Jonathan Franzen Weiter weg | Shereen El Feki Sex und die
Transcrição
Jonathan Franzen Weiter weg | Shereen El Feki Sex und die
Nr. 2 | 24. Februar 2013 Jonathan Franzen Weiter weg | Shereen El Feki Sex und die Zitadelle | Amy Waldman Der amerikanische Architekt | David Grossman Aus der Zeit fallen | Übersetzerin Gunhild Kübler über die Lyrik von Emily Dickinson | Neue Bücher zu Richard Wagner | Weitere Rezensionen zu Fidel Castro, Andrej Tarkovskij, Verena Stössinger, Wilhelm Genazino und anderen Winterzeit, Lesezeit! Unsere Buchtipps – wärmstens empfohlen für kalte Tage Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr. Auch als eBook BUCH | gebunden Linus Reichlin Das Leuchten in der Ferne CHF 27.50 BUCH | gebunden Astrid Rosenfeld Elsa ungeheuer CHF 29.90 BUCH | gebunden Andrea Camilleri Die Sekte der Engel CHF 26.90 Auch als eBook <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MDc0NAMA7dlSjA8AAAA=</wm> <wm>10CFWMIQ7DQAwEX-TTrn0-JzGMwqKCqtykKu7_UXthkWbZ7JxnesO1_Xi8jmcS6C5cghzpqzeNkYtqQ4-EIhS0jSC7etx0AddhsJqKQAVRhPxRK3Mv2gzUPEPb9_35ASY9BAl_AAAA</wm> BUCH | gebunden Franz Hohler Der Geisterfahrer CHF 28.50 BUCH | gebunden Eveline Hasler Mit dem letzten Schiff CHF 27.90 BUCH | gebunden Hans Küng Was bleibt. Kerngedanken CHF 28.90 Service pur: Schnelle & zuverlässige Lieferung Kostenloser Geschenkservice Unverbindlich bestellen Zahlung per Rechnung möglich w w www.buch.ch w.buch.ch Inhalt Von Brazzaville bis Massachusetts Jonathan Franzen (Seite 19). Illustration von André Carrilho Wenn ein Stammgast «Zerbrochenes Glas» heisst und der Wirt «Sture Schnecke»; wenn die Kneipe den Namen trägt «Hier wird nicht angeschrieben» und sich dort Leute wie der «Pampers-Typ» oder der «Drucker» aus dem Irrenhaus ein Stelldichein geben – dann befinden wir uns in Brazzaville und beim kongolesischen Autor Alain Mabanckou. Der 42-jährige in Paris ausgebildete Jurist, der zehn Jahre für einen französischen Wirtschaftskonzern arbeitete, wurde für seine Romane mehrfach ausgezeichnet, so mit dem «Grand Prix littéraire de l’Afrique noir». In seinem neusten, furiosen Buch, das David Signer bespricht, treten Schwadroneure und Dandys aus den Slums auf und machen den Stammtisch zur Bühne (Seite 10). Kurzum: lebenspralle, witzige und selbstbewusste Literatur aus Schwarzafrika. In der Heftmitte nimmt Sie Gunhild Kübler auf ihre Entdeckungsreise zu Emily Dickinson (1830–1886) mit, einer amerikanischen Lyrikerin, die zu Lebzeiten bloss zehn Gedichte veröffentlicht hat. Begeistert erzählt Kübler von ihrer Neuübersetzung der elektrisierenden Verse, einer Beschäftigung, die ihr Leben verändert habe (S. 12). Lassen Sie sich anstecken von Mabanckou, von Dickinson – oder von 30 weiteren Autorinnen und Autoren, die wir Ihnen in dieser Nummer vorstellen. Zögern Sie nicht, sich in der Bar der Weltliteratur einen zu genehmigen: Hier wird (an)geschrieben! Urs Rauber Belletristik Kolumne 24 Conradin A. Burga: Oswald Heer 1809–1883 4 David Grossman: Aus der Zeit fallen 15 Charles Lewinsky 25 Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie! 6 Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht Von Martin Zingg Kurzkritiken Sachbuch Von Charlotte Jacquemart 15 Thomas Sprecher: Schweizer Monat 1921– 2012 Mitra Devi: Der Blutsfeind 7 Das Zitat von Isaak Babel Amy Waldman: Der amerikanische Architekt Von Simone von Büren 8 Andrej Bitow: Der Symmetrielehrer 9 Wilhelm Genazino: Tarzan am Main Von Sieglinde Geisel Von Sandra Leis Juerg Judin: Uwe Wittwer – Paintings Von Gerhard Mack 10 Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas Von David Signer Kurzkritiken Belletristik 11 Johann Nestroy: Historisch-kritische Ausgabe Von Manfred Papst Katherine Mansfield: In einer deutschen Pension Von Regula Freuler Von Urs Rauber Toby Lester: Die Symmetrie der Welt Von Kathrin Meier-Rust Ritchie Pogorzelski: Die Traianssäule in Rom Von Geneviève Lüscher Christoph Zürcher: Wie ich Kannibalen, die Taliban und die stärksten Frauen überlebte Von Urs Rauber Von Christine Brand Essay 12 Endlose Knobeleien Gunhild Kübler über die Schwierigkeiten des Übersetzens von Lyrik – am Beispiel des Werks von Emily Dickinson Das amerikanische Buch Sonia Sotomayor: My Beloved World Von Andreas Mink Agenda 27 Pascal Ruedin: Die Schule von Savièse Von Manfred Papst Bestseller Februar 2013 Veranstaltungshinweise Agenda März 2013 Von Fritz Trümpi 18 Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle Von Susanne Schanda 20 Horst Bienek: Workuta 11 Keigo Higashino: Verdächtige Geliebte Von Ina Boesch 16 Udo Bermbach: Mythos Wagner Friedrich Dieckmann: Das Liebesverbot und die Revolution Jens Malte Fischer: Richard Wagner und seine Wirkung Robert Gernhardt: Hinter der Kurve E-Krimi des Monats Von Reinhard Meier 26 Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke Sachbuch 19 Jonathan Franzen: Weiter weg Von Manfred Papst Carlos Widmann: Das letzte Buch über Fidel Castro Belletristik und Sachbuch Techno der Jaguare Von Regula Freuler Von Michael Holmes Von Urs Rauber Von Anja Hirsch Philipp Blom, Veronica Buckley: Das russische Zarenreich Von Geneviève Lüscher 21 Andrej Tarkovskij: Leben und Werk Von Christian Jungen 22 Florian Homm: Kopf Geld Jagd Von Sebastian Bräuer KRISTOF ARASIM Von Klara Obermüller Von Geneviève Lüscher Rolf Mösli: Eugen Bleuler – Pionier der Psychiatrie Von Willi Wottreng 23 Georg Pichler: Gegenwart der Vergangenheit Von Tobias Kaestli Shereen El Feki hält eine Neubewertung der Sexualität in arabischen Ländern für unabdingbar (Seite 18). Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Versepos Das neue Buch des israelischen Schriftstellers David Grossman ist Totenklage und Wiederaneignung des Lebens in einem Ein Mann sucht seinen toten Sohn David Grossman: Aus der Zeit fallen. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser, München 2013. 128 Seiten, Fr. 23.90. Von Klara Obermüller Wenn einen ein grosses Unglück treffe, sagte David Grossman, als er vor zwei Jahren in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm, dann sei das ein Gefühl, als ob man aus dem Leben «ins Exil» vertrieben werde. David Grossman wusste, wovon er sprach. Er hatte es selber erlebt, nachdem sein Sohn Uri am 12. August 2006 auf dem Rückzug aus Libanon von einer Rakete tödlich getroffen worden war. Mit einem Schlag hatte er damals alles David Grossman verloren, worauf er bislang hatte bauen können: alle Gewissheit, alles Vertrauen, ja selbst das natürliche Recht, sich im Leben zuhause zu fühlen. Aber er war aus dem Exil auch wieder zurückgekehrt: zurück an die Arbeit und zurück ins Leben. Einen Tag nach der Trauerwoche, so berichtete er, habe er sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt, um an dem Roman weiterzuschreiben, den er in Arbeit hatte. Und sei sich dabei vorgekommen wie einer, der nach einem Erdbeben aus den Trümmern seines Hauses kriecht, sich umschaut, hinsetzt