem Seeufer kamen auf Stadtgebiet auch etliche gut erhaltene Holzkämme aus Buchsbaumholz zum Vorschein. Die Kämme wurden wahrscheinlich von einem «Kammcher» (= Kammmacher) mit Hilfe von Ziehmesser und feiner Säge angefertigt. Kämme stellte man nicht nur aus Holz, sondern auch aus Knochen oder Horn, selten auch aus Elfenbein her. Eine Seite des Kamms war oft mit einer groben, die andere mit einer etwas feineren Zahnreihe versehen. Ein Kamm in der Tasche Wahrscheinlich besassen die meisten Menschen im Spätmittelalter einen Kamm – er diente zur selbstverständlichen Körperpflege. Man trug ihn meist am Gürtel in einer kleinen Tasche. Damit wurden die Haare aufgeteilt und dann kunstvoll aufgesteckt, aber man konnte auch versuchen, den Kopfläusen beizukommen. Man darf nicht annehmen, dass man im Mittelalter die Haare oft gewaschen hat (und sicher noch ohne Shampoo!). Schülerheft: Objekt 13 © STARCH Holz ist nicht gleich Holz: Welches Holz kann man wofür brauchen? Einfache Gegenstände wie Kämme können mit wenig Werkzeugen hergestellt werden. Eine Säge mit feinem Sägeblatt, ja sogar nur ein Messer genügen zur Herstellung. Wichtig ist aber die Auswahl des richtigen Holzes: Die Menschen des Mittelalters wussten sehr genau, welches Holz am besten geeignet war, einen stabilen Kamm zu erhalten, der möglichst wenig an den Haaren riss. Sie benutzten für einfache Kämme oft das Holz des Buchsbaumes, eines bis etwa 4 Meter hohen Bäumchens mit hartem Stamm. Buchsbäume findet man wild in der Schweiz im Solothurner Jura oder der Gegend von Basel, sie werden oft auch als Gartenhecken gepflanzt. Auch andere Holzgegenstände des täglichen Gebrauchs wurden aus speziellen Hölzern gearbeitet. Geeignet für Spielzeug, aber auch für Pokale, Holzschalen, Brillengestelle und Wachstafeln sind vor allem Hölzer wie Ahorn, Erle, Eibe und Buche. Sie sind zäh und dauerhaft, und ihre Maserung (die Zeichnung der Jahrringe im Holz) ist sehr schön. Möbel sind oft aus Nadelhölzern wie Tanne oder Fichte hergestellt. Dreiteiliger Geweihkamm eines Mannes aus dem Frühmittelalter, Gräberfeld Elgg, Kt. Zürich. Mehrere gezähnte Plättchen werden durch zwei Leisten zusammengehalten. Das erkennt man an der Schnittzeichnung (nicht ausgefüllte Flächen = Knochenteile, schwarze Fläche = Niete). Kantonsarchäologie Zürich. Spätmittelalterliche Holzgegenstände aus Freiburg (D) und Konstanz (D): ein Kreisel, ein Kerbholz (zum Messen), eine Schale und ein Flötenkopf, soweit bekannt hergestellt aus Eibe, Buche und Fichte. U. MÜLLER, Holzfunde aus Freiburg (Augustinereremitenkloster) und Konstanz, Herstellung und Funktion einer Materialgruppe aus dem späten Mittelalter (Stuttgart 1996), Taf. 26.19, 32.3, 5.20, 28.10. Weiterführende Literatur U. MÜLLER , Holzfunde aus Freiburg (Augustineremitenkloster) und Konstanz, Herstellung und Funktion einer Materialgruppe aus dem späten Mittelalter (Stuttgart 1996). Vergleich mit einer früheren Periode: B. Hedinger, U. Leuzinger, Tabula rasa, Holzgegenstände aus den römischen Siedlungen Vitudurum und Tasgetium (Frauenfeld 2002). W. OBERHUBER , W. HOFBAUER , Holz- und Rindenartefakte von Schloss Bruck bei Lienz in Osttirol. In: Archäologie Österreichs 13, 2002, Sonderausgabe, Mittelalter und Neuzeitarchäologie, S. 35–43. Vergleichsobjekte 5 Holzlöffel 38 Schachfiguren © STARCH 14 Schülerheft: Objekt 14 Schröpfkopf Replik Regula Wälti, Bern. Beschreibung Schröpfkopf aus Keramik. Grau gebrannter Ton. Fundorte der Originale Badstuben in Städten, z. B. Winterthur, Metzggasse, und Burgen. Datierung Spätmittelalterlich. Fundorte Schröpfgefässe werden sowohl auf Burgen wie in den städtischen Badstuben gefunden. Eine grössere Anzahl fand man bei Ausgrabungen der unteren Badstube in Winterthur (Ecke Metzggasse/Steinberggasse). Die kleinen Gefässe sind meistens aus unglasiertem Ton gefertigt. Neben Schröpfköpfen aus Keramik waren auch solche aus Metall oder Glas in Gebrauch. Die rundlichen, auf der Töpferscheibe hergestellten Gefässe besitzen häufig einen gewölbten Boden und einen einziehenden, verdickten Randabschluss, der direkt auf der Haut des Patienten haftete. Schröpfen in der Badestube Von der Antike bis in die Neuzeit ist die «Vier-SäfteLehre» wichtigster Bestandteil der Medizin. Danach besteht der Mensch aus den Grundsubstanzen Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Gesundheit ist durch das Gleichgewicht der vier Säfte, Krankheit durch ihr Ungleichgewicht gegeben. Bei kranken Menschen wurden die verdorbenen, überschüssigen Säfte entzogen. Der Blutentzug wurde meist von den Badern und Barbieren in den Schwitz- und Badestuben durchgeführt. Um die schlechten Körpersäfte zu entziehen, wurde die Haut mit einem Schröpfeisen eingeritzt und ein Schröpfkopf tief in die Wunde hineingedrückt. Sobald das Schröpfgefäss ein Drittel mit Blut gefüllt war, fiel es durch sein Gewicht selbst ab. Neben diesem sogenannten blutigen Schröpfen gab es auch die Möglichkeit, den erhitzten Schröpfkopf auf die unverletzte Haut aufzusetzen, wo er sich unter dem entstehenden Unterdruck festsaugte (sogenanntes trockenes Schröpfen). Diese Behandlung fördert die Durchblutung und wirkt anregend. Aderlass Aderlassen war hingegen Aufgabe der Barbiere (auch Scherer genannt). Dabei verlor der Patient eine gewisse Menge Blut bei angeschnittenen Armvenen. Es gab komplizierte Theorien über die möglichen Einstichpunkte für den Blutentzug. Jede Einstichstelle am menschlichen Körper hatte eine andere Wirkung. Schülerheft: Objekt 14 © STARCH Das Ende der Badstuben-Kultur Am Ende des 15. Jahrhunderts schreckte die rasante Verbreitung der Geschlechtskrankheit Syphilis die Bevölkerung auf. Die Badstuben, in denen sich auch Frauen prostituierten, galten sehr schnell als Ansteckungsorte, weshalb es im 16. Jahrhundert zu Schliessungen der Betriebe kam. Archäologen auf der Spur der Syphilis Syphilis wurde über Jahrhunderte von Medizinern und Medizinhistorikern für eine Seuche aus Amerika gehalten, die 1492 von den Spaniern nach Europa gebracht wurde. Kürzlich entdeckte man aber bei Ausgrabungen auf einem Klosterfriedhof in Hull (GB) bei der Hälfte der Skelette an den Knochen Spuren der Syphilis. Da die Gräber ins 14. Jahrhundert datieren, sehen einige Wissenschaftler die Syphilis nicht mehr als eine aus Amerika eingeschleppte Seuche an. Funde aus dem Mittelmeerraum, namentlich aus Pompeji (I) und Metaponto (I), stützen diese neue Erkenntnis. Ungeklärt bleibt nun, weshalb die Syphilis nach 1492 in ihrer Ansteckungsfähigkeit so beängstigend zunahm. Erst mit der Entdeckung des Penicillins gelang es im 20. Jahrhundert, die Syphilis einzudämmen. Nachlässigkeit und die Fixierung auf AIDS lässt sie in unseren Tagen wieder verstärkt auftreten. Aderlass und Schröpfen in der Badstube. Darstellung aus einer um 1500 entstandenen böhmischen medizinischen Handschrift. U. L. GANTENBEIN, Schwitzkur und Angstschweiss. Praktische Medizin in Winterthur seit 1300. Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 327 (Winterthur 1996), S. 37. Weiterführende Literatur U. L. GANTENBEIN, Schwitzkur und Angstschweiss. Praktische Medizin in Winterthur seit 1300. Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 327 (Winterthur 1996). CH. MÖRGELI, Das Medizinhistorische Museum der Universität Zürich (Zürich 1991). B. TUCHEN, «... wolher ins bad reich und arm...». Die «Obere Badstube» zu Wangen im Allgäu. Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg 26 (Stuttgart 1994). Vergleichsobjekte 13 Holzkamm 15 Mörser © STARCH 15 Schülerheft: Objekt 15 Mörser Replik Deutsches Apothekenmuseum, Heidelberg (D). Beschreibung Halb so gross wie das Original. Konische, vierfach gerippte Form mit Löwenfüssen, ein eckiger Henkel. Krückenpistill. Bronze, etwa 1⁄2 Kilogramm schwer. Herkunft der Originale Unterschiedliche Museumstücke. Datierung 15. Jahrhundert. Mörser aus Stein, Holz und Metall Auf Burgen werden häufig Mörser aus Stein gefunden, so z. B. auf dem Schauenberg bei Hofstetten ZH. Der wohl aus Holz gefertigte Stössel hat sich nicht erhalten. Neben Steinmörsern waren im Mittelalter sicher Exemplare aus Holz weit verbreitet, die sich aber nicht erhalten haben. Metallene Mörser sind indessen erst ab dem Spätmittelalter nachgewiesen. In Mogeren bei Schaffhausen wurde bei der Freilegung eines abgebrannten Gebäudes aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts ein ganzer Mörser aus Bronze geborgen. Dieser weist wie die Replik eine gerippte, schlanke Gesamtform mit Löwenfüssen auf. Der zweihenklige Mörser hat ein Gewicht von 8 kg und besitzt zudem am Rande die Inschrift: «Maria • went • unser • elent • maria • hilf • uns • o fraw» (Maria wende unser Elend ab. Maria hilf uns, oh Frau). Der Mörser im Haushalt Da im Mittelalter Küchenmaschinen fehlten, besass jeder Haushalt mindestens einen Mörser, der zum Zerstossen von Gewürzen und anderen Nahrungsmitteln diente. Am häufigsten finden sich in der Schweiz während des Mittelalters folgende Gewürze: Dill, Sellerie, Petersilie und Portulak. Exotische Gewürze, wie etwa Zimt, Nelken, Kardamom und Ingwer kamen eher in grossen Städten mit Handelsbeziehungen vor. Gewürze waren ein kostspieliger Luxusartikel, den sich die wenigsten leisten konnten, denn sie wurden über lange Strecken transportiert. Der Mörser in der Apotheke Gewürze und Salz spielten nicht nur in der Küche eine wichtige Rolle, sondern auch in der Heilkunst. Pfeffer z. B. konnte sowohl gegen Zahnschmerzen wie – vermischt mit Honig – gegen Flechten helfen. Der Apotheker besass unterschiedlich grosse und aus verschiedenen Materialien gefertigte Mörser. Mörser aus Glas, Serpentin oder Granit wurden bei Materialien, die mit Metall reagieren, verwendet. Der Apotheker unterschied zwischen dem groben Zerstossen von Substanzen in grossen Mörsern und dem Verreiben in kleinen Mörsern. Das Verreiben bis zur Pulverisierung sowie die Mischung der Substanzen war von grosser Wichtigkeit. Schülerheft: Objekt 15 © STARCH Herstellung eines Mörsers aus Metall Bei der Herstellung eines Metallmörsers wird die gleiche Methode wie beim Glockengiessen angewendet. Der um eine vertikale Spindel geformte Lehmkern entspricht dem Innern des Mörsers, der Mantel dem Äusseren. Nach Fertigung des Lehmkerns werden leicht erwärmte Wachsplatten aufgetragen, mit einer Schablone geformt, verziert und die Oberfläche geglättet (= falscher Mörser). Danach wird der Mantel mittels Lehmschichten gebildet, nach dem Trocknen wird das ganze Paket von der Spindel abgezogen und aufrecht gestellt, das Eingussloch wird vorbereitet. Schliesslich setzt man die Form in die Giessgrube, erhitzt das Ganze stark und giesst das Metall durch das Eingussloch. Nun schmilzt das Wachs aus und der Mörser entsteht. Herstellung eines Mörsers. E. LAUNERT, Der Mörser (München 1990), S. 30, 32. Weiterführende Literatur E. LAUNERT, Der Mörser (München 1990). M. SCHEFFER, Fernhandel. In: S. Lorenz, Th. Zotz (Hg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Ausstellungskatalog Karlsruhe. Aufsatzband (Karlsruhe 2001), S. 81–88. Vergleichsobjekte 8 Nahrungsmittel 16 Gussform © STARCH 16 Schülerheft: Objekt 16 Gussform Replik Markus Keller, Atelier für handwerkliches Gestalten, Winterthur. Beschreibung Zweiteilige Gussform aus Stein für Kreuzanhänger, Aussenseite unbearbeitet, Kanten z.T. deckungsgleich, mit Eingusstrichter und zwei Stiftlöchern, Breite 4,4 cm. Bei der einen Formhälfte stammen ein weiteres Stiftloch und die Hälfte eines zweiten Eingusstrichters von einer früheren Verwendung als Gussform. Fundort des Originals Winterthur, Marktgasse 10. Datierung 1. Hälfte 13. Jahrhundert. Formguss aus Metall Das Giessen in eine Form ist die älteste Art der Metallverarbeitung. Seit dem 5. Jahrtausend v. Chr. kennt man Kupfer, aber erst die Legierung von Kupfer und Zinn zu Beginn der Bronzezeit (um 2200 v. Chr.) führte zur serienmässigen Herstellung von widerstandsfähigen Werkzeugen und Waffen. Auch im Mittelalter war der Metallguss neben dem Schmieden eine gängige Art der Metallverarbeitung. Im Vergleich zur komplizierten Gusstechnik bei Kirchenglocken oder spätmittelalterlichen Kanonenrohren ist die Herstellung kleiner Objekte verhältnismässig einfach. Grundsätzlich muss zwischen zwei Gusstechniken unterschieden werden. Die eine Technik bedient sich einer einteiligen Form, die nach der Verwendung zerstört wird, deshalb die Bezeichnung Guss in die verlorene Form. Hierbei wird das später zu giessende Objekt aus Wachs modelliert und dann mit einem Lehmmantel umgeben. Nach dem Ausschmelzen des Wachses kann das Objekt gegossen und durch Zerschlagen der Form aus seinem Mantel befreit werden. Ganz anders ist das Verfahren bei der hier vorliegenden zweiteiligen Gussform: diese Form wurde nach Abkühlen des Metalls auseinander genommen und konnte beliebig oft verwendet werden. Damit sich die beiden Formhälften während des Gusses nicht verschoben, konnten sie durch Stifte in den Stiftlöchern fixiert werden. Zweiteilige Gussformen können aus Lehm bzw. Ton von einem Originalobjekt abgenommen oder aber aus Stein herausgearbeitet sein. Tonformen haben den Vorteil, dass von einem Originalobjekt beliebig viele identische Gussformen in Ton abgedrückt werden können, während eine in Stein gearbeitet Gussform immer ein Einzelstück darstellt. Schülerheft: Objekt 16 © STARCH Abzeichen, Amulette und Votivgaben Kleine gegossene Objekte aus Metall fanden im Mittelalter in ganz unterschiedlichen Funktionen Verwendung. Plastische Abbildungen verschiedener Körperteile aus Blei- oder Bronzeguss erfreuten sich als sogenannte Votivgaben grosser Beliebtheit. Sie wurden den zuständigen Heiligen als Dank für die Genesung eines entsprechenden Körperteils gestiftet. Auch als Pilgerabzeichen kamen oft gegossene Metallobjekte zum Einsatz. Wie die Jakobsmuschel (Objekt Nr. 17) den Pilger aus Santiago de Compostela (E) kennzeichnete, belegte der heilige Meinrad (Bild rechts) eine Wallfahrt nach Einsiedeln SZ. Auch Amulettanhänger waren häufig aus Metall gegossen. Vielleicht wurde unsere Gussform zur Herstellung solcher Glücksbringer aus Silber oder Bronze verwendet. Erst kürzlich wurden auf dem Lindenhof in Zürich Bestattungen des 13. und 14. Jahrhunderts ausgegraben. Dabei entdeckten die ArchäologInnen das Grab einer Frau, die auf der Brust ein kleines aus Bronze gegossenes Kreuz trug. Ältestes erhaltenes Pilgerzeichen aus Einsiedeln. Bleiguss um 1360. Dargestellt ist der heilige Meinrad (Mitte). Mit vier Ösen, von welchen eine fehlt, konnten die Pilger das Zeichen an ihrem Gewand oder Hut befestigen. G. MATHEY U.A . (HG.