Ein mutiges Mädchen

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Ein mutiges Mädchen
Ein mutiges Mädchen
Johanna und der Hundertjährige Krieg
1429 in Poitiers (Westfrankreich)
„König von England und Herzog von
Bedford, der Ihr Euch als Herrscher des
Königreichs Frankreich bezeichnet, über-
gebt mir die Schlüssel aller Städte,
die Ihr in Frankreich eingenommen habt.
Ich, die Jungfrau, bin von Gott,
dem König des Himmels, hierher
gesandt worden und bin gekommen, um dem königlichen Blut zu
seinem Recht zu verhelfen. Ich bin
gern bereit, Frieden zu schließen,
wenn Ihr Frankreich verlasst.
Und ihr, Bogenschützen, Kriegsleute, Hofleute und andere, die ihr
vor der Stadt Orléans liegt, geht in
euer Land zurück. Ich bin von Gott
geschickt, um euch Mann für Mann
aus Frankreich hinauszuschlagen.
Denn nicht ihr habt das Königreich
Frankreich von Gott erhalten, son-
dern König Karl, der wahre Erbe,
wird es erhalten; so will es Gott.“
Brief der Johanna von Orléans
an die Engländer
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Energisch setzt Johanna (1412 – 1431)
W i s s e n spezial
ihre Unterschrift unter den Brief. Die verhassten Engländer, die ihre Heimat be- Wer sind Heilige?
herrschen, wissen nun, was sie erwartet. Um ihren Nach ihrem Tod können besondere Menschen, die ein
Worten Taten folgen zu lassen, rüstet sie sich mit grovorbildliches Leben im Sinne
ßem Gottvertrauen für den bevorstehenden Krieg. der Kirche geführt haben,
Sie zieht Hosen, Hemd und Rüstung an und lässt sich seliggesprochen werden.
aufs Pferd helfen. „Wenn das nur gut geht. Eine Jung- Haben sie Wunder vollbracht
frau in Rüstung, die wie ein Mann in den Kampf oder wurden aufgrund ihres
Glaubens getötet, kann der
zieht. Mögen die Heiligen ihr beistehen“, murmelt Papst sie heiligsprechen.
ihr Knappe, doch Johanna hört ihn nicht mehr. Sie Johanna wurde zuerst seligist bereits losgeritten und macht sich auf den Weg und später heiliggesprochen.
von Poitiers in Westfrankreich nach Orléans an der
Loire. Bewaffnete Ritter und Kämpfer, begeisterte Bürger
und kampflustige Bauern folgen der außergewöhnlichen
Jungfrau, die auf Französisch Jeanne d’Arc genannt wird. Viele verehrten Johanna
Nach einer Legende verraten ihr himmlische Stimmen, dass von Orléans als Heldin.
in einer Kirche, an der sie vorbeikommen, ein verziertes Schwert versteckt sei.
Ein Bote findet die Waffe beim Altar und
überbringt sie dem Mädchen. Die Kunde von dem Wunderschwert und der
Jungfrau in Waffen eilt den Kämpfern
voraus. Orléans wird unterdessen von
Engländern und den mit ihnen verbündeten Burgundern belagert. Die Lage
scheint aussichtslos. Als Johanna mit
Verstärkung die Stadt erreicht, verschanzen sich die Feinde in ihrer Festung
auf der anderen Seite des Flusses Loire.
Um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden, bringen zwei Fischer ein brennen-
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des Boot genau unter die hölzerne Zugbrücke und zerstören diese. Mit schwerem Geschütz wollen die Franzosen nun die Festung der Engländer zum Einsturz bringen.
Johanna dauert das zu lange: Sie legt eine
Leiter an die Mauer und klettert selbst hinauf, um so in die Burg zu gelangen und zu
kämpfen. Ihr Mut stachelt die Franzosen so
sehr an, dass es ihnen tatsächlich gelingt,
die Festung einzunehmen. Am 8. Mai 1429
verlassen die besiegten Engländer die Burg
und ziehen sich zurück. Orléans ist befreit;
Johanna von Orléans wird als Heldin und
Retterin gefeiert.