und «beginnt, wieder Steine aufeinanderzulegen». Oder eben Wörter. Zwei Jahre nach dem Tod des Sohnes erschien in Israel der Roman «Eine Frau flieht vor einer Nachricht»: das Buch, in dem der Autor von den Ängsten einer israelischen Mutter erzählte, deren Sohn Militärdienst leistet, und in dem er auf fast schon prophetische Weise vorwegnahm, was ihm und seiner Familie zustossen sollte. Ohne es zu wollen, wurde der Jahre zuvor begonnene Roman zum Requiem für den toten Sohn und zum Versuch des Vaters, sich sein Heimatrecht im Leben zurückzuholen. ATEF SAFADI / EPA Hohes Mass an Empathie 1954 in Jerusalem geboren, arbeitete David Grossman als Radiojournalist, bevor er Romane und Jugendbücher veröffentlichte. Journalistische Arbeiten wie «Der gelbe Wind» (1988) oder politische Essays wie «Diesen Krieg kann keiner gewinnen» (2003) liefen stets neben belletristischen Werken wie «Das Lächeln des Lammes» (1988), «Der Kindheitserfinder» (1994) oder «Eine Frau flieht vor einer Nachricht» (2009) einher. Er ist auch ein bekannter Friedensaktivist. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 Dass dies nur zum Teil gelungen war, macht das Erscheinen eines weiteren Buches deutlich, das in der hervorragenden Übersetzung von Anne Birkenhauer nunmehr auch auf Deutsch vorliegt. «Aus der Zeit gefallen» heisst es und ist für einmal kein Roman und auch keine Erzählung, sondern eine Art Versepos oder dramatisches Gedicht. Ein Werk jedenfalls, das sich jeder Gattungsbezeichnung entzieht, wie sich auch sein Inhalt jeder Erfahrung entzieht, die der Autor bisher gemacht hat. «Aus der Zeit gefallen» ist Totenklage und Wiederaneignung des Lebens in einem. Es ist surreal und furchtbar konkret zugleich. «Ich muss gehen», sagt ein Mann zu seiner Frau. «Wohin?», fragt sie. «Zu ihm. Nach dort», antwortet der Mann. So beginnt der Text und nimmt ein Bild wieder auf, das aus einem früheren Roman des Autors bekannt ist: Auch in «Stichwort: Liebe» war von einem «Land Dort» die Rede gewesen. Die Überlebenden der Shoah verwendeten den Begriff, wenn sie von den Lagern sprachen, denen sie entkommen waren, ohne je wieder im Leben Fuss fassen zu können. Jetzt ist mit «dort» das Reich des Todes gemeint, das kein Lebender je betreten wird. Der Mann bricht gleichwohl auf. Er kann nicht anders. Er muss seinen toten Sohn suchen, noch einmal in Kontakt zu ihm treten, noch einmal den Schmerz kosten, die Trauer durchleben, um danach vielleicht tatsächlich aus dem Exil ins Leben zurückkehren zu können. Grossman gibt hier einer existenziellen Erfahrung Ausdruck, die er mit unzähligen israelischen Eltern teilt. Darin lag von jeher seine Stärke. Seit er als blutjunger Autor mit dem Reportage-Band «Der gelbe Wind» das Augenmerk seiner Landsleute auf «die israelisch-palästinensische Tragödie» gelenkt hatte, ist Grossman immer wieder durch ein untrügliches Gespür für die Virulenz verdrängter Gefühle innerhalb der israelischen Gesellschaft aufgefallen. Ob er in «Das Lächeln des Lammes» über die Begegnung zwischen einem jungen Israeli und einem alten Araber schrieb oder in «Stichwort: Liebe» dem Trauma der Shoah aus der Sicht eines Kindes beizukommen versuchte; ob er sich in «Der Kindheitserfinder» mit den Mühen des Erwachsenwerdens in Zeiten des Krieges befasste oder in seinem jüngsten Roman die permanenten Vernichtungsängste israelischer Eltern thematisierte – immer war er mit seinem Erzählen ganz nah bei dem, was die israelische Bevölkerung bewegte. Dabei zeichnete er sich stets durch ein hohes Mass an Empathie auch für die andere, die arabische Seite aus und nahm Autobiografisches allenfalls zum Anlass, nie jedoch zum Selbstzweck sei- RINA CASTELNUOVO / REDUX / LAIF nes Schreibens. Das ist im Falle seines neuen Buches nicht anders. David Grossman weiss, dass die Trauer um ein totes Kind an keine ethnischen, religiö sen oder familiären Grenzen gebunden ist, sondern im wahrsten Sinne des Wor tes eine universale Erfahrung darstellt. Deshalb ist dies auch sein bis anhin per sönlichstes und zugleich am stärksten verfremdetes Buch geworden. Es ist sein ganz persönlicher Schmerz, und es ist der Schmerz der ganzen Welt, der hier zum Ausdruck kommt. Zwei Jahre – so sagt es die Datumszeile am Ende des Textes – hat David Grossman an diesem Epitaph für seinen gefallenen Sohn gearbeitet. Was es ihn gekostet haben muss, die Wunden noch einmal aufzureissen und noch einmal allen Schmerz zu durchle ben, den die Todesnachricht auslöste, das kann man bei der Lektüre des schwierigen und streckenweise herme tischen Textes nur ahnen. Die archaisch anmutende, hoch artifizielle Form, die der Autor für seine Totenklage gewählt hat, war aber wohl nötig, um die Ver zweiflung in Schach halten und über haupt schreiben zu können. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Werken kennt «Aus der Zeit gefallen» keine Individuen, sondern nur Typen: den Gehenden Mann und seine Frau, den Schuster und die Hebamme, die Netzflickerin, den Greisen Rechenleh rer, den Zentauren, den Chronisten und seine Frau, den Herzog. Sie alle – das kristallisiert sich nach und nach heraus – sind vereint in der Trauer über den Verlust eines Kindes. Sie geben dem Mann Geleit. Sie sind, wie er, unterwegs «nach dort», um in Kontakt zu treten zu ihren toten Kindern: ein vielstimmiger Chor von Trauernden, der Sprache zu finden sucht für seine Qual. Grossman schafft mit seinem Text eine Art Echo raum für Geschichten, die, zu lange schon totgeschwiegen, endlich nach Ausdruck verlangen und nach Erlösung. Neue Poetik des Lebens In immer wieder neuen Schüben wer den Erinnerungen wach und Bilder le bendig, die irgendwo in den Tiefen des Gedächtnisses verschüttet gewesen wa ren. Menschen, die in ihrem Leid ver stummt waren, kehren zurück aus dem Exil ihrer Sprachlosigkeit und fangen an, Trauern um ein Kind: David Grossman hat 2006 einen Sohn im Krieg verloren. Im Bild eine trauernde Mutter 2008 im israelischen Militärfriedhof Mount Herzl in Jerusalem. von ihren Kindern zu erzählen. Und so wie die Mutter in Grossmans letztem Roman ihren Sohn durch Erzählen vor dem Tod zu bewahren versucht, so holen hier die trauernden Eltern ihre toten Kinder durch Erzählen noch ein mal ins Leben zurück. Die Mauer, die das Land der Leben den vom Land der Toten trennt, über winden sie damit zwar nicht. Aber indem sie bis an den äussersten Rand des Menschenmöglichen gehen, begin nen die Grenzen zwischen hier und dort sich zu verwischen. Leben und Tod «pendeln sich aus» und es entsteht ein «beinah zartes Gleichgewicht», sagt die Frau des Chronisten und ahnt, dass es Zeit wird, die Toten ruhen zu lassen und ins Leben zurückzukehren. «Das Kind ist tot», sagt der Gehende Mann. «Nichts mehr von dir wollen, auch nicht dich selbst», sagt der Chronist. «Und mir bricht es das Herz, mein Augenstern, wenn ich daran denk, dass ich – ist’s möglich?! –, dass ich dafür die Worte fand», sagt der Zentaur. Auch David Grossman hat sie gefunden und mit die ser Poetik der Trauer den Weg zu einer neuen Poetik des Lebens freigelegt. l 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman In Verena Stössingers berührendem Buch geht es um einen Mann, dessen Biografie sich im Dunkeln der Geschichte verliert Auf das Gedächtnis ist kein Verlass Wallimann, Luzern 2012. 