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Ausstellungskatalog Karlsruhe. Katalogband (Karlsruhe 2001), Kat. Nr. 223. Möglicherweise diente unsere Gussform aber auch zur Herstellung für Kreuzanhänger von Rosenkränzen (Objekt Nr. 18). Weiterführende Literatur M. BALMER , A. MOTSCHI, D. WILD, Archäologie auf dem Zürcher Lindenhof. Archäologie der Schweiz 27, 2004, S. 16–25. Vergleichsobjekte 17 Jakobsmuschel 18 Paternoster © STARCH 17 Schülerheft: Objekt 17 Jakobsmuschel Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Jakobsmuschel mit zwei Durchbohrungen. Fundorte der Originale Gräber (Winterthur, Zürich u. a.). Datierung Mittelalterlich, ab dem 12. Jahrhundert. Eine Muschel als Beweis für eine Pilgerfahrt Muscheln wie diese wurden bei der grossen Kirche von Santiago de Compostela (E) als Pilgerzeichen verkauft. Da solche Muscheln nur an der europäischen Atlantikküste vorkommen, waren sie Beweis für den Besuch des wichtigen Pilgerorts im Nordwesten von Spanien. Mit den zwei Bohrungen konnte man sie am Hut, am Gewand oder an der Tasche gut sichtbar annähen. Pilgerfahrten im Mittelalter Hinter Jerusalem (IL) und Rom (I) war das Grab Heiligen Jakobus in Santiago de Compostela (E) drittwichtigste Pilgerort. Vor allem im 11. und Jahrhundert gewann die Reise nach Santiago an deutung. des der 12. Be- Daneben gab es zahlreiche weitere Orte unterschiedlicher Bedeutung, beispielsweise Einsiedeln SZ. An jedem Ort konnte man aus Metall gegossene Pilgerzeichen mit dem Bildnis des dort verehrten Heiligen kaufen. Pilgerzeichen als Grabbeigaben Nach 700 n. Chr. war es nicht mehr üblich, den Toten Beigaben ins Grab zu legen. Eine Ausnahme waren Jakobsmuscheln. Die oder der Verstorbene wollte wohl am Tag des Jüngsten Gerichts beweisen können, dass sie oder er während seines Lebens die Pilgerreise nach Santiago de Compostela (E) auf sich genommen hatte und hoffte, damit vor Hölle und Fegefeuer bewahrt zu werden. Hiess es doch: «Am Tag des Jüngsten Gerichts werden unter den Auserwählten, die nicht fehlen, die Pilger im Namen Christi waren.» Schülerheft: Objekt 17 © STARCH Pilgerfahrt im Mittelalter Die Motivation für eine Pilgerfahrt war vielfältig und nicht nur in der religiösen Frömmigkeit begründet. Vom Gebet in der Nähe der Reliquien eines bedeutenden Heiligen erhoffte man sich die Heilung von Krankheiten und Gebresten. Es zirkulierten Erzählungen wundersamer Heilungen, die sicher auch bewusst werbewirksam von den Kirchenleuten der Pilgerorte verbreitet wurden. Die Pilgerfahrt hatte – etwa dem heutigen Massentourismus vergleichbar – eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Unzählige Gewerbe und Gasthöfe profitierten von den Pilgern, am Hauptziel wie an den Reiserouten. Diese Routen waren in Pilgerführern beschrieben. Die Wege nach Santiago sind heute noch als Jakobswege im Wanderwegnetz integriert und wieder sehr populär geworden. Da Pilger zu Fuss gingen, dauerte die Reise monatelang. In Gerichtsurteilen wurde zuweilen die Durchführung einer Pilgerfahrt als Strafe und Busse ausgesprochen. Dies kam einer befristeten, oftmals über ein Jahr dauernden Verbannung gleich. Dieses Bild aus dem frühen 14. Jahrhundert zeigt links einen Pilger. Auf dem Hut sind drei Jakobsmuscheln aufgenäht. Wie ein zugehöriges Gedicht schildert, steckt der Pilger seiner Herzensdame einen Liebesbrief zu. I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), S. 122. Weiterführende Literatur J. BLUM , Jakobswege durch die Schweiz (Thun 2001). C. JÄGGI, H.-R. MEIER , R. WINDLER , M. ILLI, Die Stadtkirche St. Laurentius in Winterthur. Ergebnisse der archäologischen und historischen Forschungen. Zürcher Denkmalpflege. Archäologische Monographien 14 (Zürich und Egg 1993), S. 71f. N. OHLER , Pilgerstab und Jakobsmuschel (München 2000). I. F. WALTHER , Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988). Vergleichsobjekte 19 Reliquien © STARCH 18.1–18.3 Schülerheft: Objekt 18 Paternoster Originale 18.1: Winterthur, Neumarkt. 18.2: Winterthur, Stadtkirche. Replik 18.3: Ars pro deo, Einsiedeln SZ. Beschreibung 18.1 Produktionsabfälle. Gelenkkopf eines Mittelfussknochens (Rind) und Knochenstück mit ausgebohrten Kreisen. 18.2 Ring und Perle aus Knochen. 18.3 Heutiger Rosenkranz mit Kreuzanhänger. Fundorte und Datierung 18.1: Stadtgrabenverfüllung. 15. Jahrhundert. 18.2: Kircheninneres. Spätmittelalter. 18.3: modern. Der Paternoster Der Name «Paternoster» leitet sich vom Gebet «Vater unser, der du bist im Himmel...» ab. Als Paternoster bezeichnete man die im 13. Jahrhundert aufkommende Gebetskette, die vom Islam ins Christentum übernommen wurde. Die auf einer kreisförmig zusammengebundenen Schnur aufgereihten Knochenringe dienten zum Abzählen einer Anzahl Gebete, beispielsweise von 10 «Vaterunser». Der Paternoster wurde dann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zum Rosenkranz umgewandelt. Dieser enthielt jeweils mehrere Einheiten («Gesetze») zu 10 Ringen oder Perlen für «Ave-Maria»-Gebete und einer andersartigen Perle für ein «Vaterunser». Die Anzahl der Gesetze war damals noch variabel. Interessanterweise unterschieden sich auch die Rosenkränze von Männern und Frauen. Was waren wohl die Gründe dafür, dass diejenigen der Männer meistens kleiner waren, d. h., dass sie weniger beten mussten? Erst in der Zeit um 1600 erhielt der Rosenkranz seine heute gültige Form und Zusammensetzung. Nun hatten auch Frauen und Männer denselben Rosenkranz. Gebetsschnüre sind keine Eigenheit der katholischen Kirche, sie kommen auch im Islam, im Buddhismus und im Hinduismus vor. Der Paternoster aus Knochenringen – für alle erschwinglich Ringe aus Knochen und Holz waren billige Massenware. Zur Herstellung der Knochenringe verwendete man Mittelhand- und Mittelfussknochen von Rindern und Pferden. Zunächst kochte man die Knochen aus, um Fleischreste zu entfernen und die Knochen zu entfetten. Anschliessend trennte man die Gelenkenden ab und spaltete die Langknochen in Streifen (18.1). Danach konnte man mit einem speziellen, mit einem Bogen angetriebenen Bohrer die Ringe ausbohren (18.2). In den spätmittelalterlichen Städten gab es einen spezialisierten Berufszweig der Knochenschnitzer, die «Paternosterer». Sie stellten nur diese Knochenringe her. Natürlich gab es auch wertvollere Paternoster mit Ringen aus Silber, Bernstein oder Koralle. Schülerheft: Objekt 18 © STARCH Religiöse Volksfrömmigkeit im Spätmittelalter Das Mittelalter war eine sehr von Religion und tief empfundenem Glauben geprägte Zeit. Der Glaube war ein eigentlicher Motor, der die Leute auf allen handwerklichen Gebieten zu Höchstleistungen anspornte, man denke an den Bau der Kirchen, an Glas- und Buchmalerei, Goldschmiedearbeiten oder Holzschnitzkunst. Klostergemeinschaften mit ihren Bibliotheken waren eigentliche Hüter von Wissen und Bildung. Gebet und Andacht, die Bitte um Beistand der Heiligen hatte für jeden Menschen eine herausragende Bedeutung. Für alle Berufsstände, aber auch für Leiden und Krankheiten war ein Heiliger zuständig, den man anrufen konnte. So gab es unzählige Heilige: Barbara war die Schutzpatronin der Bergleute, Sebastian half gegen die Pest, an Odilia wendete man sich bei Augenleiden, an Verena bei Liebeskummer usw. Alle erhofften sich, dass am Tag des Jüngsten Gerichts ihre Gebete und Beichten helfen mögen, damit sie in den Himmel einziehen durften. In den Kirchen waren auf Wand- und Altargemälden die Schrecken dargestellt, welche die Verdammten in Hölle und Fegefeuer erwarten würden. In einer Zeit, als der grösste Teil der Menschen ungebildet war, ja aus Analphabeten bestand, muss der Eindruck solcher Bilder zusammen mit einer einheizenden Predigt gewaltig gewesen sein. Also galt es zu beten und zu hoffen, dass einen nicht ein plötzlicher Tod ereile und man keine Gelegenheit zur Vorbereitung, der letzten Beichte nämlich, hätte. Am Tag des jüngsten Gerichts erheben sich die Toten aus den Gräbern. Christus, flankiert von den Heiligen, richtet: Die Seligen ziehen ins Paradies, die Verdammten versinken im Höllenschlund. Köln (D), um 1460–1480. P. JEZLER, Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter (Zürich 1994), S. 340. Weiterführende Literatur H. F. ETTER (HG.), Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula (Zürich 1988). U. B. FREI, F. BÜHLER (HG.), Der Rosenkranz. Andacht – Geschichte – Kunst (Bern 2003). P. JETZLER (HG.), Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter (Zürich 1994). T. MITTELSTRASS, Zur Archäologie der christlichen Gebetskette. In: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 1999/2000, S. 219–261. Vergleichsobjekte 16 Gussform 19 Reliquien 29 Handbohrer Vgl. auch Textbeispiel 16 auf der CD Musik und Text © STARCH 19 Schülerheft: Objekt 19 Reliquien Repliken Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Ovale Spanschachtel, Boden mit Samt ausgelegt. Inhalt: Weihrauchkörner, Splitter des Kreuzes Christi, Dorn der Dornenkrone Christi, Fetzen vom Gewand der Heiligen Barbara, Fingerknochen des Heiligen Johannes, Glasgefäss mit Erde vom Hügel Golgatha, mit Bienenwachssiegel verschlossen. Möglicher Fundort Kircheninneres, Altar. Datierung der Vergleiche Spätmittelalterlich. Reliquien als Lebensversicherung? Reliquien sind entweder Gebeine von Heiligen oder Gegenstände, die mit diesen Personen in Berührung gekommen sind oder die von heiligen Orten stammen. Bereits im 5. Jahrhundert setzte im Gebiet der heutigen Schweiz die Verehrung von Heiligen ein (z.B. heiliger Mauritius in Saint-Maurice VS, heilige Verena in Zurzach AG). Von den Heiligen erhoffte man sich Hilfe auf Erden und Fürbitte am Tag des Jüngsten Gerichts. Dann – so stellte es sich der mittelalterliche Mensch vor – werden die Seligen ins Paradies einziehen und die Sünder in die Hölle kommen. Die Reliquien stellten den direkten Kontakt zum Heiligen her: entweder durch Berührung oder durch Anbetung. Jede neu errichtete Kirche erhielt einen Schutzheiligen (St. Martin, St. Laurentius usw.) und hatte mindestens eine Reliquie. Je mehr Reliquien man vorweisen konnte, umso wichtiger war die Kirche. Deshalb gibt es auch richtige Auflistungen von Reliquien. «Buntes Sammelsurium» – Andenken an eine Pilgerreise ins Heilige Land? Kleine Reliquien legte man zuweilen in hölzerne Spanschachteln und mauerte diese in Altären ein. Da findet sich ein wunderliches Sammelsurium: ein Glas mit Erde des Hügels Golgatha, mit Siegel beglaubigt; ein Fetzen des Gewandes der heiligen Barbara; ein Splitter des Kreuzes Christi; ein Dorn der Dornenkrone Christi; Weihrauchkörner. Aus heutiger Sicht sind solche Gegenstände im besten Fall als Souvenir einer Pilgerreise ins Heilige Land anzusehen, im Mittelalter war man von ihrer Echtheit überzeugt. In einer Urkunde von 1409 werden zum Beispiel die Reliquien des Klosters Schöntal bei Langenbruck BL aufgezählt: «Stücke von den Kleidern der Maria, vom Arm der heiligen Christina (...) ein Stück Fels vom Geburtsort Christi (...) Erde vom Paradies (...) ein Stück vom Kreuz, von der Wiege des Herrn (...) vom Heiligen Grab (...) vom Stab des Aaron (...)». Schülerheft: Objekt 19 © STARCH Diebstahl von Reliquien Bei der Beschaffung von Reliquien schreckte man sogar vor Diebstahl nicht zurück – dies obwohl es in den zehn Geboten ja heisst: «Du sollst nicht stehlen.» Im Gegenteil: Reliquienraub konnte sogar als fromme und ehrenvolle Tat gelten. Reliquien, die nicht umziehen wollten, konnten sich aber wehren, wie Legenden berichten. Schändung von Reliquien des Feindes Als die Schwyzer 1314 das Kloster Einsiedeln SZ überfielen, brachen sie u.a. die Reliquienbehälter auf und trieben mit den Gebeinen der Heiligen pietätlosen Schabernack. Derartige, bei vielen kriegerischen Übergriffen nachweisbare Taten zielten darauf, die Gegner zu verspotten. Sie hätten Knochen und Bilder verehrt, die nicht von Heiligen stammen, da sich diese sonst gewehrt hätten. So versuchte man die Moral der Gegner zu brechen. Handel und Fälschungen Natürlich entstand sehr rasch ein grosser Handel mit Reliquien, wobei auch zahlreiche Fälschungen in Umlauf gebracht wurden. So könnte man aus den zahlreichen Splittern des Kreuzes Christi mehrere Kreuze zimmern. Die Kirche versuchte, dem Missbrauch entgegenzuwirken. Die Geistlichen hatten die Echtheit der Reliquien zu prüfen und mussten sie mit Siegel oder einem Zertifikat kennzeichnen. Dennoch gibt es heute noch immer Unklarheiten. Ein gutes Beispiel sind die Gebeine des am 14. Februar verehrten heiligen Valentin. Rom (I), Terni (I), Dublin (IRL), Krumbach (D), Kiedrich (D) und Worms (D) behaupten, seine Gebeine zu besitzen. Darstellung der Graböffnung von Felix und Regula, der Stadtheiligen von Zürich, im 8. Jahrhundert. Um ein Grab, über das nichts näheres bekannt war, bildete sich die Legende von Felix und Regula. Die damit verbundene Begründung des Wallfahrtsortes Zürich erscheint aus heutiger Sicht als Schwindel, führte aber dem mittelalterlichen Menschen das Martyrium (Leidensgeschichte der Heiligen) bildlich vor Augen. H. F. ETTER (HRSG.), Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula (Zürich 1988), Abb. 65. Weiterführende Literatur S. BEISSEL , Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland im Mittelalter (Darmstadt 1988). K. EDER MATT, Reliquienkult im mittelalterlichen Basel. In: B. Meles (Hg)., Der Basler Münsterschatz (Basel 2001), S. 322–328. H. F. ETTER (HG.), Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula (Zürich 1988). Vergleichsobjekte 16 Gussform 17 Jakobsmuschel 18 Paternoster © STARCH 20 Schülerheft: Objekt 20 Becherkachel Replik Fredi Mathys, Seuzach ZH. Beschreibung Becherkachel mit schräg nach innen abgestrichenem Rand. Oranger, hart gebrannter Ton. Feine Sandmagerung. Aussen feine Drehriefen. Bodenunterseite mit radialen Abschneidespuren. Fundort des Originals Winterthur, Obergasse 4. Datierung 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Fundort und Fundumstände Diese Becherkachel war ursprünglich in einem Kachelofen der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts eingebaut. Sie wurde mit zahlreichen Geschirr- und Ofenkachelfragmenten und verbranntem Hausrat in einem mittelalterlichen Keller geborgen, der zu einem in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts abgebrannten Haus gehörte (vgl. Objekt 1, ebenfalls aus dieser Kellerverfüllung). Viele Kacheln konnten nahezu unversehrt geborgen werden. Die grosse Anzahl Ofenkacheln, Lehmteile der Ofenwand sowie ein Ofenaufsatz lassen auf einen einzigen Ofen schliessen. Die frühesten Ofenkacheln aus dem Kanton Zürich stammen aus dem 12. Jahrhundert. Im Vergleich zur Becherkachel weisen sie einen sehr geringen Durchmesser auf und werden deshalb Röhrenkacheln genannt. Während des Hoch- und Spätmittelalters vergrössert sich die wärmeabstrahlende Fläche der Kacheln: von den engen Becherkacheln bis zu den breiten, flachen Blattkacheln. Der Kachelofen steigerte die Wohnqualität der Menschen im Mittelalter erheblich. Ausser der Küche mit dem offenen Herdfeuer gab es nun einen zweiten geheizten Raum, die Stube, in der man nicht mehr dem Rauch ausgesetzt war, sondern die wohlige Wärme des Ofens geniessen konnte. Schülerheft: Objekt 20 © STARCH Die Rekonstruktion eines Kachelofens In der Ausstellung des Museums Kyburg ZH wurde ein Ofen aus Becherkacheln anhand von Winterthurer Funden und Befunden aus dem 13. Jahrhundert rekonstruiert. Der Ofensockel war mit Eichenbohlen eingefasst, der darauf liegende Feuerkasten aus Lehm gebaut. Darüber finden wir die mit Becherkacheln bestückte Kuppel, die von einem Aufsatz in Form eines Gesichtes bekrönt wird. Die Kuppel konnte anhand von gewölbten Lehmresten mit Negativen von Becherkacheln aus einem Winterthurer Ofen, der in der Metzggasse ausgegraben wurde, rekonstruiert werden. Dies bedeutete Spuren lesen: Die Lehmteile mit Negativen der Kacheln konnten wie in einem Puzzle an die Becherkacheln angepasst werden, bis die Kuppelform erkennbar wurde. Rekonstruktion des Winterthurer Ofens im Museum Kyburg ZH durch Fredi Mathys. Der auf den Fundstücken basierende Wiederaufbau lieferte wichtige Erkenntnisse. Aufgrund von Berechnungen nahm man zunächst an, dass für den Bau der Kuppel 85 Becherkacheln ausreichen. Tatsächlich benötigte man aber 144 Kacheln. Kantonsarchäologie Zürich. Rekonstruierte Ofenkuppel aus originalen Becherkacheln und Lehmteilen der Ofenwand. Fundort Winterthur, Metzggasse. Datierung um 1200. Kantonsarchäologie Zürich. Weiterführende Literatur TH. BITTERLI UND D. GRÜTTER, Alt-Wädenswil. Vom Freiherrenturm zur Ordensburg. Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 27 (Basel 2001). A. MATTER UND W. WILD, Neue Erkenntnisse zum Aussehen von Kachelöfen des 13. und frühen 14. Jahrhunderts – Befunde und Funde aus dem Kanton Zürich. Mittelalter. Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins 1997, S. 77–95. W. WILD, Die Rekonstruktion eines Becherkachelofens im Museum Schloss Kyburg, Mittelalter. Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins 1997, S. 99–100. Vergleichsobjekte 21 Blattkachel © STARCH 21 Schülerheft: Objekt 21 Blattkachel Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Ofenkachel mit Darstellung eines Löwens, grün glasiert auf weisser Engobe (Tonschlicker). Fundorte der Originale Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil; Zürich. Datierung Mittleres 15. Jahrhundert. Löwen – Drachen – Edeldamen – Ritter: reich verzierte Kachelöfen Im Verlaufe des 14. Jahrhunderts begannen die Hafner (Töpfer), ihre Ofenkacheln mit Bildern zu verzieren und grün zu glasieren. Die Kacheln waren ohne Lücke aneinander gereiht und ihre Bilder erzählten Geschichten des vornehmen Lebens. Da sah man Ritter im Turnier aufeinander prallen, dort tanzten feine Damen und Herren miteinander. Jäger schleppten fette Beute aus dem Wald. Natürlich durften Fabelwesen – zum Beispiel Drachen – und Tiere nicht fehlen. Beliebt war vor allem der starke Löwe. Als König der Tiere beeindruckte er vor allem die mächtigen Leute, die ihn häufig auch als Tier für ihr Familienwappen wählten. Dies mag erstaunen, da die wenigsten Leute in ihrem Leben einen richtigen Löwen zu sehen bekamen. Wann landet ein Kachelofen auf dem Müll? Nur reiche Leute konnten sich solch teure Kachelöfen kaufen. Scherben von Ofenkacheln – in seltenen Fällen sogar vollständige Stücke – findet man bei Ausgrabungen auf Burgruinen oder in Häusern reicher Stadtbewohner. Einen Kachelofen konnte man gegen fünfzig Jahre gebrauchen. Danach musste man ihn erneuern. Die Kacheln des kaputten Ofens warfen die Burgbewohner häufig einfach aus einem Fenster in den Burggraben hinunter, wo sie liegen blieben und auf Archäologinnen und Archäologen warteten … Häufig befanden sich die Kachelöfen in den oberen Stockwerken der Häuser. Wenn das Haus niederbrannte, fiel der Ofen hinunter und blieb auf dem Boden liegen. In einigen Fällen baute man das Haus nicht mehr auf und kippte später noch weitere Erde oder Schutt über den Ofen. Bei einer Ausgrabung kann man dann im Idealfall alle Kacheln des Ofens finden und wieder zu einem Ofen zusammensetzen. Schülerheft: Objekt 21 © STARCH Herstellung – aufwändig und teuer Die Herstellung der verzierten Kacheln war aufwändig, da sie aus zwei zusammengefügten Teilen, der Vorderseite mit dem Bild («Blatt») und der röhrenförmigen Rückseite («Tubus»), besteht. Die Bilder werden aus einem Ton- oder Holzmodel abgeformt (1, 2). Diese Technik kommt heute noch bei mit Bildern verziertem Gebäck – z.B. den Züri-Tirggeln – zur Anwendung (siehe Objekt 3). Aus einem Model konnten beliebig viele Kacheln abgeformt werden: Eine eigentliche mittelalterliche «Kopiermaschine» war erfunden. Auf der Töpferscheibe drehte man nun einen Zylinder und löste ihn mit Draht von der Scheibe (3, 4). Mit viel Tonschlicker konnte der Hafner die beiden Teile zusammenfügen. Nun war die Kachel für einen ersten Brand im Töpferofen bereit. Erst danach übergoss man sie mit der Bleiglasur. Nach einem zweiten Brand glänzte die Glasur je nach Glasurrezept dunkelgrün bis olivbraun (5). Der röhrenförmige Teil diente dazu, die Kachel mit Lehm im Kachelofen zu verbauen. E. J. BEER U.A . (HG.) Berns grosse Zeit. Das 15. Jh. neu entdeckt (Bern 1999), Abb. 159. Weiterführende Literatur TH. BITTERLI, D. GRÜTTER , Alt-Wädenswil. Vom Freiherrenturm zur Ordensburg. Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 27 (Basel 2001). E. ROTH KAUFMANN, R. BUSCHOR , D. GUTSCHER, Spätmittelalterliche reliefierte Ofenkeramik in Bern. Herstellung und Motive, Schriftenreihe der Erziehungsdirektion des Kantons Bern (Bern 1994). Vergleichsobjekte 3 Backmodel 20 Becherkachel © STARCH 22 Schülerheft: Objekt 22 Rebmesser Original Fundorte im ganzen Kanton Zürich. Beschreibung Rebmesser mit breiter Klinge und Angel zur Fixierung des Holzgriffs. Diese teilweise unten umgebogen. Fundorte Burgen und Dörfer. Datierung Mittelalterlich oder neuzeitlich. Weil sich die Formen der Rebmesser nicht veränderten, sind sie nicht genauer datierbar. Ein hochspezialisiertes Gerät Das Rebmesser gleicht in Form und Gestaltung dem Gertel, einem grossen Haumesser, mit dem man Äste abschlägt. Das kleinere Rebmesser mit gebogener Klinge diente im Frühjahr zum Beschneiden des Rebstocks, zur Erntezeit im Herbst zum Abschneiden der reifen Trauben von den Stöcken. Auf Burgen und in ländlichen Siedlungen finden sich immer wieder Rebmesser, so auf der Burg Scheidegg BL oder in einem heute nicht mehr existierenden Dorf bei Unterstammheim ZH. Was normalerweise erhalten bleibt, ist nur das Eisenmesser, nicht aber der Holzgriff. Diese Messerform, die bereits die Römer kannten, war noch bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Danach wurde das Rebmesser durch stählerne Rebscheren abgelöst. Das Rebmesser findet sich häufig auf Wappen als Symbol für den Weinbau (so z. B. das Wappen der Gemeinde Weiningen ZH). Schülerheft: Objekt 22 © STARCH Der Weinbau Die Trauben der Wildreben waren bereits den Menschen in der Bronzezeit bekannt. Erst die Römer führten die Kulturrebe nördlich der Alpen ein. Der sogenannte Kammertbau, bei dem die Reben an einem Gerüst aus Pfählen gezogen wurden, stammt ebenfalls von den Römern. Im Frühmittelalter waren es vor allem die Klöster, die den Rebbau pflegten. Ausser in der Messe (fürs Abendmahl) benötigte man den Wein auch für die Bewirtung der Mönche und Pilger. Im Hochmittelalter wurden bei günstigen klimatischen Verhältnissen vermehrt steinige Böden genutzt und Rebberge auf Terrassen an steilen Hängen angelegt. Im zürcherischen Weinland – zwischen der Grafschaft Kyburg und der Landvogtei Andelfingen – spielte der Rebbau seit dem Mittelalter eine wichtige Rolle. Der Landvogt bezahlte Handwerker und Fuhrleute häufig mit Wein, der wegen des etwas sauren Geschmacks mit Zimt, Nelken, Ingwer und Honig gewürzt wurde. Im Mittelalter waren die Rebleute, die sich um den Weinberg kümmerten, in einer eigenen Rebleutezunft organisiert. Neben Rebordnungen gab es im ausgehenden Mittelalter sogenannte Weinbücher, in denen Regeln und praktische Anweisungen für Winzer und Wirte aufgelistet wurden. In der mittelalterlichen Malerei war das Thema der Monatsbilder beliebt. Mit jeweils einem Bild pro Monat sind typische bäuerliche Tätigkeiten dargestellt. Das Bild des Septembers zeigt meistens die Weinlese. Entstanden ist die abgebildete Wandmalerei um 1320/30 im Haus «Zum langen Keller» (Zürich, Rindermarkt 26). Schweizerisches Landesmuseum. Flurnamen, wie z. B. Weinberg oder Rebhalde, erinnern heute noch an den Weinbau. Auf dem Wandbild sieht man, wie Fässer angezapft und der Wein degustiert wurde. Die Malerei entstand um 1494 im Keller des Hauses Technikumstrasse 26 in Winterthur. Geschichte des Kantons Zürich. Band 1, Frühzeit bis Spätmittelalter (Zürich 1995), S. 357. Weiterführende Literatur A. HAUSER, Vom Essen und Trinken im alten Zürich (Zürich 1973, 3. Auflage). G. MATHEY, H.-P. WIDMANN, Weinbau und Alltag der Rebleute. In: S. Lorenz, Th. Zotz (Hg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Ausstellungskatalog Karlsruhe. Aufsatzband (Karlsruhe 2001), S. 165–168. Vergleichsobjekte 8 Nahrungsmittel © STARCH 23 Schülerheft: Objekt 23 Bügelschere Replik S. Roth, Seelenschmiede, Braunschweig (D). Beschreibung Bügelschere aus Eisen. Fundorte der Originale Burgen, Städte und Dörfer. Datierung Form seit der Bronzezeit bekannt und bis in die Neuzeit benutzt. Fundort und Fundumstände Die Bügelschere wird aus einem Eisenstab hergestellt, den ein Schmied mit Hammer und Amboss in die richtige Form bringt. Die zwei Schneideflächen sind geschärft. Die Schere wird mit einer Hand bedient durch Zusammendrücken des elastischen Bügelteils, wodurch die zwei Schneidflächen sich nähern und den Stoff in der Mitte schneiden. Öffnet man die Hand leicht, so öffnen sich die Scherenschenkel wieder und es kann weitergeschnitten werden. Solche Scheren gehörten wohl in unterschiedlichsten Grössen in den Haushalt der meisten Familien im Mittelalter, wobei man damit weniger das damals noch äusserst seltene Papier schnitt, sondern eher Leder oder Stoff, Haare oder Wolle. Zum Schafscheren werden ähnliche Exemplare bis heute gebraucht. Scheren kommen als archäologische Funde in Siedlungen, auf Burgen, manchmal sogar in Gräbern als Beigabe vor. Im späten Mittelalter findet man sie auch auf Bildern, sie gelten dazu als Symbole für bestimmte Berufszweige wie die Tuchscherer. Scheren, die aus zwei Teilen zusammengesetzt wurden wie unsere heutigen Exemplare, kommen im spätesten Mittelalter auf. Kannst du dir vorstellen, worin der Unterschied zu einer zweiteiligen Schere, wie wir sie noch heute gebrauchen, liegt? Schülerheft: Objekt 23 © STARCH Eine eiserne Bügelschere: Gegenstand und Symbol Die eisernen Bügelscheren findet man manchmal in archäologischen Grabungen, manchmal auch auf Bildern des Spätmittelalters. Sie erscheinen dort zusammen mit anderen Werkzeugen, die für die Ausübung einer handwerklichen Tätigkeit nötig waren. Auf dem Bild rechts erscheint die Bügelschere aber in einem anderen Zusammenhang, nämlich als Symbol für diejenigen Gegenstände, welche eine Frau in ihre Ehe von Zuhause mitbrachte. Der Sachsenspiegel, ein handgeschriebenes Gesetzbuch, welches das sächsische Recht darstellt, enthielt neben einem geschriebenen Text immer auch uns heute fast comic-artig anmutende Bildchen, die für diejenigen Personen gedacht waren, die nicht lesen konnten. Da dieser Text von Dingen sprach, wie «was mit Landbesitz geschah, wenn jemand starb» oder «ob ein Wirt für Reittiere der Gäste im Stall im Falle einer Feuersbrunst aufzukommen hatte» – also alles Gedanken, die nicht leicht in Bildern auszudrücken sind – mussten einfach erkennbare Symbole des täglichen Lebens dafür gefunden werden, wie die abgebildete Eisenschere erkennen lässt. Grosse eiserne Bügelschere aus dem 11. Jahrhundert. Altenberg BL, Füllinsdorf. J. TAUBER, F. HARTMANN, Fundort Schweiz, Bd. 5, Kapitel Hauswerk und Handwerk (Solothurn 1988), S. 144. Die Frau umfasst mit der rechten Hand eine Bügelschere, ihr linker Arm hält ihr Kind. Die Schere symbolisiert diejenigen Güter, welche ihr vor der Heirat gehörten und die sie nach einer «Scheidung» von ihrem Mann zusammen mit einem Teil des Mannesguts (symbolisch dargestellt als Sack Geld, den ihr Exgatte ihr hinstreckt ) wieder zurückerhält. Sachsenspiegel, 13. Jahrhundert. W. KOSCHORRECK, Der Sachsenspiegel in Bildern. Aus der Heidelberger Bilderhandschrift ausgewählt und erläutert (Frankfurt a. M. 1976), Nr. 100. Weiterführende Literatur W. KOSCHORRECK , Der Sachsenspiegel in Bildern. Aus der Heidelberger Bilderhandschrift ausgewählt und erläutert (Frankfurt a. M. 1976). J. TAUBER , F. HARTMANN, Fundort Schweiz, Bd. 5, Kapitel Hauswerk und Handwerk (Solothurn 1988). Vergleichsobjekte 24 Handspindel © STARCH 24 Schülerheft: Objekt 24 Handspindel Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Spinnwirtel aus gebranntem Ton, Spindel aus Holz. Auf der Spindel ist ein aus der Wolle gesponnener Faden aufgewickelt. Im Boden bleibt meist nur der Spinnwirtel erhalten. Fundorte der Originale Burgen, Dörfer, Städte. Datierung Mittelalter. Spinnen – ein Faden entsteht Ein Faden entsteht durch das Drehen mehrerer Fasern oder Haare. Bis ins 19. Jahrhundert standen dafür pflanzliche Fasern (Lein/Flachs, Hanf und Baumwolle), Tierhaare (vor allem Schafwolle) und Seide (vom Kokon der Seidenraupe) zur Verfügung. Baumwolle und Seide mussten aus südlichen Ländern (u. a. Mittelmeerraum) importiert werden, denn das Klima nördlich der Alpen ist für den Anbau der Baumwolle wie auch für die Seidenraupenzucht zu kühl. Das Herstellen des Fadens hat sich erst in den letzten 200 Jahren vollständig verändert. Von der Jungsteinzeit bis ins 13. Jahrhundert war bei uns die Handspindel das einzige Hilfsmittel beim Spinnen. Der Spinnwirtel dient dabei als Schwungrad. Zuerst wird mit den Fingern aus wenig Wolle ein kurzer Faden gedreht. Dieser wird an der Spindel befestigt. Darauf wird die hängende Spindel mit den Fingern in Schwung gebracht und nach und nach Wolle aus dem Wollebausch gezupft: ein Faden entsteht. Dieser Faden wird auf der Spindel aufgewickelt, die herunterhängende Spindel kann erneut in Drehung versetzt werden usw. Erst Jahrtausende nach der Entwicklung der Handspindel folgte mit der Einführung des Spinnrades – in Europa ab dem 13. Jahrhundert – ein kleiner Schritt in Richtung Mechanisierung (in Indien und China war