Die Befreiung von
Orléans durch Johanna
Der König von Frankreich
Dieser Sieg bringt die entscheidende Wende. Seit fast 100 Jahren kämpfen Franzosen und Engländer erbittert um Landbesitz und die Herrschaft. Der Krieg brach 1339 aus, weil
der englische König Eduard III. (1312 – 1377) auch die fran-
Ein Blick auf die Stadt
Orléans
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Darstellung des Hundert-
zösische Königskrone beanspruchte. Er besaß Gebiete im jährigen Krieges
Nordwesten Frankreichs, die er von seinen Vorfahren aus
der Zeit der Wikinger geerbt hatte, und sah sich als rechtmäßigen Thronfolger. Wiederholt versuchten die
W i s s e n spezial
streitenden Parteien, sich gütlich zu einigen und
einen Waffenstillstand oder Friedenszeiten auszuhan- Die englischen
Bogenschützen
deln. Familienstreitigkeiten, politische MachtkämpEdle Ritter kämpfen eigentfe und gebrochene Verträge führten zu immer neuen lich nur Mann gegen Mann
Kämpfen, in denen die englischen
im Nahkampf. Mit dem
Bogen, einer unritterBogenschützen die französischen
lichen Fernwaffe, töten
Ritter das Fürchten lehrten.
die Engländer ihre FeinJohanna wächst als gut behütede auf viele Hundert
te Bauerntochter in einem zweigeMeter Entfernung. Dieser neuen, tödlichen
teilten Land auf: Den Norden
Waffe haben die franbeherrscht das englisch-burgundizösischen Ritter nichts
sche Bündnis, das dem englischen
entgegenzusetzen.
König Heinrich VI. (1421 –1471)
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Johanna sagt voraus,
dass Karl VII. zum König
gekrönt wird.
Um eine Hexe zu überführen, wurde sie ins
Wasser geworfen.
Schwamm sie oben,
wurde sie verurteilt.
dient; den Süden beherrschen diejenigen Franzosen, die Karl
VII. (1403 –1461) zum König krönen wollen. Orléans liegt
genau auf der umkämpften Grenze.
Mit 15 Jahren, so berichtet Johanna später, vernimmt
sie zum ersten Mal göttliche Stimmen, die sie beauftragen,
dem französischen Thronfolger Karl zum
rechtmäßigen Königstitel zu verhelfen und
die Engländer aus Frankreich zu vertreiben.
Gegen den Willen ihrer Eltern folgt das Mädchen den inneren Stimmen, die Johanna Gottes Beistand versprechen und sie stark und
mutig machen. Sie bietet dem Thronfolger
ihre Unterstützung an. Viele Adlige nehmen sie
nicht ernst, einige lachen sie sogar aus und beschimpfen sie
als Ketzerin und Hexe. Sie können sich nicht vorstellen,
dass eine Frau ihre eigene Meinung vertritt und diese sogar
mit Waffen durchsetzen will. Johanna passt nicht in ihr
Weltbild. Karl dagegen kennt die alte Weissagung, nach der
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nur eine Jungfrau Frankreich befreien kann. Um
W i s s e n spezial
sicherzugehen, lässt er Johanna drei Wochen lang
befragen und untersuchen. Man stellt fest, dass sie Warum Jungfrau?
wirklich Jungfrau ist, und bestätigt, dass die heilige Frauen sollten im Mittelalter
zurückhaltend und unterwürKatharina und die heilige Margarete ihr den Auftrag
fig sein. Alles andere galt als
zur Befreiung Frankreichs gaben. Zwar zweifeln verdorben und machthungrig.
einige Gelehrte und Geistliche ihre göttliche Beru- Dass Johanna noch Jungfrau
fung an, aber das Volk ist von dem mutigen Mäd- war, hieß, dass kein Mann sie
chen beeindruckt. Auch Karl glaubt ihr und stattet verführt hatte. Die Menschen
nahmen an, dass sie ihr Vorsie mit Waffen, Rüstung und Banner aus.
haben allein mit Gottes Hilfe
Der Erfolg bei Orléans scheint ihm recht zu umgesetzt hatte.