189 Seiten, Fr. 29.–. Von Martin Zingg Die Reise ist überfällig, und irgendwann duldet sie keinen Aufschub mehr. Sie führt einen Mann zurück an die Orte seiner Kindheit: Jürgen Ramm hat Jahrgang 1934 und ist geboren in Braunsberg, einer kleinen Stadt an der Ostsee, die heute Braniewo heisst und zu Polen gehört. Er ist aufgewachsen in Orten, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu neuen Ländern geschlagen wurden und inzwischen auch andere Namen tragen. Er hat seine Wurzeln in einer Welt, die längst eine andere geworden ist. Die ostpreussische Gegend hat er seit der Flucht nie mehr gesehen, nun will er auf einer Reise den wenigen Spuren nachgehen, denen er zu trauen wagt. Was er in frühen Jahren erlebt hat, scheint längst geronnen zu einer Handvoll zeit- und ortloser Geschichten. An seine Kindheit und frühe Jugend kann sich Ramm nämlich nur vage erinnern, was auch darum schwer wiegt, weil ihm keine Gegenstände geblieben sind, nur gerade vier Fotografien hat er aus jener Zeit, mehr nicht. Jürgen Ramm und seine Frau Bea sind die zentralen Figuren in Verena Stössingers berührendem Roman «Bäume fliehen nicht». Bei ihrer gemeinsamen Reise zu den Städten, in denen er vor Kriegsende gelebt hat, wird es um vieles gehen, um mehr als nur um Orte, das steht früh schon fest. Denn vieles in Jürgens Biografie hat sich im Dunkel der Geschichte verlaufen. Als er 1945 nach längerer Irrfahrt in Berlin landet, hat er bereits seine Eltern und einen Bruder verloren. Seine Mutter hat er sogar selber bestatten müssen, aber immerhin hat er bis zuletzt bei ihr bleiben können. Von seinem früh verstorbenen Vater hingegen hat er nur ein undeutliches Bild vor Augen, der Vater war ein seltener Gast in der Familie. Geblieben sind drängende Fragen, die niemand beantworten kann. Was hat er gearbeitet, der Vater? Und: wo? Wieso kam er nur am Wochenende nach Hause? War er am Ende gar mitbeteiligt am Krieg? Und: Gibt es Zeugen oder Dokumente, die darüber Aufschluss geben könnten? Vor Ort, unterwegs entlang der Ostsee, wollen sich die ersehnten Klärungen nur zögernd einstellen. Die beiden Reisenden sind im Mietwagen unter- CLAUDE GIGER Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht. Verena Stössinger, geboren 1951 in Luzern, ist ausgebildete Nordistin, Mitinitiantin des Literaturhauses Basel und Schriftstellerin. wegs, aber die Strassen haben inzwischen andere Namen, vieles ist zerstört worden, das Gedächtnis gibt lange Zeit wenig frei. Behutsam bewegt sich das Paar durch das fremde Land, die beiden fragen und hören und sehen sich um, offen für alles, was der vagen Erinnerung helfen könnte. Am ehesten stellen sich Glücksgefühle ein, wenn der alte Jürgen auf kulinarische Spezialitäten stösst, die der junge Jürgen besonders mochte, etwa «Glumse», bröckeligen Quark. Das Essen vermag immer wieder Kindheitsmomente abzurufen. Daneben melden sich unvermittelt Liedfetzen, plötzlich stellen sich kleine, meist randscharfe Bilder ein, aber es schiessen auch manche Fragen hoch. So vieles ist offen und muss wohl offen bleiben. Ein Glück, das die jüngere Frau in ihrem einfühlsamen Pragmatismus diese Offenheit schützt. Auf das Gedächtnis ist bekanntlich kein Verlass, Präzises steht oft neben Vagem, und beides infiziert sich wechselseitig. In ihrer Erzählweise nimmt Verena Stössinger auf raffinierte Weise gerade das Unverlässliche der Erinnerung auf und macht es zu einem tragenden Moment der Handlung. Bis in deren Struktur, in die Sätze hinein bildet die Erzählerin das Instabile ab, und daraus wird eine lebendige und spannende Suchbewegung, die ein Stück weit auch das Gesuchte selber ist. Denn der ältere Jürgen, der die Spuren des Jüngeren sucht, stellt hinter dem eigenen Rücken auch die Frage nach einem sinnvollen Leben. Aus einer Existenz, die über ihre Anfänge nicht genügend wissen kann und darum mit der Lückenhaftigkeit der Biografie zurechtkommen muss, wird hier ein eindrücklicher Lebensroman. l Kriminalroman Die Zürcher Autorin Mitra Devi lässt ihrer Privatdetektivin alte Fälle lösen Spannend wie die TV-Serie «24» Mitra Devi: Der Blutsfeind. Nora Tabanis fünfter Fall. Appenzeller-Verlag, Herisau 2012. 286 S., Fr. 38.–, E-Book 17.90. Von Charlotte Jacquemart Dass Mord und Totschlag Mitra Devi faszinieren, ist bekannt. In ihrem fünften Kriminalroman mit dem Titel «Der Blutsfeind» gelingt es der Zürcher Autorin, aktuelle Tat und Vergangenheit so zu verbinden, dass ungeklärte Fragen der letzten Krimis beantwortet werden. So kommt endlich zu Tage, wer für den gewaltsamen Tod des Vaters der Protagonistin, der Privatdetektivin Nora Tabani, verantwortlich ist. Jahre zuvor war er ermordet worden – eine Tat, die Nora bis heute nicht verarbeitet hat. 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 In «Der Blutsfeind» gerät die leicht chaotisch veranlagte Privatdetektivin vermeintlich zufällig an den Tatort. Aber eben nur vermeintlich: Sie wird aus ganz bestimmten Gründen in die Zürich Credit Bank bestellt, in der sich in der Folge ein Banküberfall abspielt, der übel endet. Nora löst den Fall nicht wirklich, sondern ist Teil des makaberen Geschehens, das sich zwischen sieben Uhr morgens und sieben Uhr abends an nur einem Tage abspielt. Wer die Fernsehserie «24» kennt, weiss, wie unstimmig die Handlungen in einem solch engen Zeitkorsett wirken können. Devi jedoch gelingt der Zeitraffer hervorragend: Nie wirken Szenerie oder Aktionen bemüht. Der Banküberfall in der Mitte Zürichs, mit dramatischer Geiselnahme und sich in die Haare geratenden Gangstern, fesselt selbst abgebrühte Krimi-Leser. Der Sinn des Buchtitels «Blutsfeind» erschliesst sich dabei den Lesern erst auf den letzten Seiten des Krimis. Die Wende, die das Buch zum Schluss nimmt, kommt zwar überraschend und mag auf den ersten Blick etwas konstruiert wirken. Devis gelungene Schreibe jedoch lässt dies in den Hintergrund treten. Auch lässt das Ende von «Der Blutsfeind» der Autorin alle Möglichkeiten offen für die Zukunft: Sie könnte sich von Nora ein für allemal verabschieden Ω oder der Privatdetektivin einen sechsten Fall bescheren. Auch wenn Mitra Devi an Lesungen in jüngster Zeit ein mögliches Ende von Nora in den Raum stellte, deutet der Epilog eher darauf hin, dass bald ein weiteres Buch folgt. l Roman Im mehrfach ausgezeichneten Debüt von Amy Waldman geht es um den Umgang mit 9/11 Wenn eigene Positionen ins Wanken geraten Amy Waldman: Der amerikanische Architekt. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Walitzek. Schöffling & Co., Frankfurt 2013. 