es schon lange bekannt). Allerdings wurde noch über Jahrhunderte neben dem Spinnrad auch die Handspindel verwendet, in abgelegenen Gegenden z. B. des Tessins wurde vereinzelt sogar noch im 20. Jahrhundert mit der Handspindel gesponnen. Seit dem 19. Jahrhundert haben aber die Spinnmaschinen das Spinnrad und die Handspindel rasch verdrängt. Die Maschine hat die Handarbeit ersetzt. Mit der Maschine konnte in kurzer Zeit sehr viel mehr Faden und dazu noch von gleich bleibender bester Qualität produziert werden. Schülerheft: Objekt 24 © STARCH Spinnen – «Spinnst du?» Das Spinnen war früher eine typische Tätigkeit der Frauen und Mädchen. Das Wort «spinnen» hatte im Mittelalter noch keinen schlechten Beigeschmack. Im Gegenteil, das Spinnen war Sinnbild einer tugendhaften Tätigkeit. Dies sehen wir auf zahlreichen mittelalterlichen Bildern der heiligen Maria. Auf vielen Darstellungen der Verkündigung ist Maria gerade am Spinnen. Dies soll ihre Jungfräulichkeit unterstreichen, wenn der Engel Gabriel ihr von der bevorstehenden Geburt des Jesuskindleins berichtet. Das Wort «spinnen» kommt aber auch in vielen Redewendungen vor: So sagen wir: «Das Leben hängt an einem Faden.» Nach antiker Vorstellung spinnen die Schicksalsgöttinnen den Lebensfaden. Reisst er, so stirbt ein Mensch. Eine weiterer bildhafter Ausdruck ist: «Gedanken spinnen.» Hier wird der Gedanke einem Faden gleichgesetzt. Verwirren sich diese Gedankenfäden, so «spinnt» ein Mensch. Die heilige Maria beim Spinnen. Der Engel Gabriel verkündigt ihr die Geburt des Jesuskindes. Buchmalerei aus dem 12. Jahrhundert. G. SPORBECK, Textilherstellung – Zu mittelalterlichen Spinn- und Webgeräten. In: U. Lindgren (Hg.), Europäische Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation (Berlin 1996), Abb. 3. Weiterführende Literatur G. SPORBECK , Textilherstellung – Zu mittelalterlichen Spinn- und Webgeräten. In: Uta Lindgren (Hg.), Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation (Berlin 1996), S. 471–478. Das Spinnen eines Fadens mit der Handspindel. M. SCHMAEDECKE, J. TAUBER, Ausgrabungen in Lausen-Betterach. Archäologie und Museum 25 (Liestal 1992), Abb. 30. Vergleichsobjekte 25 Webbrettchen 26 Webgewicht 27 Schwinghebel © STARCH 25 Schülerheft: Objekt 25 Webbrettchen Replik Experimenta, K. und C. Schäppi, Andelfingen ZH. Beschreibung Zehn 4fach gelochte Webbrettchen aus Buchenholz mit Ritzmuster. Fundorte der Originale Gräber, Siedlungen, Webkeller. Datierung Bei uns hauptsächlich im Früh- und Hochmittelalter als Fund bekannt. Die Technik ist aber sehr alt (aus Ägypten Hinweise aus dem 3. Jahrtausend v. Chr.). Fundort und Fundumstände Der Gebrauch von Webbrettchen zum Herstellen von Textilien ist heute gänzlich unbekannt, da Maschinen ihre Funktion übernommen haben. Bis ins 15. Jahrhundert dienten Webbrettchen hauptsächlich zum Fabrizieren von farbigen, reissfesten Bändern als Abschluss an Kleidern, aber auch um feste Stoffkanten zu erhalten, die man dann zu grösseren Stücken Stoff erweitern konnte (z. B. bei der Herstellung von Mänteln). Diese Technik, die eigentlich auf dem Drehen von Fäden und dem gleichzeitigen Öffnen von Fächern zum Durchschiessen eines Fadens beruht, kann auch unabhängig von einem Webrahmen im Stehen ausgeübt werden. Archäologisch überlieferte Brettchen sind meistens quadratisch aus Knochen oder Holz gearbeitet und etwas kleiner als die hier mitgegebenen Repliken (2–3,5 cm Kantenlänge). Sie sind oft mit vier, manchmal fünf Löchern versehen. Solche Bänder wurden von verschiedenen Personen im Heimwerk gewoben. Ein Fund mit 52 Webbrettchen stammt aus dem Grab einer Königin in einem Wikingerschiff in Norwegen (Osebergschiff, um das Jahr 850 n. Chr.). Im Kanton Zürich findet man in vielen Mittelaltergrabungen in Siedlungen einzelne Webbrettchen (z. B. auf dem Münsterhof in Zürich und in Embrach ZH). Webtechnik: Wie erhalte ich ein Bändchen? Durch die Löcher in den Brettchen wird jeweils ein bunter Faden eingefügt (= 4 Fäden pro Brettchen). Im Mittelalter mussten diese Fäden von Hand zuerst mit der Spindel gesponnen werden (siehe Objekt 24). Ein Bündel solcher bestückter Brettchen wird oben zusammengebunden, danach kann im entstandenen Fach zwischen den oberen und den unteren zwei Fäden ein Schussfaden durchgeschoben werden. Mit einer 90-Grad-Drehung aller Brettchen (= alle um ein Loch weitergedreht) werden die Fäden miteinander verdreht, und es verschiebt sich das Fach, welches sich gebildet hat. Dies erlaubt es, den Schussfaden wieder zurückzuschicken. Eine weitere Brettchendrehung ergibt ein neues Fach, der Schussfaden kann wieder durchgeführt werden usw. Dieses einfache Grundprinzip wurde im Mittelalter dazu benutzt, geometrische Motive, aber auch Tiere, Pflanzen und Schriften durch bestimmte Drehbewegungen der Brettchen und spezielle Abfolgen der Fadenfarben auf die Bänder zu zaubern. Die Brettchen können nämlich auch einzeln oder in bestimmten Sequenzen vor- und rückwärtsgedreht werden. Mit einfachen Bewegungen, aber etwas Phantasie und Können kann man so eine riesige Anzahl verschiedener Bänder herstellen. Schülerheft: Objekt 25 © STARCH Die Herstellung eines eigenen Bändchens mit Hilfe von Webbrettchen Hat dich die Technik des Webbrettchenwebens neugierig gemacht? Möchtest du so etwas gerne selber ausprobieren? Du musst dir im Klaren sein, dass solche einfachen Techniken mit vielen praktischen Kniffen verbunden sind, die wir dir hier nicht alle vermitteln können. Du musst also etwas Geduld und Zeit mitbringen (etwa 1 Stunde für grössere Bändchen), da du ja zuerst die Brettchen mit den Fäden versehen musst, bevor es ans Weben geht. Eine praktische Anleitung liegt bei. Vielleicht hast du aber wenig Zeit? So kannst du es mit nur zwei Brettchen und 8 Fäden versuchen. Das Bändchen wird sehr schmal sein, aber du verstehst wenigstens, wie die Technik des Brettchenwebens in seiner einfachsten Form funktioniert. Die in der Mitte sitzende Frau stellt ein langes Band mit Hilfe von Brettchen her. Sie benutzt dazu eine Art stehenden Holzrahmen, um die langen Kettfäden nicht zu verwirren. Das hölzerne Webschwert in der rechten Hand erlaubt es ihr, den schon gewobenen Bandteil zu einem festen Gewebe zusammenzuschieben. Manesse-Handschrift, frühes 14. Jahrhundert. I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 20. Weiterführende Literatur C. CROCKETT, Weben mit Brettchen (Bern 1994). P. COLLINGWOOD, The Techniques of Tablet Weaving (McMinnville, USA, 1996). Internet unter Stichwort Webbrettchen (z.B. www.dueppel.de/lexikon: dort Webbrettchen) Vergleichsobjekte 24 Handspindel 26 Webgewicht © STARCH 26 Schülerheft: Objekt 26 Webgewicht Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Gewicht aus schwach gebranntem Ton, von einem Gewichtswebstuhl. Fundort der Originale Dörfer. Datierung 6. bis 12. Jahrhundert. Der Gewichtswebstuhl – ein Webgerät unter vielen Zum Weben eines Stoffes wurden im Laufe der Jahrtausende ganz verschiedene Geräte entwickelt. Vielleicht hast du selber schon einmal auf einem Webrahmen gewebt. Dort musst du die sogenannten Kettfäden zuerst möglichst straff um den Rahmen wickeln. Dann kannst du den sogenannten Schussfaden einziehen. Dabei wirst du den Schussfaden einmal unter und einmal über den Kettfäden durchziehen. Bei der nächsten Reihe machst du das Gleiche, aber nun versetzt. Bei denjenigen Kettfäden, wo du vorher den Faden unten durchgezogen hast, ziehst du ihn nun oben durch und umgekehrt. So entsteht ein Gewebe. Beim Gewichtswebstuhl werden die Kettfäden nicht um einen Rahmen gespannt, sondern Webgewichte ziehen jeweils mehrere Kettfäden nach unten. Im Gegensatz zum Webrahmen, den man zum Weben auf einen Tisch legt, oder zum heute noch üblichen Trittoder Handwebstuhl (siehe Objekt 27, Schwinghebel) verlaufen die Kettfäden beim Gewichtswebstuhl also nicht waagrecht, sondern senkrecht. Man steht beim Weben vor dem Webstuhl. In der Schweiz wurde der Gewichtswebstuhl etwa im 12. Jahrhundert durch den Trittwebstuhl verdrängt. In Skandinavien und Island hingegen blieb der Gewichtswebstuhl bis ins 20. Jahrhundert hinein in Gebrauch. Schülerheft: Objekt 26 © STARCH Was wird bei Ausgrabungen von Webstühlen gefunden? Im Boden bleiben meistens keine Holzreste erhalten, denn Holz verrottet. Ausnahmen sind verkohlte Holzteile (siehe Objekt 27, Schwinghebel) oder solche, die entweder immer nass oder immer trocken blieben. Auf Ausgrabungen findet man deshalb nur selten Teile von Webstühlen. Eine Ausnahme sind Webgewichte aus gebranntem Ton. Manchmal werden dort, wo einst ein Gewichtswebstuhl stand, ganze Reihen von nebeneinander liegenden Webgewichten gefunden. Auch im Boden eingerammte Pfosten eines Webstuhls können als Spuren sichtbar bleiben: Der verrottete Holzpfosten ist im Boden als dunkle Verfärbung erkennbar. Gewichtswebstuhl. Gewebt wird stehend, von oben nach unten. G. SPORBECK, Textilherstellung – Zu mittelalterlichen Spinn- und Webgeräten. In: U. Lindgren (Hg.), Europäische Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation (Berlin 1996), S. 473. Weiterführende Literatur G. SPORBECK , Textilherstellung – Zu mittelalterlichen Spinn- und Webgeräten. In: UTA LINDGREN (Hg.), Technik im Mittelalter. Tradition und Innovation (Berlin 1996), S. 471–478. Vergleichsobjekte 24 Handspindel 25 Webbrettchen 27 Schwinghebel © STARCH 27 Schülerheft: Objekt 27 Schwinghebel Replik Stefan Schreyer, Bern. Beschreibung Schwinghebel aus Fichtenholz, von einem Trittwebstuhl. Fundort des Originals Winterthur, Obere Kirchgasse. Datierung Um 1300. Ein Schwinghebel – was ist das? Wenn du schon einmal gewoben hast, weisst du, dass du den Schussfaden abwechselnd einmal über und einmal unter den Kettfäden hindurchziehen musst. Beim Trittwebstuhl geht dies einfacher und schneller. Dazu besitzt er Tritte, Schäfte und Schwinghebel. Diese Teile erkennst du auf dem Bild (siehe Abbildung auf der Rückseite). Der Schwinghebel ist in der Mitte aufgehängt, seine Enden jeweils mit einem Schaft des Webstuhls verbunden. Die Schäfte ihrerseits sind mit Schnüren an einem Tritt (Pedal) des Webstuhls festgebunden. Tritt man mit dem Fuss auf das eine Pedal, so senkt sich auch der Schaft und das damit verbundene Ende des Schwinghebels. Das andere hingegen wird dadurch nach oben gezogen. So zieht der eine Schaft jeden zweiten Kettfaden hinauf, der andere jeden zweiten hinunter. Damit öffnete sich eine Lücke, durch die der Schussfaden durchgezogen wird. Darauf wird das andere Pedal mit dem Fuss nach unten gedrückt. Nun werden die anderen Fäden nach unten bzw. nach oben gezogen, es kann wieder ein Schussfaden eingezogen werden und so entsteht mit der Zeit ein Stück Stoff. Schülerheft: Objekt 27 © STARCH Leinenstoffe für den Export Hölzerne Schwinghebel gehören zu den sehr seltenen Funden. Die Holzteile eines Webstuhls bleiben im Boden fast nie erhalten. Im Fall des Fundstückes aus Winterthur hatte vermutlich der Stadtbrand von 1313 den Webkeller zerstört. Einiges verbrannte jedoch nicht vollständig. Stoffreste (Leinen) und Teile eines Webstuhls, darunter auch der Schwinghebel, sind in verkohltem Zustand erhalten geblieben. Verkohltes Holz und Textil verrotten im Boden nicht, sie sind zwar schwarz und äusserst brüchig, aber die Form ist gut erkennbar. Solche Funde sind für Archäologinnen und Archäologen ein Glücksfall. In der Altstadt von Winterthur wurden noch weitere Webkeller ausgegraben. Wir wissen deshalb, wie im 13. und 14. Jahrhundert eine Weberwerkstatt aussah. Auf engstem Raum arbeiteten bis zu vier Weberinnen und Weber nebeneinander. Nur wenig Licht drang in die Keller, in denen es feucht und kühl war. Die Weber gehörten meist zu den armen Leuten. Viel Geld konnten dagegen die Kaufleute verdienen, denn die Leinenstoffe aus der Nordostschweiz waren begehrt und wurden unter anderem nach Spanien, Italien und Norddeutschland verhandelt. Darstellung eines Trittwebstuhls. P. W. ROGERS, Textile Production at 16–22 Coppergate. The Archeology of York. The Small Finds 17/11 (York 1997). So wird der ausgegrabene Webkeller aus dem 14. Jahrhundert an der Tösstalstrasse 7 in Winterthur ausgesehen haben. Kantonsarchäologie Zürich. Weiterführende Literatur R. WINDLER , A. RAST-EICHER, Spätmittelalterliche Weberwerkstätten in der Winterthurer Altstadt. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 27/28, 1999/2000, S. 3–84. Vergleichsobjekte 24 Handspindel 25 Webbrettchen 26 Webgewicht © STARCH 28.1–28.2 Schülerheft: Objekt 28 Leder Replik Serge und Marquita Volken, Gentle Craft, Lausanne. Beschreibung 28.1: Musterheft verschiedener Gerbmethoden und Tierarten, die man im Mittelalter kannte. 1 Rohhaut, ungegerbt, Rind. 2 Pergament, ungegerbt, Ziege. 3 Sämischleder, Gelbgerbung, Hirsch. 4 Weissleder, Alaungerbung, Ziege. 5 Blankleder, Lohgerbung, Rind. 6 Rot- oder Lohleder, pflanzliche Gerbung, Kalb. 7 Rot- oder Lohleder, pflanzliche Gerbung, Ziege. 8 Lohleder, pflanzliche Gerbung, Wildschwein. 