geben. Doch mit der Befreiung der Stadt hat Johanna ihren göttlichen Auftrag noch nicht erfüllt. Die Stimmen
weisen sie nun an, Karl nach Reims zu bringen, wo er als
rechtmäßiger König gesalbt und gekrönt werden soll. Am
16. Juli 1429 zieht Karl VII. mit seinem Heer feierlich in
Thema
Ketzer und Hexen lebten gefährlich
Ketzer waren nach Meinung der Kirche vom rechten Glauben abgekommen und missachteten die kirchlichen Gebote. Hexen sollen sich
außerdem mit dem Teufel verbündet haben, der
ihnen angeblich magische Kräfte verlieh und sie
zum Bösen verführte. Die Geistlichen verfolgten
Hexen und Ketzer und forderten sie zunächst auf,
dem Bösen abzuschwören. Wenn sie Buße taten
und sich der kirchlichen Ordnung unterwarfen,
konnten sie wieder freigelassen werden. Wer sich
weigerte, wurde zum Tod auf dem Scheiterhaufen
verurteilt, wie Johanna von Orléans.
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Karl VII. wird in Reims
zum König gekrönt.
Reims ein. Adlige, Bürger und das gesamte Volk
heißen ihren Herrscher herzlich willkommen.
Einen Tag später erfolgen die Salbung und die Krönung. Johanna ist bei der Krönungszeremonie
anwesend und beobachtet das Geschehen.
Zwar hat sie die Feinde in Orléans
besiegt und Karl ist nun König
von Frankreich, aber immer
noch sind einige Städte
besetzt, unter anderem
Paris. Und hat sie nicht in ihrem
Brief geschworen, dass sie die
Engländer „Mann für Mann“
aus Frankreich hinausschlagen will?
W i s s e n spezial
Der Teufel
Der Teufel verkörpert das
Böse schlechthin. Ständig
versucht er, Christen zu verführen und sie vom Glauben
abzubringen. Johannas
Freunde glauben ihr, dass die
Stimmen, die sie hört, von
Engeln oder Heiligen
kommen. Ihre
Feinde unterstellen ihr,
dass sie mit
dem Teufel
verbündet ist.
Bitteres Ende
für Johanna
Also zieht die Jungfrau
von Orléans mit einem
Heer nach Paris, allerdings
ohne die Unterstützung des
Königs. Johanna fühlt sich verraten und versteht nicht, warum Karl
nicht weiterkämpfen will. Trotzdem greift sie
Paris an – und verliert die entscheidende Schlacht.
Am 23. Mai 1430 wird Johanna von Burgundern und Engländern in der Stadt Compiègne
gefangen genommen und einem kirchlichen
Gericht übergeben. Dort soll geklärt werden,
ob sie eine Ketzerin ist: Ist es Gottes Wille, dass
das Bauernmädchen Karl half, König zu werden,
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oder hat der Teufel Johanna verführt? Ein
Zeichen, dass das Mädchen mit dem Teufel im Bund steht, sehen die Richter darin,
dass sie Männerkleidung trägt. Denn dies
sei gegen Gottes Willen. Die Ergebnisse des Gerichtsprozesses werden der Universität von Paris übergeben. Die Theologen dort halten Das Leben von Johanna
Johanna für schuldig. Die gött- von Orléans wurde
mehrfach verfilmt.
lichen Stimmen habe sie erfunden und in ihrem Glauben sei
sie fehlgeleitet; allein könne sie
den Sieg nicht errungen haben, sondern der Teufel habe
ihr besondere Kräfte verliehen. Johanna wird als Ketzerin verurteilt und am 30. Mai
1431 auf dem Scheiterhaufen
verbrannt. In den folgenden Jahren kommt es zu FriedensW i s s e n spezial
verhandlungen zwischen OrléDer Hundertjährige Krieg
ans und Burgund. Nachdem Karl
1339, mehr als 100 Jahre
bis 1449 tatsächlich die meisten Engzuvor, besaß der englische
länder aus Frankreich zurückgedrängt hat,
König noch viel Grund und
lässt er den Fall wieder aufrollen, denn er will seine
Boden auf dem französischen Festland. Lange Zeit
Herrschaft nicht einer Ketzerin verdanken. Die Ausschienen die Engländer den
sagen der Verurteilten und die Fragen der Richter
Franzosen überlegen zu sein.
werden sechs Jahre lang untersucht, bis schließlich
Doch 1453 mussten sich die
das Urteil aufgehoben wird. 1453 endet der HundertEngländer geschlagen geben
jährige Krieg, mehr als zwanzig Jahre, nachdem
und allen französischen
Landbesitz abgeben.
Johanna den Franzosen zum Sieg verholfen hat.