512 Seiten, Fr. 35.50. 2003 wurden beim internationalen Wettbewerb für die 9/11-Gedenkstätte in Manhattan 5000 Entwürfe aus 63 Ländern eingereicht. Ausgewählt wurde «Reflecting Absence» des in Israel geborenen Architekten Michael Arad und des amerikanischen Landschaftsarchitekten Peter Walker: eine riesige baumbepflanzte Fläche mit zwei Wasserbecken an der Stelle der zusammengestürzten Twin Towers. Bäume und Wasser dominieren auch den Entwurf, für den sich die Jury in Amy Waldmans Debütroman «Der amerikanische Architekt» entscheidet, der den Wettbewerb für die Gedenkstätte als Ausgangspunkt nimmt. «Der Garten» ist ein geometrischer Raum mit Wasserkanälen sowie echten und aus den Stahlüberresten der Türme geformten Bäumen. Für alles Weitere weicht Waldman von der jüngsten amerikanischen Geschichte ab. Denn in ihrem vielfach ausgezeichneten Roman gerät der demokratisch gefällte Juryentscheid ins Wanken, als die Identität des Architekten bekannt wird: Mohammad Khan, kurz Mo genannt, Sohn indischer Eltern, in den USA aufgewachsen, ein attraktiver Enddreissiger, «ein aufsteigender Stern am Architektenhimmel» – und Muslim, wenn auch kein gläubiger. Der Versuch, den Entwurf unter anderem Namen zu veröffentlichen, scheitert, als die brisante Information versehentlich an die Presse gelangt. Ambitiöse Reporterin Sofort instrumentalisieren verschiedene Gruppen und Individuen die Situation für ihre eigenen Anliegen: Die Gouverneurin nutzt die Popularität islamfeindlicher Argumente für ihren Wahlkampf. Die ambitiöse Reporterin kennt keine Skrupel in ihrer Jagd auf eine explosive Exklusivstory. Die AngehörigenVertreterin in der Jury, die für den Garten gekämpft hatte, gerät unter Beschuss von Angehörigen, die in einer unguten Koalition mit der extremistischen Organisation «Save America from Islam» gegen eine von einem Muslim entworfene Gedenkstätte kämpfen. Die einen finden, «der Mohammedaner» sei per definitionem ungeeignet. Die anderen projizieren ihre Bedenken gegenüber der Person auf den Entwurf, indem sie den Garten – vom Historiker in der Jury als «Fetisch der europäischen Aristokratie» bezeichnet – als islamische Tradition und «Märtyrerpara- GÜNTER GOLLNICK / OKAPIA Von Simone von Büren Darf ein Muslim den Ground Zero (im Bild) gestalten? Um diese Frage kreist das Buch der «New York Times»-Journalistin Amy Waldman. dies» auslegen, mit dem man islamistischen Extremisten signalisieren würde, sie hätten gewonnen. Politische und persönliche Beweggründe vermischen sich, Haltungen verfestigen sich, Prinzipien geraten ins Wanken, Anwälte kommen ins Spiel. Die Situation eskaliert: Es gibt abgerissene Kopftücher, Drohungen, Demonstrationen, eine öffentliche Anhörung, einen Mord. Wie ein «Kind in einem Sorgerechtsstreit oder wie die Falkland-Inseln» kann es Mo nicht allen recht machen. Man wirft ihm vor, den Wettbewerb als Karriereschritt zu nutzen, und unterstellt ihm «einen verdeckten Versuch der Islamisierung». Man beschuldigt ihn, Amerika zu spalten, und erwartet, dass er für dessen Prinzip einsteht, dass «allein die Leistung zählt und nicht Namen, Religion oder Herkunft». Irritiert erkennt er, dass sein Bemühen, nicht wie ein Verbrecher zu wirken, dazu führt, «dass er sich wie einer verhielt, sich wie einer fühlte». Er weigert sich in der Folge, seinen Entwurf zu erklären, lässt sich einen Bart wachsen, rasiert sich wieder und fastet zum ersten Mal in seinem Leben, ohne genau zu wissen, wieso. Amy Waldman hat als Reporterin der «New York Times» über 9/11 und dessen Folgen berichtet. Sie kennt ihr Material ausgezeichnet und legt das breite Spektrum der Argumente und Dilemmata in intellektueller Schärfe offen. Sie spiegelt die kollektive Verunsicherung anhand individueller Schicksale und bleibt dabei nahe an der Realität – abgesehen von der amüsanten Karikierung von Reportern der Klatschpresse und rechts- politischen Aktivisten. Ihre Figuren entfalten sich weniger in der Beschreibung von Befindlichkeiten und narrativen Konstrukten – es gibt einige unglaubwürdige Affären – als in den lebendigen Dialogen, die die unterschiedlichen Haltungen in schnörkelloser Sprache auf den Punkt bringen. Wer sich wem unterwirft Geschickt nutzt die 43-jährige Autorin eine konkrete fiktive Situation, um Konflikte und Themen freizulegen, die unsere Gesellschaft verunsichern und die dem Leser vertraut sind. Der Roman wirft komplexe Fragen auf über das westliche Verhältnis zum Islam, über den Status der Muslime nach 9/11. Aber auch über kollektives und individuelles Trauern, privates und öffentliches Erinnern. Ist der Trauernde moralisch überlegen? Wie kann ein kollektiver Verlust erinnert werden? Wer hat welche Ansprüche an dieses Gedenken? Wer schlägt Nutzen daraus? Das Aufräumen der Geschichte im Epilog maskiert geschickt eine bleibende Unsicherheit. Auf Letztere weist auch der Originaltitel «The Submission» hin: «Submission» bedeutet sowohl «Eingabe» für einen Wettbewerb wie «Unterwerfung» und spielt zudem an auf die Etymologie des arabischen Wortes «Muslim» als «der sich Gott unterwirft». Wer sich wem unterwirft, bleibt als grosse Frage am Ende des Romans stehen. Und die eigene liberale Position, aus der man als Leser bestens unterhalten die Turbulenzen im Text verfolgt hat, gerät unter Umständen doch noch ein wenig ins Wanken. l 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Andrej Bitow treibt mit seinen Lesern ein raffiniertes Spiel. Beim Lesen schwankt man zwischen Frustration und Vergnügen Nichtschreiben darf man alles Decodierungsbemühungen vom AutorÜbersetzer ignoriert, wenn nicht sabotiert werden. Lauter lose Enden, die sich nicht zu einem Ganzen fügen lassen. Was machen wir, zum Beispiel, mit der Insel-Episode? Vanoski strandet auf einer Insel, die sich, wie es in Mythen vorkommen kann, als Rücken eines Wals entpuppt – wenn dieser auch in den vergangenen fünfzig Jahren kein einziges Mal abgetaucht sei; ausserdem ist von Tsunamis die Rede. Zwei weibliche Wesen hausen auf dieser einsamen Insel, Lili und Marleen, sie entpuppen sich als Zwillingsschwestern, und in beide verliebt sich Vanoski, obwohl eine von ihnen ein Hund ist, normalerweise angekettet im Keller. Dann wieder heisst es, die beiden seien ein einziges Wesen, doch keineswegs eines namens Lili Marleen, denn: «Das ist ein Lied, kein Mensch», so die empörte Lili. Der gebildete Leser mag an Odysseus auf Ogygia bei der Nymphe Kalypso denken, doch was bringt’s? Liegt es in der Verantwortung des Lesers, Sinn zu finden, oder in der Verantwortung des Autors, Sinn zu stiften? Haben wir es mit blossem l’art pour l’art zu tun, oder gibt es Nachrichten zu entschlüsseln, über das Leben und die Liebe, an der Vanoski auf so viele Arten scheitert? Andrej Bitow: Der Symmetrielehrer. Ein Echoroman. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Suhrkamp, Berlin 2012. 