9 Spiessleder, pflanzliche Gerbung, Rind. 28.2: Lupe in Lederbeutel. Datierung Mittelalterlich. Leder – ein tierisches Material Am Leder ist die Tierart durch das Narbenbild (Anordnung der Poren an der Hautoberfläche) zu erkennen. Jede Tierart trägt in ihrer Haut die Kennzeichnung ihrer Gattung. Vergleiche die Narbenbilder mit Hilfe der Lupe. Im Mittelalter nutzte man für die Ledergewinnung vornehmlich Ziegenarten (caprae) und Rinderarten (bovidae). Schafleder ist nicht sehr reissfest, weshalb namentlich bei Schuhmachern dessen Gebrauch bei Strafe verboten war und man es auch für die Herstellung billigeren Pergaments nutzte. Obwohl man anhand der Knochenfunde weiss, dass Schweine zu den wichtigsten Fleischlieferanten zählten, findet man kaum deren Leder. Die fettige Schweinehaut beliess man wohl lieber am Fleisch (Speck- oder Schinkenschwarten), weil der Arbeitsaufwand für die Ledergewinnung viel zu gross war. Wo findet man Leder? Leder ist ein organisches Material und folglich dem natürlichen Zerfall ausgesetzt. Dies erklärt, weshalb man nur unter ganz bestimmten Bedingungen Leder findet. Die Bodenverhältnisse müssen über lange Zeit konstant sein. Bei den meisten Lederfunden handelt es sich um Nasslederfunde, d.h. Leder, die in nassen und sauerstoffarmen Böden die Zeiten überstanden haben, z. B.in Latrinengruben oder in Mooren. Trockenlederfunde sind ausgedörrte Leder, die man an geschützten und ständig trockenen Stellen findet wie beispielsweise in Kirchengräbern, Mauernischen, Salzbergwerken, aber auch in Wüstengegenden. Hier erhalten sich sämtliche Lederarten, sogar die ungegerbte Rohhaut und Pergament. Seltener finden sich gefrorene Leder, die manchmal auf seltsame Weise in Gletscher, ewigen Schnee oder in die Tundra gerieten und sogar über Jahrtausende in einwandfreiem Zustand überstehen konnten. Schülerheft: Objekt 28 © STARCH Die Gerbung – eine Knochenarbeit mit sehr viel Ellenbogenschmiere Zuerst mussten die Häute enthaart und entfleischt werden. Um die Haare mitsamt deren Wurzeln zu entfernen, wurden sie geäschert, d.h. in Brühen von Kalk und Asche gelegt, damit die Haut aufquillt und die Haare entfernt werden konnten. Auf der Fleischseite schabte man die Fleisch- und Fettreste ab. Nach dem Entäschern und mehrmaligen Auswaschen erhielt man endlich die zum Gerben bereite Haut. Ungegerbte Häute (Rohhaut 1 und Pergament 2) sind keine Leder, da diese nicht gegerbt wurden. Je nach verwendetem Gerbstoff sprach man von: n Gelbgerbung (3): Tierische Fette und Tran wurden in die Haut eingewalkt und anschliessend gestreckt und gestampft, bis die Leder weich und gar waren. Im Spätmittelalter nutzte man dafür Stampfmühlen. n Weissgerbung (4): Man legte die Häute in Alaunund Salzlaugen, rührte und stampfte sie, bis sie gar waren. n Loh- oder Rotgerbung (5–9): Man nutzte pflanzliche Gerbstoffe (wasserlösliches Tannin in Rinden, Hölzern und bestimmten Blättern), welche sich mit den Eiweissstoffen der Haut chemisch verbinden und auf diese Weise die Häute in Leder umwandelten. Dünne Häute konnte man in Bottichen gerben, dicke hingegen legte man in Gruben, wo sie bis zu 11⁄2 Jahre in der Gerblohe lagen. War die Lohe zu stark, blieben manchmal die mittleren Schichten des Leders ungegerbt (9). Man nutzte diese vorerst unerwünschte Erscheinung für Objekte, die steifes Leder benötigten: Messer- und Schwertscheiden, Lederdosen usw. Bevor man aber das Leder verkaufen konnte, musste es noch zugerichtet werden. Es galt hier, die Leder nachzufetten, zu strecken, zu färben oder auszubügeln, um nur wenige Arbeitsschritte der Zurichterei zu erwähnen. In der marokkanischen Stadt Fes wird noch heute in grossen, an einem Fluss gelegenen Gerberei mit uralten Methoden gearbeitet. In den Gruben werden die Tierhäute gegerbt. Beissender Gestank liegt über dem Gerbereiviertel. BENEDIKT ZÄCH, Winterthur. Weiterführende Literatur G. A. BRAVO, JULIANE TRUPPKE , 100 000 Jahre Leder, eine Monographie (Basel und Stuttgart 1970). W. WILD, S. UND M. VOLKEN, Lederfunde des 13. Jahrhunderts aus dem Winterthurer Stadtbach. In: Archäologie im Kanton Zürich 1999–2000, Berichte der Kantonsarchäologie 16 (Zürich 2003), S. 241–262. © STARCH 29 Schülerheft: Objekt 29 Handbohrer Replik AGIL, Büro für angewandte Archäologie, Reppenstedt bei Lüneburg (D). Beschreibung Handbohrer. Hölzerner Bohrerschaft mit eisernem Bohrer. An Schnur befestigte Querstange. Vorlage Verschiedene mittelalterliche Bilder. Datierung Gesamtes Mittelalter. Vom einfachen Steinbohrer zum Handbohrer Die Notwendigkeit, Löcher in einen Gegenstand bohren zu können, forderte bereits den steinzeitlichen Menschen heraus. Was heute meistens mittels eines elektrischen Werkzeugs in Sekunden zu erledigen ist, brauchte früher viel Zeit und Kraft. Zunächst dienten einfache, angespitzte, ungeschäftete Steinwerkzeuge als Bohrer. Diese drückte man mit der Spitze auf das Werkstück und bohrte nun das Loch durch Hin- und Herdrehen der Hand. Bald versah man die Bohrspitze mit einer Schäftung in Form eines Holzstabes. Den Stab legte man zwischen die Handflä- chen. Die Bohrung führte man nun durch schnelles Hin- und Herreiben der Handflächen aus. Die Dreule ist ebenfalls ein einfacher Handbohrer. Das Werkzeug ermöglicht das Bohren in senkrechter Haltung. Zunächst drückt man mit einer Ahle ein kleines Loch, in das man die Bohrspitze setzt. Die Schnur mit dem Querholz muss etwas aufgewickelt sein, bevor man zu bohren beginnt. Nun bewegt man mit der rechten Hand das an den Schnüren befestigte Querholz rasch nach unten und oben, wie wenn man mit einem Jo-Jo spielen würde. Auf diese Weise dreht sich der Bohrer. Das Problem der Interpretation einzelner Bestandteile Was würde von einem derartigen Handbohrer im Boden überdauern? Normalerweise nur die eisernen Bestandteile. Eisen verrostet im Boden zu unförmigen Klumpen, bei denen oft kaum mehr der einstige Verwendungszweck erkennbar ist. Am Beispiel des Handbohrers lässt sich deshalb die Schwierigkeiten der Arbeit mit Fundgegenständen besonders gut ver- anschaulichen. ArchäologInnen müssen über ein breites Wissen über alte Handwerksgeräte und -techniken sowie erhaltene Gegenstände und Bilder aus dem Mittelalter verfügen. Nur so ist es ihnen möglich, bei Gegenständen wie einem Eisenzylinder mit Loch auf die Idee zu kommen, dass es sich um einen Teil eines solchen Bohrers handeln könnte. Schülerheft: Objekt 29 © STARCH Auch für Verzierungen In Mitteleuropa ist die Verwendung solcher Handbohrer (Rennspindel oder Dreule) erst seit dem Mittelalter sicher nachgewiesen. Wahrscheinlich kannte man sie aber schon vorher. Der Mönch Theophilus Presbyter beschreibt den Handbohrer bereits im 11. Jahrhundert. Vom gewählten Bohrkern ist es abhängig, ob man zylindrische Löcher bohren oder auf einem Gegenstand eine Verzierung mit Kreisaugen anbringen kann. Diese Kreisaugen waren als Dekor für Kämme, Zierbeschläge auf Kästchen, Spielfiguren und Würfel sehr beliebt (vgl. die Schachfigur, Objekt 38). Bemerkenswert ist auch die weite Verbreitung des Handbohrers: Er findet sich u.a. bei Inuit, Chinesen, Indern und Indianern. Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung zu Nürnberg um 1425. M. UND N. FLÜELER (Hg.), Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992), S. 416. Fiedelbohrer Für anstrengende Bohrungen – etwa Löcher in harte Steine – entwickelte man den Fiedelbohrer. Der Antrieb erfolgte nun mittels einer um den Bohrerschaft geschlungenen Sehne, die an einer Holzstange befestigt wurde. Das obere Ende der Bohrachse musste man mit einem Hilfsmittel (etwa mit einem gelochten Stein) oder einer Halterung fixieren. Nun konnte man die Achse mit dem Bogen in Drehung versetzen. Dank der Achse lässt sich die Kraft im rechten Winkel umlagern, das heisst, je schneller man den Bogen bewegt, desto schneller drehte sich der Bohrer. Der Name Fiedelbohrer rührt vom Antriebsbogen, der dem Bogen einer Geige oder Fiedel ähnlich sieht. Weiterführende Literatur W. TREUE (Hg.), Das Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung zu Nürnberg, Deutsche Handwerkerbilder des 15. und 16. Jahrhunderts (Nürnberg 1965). Vergleichsobjekte 18 Paternoster. 38 Schachfiguren. © STARCH 30 Schülerheft: Objekt 30 Münze Replik Christoph Jäggy, Biel-Benken BL. Beschreibung Pfennig der Fraumünsterabtei Zürich, Original Silber, Replik Kupferkern, versilbert. Fundort des Originals Mit 1439 Exemplaren im Münzschatz von Winterthur, Haldengut (1930), enthalten. Datierung Um 1310/20. Ein Pfennig der Fraumünsterabtei in Zürich Die Originale der im Koffer mitgelieferten Repliken bestehen aus dünnem Silberblech und wiegen etwa 0,3 g. Um derartige Münzen herzustellen, wurden dünngehämmerte Silberstreifen in kleine Vierecke zerschnitten, in eine runde Form gehämmert und dann mit einem Stempel geprägt, und zwar nur auf einer Seite. Bei diesem Arbeitsablauf entstanden die charakteristischen «Zipfel». Die Münzen werden deshalb als «einseitig und vierzipflig» bezeichnet; die Rückseite zeigt das Negativ der Prägung. Das Bild dieser um 1310/20 geprägten Münze zeigt die Umschrift ZVRICH (= Zürich) und einen Frauenkopf mit Schleier – die Äbtissin (Vorsteherin) der Fraumünsterabtei – wobei dieser nicht einer bestimmten Frau zugeschrieben werden kann. Mit dem wappenartigen Bild war klar, wer diese Münze geprägt hatte und wer ihren Wert garantierte. Im Mittelalter wurde während Jahrhunderten als einzige Münzsorte der Pfennig geprägt (selten auch Halbstücke des Pfennigs). Erst ab 1330/40 tauchten in unserer Gegend Goldmünzen und grössere Silbermünzen auf, die alle fremder Herkunft waren. Münzen wurden an zahlreichen Orten geprägt. Allein auf dem Gebiet der heutigen Schweiz und in den Nachbarregionen waren über 20 verschiedene Münzorte tätig. Verschiedene Münzen wurden nebeneinander gebraucht, weil sie – trotz der unterschiedlichen Münzbilder – die gleiche Machart aufwiesen (siehe Abbildung auf der Rückseite). Es bildeten sich Währungsgebiete, in denen Münzen gleicher Art, aber vielfältiger Herkunft verwendet wurden. Die Situation muss man sich etwa so vorstellen, wie wenn heute in der Schweiz sowohl mit schweizerischem wie auch mit Eurogeld und ausserdem mit weiteren europäischen Münzen gleichzeitig bezahlt würde. Schülerheft: Objekt 30 © STARCH Geld im frühen 14. Jahrhundert: der Schatzfund von Winterthur Münzfunde sind neben schriftlichen Dokumenten eine wichtige Informationsquelle zum Geld im Mittelalter. Bei den Münzfunden ist zu unterscheiden zwischen absichtlich deponierten bzw. vergrabenen Münzen (Schatzfunden, Bauopfern und Grabbeigaben) und zufällig verlorenen Münzen aus Siedlungen und Kirchen (siehe Stecknadel, Objekt 12). Der über 2750 Pfennige umfassende Schatzfund, der 1930 auf dem Areal der Brauerei Haldengut in Winterthur gefunden wurde, ist eines der besten Beispiele für ein spätmittelalterliches Sparguthaben. Der in einem Topf mit Deckel aufbewahrte Münzschatz wurde um 1320/25 verborgen. Die Münzen waren kein riesiges Vermögen, sie entsprachen etwa einem Fünftel des Jahresgehaltes des Zürcher Stadtschreibers, des wichtigsten städtischen Beamten. Der Haldengutfund zeigt, welche Münzen bei uns im frühen 14. Jahrhundert verwendet wurden. Er macht zum einen deutlich, dass nur eine einzige Münzsorte, der Pfennig, im Umlauf war, und zum anderen, dass unter diesen Pfennigen eine grosse Vielfalt herrschte. Nur rund die Hälfte der Münzen stammte aus Zürich; knapp ein Viertel der Münzen wurde in Basel, rund ein Achtel in Zofingen AG, die restlichen in Schaffhausen (7%), Freiburg im Breisgau (D) (4%), Laufenburg AG (1%), vereinzelte in weiteren Münzstätten geprägt. Münzen aus dem um 1320/25 verborgenen Münzschatz vom Haldengut-Areal in Winterthur. Kantonsarchäologie Zürich. Weiterführende Literatur H.-U. GEIGER , Der Münzumlauf in Zürich um 1300. In: C. Brinker, D. Flühler-Kreis, Die Manessische Liederhandschrift in Zürich (Zürich 1991), S. 213. B. ZÄCH, H.-M. VON KÄNEL , Zürcher Geld – 950 Jahre zürcherische Münzprägung. Broschüre der Zürcher Kantonalbank (1986). © STARCH 31 Schülerheft: Objekt 31 Hohlziegel Original Kantonsarchäologie Zürich. Beschreibung Stück eines Hohlziegels. Fundort Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil. Datierung Spätmittelalterlich (14./15. Jahrhundert). Liegende Nonnen und Mönche – die Klosterdächer Teilweise im 13., vor allem ab dem 14. Jahrhundert begann sich die Verwendung von Dachziegeln einzubürgern. Üblich waren zunächst sogenannte Hohlziegel, welche die Form von halbierten Röhren haben. Sie sind entweder leicht konisch geformt oder zumindest an einem Ende etwas abgeschrägt. Dadurch lassen sie sich auf dem Dach besser ineinander fügen. Abwechslungsweise legt man die Ziegel übereinander und benützt sie als Wasserrinne wie auch als Abdeckung der Zwischenräume. Dächer mit Hohlzie- geln nennt man auch Klosterdächer: Die unteren Ziegel bezeichnete man als «Nonne», die oberen als «Mönche». Diese Bezeichnungen sind erstmals 1295 in Lübeck (D) nachweisbar. Am Ende des Spätmittelalters begannen dann flache Ziegel die Hohlziegel zu verdrängen. Hohlziegeldächer sind heute noch vereinzelt in Altstädten wie Winterthur und in alten Dorfkernen oder in grosser Zahl in südeuropäischen Ländern zu sehen. Weitere Bedachungsmaterialien Nördlich der Alpen waren Schindeldächer weit verbreitet. Die dünnen rechteckigen Holzbretter aus Nadelholz wurden mit Nägeln auf die Dachlatten genagelt. Im 15. und 16 Jahrhundert entstandene Stadtansichten von Zürich und Luzern zeigen das Nebeneinander von Schindel- und Ziegeldächern. Heute finden sich Schindeldächer u.a. noch im Oberwallis. In anderen Regionen, so in Teilen des Kantons Zürichs, waren Strohdächer üblich. Hier ist ein einziges noch erhalten, das 1683 erbaute Strohdachhaus in Hüttikon ZH. Da Schindel- und Strohdächer und Holzkonstruktionen leicht brannten, waren Bauvorschriften nötig. Bei einem Brand konnte das Feuer sehr schnell auf andere Häuser übergreifen. Vor allem in den Städten hatte dies verheerende Folgen. Bei einem Stadtbrand wurden oft ganze Quartiere zerstört. Schülerheft: Objekt 31 © STARCH Brandschutz in den Städten Eine besondere Sorge in mittelalterlichen Städten bereiteten Grossbrände. Zum Feuerlöschen standen damals lediglich Eimer zur Verfügung. Grossflächige Stadtbrände sind denn auch für fast jede Stadt entweder archäologisch oder in Schriftquellen bezeugt. Die Häuser bestanden zu wesentlichen Teilen noch aus Holz. Steinhäuser mit Ziegeldächern waren im 13. und auch im 14. Jahrhundert sehr selten. Da man an offenen Feuerstellen kochte und auch Handwerker in den Städten Feuerstellen und Öfen betrieben, bestand immer grosse Brandgefahr. Mit besonderen Massnahmen, die in Bauvorschriften überliefert sind, versuchte man den Bränden vorzubeugen. Dazu zählte die Förderung von Ziegeldächern wie auch von Mauern zwischen den Häusern, den sogenannten Brandmauern. Zudem versuchte man, gefährliche Handwerksbetriebe aus den Städten zu verbannen. Wie in Städten ausgegrabene Ofenanlagen zeigen, waren diese Bestrebungen offenbar zum Teil nicht erfolgreich. Ein Stadtbrand hatte katastrophale Folgen. Den Bewohnern blieb meistens nichts anderes übrig, als ihr Hab und Gut zu retten. Das Feuer versuchten sie mit Wassereimern zu löschen. Das Bild zeigt den Stadtbrand von Bern 1405 (Diebold Schilling, Amtliche Chronik Bern). W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985), S. 114. Weiterführende Literatur J. GOLL , Kleine Ziegel-Geschichte, Zur Einordnung der Ziegelfunde aus der Grabung St. Urban. In: Jahresbericht der Stiftung Ziegeleimuseum Meienberg Cham 2, 1984, S. 29–102. J. GOLL , Baumaterial. In: M. und N. Flüeler (Hg.), Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Stuttgart 1992), S. 267–280. Vergleichsobjekte Vgl. Textbeispiel 19 auf der CD Musik und Text © STARCH 32 Schülerheft: Objekt 32 Schlüssel Replik S. Roth, Seelenschmiede, Braunschweig (D). Beschreibung Schlüssel. 