333 Seiten, Fr. 36.90. Von Sieglinde Geisel Dickicht von Bezügen Eine literarische Anspielung jagt die andere in diesem «Echoroman». So verdankt etwa der «Tristram-Club» dem «Tristram Shandy» von Laurence Sterne seinen Namen, diesem Urroman der ausschweifenden Abschweifung; das abgründig ironische Kapitel «Die posthumen Papiere des Tristram-Clubs» (oder «The Inevitability of the Unwritten») handelt von scheiternden Schriftstellern und somit nicht vom Schreiben, sondern vom Nichtschreiben: «Nichtschreiben darf man alles, was man möchte. Schreiben darf man nur, was gelingt», so zwei der Regeln der Satzungen dieses Clubs, der sich schliesslich in 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 Brillante Formulierungen BEAT SCHWEIZER Was heisst lesen, was heisst verstehen? Beim Versuch der Lektüre von Andrej Bitows Roman «Der Symmetrielehrer» kann man an solchen Fragen verzweifeln. Der Autor gibt sich als Übersetzer eines verschollenen Romans mit dem Titel «The Symmetry Teacher» aus. Bereits «in vorschriftstellerischen Jugendjahren», so Bitow in der Vorbemerkung, habe er diesen Text «aus dem Ausländischen» ins Russische übersetzt, wobei er längst nicht alles verstanden habe; die Übersetzung sei verloren gegangen, doch Jahre später habe sich dieses vergessene Buch wieder seiner Phantasie bemächtigt, so dass er aufgeschrieben habe, an was er sich erinnerte. «Zurückverfolgen lässt sich nun kaum mehr etwas», so das Fazit dieser (traditionsreichen) literarischen Verdunkelungsstrategie. In «Anm. d. Ü.» wendet sich der Übersetzer-Autor gerne direkt an den Leser, bisweilen tut das auch die Übersetzerin aus dem Russischen, Rosemarie Tietze. Unmöglich zu sagen, worum es in diesem Buch geht. In seinem «Vorwort des Übersetzers» gibt uns Bitow Einblick in eine ausgetüftelte Konstruktion aus Symmetrien, Zeitebenen und Paradoxien, samt entsprechenden Tabellen. Und in der Tat: Spiegeleffekte finden sich sowohl auf der Ebene der Figuren wie der einzelnen Sätze. So erweist sich etwa der Ich-Erzähler Urbino Vanoski («ein englischer Dichter von gemischt polnisch-holländisch-japanischer Herkunft») als Autor und Romanfigur zugleich. Man stösst auf symmetrisch formulierte Meta-Sentenzen wie: «Verstehen Sie, Leben ist Text. (…) Aber auch Text ist Leben!», oder: «Was zuerst da war, weiss ich nicht. Ob die Romanidee die Ereignisse modellierte oder die Ereignisse die Romanidee vorantrieben.» Der russische Autor Andrej Bitow, 75, hier im Juli 2009 am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. «Verein zum Schutz literarischer Helden vor ihren Autoren» umbenennt. Es brauche Leser, «die sich unerschrocken ins akustische Spiegelkabinett» dieses Romans hineinwagen, heisst es im Verlagstext. Denn so brillant, ironisch und vielstimmig die einzelnen Novellen, Dialogszenen und Miniatur-Essays mitunter sind – über weite Strecken hinweg müht sich der «unerschrockene Leser» (Kommentar des Verlags) vergeblich, aus dem Dickicht der Bezüge klug zu werden. Denn natürlich ist die vermeintlich raffinierte Konstruktion nur ein Spiel, und zwar eins auf Kosten des Lesers, dessen Entzifferungs- und Beides dürfte der Fall sein, und deshalb ist die Lektüre ein Wechselbad zwischen Frustration und luzidem Vergnügen. Vanoski verzweifelt angesichts der «schwindelerregend unverständlichen» auf Englisch radegebrechten Erzählungen eines Russen, der Anton heisst – wie Tschechow, natürlich! – und der bei der Südpol-Expedition von Robert Scott die Ponys betreut haben soll. Vergnügen bereiten anderseits Sätze wie: «The more we live – / The more we leave. / The more we choose – / The more we loose.» Manches gelingt phänomenal, und manches entgleitet dem Autor, denn was wir in den Händen halten, ist ein work in progress. Seit den frühen siebziger Jahren, so erfährt man in der editorischen Notiz, habe Andrej Bitow an dem Text gearbeitet – im Grunde schreibe er sein ganzes Leben an einem einzigen Roman. Zu den Sujets dieses Lebensromans, der zugleich alle Sujets verfolgt und keines, gehört das Verhältnis von Leben und Schreiben. «Sie wüssten gern, wie alles in Wirklichkeit war?», fragt Urbino Vanoski den Reporter am Ende seines Lebens und am Anfang des Buchs. «Ich erinnere mich aber nicht, was ich geschrieben habe und was gelebt.» Wenn wir das Leben deuten, sind wir gleichzeitig Autor und Figur. Wir erkennen Sinn, wo keiner ist, und oft sind wir blind für Zusammenhänge, die in unserem Leben wirksam sind. Doch will man Bücher lesen wie das Leben? l Betrachtungen Zu seinem 70. Geburtstag schreibt Wilhelm Genazino ein Buch über Frankfurt Chronist des deutschen Alltags Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. Hanser, München 2013. 139 Seiten, Fr. 23.90. Von Sandra Leis «Als die Post noch Deutsche Bundespost hiess und keine Gewinne machen musste», schreibt Wilhelm Genazino in seinem neuen Buch, «gab es in den Stadtteilen schöne, grosse und – im Winter – auch geheizte Schalterhallen.» Bis zu ihrer Privatisierung hatte die Post eine «Tendenz zur Gemeinnützigkeit»: Mütter machten ihre Säuglinge frisch, Rentnerinnen verzehrten ihre mitgebrachten Brote und alte Herren kontrollierten ihre Brieftaschen. Heute sind die grossen Posthallen weitgehend verschwunden – die Post ist zur Untermiete. Man könne nicht sagen, dass die Post ihre Aufgaben vernachlässige, so Genazino, es gehe alles seinen Gang wie früher. «Nur: Beeindruckt ist von dieser Post niemand mehr.» Wilhelm Genazino nimmt in seinen Romanen und Essays wie früher auch in seinen Hörspielen und Sketches das Unscheinbare und Alltägliche in den Blick; er fahndet nicht nach dem Spektakulären, sondern nach dem Zeittypischen. Den literarischen Durchbruch schaffte er mit seiner Romantrilogie «Abschaffel» (1977), «Die Vernichtung der Sorgen» (1978) und «Falsche Jahre» (1979) über das Leben des Büroangestellten Abschaffel: Diesem wird sein Beruf fremd, und in der sogenannten Freizeit weiss er je länger, desto weniger etwas mit sich anzufangen. Allmählich kommt er sich abhanden, und Genazino beschreibt diese Entwicklung nüchtern und genau. Seit vielen Jahren lebt der Autor in Frankfurt am Main, wo er einst als Redaktor der Satirezeitschrift «Pardon» anheuerte. In der Stadt, die sich zum einen in ihrer «hausbackenen EppelwoiSeligkeit» gefällt und zum anderen als «Mainhattan» gelten will, ist Wilhelm Genazino daheim. Und so macht er Frankfurt regelmässig zum Schauplatz seiner Bücher. Auch in «Tarzan am Main», seinem jüngsten Band, der zum 70. Geburtstag des Autors erschienen ist. In seinen Betrachtungen schreibt Genazino detailliert und trotzdem immer kurz und bündig über Supermärkte und Kleinmarkthallen, über den Bahnhof und die UBahn, über Pendler und Ausländer, Verwahrloste und Bettler und über Trinker, die diskret ihre leeren Flaschen entsorgen und den Nachschub verschämt im Rucksack verstauen. Er schreibt über den «Verdruss der Enge» und über die oft lieblose Architektur seiner Stadt, die nach dem Krieg möglichst schnell wieder aufgebaut werden musste. In seinen Prosaminiaturen zu Frankfurt versammelt Genazino kleine Beobachtungen, Gedanken und Erinnerungen. In kurzen, präzisen Betrachtungen reflektiert er Gegenwart und Vergangenheit und ist, was er immer ist: ein Chronist des deutschen Alltags. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aufgemotzt und irreführend wirken deshalb Sätze aus der Werbeabteilung des Hanser-Verlags, gemäss denen das gewöhnliche Deutschland «exotischer» sei «als die Ferne, die inzwischen jeder kennt». «Tarzan am Main» ist nicht nur ein Buch über Frankfurt, es ist genauso ein Buch über Genazino selbst – über seine kleinbürgerliche Herkunft, über seine Angst vor dem nächsten Buch und über die Frage, ob ein sinnvoll abgeschlossenes Ende eines Schriftstellerlebens überhaupt möglich ist. In einem Kapitel beschreibt er, wie ihn zwei Herren vom Deutschen Literaturarchiv besuchen, um seinen Vorlass zu inspizieren. In mehr als dreissig Ordnern hat Genazino Entwürfe, Vorstufen und Kapitelskizzen zu kommenden Romanen aufbewahrt. Er schreibt: «Die Aufzeichnungen sind oft nur deshalb entstanden, weil ich meiner inneren Mutlosigkeit irgendetwas entgegenhalten musste. Ohne diese Vor-Notizen wären die ‹eigentlichen› Werke nie entstanden.» Das wäre furchtbar für einen, der bereits mit 14 wusste, dass er Schriftsteller werden wollte und sonst nichts. Sein Glück steckt in der Arbeit. Genauer: Der Augenblick des Glücks ist der «Augenblick der Verwandlung» – in einen, der bald schreiben wird. l Malerei Von der Unmöglichkeit, sich ein Bild zu machen Die Sonne scheint zwischen kahlen Bäumen hindurch. Zwei Pferde warten darauf, dass die Männer ihnen den Befehl geben, einen Stamm wegzuziehen. Eine winterliche Szene aus einer anderen Zeit. Uwe Wittwer, der 1954 in Zürich geborene Künstler, hat nach einer Fotografie gemalt. Er sammelt historische Aufnahmen. Viele von ihnen findet er im Internet. Ein Konvolut wurde in Ostpreussen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gemacht. Die Familie seines Vaters stammt aus der Gegend zwischen Berlin und dem alten Königsberg. Die biografische Assoziation ist für Wittwer allerdings nicht entscheidend. Er schätzt historische Vorlagen – gerne dürfen es auch Gemälde berühmter Vorgänger sein –, weil er mit ihnen leichter austesten kann, wie ein Bild funktioniert. Wie es sich verändert, wenn man Lichtpunkte und Schatten setzt. Und vor allem wie ein Bild verblasst, so dass es eher dem Versinken als dem Wecken einer Erinnerung gleicht. Denn Wittwer ist der Maler des zerbrechlichen Gedächtnisses. Er führt uns die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit vor, sich ein Bild zu machen. Gerhard Mack Juerg Judin u. a. (Hrsg.): Uwe Wittwer – Paintings. Hatje Cantz, Ostfildern 2012. 208 Seiten, Fr. 69.90. 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Im Buch des Kongolesen Alain Mabanckou wird eine Bar in Brazzaville zur Bühne der Welt Schluss mit all den Afro-Klischees! Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind, München 2013. 224 Seiten, Fr. 27.50. Afrikanische Literatur hat hierzulande einen schweren Stand. Die Begeisterung für «Dritte Welt»-Literatur ist verflogen. Kommt hinzu, dass auch die Situation in Afrika selbst für Schriftsteller desolat ist. In einer Zehn-MillionenStadt wie Kinshasa gibt es inzwischen keinen einzigen Buchverlag mehr. Die meisten der zeitgenössischen Autoren schreiben aus dem Exil, in ihren Texten geht es nicht mehr um «Authentizität», um Palmwein, Strohhütten, Urwald, Löwen und Trommeln, sondern um Migration, Modernisierung, Subkulturen, Rassismus und hybride Identitäten. Im Allgemeinen wollen sie nicht als «Afrikaner» etikettiert und schubladisiert, sondern einfach als Schriftsteller und Individuen ernstgenommen werden. Tatsächlich: Schafft es heute ein solcher Autor in einen deutschsprachigen Verlag, dann nicht dank, sondern eher trotz der Tatsache, dass er aus Afrika kommt. Auch die Biografie und das Werk von Alain Mabanckou stehen im Zeichen der Globalisierung. 1966 in der Republik Kongo geboren, ging er zum Jurastudium nach Paris. Im Folgenden war er zehn Jahre lang als Berater in einem französischen Wirtschaftskonzern tätig und veröffentlichte die Romane «African Psycho», «Black Bazar» und «Stachelschweins Memoiren». Letztes Jahr wurde er von der Académie française für sein Gesamtwerk mit dem Grand Prix de Littérature ausgezeichnet. Heute lebt Mabanckou in Santa Monica und unterrichtet an der University of California in Los Angeles. Den Spiegel vorgehalten Seinen Roman «Zerbrochenes Glas» könnte man nach den ersten paar Seiten leicht unterschätzen. Da schwatzt ein Mann namens «Zerbrochenes Glas», Stammgast in der Bar «Angeschrieben wird nicht» in Brazzaville, drauflos, ohne Punkt und Absatz, unzensiert, wild, vulgär. Hellhörig wird man spätestens bei der Stelle, wo es heisst: «Der Wirt des ‹Angeschrieben wird nicht› kann Binsenwahrheiten von der Art ‹Wenn in Afrika ein Greis stirbt, verbrennt eine Bibliothek› nicht leiden, und wenn er dieses ausgelatschte Klischee hört, wird er mehr als sauer und schiesst sofort zurück: ‹Hängt doch ganz davon ab, welcher Greis, also hört auf mit dem Stuss›.» Offensichtlich geht es nicht mehr um eine Ehrenrettung des afrika10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 HECTOR MEDIAVILLA / POLARIS / DUKAS Von David Signer Bar in Brazzaville, Kongo, wie sie im neuen Roman von Alain Mabanckou als Schauplatz auftaucht. nischen Erbes wie seinerzeit beim malischen Schriftsteller Hampâté Bâ, von dem das Greis-Diktum stammt, sondern darum, den Leuten in Brazzaville schonungslos den Spiegel vorzuhalten. Nach und nach werden die Bargäste vorgestellt. Da ist der «Pampers-Typ», der wegen seiner Inkontinenz Windeln tragen muss, von seiner Frau mit dem Priester betrogen, um Haus und Habe gebracht und schliesslich sogar ins Gefängnis abgeschoben wurde. Oder der «Drucker», der es bis nach Paris schaffte, eine Französin heiratete, einen guten Job ergatterte, seinen unehelichen Sohn zu sich holte, der dann jedoch eine Liaison mit seiner Stiefmutter begann, was den armen «Drucker» ins Irrenhaus brachte, von wo aus er schliesslich in seine Heimat verfrachtet wurde. Eher als an Bâ erinnert Mabanckou hier an Céline, und wohl nicht zufällig trägt die Ehefrau des «Druckers» den Namen des berühmt-berüchtigten Autors. Jedes Porträt in «Zerbrochenes Glas» ist eine kleine Reise ans Ende der Nacht. Allerdings ändert sich die Perspektive in der zweiten Hälfte des Buches. Stellte sich der Ich-Erzähler anfangs noch als getreuer und relativ nüchterner Chronist des Treibens dar, erzählt er nun von seinen eigenen Odysseen in den Bars und Bordellen des Rotlichtviertels Rex, und je mehr er sich als armes Opfer seiner bösen Ehefrau darstellt, umso mehr ahnen wir, dass er als objektiver Berichterstatter vielleicht doch nicht über alle Zweifel erhaben ist. So erscheinen auf einmal auch die Schicksale im ersten Teil des Buches in einem anderen Licht. Spätestens bei diesen Passagen wird klar, was für ein raffinierter Autor Mabanckou ist, trotz seines schnoddrigen Erzählstils. Am Ende des Buches, wenn man weiss, wer da eigentlich spricht, hätte man Lust, nochmals von vorne zu beginnen. Man würde die Schilderungen dann nämlich ganz anders lesen, in Hinblick darauf, was verdreht oder verschwiegen wird. Hinreissende Schwadroneure In einer selbstironischen Wendung gerät das Notizheft des Ich-Erzählers kurz vor dessen Selbstmord dem Wirt in die Hände. Er findet, die Geschichten seien unlesbar: «Das ist nicht normal, du musst das ein bisschen ins Reine bringen… du musst noch einmal von vorne anfangen.» Das kann er nicht. «Hat man schon einmal gesehen, dass jemand ein zerbrochenes Glas wieder reparieren konnte?», fragt er. Zum Glück hat er das Buch nicht «ins Reine gebracht». Dessen Faszination besteht gerade in den Ungereimtheiten und «Fehlern». Und so berührend all die tragikomischen Geschichten sind, wird man doch auch an Mabanckous kontroversen Essay «Le sanglot de l’homme noir» erinnert, in dem er sich über die «Wir armen Opfer»-Jeremiaden vieler Afrikaner mokiert. Die hinreissenden Schwadroneure aus der «Angeschrieben wird nicht»-Bar würden dort gut als anschauliche Exempel hineinpassen. l Kurzkritiken Belletristik Johann Nestroy: Historisch-kritische Ausgabe. Ergänzungen. Deuticke, Wien 2012. 652 Seiten, Fr. 89.90. Katherine Mansfield: In einer deutschen Pension. Erzählungen. Illustriert von Joe Villion. Büchergilde, 2012. 276 S., Fr. 35.40. Dass der Ergänzungsband einer historisch-kritischen Ausgabe dem allgemeinen Publikum zur Lektüre empfohlen wird, bedarf der Erklärung. Hier ist sie: Der Wiener Johann Nestroy ist, Grillparzer hin, Hebbel her, der bedeutendste deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts nach Goethe, Schiller, Kleist und Büchner. Ein Komiker von Shakespeare’schem Format. Deshalb ist er in einer gründlichen, wenngleich hässlichen Gesamtausgabe gewürdigt worden. Nun ist jedoch etwas eingetreten, das der Albtraum aller Editoren, aber der Traum der geneigten Leser ist. Just als die emsigen Germanisten ihre Arbeit für abgeschlossen hielten, sind entscheidende neue Manuskripte aufgetaucht: jene der Dramen «Der Weltuntergang» und «Die schlimmen Buben in der Schule». Sie erscheinen hier erstmals in authentischer Gestalt. Lustigeres kann man schwerlich lesen. Manfred Papst Die gebürtige Neuseeländerin Katherine Mansfield, die vor 90 Jahren erst 34-jährig an Tuberkulose starb, gehört zu den Wegbereiterinnen der modernen englischen Shortstory: Kühl und knapp sind ihre Geschichten. In Anbetracht der Überschaubarkeit ihres Werks von 73 Storys ist Mansfield eine erstaunlich kontinuierlich rezipierte Autorin. Erst letztes Jahr hat der Diogenes-Verlag sämtliche Erzählungen neu aufgelegt, in Elisabeth Schnacks Übersetzung von 1980. Von diesen gibt die Edition Büchergilde jene 13 heraus, mit denen die Autorin 1909 debütierte. Die deutsche Künstlerin Joe Villion, eine Schülerin Henning Wagenbreths, hat sie illustriert: in Konfekt-Farben und mit ArtDéco-Anleihen. Bei Diogenes bekommt man für den doppelten Preis zwar fast sechsmal so viele Texte, aber Villions Bilder machen die Büchergilde-Ausgabe zum zigfach schöneren Geschenk. Regula Freuler Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien. Frankfurter Verlags-Anstalt, Frankfurt a. M. 2013. 256 Seiten, Fr. 28.40. Robert Gernhardt: Hinter der Kurve. Reisen 1978–2005. S. Fischer, Frankfurt 2012. 302 Seiten, mit Abbildungen, Fr. 29.90. Ist nicht allein der Titel ein Versprechen? «Techno»: laut und durchdringend. «Jaguare»: gefährlich und geschmeidig. Wir lesen hier vier Erzählungen, einen Auszug aus einer Erzählung, einen aus einem Roman – der diesem Sammelband den Titel lieh – sowie ein Theaterstück. In den Texten der sieben georgischen Autorinnen, Jahrgänge zwischen 1964 und 1983, finden wir zwar jenen rauen Exotismus, den wir spontan mit dem Land am Schwarzen Meer verbinden: Kriege, patriarchalische Strukturen. Doch dann erleben die Protagonistinnen auch ganz ähnliche Dramen wie wir; oder es geht um die Ausgrenzung von Behinderten. Was «Techno der Jaguare» zu einer Bereicherung unserer angelsächsisch dominierten Lektüre macht, ist mitunter das Suchende, Fordernde im Ton. Auf jeden Fall möchte man mehr aus dieser Fremde lesen. Regula Freuler Sechs Jahre sind es nun schon her, seit uns der grosse Lyriker, Erzähler und Essayist, Maler und Zeichner Robert Gernhardt (1937–2006) abhandengekommen ist. Er fehlt uns nach wie vor. Immerhin erreichen uns mit schöner Regelmässigkeit Publikationen aus seinem Nachlass. Deren jüngste ist ein von Kristina MaidtZinke herausgegebener Band mit Erzählungen, Zeichnungen und Essays von Reisen, wie sie sich in grosser Zahl in Gernhardts «Brunnen-Heften» – 675 Notiz- und Zeichenheften der Marke «Brunnen» – befinden. Die Sammlung «Hinter der Kurve» vereint Texte zu Estland, Österreich, der Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, England, Kanada, den USA, Brasilien, Indonesien, Thailand, Südafrika, Botswana. Gerade in ihrer pointierten Skizzenhaftigkeit, in der unverstellten Neugier des Autors erweist sich ihr besonderer Reiz. Manfred Papst E-Krimi des Monats Die Fahnder austricksen Keigo Higashino: Verdächtige Geliebte. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 320 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 18.90. Die alleinerziehende Mutter Yasuko Hanaoka lebt mit ihrer Tochter in Tokio ein unauffälliges Leben. Bis eines Tages ihr Ex-Mann vor der Wohnungstür steht. Er will Geld. Er will Yasuko zurück. Er belästigt ihre Tochter. Diese schlägt zu, mit der Vase, auf seinen Kopf. Der Ex-Mann stürzt sich auf die Tochter, ausser sich vor Wut. Yasuko schlingt ihm ein Kabel um den Hals und zieht zu. Er wehrt sich heftig. Die Tochter hilft ihrer Mutter. Und plötzlich rührt er sich nicht mehr, liegt regungslos da, tot, mitten in Yasukos Wohnung. Und nun, was tun? Sich stellen – und riskieren, dass auch die Tochter nicht unbehelligt davonkommt? In diesem Moment klingelt das Telefon. Der Nachbar Ishigami ist am Apparat. «Frau Hanaoko, es ist sehr schwer, eine menschliche Leiche verschwinden zu lassen», sagt er. «Eine Frau schafft das nicht alleine. Wie wäre es, wenn ich zu ihnen rüberkäme?» All dies ereignet sich auf den ersten dreissig Seiten des Romans «Verdächtige Geliebte» des japanischen Autors Keigo Higashino. Von Beginn weg ist klar, wer die Täterin ist. Und es scheint klar, um welches Delikt es geht. Auch wenn am Schluss dann einiges ganz anders kommt. Nachbar Ishigami, der Yasuko heimlich liebt, ist ein Mathe-Genie und ein Experte des logischen Denkens. Sein Ziel: Den Totschlag nachträglich so darzustellen, dass Yasuko nicht als Täterin überführt werden kann, weil sie