8 cm lang. Aus einem Stück geschmiedet, rautenförmiger Griff. Fundort des Originals Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil. Datierung 13. Jahrhundert. Drehschlüssel – noch heute eine wichtige Erfindung Einfache Schlüssel zum Verriegeln von Türen gab es schon in der späten Bronzezeit (1000–800 v. Chr.). In der römischen Epoche nahm die Bedeutung der Schlüssel markant zu, wie zahlreiche archäologische Funde zeigen. Bei den damals üblichen Schlössern musste man den Schlüsselbart so in einen Riegel stecken, dass man diesen anheben und zur Seite schieben konnte (Hebe-Schiebe-Schlüssel). Entsprechend waren die Schlüssellöcher länglich geformt. Die Erfindung des im Mittelalter wie auch heute üblichen Drehschlosses erfolgte offenbar bereits in der Antike. Durch das Drehen des Schlüssels wurde das Schloss geöffnet. Der Bart betätigte die Verschlussriegel und konnte durch Durchbrüche und Einschnitte auf ein bestimmtes Schloss zugeschnitten werden. Damit liess sich der Schutz vor fremdem Zugriff natürlich wesentlich verbessern. Griff und Bart wurden zudem mit der Zeit immer mehr verziert. Schlösser für Türen, Truhen oder Schränke Aufgrund seiner Länge von 8 cm dürfte der Schlüssel von der Burgruine Alt-Wädenswil ZH zum Verschliessen eines Möbels gedient haben. Zusätzlich zu den fest angebrachten Schlössern kannte man auch Vorhängeschlösser, die mit einfachen Steckschlüsseln geöffnet wurden. Schülerheft: Objekt 32 © STARCH Schutz vor Nachschlüsseln Aus dem 14. Jahrhundert sind Verordnungen aus den Handwerkerverbindungen (Zünfte) der Schmiede und Schlosser erhalten, welche die Herstellung von falschen Schlüsseln unter Strafe stellen. Wer unerlaubterweise einen Nachschlüssel nach Teig-, Wachs- oder Tonabdrücken anfertigte, musste eine Geldbusse zahlen. Der Schlüssel – eine bedeutendes Symbol Der Schlüssel ist das Symbol für den Zutritt zum Reich Gottes. Deshalb hält Petrus auf mittelalterlichen Bildern den Schlüssel zur Himmelspforte in der Hand. Im 13. Jahrhundert begannen die Päpste, den Schlüssel in ihrem Wappen zu führen. Auch verschiedenste Adelsfamilien wählten Schlüssel für Siegel und Wappen. Nidwalden, dessen heutiges Kantonswappen einen Doppelschlüssel zeigt, verwendete bereits für die Bundesbriefe 1291 und 1315 ein Siegel mit der Darstellung eines Schlüssels. Schlüssel versinnbildlichen auch Verfügungsgewalt. Besuchte ein König eine Stadt, so überreichten ihm die Bürger als Huldigung vor der Stadt die Torschlüssel. Die Übergabe der Schlüssel war auch ein Zeichen der Kapitulation im Belagerungsfall. Im Haushalt verfügte die Ehefrau über die Schlüssel, wie in Rechtsbüchern geschrieben steht. Die Bedeutung von Schlüsseln drückt auch das folgende im 13. Jahrhundert verfasste Gedicht aus: Dû bist mîn, ich bin dîn: Du bist mein, ich bin Dein Des solt dû gewis sîn. Dessen sollst Du gewiss sein. Dû bist beslozzen Du bist eingeschlossen In mînem herzen: In meinem Herzen: Verlorn ist das slüzzelîn: Verloren ist das Schlüsselchen: Dû muost immer drinne sîn. Du musst immer drinnen sein. Die Apostel Petrus (Mitte) mit Schlüssel, Johannes mit Kelch und Jakobus mit Pilgerstab (siehe Jakobsmuschel, Objekt 17). Um 1490 geschnitzte Holzfigurengruppe des Hauptaltars der Kathedrale von Chur. Archäologischer Dienst Graubünden, Denkmalpflege Graubünden, Jahresbericht 2002 (Chur 2003), Abb. 115. Weiterführende Literatur J.-J. BRUNNER, Der Schlüssel im Wandel der Zeit (Bern 1988). © STARCH 33 Schülerheft: Objekt 33 Lampenschale Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Lampenschale, unglasierter, hellrot gebrannter Ton. Einfache Delle, um den Docht aufzulegen. Fundorte der Originale Burgen, Städte, Kirchen. Datierung Getöpferte Lämpchen kommen im 13. Jahrhundert auf und waren das ganze Spätmittelalter über beliebt. Lampenschalen – die verbreitetsten Beleuchtungskörper im Spätmittelalter Die kleinen offenen Tonschalen besitzen am Rand eine einfach eingedrückte Delle. Diese diente als Schnauze für den Docht. In die Schale füllte man pflanzliches Öl oder tierische Fette (Talg oder Unschlitt genannt). Den mit Flüssigkeit vollgesogenen Docht zündete man am Ende bei der Schnauze an, was ein kleines Licht gab. Da der Docht laufend Öl oder Talg nachsog, genügte ein kurzes Stück. Wegen der starken Russbildung bevorzugte man pflanzliche Öle. Bereits in einem 794 geschriebenen Buch und in Texten Hildegards von Bingen (1098–1179) wird Rüböl aus Raps als beliebtes Lampenöl genannt. Vor allem seit dem 13. Jahrhundert waren getöpferte Lämpchen ein eigentlicher Massenartikel. Die auffallend unsorgfältig, schnell getöpferten Schalen waren sehr billig und für fast alle Leute erschwinglich. Kostbarer waren Lampen aus Eisen, Bronze oder Glas. Sie kamen nur in Haushalten wohlhabender Familien vor und wurden auch in Kirchen gebraucht. Isolation und Licht im Wohnhaus Beim Bau eines Wohnhauses war die Isolation gegen die Kälte ein schwieriges Problem. Kleine, meist schlitzartige Fenster konnte man zwar im Winter besser mit Brettern, Fellen oder in wohlhabenden Haushalten mit Fensterglas verschliessen. Der Nachteil kleiner Fenster war im Winter wie auch im Sommer, dass wenig Aussenlicht in die Räume gelangte. Deshalb war man auf künstliches Licht angewiesen. Die Lämpchen wie auch die auf der Rückseite vorgestell- ten Lichtquellen boten aber nur spärliches Licht. Da war man froh, dass in der Küche noch das offene Herdfeuer Licht spendete. Handwerkliche Tätigkeiten, die nicht im Freien verrichtet werden mussten, erledigte man deshalb manchmal in der Küche. Bei mittelalterlichen Fenstern fallen zudem auch die seitlichen, gemauerten Sitzbänke auf. Hier liess sich für einfache Verrichtungen – etwa Nähen oder Spinnen – das Tageslicht optimal nutzen. Schülerheft: Objekt 33 © STARCH Kerzen, Kienspäne und Fackeln Ausser Lampenschalen kannte man Kerzen, Kienspäne und Fackeln. Die teuren Kerzen aus Bienenwachs verwendete man hauptsächlich in der Kirche. Nur in ganz wenigen reichen Haushalten, in Kirchen und Klöstern gab es metallene Kerzenständer und mit Kerzen bestückte, von der Decke herabhängende Kronleuchter. Kienspäne waren rund 60 cm lange, bis 8 cm breite stark harzhaltige Holzstückchen. Im Wort Kienspan ist das mittelalterliche Wort «Kienboum» (Kiefer) enthalten. Man steckte sie in einen eisernen Halter. Die Herstellung war verglichen zur eigentlich kurzen Brenndauer von etwa 20 Minuten recht aufwändig. Von Nadelhölzern, bevorzugt von Kiefer und Föhre, schnitt man Stücke von 60 bis 80 cm Länge und entfernte die Rinde. Danach legte man die Holzstücke in eine feuchte Wiese oder in einen Heuhaufen, bis sie sich blau verfärbten. Nun konnte man die Stücke zu dünnen Spänen spalten, die man austrocknen liess. Baschi Hegner, einstmals Mönch im Kloster Rüti ZH, wollte ohne Licht aus dem Haus ins «Sprachhus» (WC) gehen. Dabei stürzte er im Dunkeln die Treppe hinunter und kam ums Leben. Man nannte das WC häufig «Sprachhus», weil sich mehrere Sitze ohne Abtrennung nebeneinander befanden und die Leute während dem Geschäft miteinander sprechen konnten. W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985), S. 182. Bei den Fackeln trug man an einem Ende Pech oder Harz auf. Beim Gebrauch sollte nur dieses aufgestrichene Material verbrennen, damit das Holz später wieder bestrichen und gebraucht werden konnte. Nachteile von Fackeln waren starker Rauch und Russ sowie der gefährliche Funkenflug. Deshalb verwendete man sie vor allem draussen. Weiterführende Literatur C. JÄGGI, H.-R. MEIER , R. WINDLER , M. ILLI, Die Stadtkirche St. Laurentius in Winterthur. Zürcher Denkmalpflege, Archäologische Monographien 14 (Zürich und Egg 1993). H. KÜHNEL (HG.), Alltag im Spätmittelalter (Graz 1985, 2. Auflage). W. MEYER, Hirsebrei und Hellebarde (Olten 1985). Vergleichsobjekte 9 Feuerzeug 34 Butzenscheibe und Flachglas © STARCH 34 Schülerheft: Objekt 34 Butzenscheibe und Flachglas Originale Kantonsarchäologie Zürich. Beschreibung Fragmente einer Butzen- und einer Flachglasscheibe (Teile von Fenstern). Fundort Richterswil ZH, Burgruine Alt-Wädenswil. Datierung Spätmittelalter. Vom speziellen Farbfenster zum gewöhnlichen Fensterglas Ein Spruch besagt, wichtig an einem Zimmer sei nicht das, was ist, sondern das, was nicht ist, nämlich der leere Raum. Um diesen Raum nutzen zu können, braucht es Licht, braucht es Öffnungen in den Wänden, also Türen und Fenster. Um die Wärme im Rauminnern zu behalten, sind solche Fenster am angenehmsten, durch die zwar das Licht in den Raum fällt, die aber zugleich isolieren. Kleinere Fenster aus Glas kannte man schon in römischer Zeit, sie wurden oft in geheizten Baderäumen (Thermen) gebraucht. Aus dem frühen Mittelalter sind wenige farbige Glasscherben bekannt, vor allem aus Klöstern und Kirchen. Man nimmt an, dass Fenster mit Glasscheiben erst in den Städten des 13. Jahrhunderts vermehrt benutzt wurden. Vorher brauchte man Holzläden – die allerdings wenig Licht durchliessen – vielleicht auch geöltes Pergament oder Stoffe. Die mittelalterlichen Glasfenster sahen aber anders aus als die heutigen: Glas war lange Zeit ein kostbarer und erst noch zerbrechlicher Werkstoff. Ausserdem gab es noch keine Geräte, um grosse, dünne Glasscheiben auszuwalzen. Deshalb setzten die Glaser die Fenster mit Hilfe von Bleiruten aus einzelnen kleinen, eckigen oder runden Scheiben zusammen. Die Glasscheiben waren auch nicht so durchsichtig wie heutiges Glas. Wenn du das Scheibenteil vorsichtig ans Auge hältst, so siehst du eine Färbung und manchmal entdeckst du im Glas Luftbläschen und Schlieren, die ein typisches Zeichen für die Herstellung durch einen Handwerker, eben den Glasmacher, sind. Schülerheft: Objekt 34 © STARCH Glas, ein alter Werkstoff Glas ist ein Gemisch verschiedener Rohstoffe, die mit Hilfe von hohen Temperaturen zusammen flüssig gemacht werden. Der Glasmacher braucht hauptsächlich Quarzsand, Kalk und Pflanzenasche (bei uns meist Pottasche) und manchmal färbende Zusätze wie Metalloxide. Dies ergibt das sogenannte Rohglas, welches im Mittelalter oft grünlich oder bläulich erscheint. In einem zweiten Schritt erhitzt der Glasmacher das Rohglas in einem besonderen Ofen nochmals auf über 1100 Grad und verarbeitet die zähflüssige Masse zu Gefässen (wie Trinkgläser, Glasflaschen oder Schalen) oder zu Glasscheiben. Da die Glasherstellung in unseren Breitengraden grosse Mengen Holz verbrauchte (zum Heizen der Öfen, aber auch zur Herstellung der Pflanzenasche), lagen die Glasmacherhöfe oft nahe grosser Waldgebiete. Um genügend Rohstoffe zu finden, musste man von Zeit zu Zeit umziehen und neue Höfe in noch unberührten Waldgegenden bauen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Flachgläser herzustellen. Hier zwei im Mittelalter benutzte, sehr unterschiedliche Techniken: 'LAS?GLAETTEVERFAHRENPDF Butzenscheiben: Flüssige Glasmasse wird wie ein Ballon mit Hilfe eines Rohrs aufgeblasen, durch eine Drehbewegung zu einer Scheibe geschleudert und der Rand umgebogen. Um eine ganze Fensterfläche zu erhalten, muss man neben die runden Scheiben eckige Zwickelstücke einsetzen. Diese Technik kommt im Spätmittelalter auf. Kantonsarchäologie Zürich. Gegossene Glasplatten: In einen Holz- oder Steinkasten wird ein Trennmittel wie Sand gestreut, damit die Glasplatte nicht kleben bleibt. Darauf wird flüssige Glasmasse gegossen und mit einem Spatel verstrichen. Die Glasplatte kann man zerschneiden. Technik seit der Römerzeit bekannt. Kantonsarchäologie Zürich. Ausschnitt aus einem französischen Manuskript des 15. Jahrhunderts. Fenster in einem vornehmen Haus mit verschiedenen Teilen: Gitter, Glasfenster mit Bleieinfassungen, Holzladen. Weiterführende Literatur E. BAUMGARTNER , I. KRUEGER , Phönix aus Sand und Asche. Glas des Mittelalters (München 1988). W. MÜLLER , Glasherstellung und Bleiverglasung. In: Uta Lindgren (Hg.), Europäische Technik im Mittelalter, 800 bis 1200, Tradition und Innovation (Berlin 1996), S. 289–300. J. CHERRY, Medieval crafts – a book of days (London 1993), S. 101 (Französisches Manuskript des frühen 15. Jh. mit Illustrationen zu einem Buch von Christine de Pisan). Vergleichsobjekte 2 Schüssel 6 Trinkglas 33 Lampenschale © STARCH 35.1–35.2 Schülerheft: Objekt 35 Pergament und Papier Repliken 35.1–35.2: Papiermühle, Schweizerisches Papiermuseum, Basel. Beschreibung 35.1: Pergament aus Kalbshaut. 35.2: Handgeschöpftes Papier mit modernem Wasserzeichen der Papiermühle Basel. Fundorte der Originale Werden in Archiven und Bibliotheken aufbewahrt. Datierung 35.1: Im ganzen Mittelalter. 35.2: Ab 14. Jahrhundert. Verschiedene Schriftträger In der römischen Antike wurde auf Wachstafeln und Papyrus geschrieben. Papyrus wurde im alten Ägypten seit dem frühen 3. Jahrtausend v. Chr. verwendet. Es besteht aus zwei kreuzweise ineinander geklopften Lagen des Marks von Stengeln der Papyruspflanze. Die letzten auf diesem Material niedergeschriebenen Texte entstanden im Hochmittelalter im arabischen Raum (11. Jahrhundert). Im 2. Jahrhundert v. Chr. beginnt man, enthaarte und geglättete Tierhäute (Pergament) als Schriftträger zu verwenden. Um Pergament zu erhalten, wird die Haut nicht gegerbt, sondern in einer Kalklösung gereinigt, danach in einen Rahmen gespannt und getrocknet. Erst im 4. Jahrhundert setzte sich das Pergament gegen den Papyrus durch. Der Ausspruch «es geht auf keine Kuhhaut» geht in die Zeit zurück, als man noch auf Pergament schrieb. Im europäischen Mittelalter dienten Pergament und weiterhin auch Wachstafeln als Schriftträger. Ab dem 15. Jahrhundert verbreitete sich dann nördlich der Alpen das bereits im 2. oder 1. Jahrhundert v. Chr. in China erfundene Papier, das über den arabischen Raum und Italien in unsere Gegend eingeführt wurde. Papier wurde aus zerstampften Hadern, aus alten Lumpen, die man verfaulen liess, gewonnen. Der Papierbrei wurde als dünne Lage in ein Metallsieb gegossen und zu einer Seite gepresst, die man dann wie Pergament beschriften und zu Büchern zusammenbinden konnte. Schülerheft: Objekt 35 © STARCH Was wurde geschrieben? Wissenschaftliche und religiöse Texte und insbesondere die Bibel spielten in der mittelalterlichen Schriftlichkeit eine wichtige Rolle. Damit diese für das Studium und die Messe zur Verfügung stehen konnten, mussten sie zuerst abgeschrieben werden. Einzelne Klöster waren für ihre Schreibstube (scriptorium) berühmt, wo Mönche den ganzen Tag Texte kopierten und mit prächtigen Buchmalereien verzierten. Auf Pergament und später auf Papier wurden aber auch Rechtshandlungen als Urkunden festgehalten, und die seit dem Spätmittelalter wachsende Verwaltungstätigkeit gründete in starkem Mass auf schriftlich festgehaltenen Texten. Im 14. und 15 Jahrhundert nahm die Menge der Schriftstücke unter dem Einfluss der sich ausweitenden Verwaltung stark zu. Im Mittelalter bedienten sich vor allem kirchliche und weltliche Herrschaften der Schriftlichkeit. Damit nämlich begründeten sie ihre Herrschaftsansprüche gegenüber ihren Widersachern, und was schriftlich festgehalten ist, hat auch heute noch eine weit grössere Bedeutung als eine mündliche Abmachung. Zwei Seiten der Manessischen Liederhandschrift (Anfang 14. Jahrhundert). Bei dieser Sammlung von Liedertexten mit bunten Bildern der meist adligen Dichter handelt es sich um eines der bekanntesten mittelalterlichen Bücher. Es wurde mit grösster Wahrscheinlichkeit in Zürich in Auftrag gegeben. Das Buch mit 426 Seiten aus Pergament, 25×35,5 cm gross, wiegt etwa 7 kg. I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 60. Wachstäfelchen mit Griff aus einer Latrine in Freiburg i. Br. (D), 15. Jahrhundert, Länge 6,9 cm. Vorderseite (rechts) mit Vertiefung zur Aufnahme von gehärtetem Wachs, auf der Rückseite Kerbe zur Aufnahme eines Schreibgriffels. Solche Tafeln benutzte man zum Schreibenlernen, aber auch für Notizen aller Art. U. MÜLLER, Holzfunde aus Freiburg (Augustinereremitenkloster) und Konstanz, Herstellung und Funktion einer Materialgruppe aus dem späten Mittelalter (Stuttgart 1996), Tafel 31.3. Bild aus der Manessischen Liederhandschrift (Anfang 14. Jahrhundert): Ein Liederdichter diktiert seine Texte einem Schreiber, der mit Feder und Radiermesser hantiert. Das Radiermesser diente zum Auskratzen von Schreibfehlern. I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 124. Weiterführende Literatur R. SABLONIER , Schriftlichkeit, Adelsbesitz und adliges Handeln im 13.Jahrhundert. In: O. G. Oexle, W. Paravicini (Hg.), Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa (Göttingen 1997), S. 67–100. M. SCHEFFER , Schule und Erziehung. In: S. Lorenz, Th. Zotz (Hg.), Spätmittelalter am Oberrhein, Alltag. Handwerk und Handel 1350–1525. Katalogband (Karlsruhe 2001), S. 241ff. © STARCH 36 Schülerheft: Objekt 36 Astraguli Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Astraguli, d.h. Sprunggelenkknochen von Schafen, in einem Leinensäckchen. Fundorte der Originale Städte, Dörfer, Burgen. Herkunft Mongolei. Datierung Mittelalter. Mit Knochen spielen? Der Astragalus stammt aus dem Sprunggelenk der Hinterbeine von Schafen und Ziegen. Aus zeitgenössischen Berichten geht hervor, dass das Spiel mit Astraguli bereits in der Antike, also zur Zeit der alten Griechen und Römer, beliebt war. Häufig benutzte man die Astraguli als Würfel. Betrachtet man einen Astragal genauer, so fällt auf, dass alle vier länglichen Seiten verschieden aussehen. Diesen verteilt man nun Zahlen zwischen 1 und 6, wobei die Summe gegenüberliegender Seiten wie beim modernen Würfel 7 ergeben muss. Zwei Zahlen bleiben für die beiden Enden übrig, auf denen der Astragal aber kaum je liegen bleibt. Natürlich machten die Leute diese Zahlenwerte der Würfelseiten immer wieder neu untereinander ab. Beliebt waren auch Geschicklichkeitsspiele mit Astraguli. Man wirft fünf in die Luft und versucht, sie mit dem Handrücken aufzufangen. Man wird dabei höchstens zwei bis drei Knochen auffangen können, die anderen rollen auf den Boden. Diese versucht man dann mit den Fingern der Fanghand aufzunehmen, ohne dass die anderen zu Boden fallen. Nun lassen sich die Punkte zusammenzählen: Jeder aufgefangene Astragal gibt einen Punkt. Oder der Wert der obenliegenden Seite wird gezählt wie beim Würfelspiel. Astraguli gehören zu den einfachen Spielen, die fast keine archäologischen Spuren hinterliessen. Nur wenn man drei oder mehrere zusammen ausgräbt, kann man annehmen, dass mit den Knochen auch tatsächlich gespielt wurde. Heute sind Spiele mit Astraguli noch in der Mongolei, in Nordafrika und in der Türkei beliebt. Schülerheft: Objekt 36 © STARCH Von Würflern und Spielverboten Natürlich gab es bereits im Mittelalter die heute geläufigen Würfel mit sechs Seiten. Meistens wurden sie aus Tierknochen geschnitten. In spätmittelalterlichen Städten gab es einen spezialisierten Berufszweig der Knochenschnitzer, die «Würfler», die nur Würfel herstellten. Diese Würfel fanden teils für Brettspiele wie das Tricktrack (das heutige Backgammon) Verwendung. Sehr verbreitet waren aber auch einfache Würfelspiele. Dabei konnte man die Werte zusammenzählen und Gewinner war derjenige, der am meisten oder am wenigsten Punkte hatte. Häufig spielten die Leute um Geld. Die Verlierer hatten dann einen vereinbarten Geldbetrag, den Spieleinsatz, dem Gewinner abzugeben. Natürlich war der Anreiz, das verlorene Geld zurückzugewinnen, hoch und man versuchte sein Glück noch einmal. So erlagen viele Leute der Spielsucht und verloren ihr Geld bei diesem Glücksspiel. Oft gab es deshalb auch wüste Flüche, Beschimpfungen, Prügel oder Messerstechereien. Aus diesem Grund predigten die Pfarrer häufig gegen Glücksspiele wie Würfeln und Kartenspiel und versuchten, solche Spiele zu verbieten. Dies blieb chancenlos, weil die Spiele bei Bauern, Bürgern und Adligen zu beliebt waren. Im «Sachsenspiegel», einem Gesetzesbuch des 13. Jahrhunderts, kommt das Würfelspiel vor: Der Knecht im roten Rock verlor beim Würfeln das gelbe Gewand seines Herrn. Der Herr kann es aber beim Gewinner (im grün gestreifen Gewand) zurückverlangen (rechts). W. KOSCHORRECK, Der Sachsenspiegel in Bildern. Aus der Heidelberger Bilderhandschrift ausgewählt und erläutert (Frankfurt am Main 1976), Nr. 115. Archäologische Funde aus Konstanz (D) zeigen die Würfelherstellung. Zunächst werden die Gelenkenden des Mittelfussknochens des Rindes weggesägt. Danach sägt man aus dem Knochen lange Späne, aus denen man schliesslich die Würfel schneiden kann. A. PFEIFFER (HG.), Spielzeug in der Grube lag und schlief…, Archäologische Funde aus Römerzeit und Mittelalter, museo 5 (Heilbronn 1993). Weiterführende Literatur W. ENDREI, Spiele und Unterhaltung im alten Europa (Hanau 1988). A. PFEIFFER (Hg.), Spielzeug in der Grube lag und schlief…, Archäologische Funde aus Römerzeit und Mittelalter, museo 5 (Heilbronn 1993). Vergleichsobjekte 37 Spielsteine 38 Schachfiguren © STARCH 37 Schülerheft: Objekt 37 Spielsteine Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung 8 Spielsteine (zwei Scherbenrundel, Holzstück, zwei gedrechselte Holzscheiben, ein Lavez, zwei verschiedenfarbige Kiesel) in Lederbeutel. Fundorte der Originale Städte, Dörfer, Burgen. Datierung Mittelalter. Das Problem «Vergänglichkeit» Gerade bei den Brettspielen kann das Problem der Vergänglichkeit sehr gut angesprochen werden. Spielpläne haben sich nur erhalten, wenn sie entweder in Stein eingeritzt waren oder sich unter besonders günstigen Bedingungen (z. B. immer feuchter Boden) Holz erhalten hat. Dasselbe gilt auch für die Spielsteine. Man stelle sich vor: Zwei Leute wollen im Mittelalter spontan Mühle spielen. Mit einem Messer kann man sehr schnell den Spielplan in die Erde ritzen. Dann schaut man sich um nach brauchbaren Spielsteinen. Man findet verschiedenfarbige Steinchen oder schneidet Holzscheibchen. Oder man sieht Tonscherben, bei denen man nur die Ecken abschlagen muss, damit sie eine rundliche Form erhalten. Auch Scherben von Specksteingefässen (Lavez) bieten sich an, zu Spielsteinen verarbeitet zu werden. Die Möglichkeiten, ohne grossen Aufwand Spielsteine zu erhalten, sind beinahe unbegrenzt. Siebenhundert Jahre später legen die ArchäologInnen den Fussboden frei, auf dem die beiden Leute Mühle gespielt haben. Der Spielplan ist natürlich nicht mehr sichtbar. Auch Spielsteine aus Holz sind längst zersetzt. Einzig die rundlichen Tonscherben oder Lavezstücke erregen die Aufmerksamkeit des Ausgräbers. Hat hier irgendjemand gespielt? Was haben sie gespielt? Hier werden die Grenzen der Archäologie sichtbar: im besten Fall erkennt man den Verwendungszweck der unscheinbaren Objekte als Spielsteine. Weitere Informationen sind aber längst vergangen und nicht mehr erhalten. Das Problem «Wohlstand» Natürlich gab es auch verschieden wertvolle Spielsteine im Mittelalter. Auf einer Burg findet man vielleicht einen jener kostbaren Steine, die aus Knochen geschnitzt sind und sogar Bilder wie Fabelwesen zeigen. Ärmere Leute mussten sich mit den einfacheren Spielsteinen – Steinchen, Holzstückchen, Scherben – begnügen. Diese sind dann eben nicht mehr vorhanden oder nicht mehr als Spielsteine erkennbar. Der Schluss, diese Leute hätten weniger gespielt, ist aber falsch. Schülerheft: Objekt 37 © STARCH Welche Brettspiele kannte man im Mittelalter? Beliebt waren die heute noch bekannten Spiele Mühle, Tricktrack (heute Backgammon) und Schach. Dazu gab es einige taktische Brettspiele (z.B. Belagerungsspiel). Dies wissen wir dank der schriftlichen Aufzeichnungen und Abbildungen aus dem Mittelalter . Ein vollständiges Tricktrack-Spiel aus Freiburg im Breisgau In ganz seltenen Fällen haben sich sogar Spielbretter aus Holz erhalten. So fiel in einem Kloster in Freiburg im Breisgau (D) ein vollständiges Tricktrack-Spiel in die Latrine. Das Spielbrett besteht aus zwei Holztafeln, die mit Lederriemen verbunden waren. Gedrechselte Holzscheiben dienten als Spielsteine. Die Würfel waren aus Knochen hergestellt. Das Freiburger Spielbrett zeigt das handwerkliche Geschick der Schreiner im 13. Jahrhundert. Die Spielfelder waren aus dunkelfarbigem Holz in das Brett eingelassen. Die Bretter waren in einen Holzrahmen eingenutet. Im Spätmittelalter galt die Herstellung eines solchen Spiels zu den Meisterstücken und wird auch heute noch als Gesellenstück abgeliefert. Weshalb dieses Spiel in die Latrine fiel, bleibt natürlich Gegenstand von Spekulationen. Versuchten zwei Mönche, es vor einem anderen Bruder oder dem Abt zu verstecken, weil sie eigentlich nicht spielen durften? G. P. FEHRING, Stadtarchäologie in Deutschland. Sonderheft Archäologie in Deutschland (Stuttgart 1996), Abb. 81. Weiterführende Literatur W. ENDREI, Spiele und Unterhaltung im alten Europa (Hanau 1988). U. MÜLLER , Holzfunde aus Freiburg und Konstanz, Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 21 (Stuttgart 1996). A. PFEIFFER (Hg.), Spielzeug in der Grube lag und schlief…, Archäologische Funde aus Römerzeit und Mittelalter, museo 5 (Heilbronn 1993). Vergleichsobjekte 36 Astraguli 38 Schachfiguren © STARCH 38.1–38.7 Schülerheft: Objekt 38 Schachfiguren Repliken 38.1: Schweizerisches Landesmuseum. 38.2–38.7: Gebrüder Imhof, Holzschnitzerei, Binn VS. Beschreibung 38.1: Schachfigur. Hälfte eines «Turms». Original aus Elfenbein. Dreiseitig reiche Verzierung mit Kreisaugen, an der vierten Seite Befestigungslöcher für die fehlende Hälfte. 38.2–38.7: Schachfiguren. König, Königin, Läufer, Springer, Turm und Bauer in abstrahierter Form. Fundorte der Originale 38.1: Bonstetten ZH, Burgstelle. 38.2–38.7: Verschiede Fundorte. Datierung 12. bis 14. Jahrhundert. Der lange Weg des Schachspiels nach Europa Das vermutlich bereits im 3./2. Jahrhundert v. Chr. in Indien erfundene Schach erreichte wahrscheinlich erst im 6./7. Jahrhundert n. Chr. den persisch-arabischen Raum. Hier benannte man es nach dem persischen Wort für König «Shah» Schach. Das Schach gelangte dann auf zwei Handelswegen nach Europa. Beim einen Weg von Persien durch Russland und den Ostseeraum passte man die Figuren einfach an ihre neue Umgebung an. So verwandelten sich der Maharadscha auf dem Kriegselefanten zu einem König und der Streitwagen zum Turm. Beim anderen Weg durch den arabischen Mittelmeerraum veränderte sich das Aussehen der Figuren grundlegend. Je nach Auslegung des Korans erachteten es die gläubigen Muslime als verboten, Figuren von lebenden Wesen mit Augen zu verwenden. Deshalb erfanden sie abstrakte Figuren, die nur noch sehr entfernt den indisch-persischen Vorbildern glichen. Bis ins 13./14. Jahrhundert benutzte man in Mitteleuropa sowohl abstrakte als auch figürliche Spielsätze nebeneinander. Figurensätze unterschiedlicher Qualität Der Turm von Bonstetten ZH, leider nur noch zur Hälfte erhalten, gehörte zu einem kunstvoll verzierten Figurensatz aus Elfenbein. Solch wertvolle Figuren gehören zu den seltenen Funden bei Grabungen auf Burgen. Wesentlich günstiger waren aus Knochen oder Holz geschnitzte Figuren. Funde aus Klöstern und Städten zeigen, dass auch dort vereinzelte Leute Schach spielten. Schülerheft: Objekt 38 © STARCH Schach als Abbild der mittelalterlichen Gesellschaft Bereits um 950 wurde im Kloster Einsiedeln SZ ein Gedicht verfasst, das den Wert des Spiels unterstreicht sowie die Figuren und Regeln beschreibt. Im 12. Jahrhundert zählte Schachspielen mit Reiten, Schwimmen, Bogenschiessen, Boxen, der Falknerei und der Dichtung zu den sieben Fähigkeiten eines «guten Ritters». Zudem sah man es als Abbild der Gesellschaftsordnung: «Die Welt gleicht einem Schachspiel, sie hat auch Könige und Königinnen, Grafen (Türme), Ritter (Springer), Bischöfe (Läufer) und Bauern.» Werte der arabischen Figuren (König, Dame, Läufer, Springer, Turm, Bauer). H. WICHMANN, Schach (München 1960), S. 75. Was wäre Europa ohne die Kontakte mit der islamischen Welt? Teile Europas, Sizilien und Spanien, waren im Mittelalter längere Zeit Teil der islamischen Welt. Hier fanden für die abendländische Geschichte äusserst bedeutsame Kontakte zwischen den Kulturen statt. Arabische Gelehrte übersetzten zahlreiche Werke griechischer Autoren der Antike, etwa des Aristoteles, die sonst verloren gegangen wären. Auch sonst vermittelten sie dem Abendland Kenntnisse: man denke an Musik, Medizin, Astronomie und Mathematik. Heute ist zum Beispiel nicht mehr das römische, sondern das arabische Zahlensystem (Dezimalsystem) gebräuchlich. Auch wurden arabische Wörter übernommen: Laute, Zucker, Alkohol, Alchemie, Algebra. Im Mittelalter verlief die Weitergabe von Wissen und Technik nur vom Morgenland ins Abendland. Die Schachfigur von Bonstetten ZH ist ein kleines Beispiel für dieses damalige einseitige Nehmen, welches das Fundament für die europäische Kultur legte. Zwei Schachspieler. Aus der Manessischen Liederhandschrift, in Zürich im beginnenden 14. Jahrhundert entstanden. I. F. WALTHER, Codex Manesse, Die Miniaturen der Grossen Heidelberger Liederhandschrift (Frankfurt a. M. 1988), Nr. 6. Weiterführende Literatur G. CRESPI, Die Araber in Europa (Stuttgart und Zürich 1992). A. KLUGE-PINSKER , Schach und Trictrac. Zeugnisse mittelalterlicher Spielfreude in salischer Zeit. Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Monographien 30 (Mainz 1991). A. STEBLER-CAUZZO, Die Burg Bonstetten. In: Burg, Kapelle, Friedhof. Monographien der Kantonsarchäologie Zürich 26 (Zürich und Egg 1995), S. 100f. Vergleichsobjekte 29 Handbohrer 37 Spielsteine © STARCH 39 Schülerheft: Objekt 39 Maultrommel Replik Heute übliche Form, erhältlich bei Musik Hug. Beschreibung Aus Eisen geschmiedete Maultrommel. Den beweglichen Teil in der Mitte nennt man Lamelle oder Zunge. Fundorte der Originale Burgen, hochalpine Siedlungen. Datierung Ab dem 13. Jahrhundert. Nur ein Instrument des einfachen Volkes? Die Maultrommel, schweizerdeutsch Trümpi, ist ein kleines Musikinstrument. Das Spielen auf einem Trümpi war bei Hirten beliebt. Weil es sehr klein ist, konnte es gut mitgenommen und zum Zeitvertreib gespielt werden. Viele mittelalterliche Maultrommeln kommen bei Ausgrabungen auf Burgen zum Vorschein. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, ein Musikinstrument des «einfachen Volkes» auf Burgen, d. h. im Umfeld des Adels, zu finden. Hatte sich tatsächlich ein adliger Burgbewohner den eintönigen Burgalltag mit Maultrommelspiel vertrieben? Oder gehörte das Instrument einem als Hirte des burgeigenen Viehs angestellten Senn? Das Trümpi ist nämlich auch ein häufiger Fund in hochalpinen Siedlungsplätzen. Natürlich kann man anhand eines Fundstücks aus einer Burg aber nicht mehr entscheiden, wer darauf gespielt hatte. Dank der archäologischen Funde weiss man aber immerhin, dass das Trümpi erst im 13. Jahrhundert auftaucht. Wie spielt man auf dem Trümpi? Man hält das Instrument mit einer Hand so vor den Mund, dass die Bügelarme beide Lippen und die Schneidezähne leicht berühren. Mit der anderen Hand versetzt man die Lamelle durch Zupfen in Schwingung. Dabei dient der Mund als Resonanzkörper. So kann man durch die Bewegung der Zunge die Tonhöhe und durch Hauchen die Lautstärke variieren, d.h. ganze Melodien spielen. Um mit anderen Instrumenten zusammen zu spielen, sind natürlich noch bestimmte Tricks zur Veränderung der Grundstimmung der Maultrommel nötig. So kann man mit Wachskügelchen die Lamelle beschwe- ren, was zu einer tieferen Stimmung führt. In der Barockzeit hat der Komponist J. G. Albrechtsberger (1736– 1809) sogar Konzerte für Maultrommel mit Orchesterbegleitung geschrieben. Er wurde durch einen virtuosen Maultrommelspieler, einen Benediktinerpater, zu diesen Kompositionen angeregt. Ein heute international bekannter Maultrommler ist der Schweizer Anton Bruhin, der auch mit Maultrommelspielern aus anderen Ländern, etwa der Mongolei, spielt. Schülerheft: Objekt 39 © STARCH «Trümpi» als Familienname Das mittelalterliche Wort «Trümpi» leitet sich von althochdeutsch «Trumba» und mittelhochdeutsch «Trumbe» oder «Trumme» ab, was sowohl Trommel als auch Blasinstrument bedeutet. 1318 taucht erstmals der Familienname «trümpler» in Rüschlikon ZH auf. Die 1353 erstmals in Zürich genannte Familie «trümpi» führte sogar eine Maultrommel im Siegel. Noch heute ist der Familienname Trümpy verbreitet, bekannt ist etwa der 1946 geborene Komponist Balz Trümpy. Weshalb aber wählten diese Familien im 13. und 14. Jahrhundert ein Instrument als Familienname? Erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts wurde es üblich, Familiennamen zu führen. Beim Adel war dies einfach, er nannte sich nach einer Burg oder einer Ortschaft (Grafen von Kyburg, Freiherren von Wädenswil). In den Städten, wo nun mehr Leute als in einem Dorf beisammen wohnten, wollte man sie irgendwie auseinander halten können. Ein weiteres Problem war zudem, dass – wie heute auch – einige Vornamen wie Heinrich und Konrad äusserst beliebt waren (die noch heute geläufige Redewendung «Hinz und Kunz» weist auch darauf hin). So wählte man oft den Beruf als Familienname: Heinrich der Schmied, Konrad der Müller usw. Auch andere Fertigkeiten wie gutes Instrumentalspiel boten sich als Zuname an: Wernher der Fiedler, Hartmann der Trümpler. Umzeichnung des Siegels, das Johannes Trümpi 1353 verwendete. Der Text lautet: «S.Iohannis dci Trümpi» = Sanct Johannes dicti (geheissen) Trümpi. Das Wappen zeigt eine Maultrommel. Staatsarchiv Zürich. Weiterführende Literatur A. TAMBOER , Ausgegrabene Klänge, Archäologische Musikinstrumente aus allen Epochen (Oldenburg 1999). W. MEYER , H. OESCH, Maultrommelfunde in der Schweiz. In: Festschrift A. Geering. Beiträge zur Zeit und zum Begriff des Humanismus vorwiegend aus dem Bereich der Musik (Bern 1972), S. 211–230. Vergleichsobjekte 40 Knochenflöte Klangbeispiel 10 auf der CD Musik und Text © STARCH 40 Schülerheft: Objekt 40 Knochenflöte Replik Erlebbare Archäologie, Züger Wild, Basel. Beschreibung Knochenflöte, aus der Tibia (Schienbeinknochen) eines Schafs. 4 bis 6 Löcher. Mundstück aus Bienenwachs. Fundorte der Originale Städte, Burgen. Datierung Hoch- und Spätmittelalter (12.–15. Jahrhundert). Tierknochen als Flöten Wie Funde zeigen, fertigten die Menschen schon in der Altsteinzeit, also vor über dreissigtausend Jahren, erste einfache Knochenflöten an. Zur Herstellung einer Knochenflöte braucht man einen möglichst geraden Röhrenknochen. Am besten eignen sich die Schienbeinknochen junger Schafe oder Knochen von Vögeln. Nach dem Schlachten muss man den Knochen vom Fleisch befreien und kochen, damit das im Knochen enthaltene Fett herausgelöst wird. Danach schneidet man ein oder beide Gelenkenden weg. Nun bohrt man die Löcher. Das oberste, welches den Luftstrom teilt, nennt man Labium oder Aufschnitt. Dazu kommen je nach dem ein Daumenloch auf der Rückseite sowie Grifflöcher für die Finger auf der Vorderseite. Eine Untersuchung der mittelalterlichen Flöten zeigt, dass meistens nur drei oder vier Löcher, seltener zwei, fünf oder sechs Löcher gebohrt wurden. Einige hatten zusätzlich ein Daumenloch, andere nicht. Somit konnte man mit den meisten Flöten nur wenige Töne spielen. Ins obere Ende der Flöte setzte man einen Pfropfen aus Bienenwachs als Mundstück ein. Mit einem Werkzeug schnitt man nun im Wachs den Luftkanal ein, der schräg auf das Labium treffen muss, damit sich der Luftstrom teilen kann. Es gab auch Flöten, bei denen das Mundstück aus Holz angefertigt wurde. «Schräge Töne» Anders als bei einer Holzflöte kann man kein in sich stimmiges Instrument aus Knochen bauen, da der Hohlraum des Knochens nie gleichförmig ist. Wer spielte wohl auf solchen Instrumenten? Deine Ideen kannst du mit unseren auf der Rückseite vergleichen. Schülerheft: Objekt 40 © STARCH Nur ein Instrument des einfachen Volkes? Knochenflöten waren sehr einfache und kleine Instrumente, jedermann konnte sie ohne grossen Aufwand herstellen und mitnehmen. Vielleicht waren sie deshalb bei den Hirten sehr beliebt. Viele mittelalterliche Knochenflöten kamen aber bei Ausgrabungen auf Burgen zum Vorschein. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, ein Musikinstrument des «einfachen Volkes» auf Burgen im Umfeld des Adels zu finden. Vertrieben sich die Adligen den eintönigen Burgalltag mit Flötenspiel? Oder stammen sie von den Sennen, die das burgeigene Vieh hirteten? Oder von fahrenden Musikanten, den Spielleuten? Melodien spielen auf den Flöten? Wie du auf der Vorderseite erfahren hast, konnte man meist nur einfache Melodien auf Knochenflöten spielen. Vielleicht war dies von der Musikalität der Hirten abhängig, die einfache Melodien bevorzugten. Immerhin konnte ein geschickter Spieler auf einer mehrlochigen Flöte mit Gabelgriffen, Halbdeckungen der Löcher und Überblastechnik doch Melodien spielen. Weiterführende Literatur CH. BRADE, Die mittelalterlichen Kernspaltflöten Mittel- und Nordeuropas (Neumünster 1975). Knochenklang. Mitteilungen der Prähistorischen Kommission / Österreichische Akademie der Wissenschaften 36 (Wien 2000) (CD und Begleitheft). R. MEYLAN, Die Flöte. Grundzüge ihrer Entwicklung von der Urgeschichte bis zur Gegenwart (Mainz 2000) (Beilage: CD mit Klangbeispielen). Vergleichsobjekte 39 Maultrommel. Klangbeispiele 8 und 9 auf der CD Musik und Text Wie zahlreiche Bilder aus dem Mittelalter zeigen, spielte man häufig Blasinstrumente zusammen mit einer Trommel. Für das einhändige Spielen genügten natürlich wenige Löcher. Das Bild aus dem Jahr 1542 zeigt einen als Narr verkleideten Spielmann. Das grobschlächtige Gesicht erinnert an eine Karikatur. Kunstfertig spielt er ein oboenähnliches Instrument, schlägt die Trommel, balanciert eine Kerze auf dem Kopf und geht dazu noch auf Stelzen! Titelblatt des Liedbuchs von Zeghere Van Male, Cambrai, Bibliothèque municipale, Mss. 125–128. © STARCH 41 Schülerheft: Objekt 41 Schelle Replik Warenhaus Manor, Basel. Beschreibung Schelle aus Messing, zweiteilig getrieben, mit Aufhängeöse. Fundorte der Originale Städte, Burgen. Datierung Ab dem 13. Jahrhundert. Schellen – einfache Musikinstrumente oder Schmuckstücke? Kleine Schellen kommen häufig auf Burgen und in Städten zum Vorschein. Zuerst scheinen sie uns als Musikinstrument erkennbar. Sie sind aber ein gutes Beispiel für Gegenstände, bei denen man meistens den Verwendungszweck nicht bestimmen kann. Der Archäologe findet meistens nur die metallene Schelle. Die Textilien oder Leder, auf welche sie aufgenäht war, sind in der Regel verrottet. So fehlen auch Informationen über den einstigen Gebrauch der Schellen. Wie uns mittelalterliche Bilder zeigen, erfüllten Schellen die unterschiedlichsten Zwecke. Schellen – für den Falken, das Pferd, das Festkleid oder die Narrenkappe? Bei der Falknerei, der Jagd mit abgerichteten Falken, band man dem Falken eine Fessel um die Füsse, an der Schellen befestigt waren. So hörte man immer, wo sich der Vogel befand. Ein verirrter Falken war auch als gezähmter Jagdvogel erkennbar. Schellen dienten auch zur Verzierung von Pferdezaumzeug. Im späten Mittelalter, dem 14. und 15. Jahrhundert, galt es bei vornehmen Leuten zudem als modisch, wenn man Schellen an die Kleidung nähte. Zeitweise muss das Geklingel bei grösseren Menschenansammlungen so laut gewesen sein, dass zum Beispiel im süddeutschen Ulm 1406 das Tragen von Schellen in der Kirche ausdrücklich verboten wurde. Schellen gehörten seit dem 14. Jahrhundert natürlich auch zur Spielmannstracht. Ein Lederband mit zahlreichen Schellen liess sich um Fuss- oder Handgelenk binden, womit man rhythmisches Gebimmel als Begleitung beim Spiel eines anderen Instruments einsetzen konnte. Auch der (Hof-)Narr trug an seiner hörnerförmigen Kappe und am Kleid Schellen. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wechselte die Mode: Die Vornehmen bevorzugten nun stummen Schmuck. Dagegen behielten die Narren die Glocken bei, was sie noch altmodischer und lächerlicher wirken liess. Noch heute sind Schellen Bestandteile von Fasnachtsfiguren, etwa des «Ueli» in Basel. Schülerheft: Objekt 41 © STARCH Falkenschellen – Beleg für die Kontakte zur arabischen Welt Bereits im 8. Jahrhundert waren die Schellen bei den Arabern wichtige Bestandteile bei der Beizjagd. Kaiser Friedrich II. (1194–1250) liess im zeitweise muslimischen Sizilien arabische Falknereiliteratur übersetzen und ein Buch «Von der Kunst, mit Vögeln zu jagen» schreiben. Hier tauchen die Schellen offenbar erstmals als Bestandteil der Falknereiausrüstung auf. Anschliessend beschrieben auch andere europäische Autoren ihre Verwendung. Schellen als Spielkartenfarbe – in der Schweiz noch heute üblich Spielkarten gelangten erst ab 1370 aus dem Orient nach Italien. Von dort verbreiteten sie sich sehr schnell über Mitteleuropa. Bereits im 15. Jahrhundert bilden sich die heute noch gebrauchten Schweizer Karten mit Eichel, Schellen, Schilten und Rosen heraus. Auf einzelnen Karten aus jener Zeit ist auf der Schellen noch ein Narr dargestellt. Deshalb fand wohl die Schelle als Sinnbild des Narren Verwendung als Kartenfarbe. Schellen als Kennzeichnung von geistig Behinderten? Im späten Mittelalter gab es Gesetze zur Kennzeichnung von bestimmten Bevölkerungsgruppen. Leprakranke mussten mit Klappern die Gesunden warnen. Da Narren häufig auch eine geistige Behinderung hatten oder auch zuweilen einfach aufsässig waren, dürfte ihr Schellengeklingel die übrigen Leute auf ihr Nahen aufmerksam gemacht haben. Narr mit Schellen. Bild aus dem Jahr 1497, gedruckt in Lübeck. W. MEZGER, Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur, Konstanzer Bibliothek 15 (Konstanz 1991), Abb. 115. Weiterführende Literatur D. Hoffmann, Kultur- und Kunstgeschichte der Spielkarte (Marburg 1995). W. MEZGER , Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur, Konstanzer Bibliothek 15 (Konstanz 1991). W. REDOLFI, Die mittelalterliche Jagd und ihre Darstellung im Codex Manesse, Mittelalter (Zeitschrift des Schweizerischen Burgenvereins) 2002/3, S. 61–70. A. TAMBOER , Ausgegrabene Klänge, Archäologische Musikinstrumente aus allen Epochen (Oldenburg 1999). Vergleichsobjekte 3 Backmodel Ausleihe-Reglement ■ Die Archäologie-Koffer Steinzeit, Metallzeiten (Bronze- und Eisenzeit), Römische Epoche und Mittelalter können jeweils für zwei Wochen (von Mittwoch bis übernächsten Mittwoch) reserviert werden über die Website: www.archaeologiekoffer.ch. ■ Als Reservationsbestätigung wird ein Mail verschickt mit den detaillierten Angaben zu Abholund Rückgabemodalitäten. Dieses Mail ist gleichzeitig das Übernahmeprotokoll und muss darum bei der Ausleihe mitgenommen werden. ■ Die Archäologie-Koffer müssen an folgenden Orten abgeholt oder zurückgebracht werden Schweizerisches Landesmuseum Museumstr. 2 8006 Zürich Bitte vorgängig genauen Termin abmachen mit Frau Myriam Kunz Tel. 044 218 65 04 [email protected] Zufahrt mit dem Auto bis auf den Vorhof erlaubt. Kantonsarchäologie Zürich Aussenstelle Oberwinterthur Römerstr. 237 8404 Winterthur Ansprechperson: Herr Andrea Tiziani Tel. 052 242 78 71 [email protected] Genügend Parkmöglichkeiten vorhanden. ■ Die Ausleihe erfolgt immer ab Stationierungsort der Archäologie-Koffer und zwar an eine einzige verantwortliche Lehrkraft. ■ Für Ab- und Rücktransport hat die leihende Lehr- ■ ■ ■ ■ ■ ■ kraft zu sorgen. Die Archäologie-Koffer (Masse 93✕53✕34 cm, Gewicht 29–32 kg) sind einseitig mit Rollen versehen und müssen mit einem PW abgeholt und zurückgebracht werden. Für Ab- und Rücktransport ist jeweils der Mittwochnachmittag vorgesehen. Rücktransport 14.00–15.30 Uhr, Abtransport 15.30–17.00 Uhr. Beim Stationierungsort Landesmuseum Zürich ist vorgängig eine genaue Uhrzeit abzumachen. Wollen mehrere Lehrkräfte in der gleichen Gemeinde oder im gleichen Schulhaus den Koffer benützen, so muss dies auf dem Übernahmeprotokoll vermerkt werden. Es wird erwartet, dass die Archäologie-Koffer mit der erforderlichen Sorgfalt transportiert und im Unterricht gehandhabt werden. Es wird auch erwartet, dass die Objekte und das didaktische Material an den richtigen Ort zurückgeräumt werden. Entstehen beim Gebrauch der Archäologie-Koffer an den Objekten, am didaktischen Material oder an den Koffern selber Schäden, so sind diese nicht zu reparieren sondern am Ort der Ausleihe und der Schulpflege oder der Schulleitung zu melden. Im Weiteren gilt das Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden sowie ihrer Behörden und Beamten (Kantonales Haftungsgesetz). Lehrkräfte, welche sich nicht an das Ausleihereglement halten oder den Archäologie-Koffern nicht die erforderliche Sorgfalt angedeihen lassen, können von der weiteren Ausleihe ausgeschlossen werden.