über ein nahezu perfektes Alibi verfügt. Er lässt die Polizei Spuren finden, die in Wirklichkeit keine sind. Er macht sich die Blindheit zunutze, die durch vorgefasste Überzeugungen entsteht. Er trickst die Fahnder auf dieselbe Weise aus wie seine Studenten, die er glauben lässt, sie müssten eine geometrische Aufgabe lösen, dabei geht es um Algebra. Der Plan könnte gelingen. Wäre sein Widersacher, ein Helfer der Polizei, nicht ein ehemaliger Studienkollege mit fast ebenso hellem Kopf. Dieser stellt Ishigami die Frage: «Was ist schwieriger, ein unlösbares Problem zu schaffen oder es zu lösen?» Nicht nur der Buchtitel, auch Keigo Higashinos schnörkelloser Stil erinnert an seinen weit bekannteren Landsmann Haruki Murakami. Was ausschliesslich als Kompliment zu verstehen ist. Higashino erzählt eine aussergewöhnliche Kriminalgeschichte: spannend und überaus intelligent. Von Christine Brand l 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay Übersetzungen von Klassikern boomen. Worin liegt der Reiz, sich jahrelang mit einer Lyrikerin zu beschäftigen? Unter anderem darin, sich der Verführungskraft eines grossartigen Werks auszusetzen, schreibt die Emily-Dickinson-Übersetzerin Gunhild Kübler Endlose Knobeleien Gewagte Bilder Unlustig öffnete ich also das Reclam-Bändchen in der ersten Hälfte, und mein Blick fiel auf ein Gedicht, von dem ich heute weiss, dass es in Dickinsons Werk nicht gerade zu den bedeutenden gehört. «If I should’nt be alive / When the Robins come / Give the one in Red Cravat, / A Memorial crumb», hiess es da in kraftvollen, gereimten Versen. Rechts davon in umständlicher deutscher Prosa: «Wenn ich nicht am Leben sein sollte / Wenn die Drosseln kommen / Gib der einen in roter Krawatte / Einen Erinnerungskrumen.» Ich weiss noch, dass mir diese Vogel-FütterSzene als Ritual des Andenkens an eine verstorbene Freundin sentimental vorkam – so lange, 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 bis ich die zweite und letzte Strophe gelesen hatte: «If I could’nt thank you, / Being fast asleep, / You will know I’m trying / With my Granite lip!» Von seinem Schlussvers her wird der Achtzeiler wie unter Strom gesetzt. Starkes Zooming reisst einen beim Lesen plötzlich unter den Boden, wo die jetzt noch lebendige Freundin einst mit geschlossenen Augen ruhen wird wie eine Statue. Riesig vergrössert erscheint ihr Mund und zeigt sie für immer unerreichbar und radikal verwandelt, nämlich in Granit – aber «Metrum, Rhythmus und Reim bringen den Text im Original in ein weiches Wiegen und Ziehen, laden ihn auf mit Leiden und mit Leidenschaft.» trotzdem noch der angeredeten Person liebevoll zugetan. Anders ist nicht zu erklären, dass sie auch noch als Tote versucht, mit ihr zu reden. Der kleine, von seinem Ende her herzzerreissende Text inszeniert prägnant die brutale Endgültigkeit des Tods und zugleich den hinfälligen Versuch eines Einspruchs der Liebe. Gleich darauf las ich mich fest an einem Liebesgedicht. Darin gesteht eine Frau, dass sie alle beneidet, die an ihrer Statt mit dem abgereisten Geliebten zusammen sein dürfen: das Meer, auf dem er fortsegelt, die Räder seines Wagens, die ihm nachblickende Landschaft, Spatzen auf seinem Dach, Fliegen am Fenster, zuletzt sogar das pure Tageslicht um ihn herum und ganz besonders die Mittagsglocken. Sie selbst wolle ihm Mittag sein, heisst es mysteriös. Ein gewagtes Bild. Wer genauer hinsieht, erkennt weit mehr als die beiden mittags aufeinanderliegenden Zeiger einer Turmuhr. Im Original beginnt das Ganze so: «I envy Seas, whereon He rides – / I envy Spokes of Wheels / Of Chariots, that Him convey – I envy Crooked Hills // That gaze opon His journey – / How easy All can see / What is forbidden utterly / As Heaven – unto me!» Und so weiter über sechs Strophen hin. Metrum, Rhythmus und Reim bringen den Text im Original in ein weiches Wiegen und Ziehen, laden ihn auf mit Leiden und Leidenschaft. Die deutsche Version jedoch bleibt bei Prosa und beginnt mit einem unfreiwilligen Witz: «Ich beneide das Meer, auf dem er schifft.» Ihre Stimme zum Leuchten bringen Trotzdem hat die Lektüre dieses Reclam-Bändchens – feierlich gesagt – mein Leben verändert. Nicht nur wegen meiner Freude am Original, sondern sicher auch weil die Übersetzung so unbefriedigend war. Hätte ich damals gleich das Bändchen von Lola Gruenthal in der Hand gehabt, die mit viel Sinn für den Klang deutscher Verse circa hundert Gedichte übersetzt hat, oder die Ausgabe von Werner von Koppenfels, der mehr als dreihundert Gedichte vorlegte – wer weiss, ob ich selber hätte in Aktion treten wollen. So aber drängte es mich, meine Begeisterung produktiv zu machen, das heisst, diese Dichterin und ihre Zeit so gründlich wie nur möglich kennenzulernen und gleichzeitig auszuprobieren, ob sich das, was diese wunderbare Geistesstimme aus der Vergangenheit einst zum Ausdruck gebracht hatte, auf Deutsch mit ähnlicher Leuchtkraft würde sagen lassen. Mehrere Schulhefte füllten sich nun mit meinen metrisch strengen und gereimten Versionen des Reclam-Bändchens: «Ich neid dem Meer, dass es Ihn trägt – / Beneid des Rades Speichen / An Wagen, die ihn fahren – / Beneid die Hügelreiche // Landschaft die Seine Reise sieht – / Wie leicht fällt jeder Blick / Auf das was ganz verborgen ist – / Für mich – wie Himmelsglück!» und so weiter. Zur gleichen Zeit erschien bei Harvard Press eine neue dreibändige Dickinson-Ausgabe. Es war die erste, die auf Grund der Originalhandschriften eine Chronologie ihrer Lyrik fest- ▼ Am Anfang war die Freude am Original: ein verblüfftes Aufhorchen, dann Begeisterung, eine Art Erhebung – oder, um es mit dem Titel eines Gedichtbands von Niklaus Meienberg zu sagen: «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge». Wobei das Hochgebirge in meinem Fall ein orangerotes Reclam-Bändchen mit etwas über hundert Gedichten der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830–1886) war. Bald fünfzehn Jahre ist das nun her. Einer der Freunde in einem Lesezirkel, dem ich seit Jahrzehnten angehöre, hatte vorgeschlagen, Emily Dickinsons Lyrik auf unser monatliches Lektüreprogramm zu setzen. Auf diese Idee wäre ich selbst nie gekommen. Während meines Anglistikstudiums hatte ich nichts von dieser Dichterin gehört, was damit zusammenhängen mag, dass sie zu Lebzeiten von den rund 1800 Gedichten ihres Gesamtwerks nur 10 anonym veröffentlicht hat und die spätere Edition ihrer Lyrik mehr als ein halbes Jahrhundert lang von Familienfehden behindert war. Auch fand ihre feministische Entdeckung erst statt, als ich schon nicht mehr an der Universität war. Und zudem war mit den Jahren mein früher intensives Interesse an Lyrik abgekühlt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch einmal aufflammen würde. Emily Dickinson SUSAN PEASE / ALAMY Links: Die einzige heute noch existierende Fotografie von Emily Dickinson (um 1847/1848). Unten: Das Haus in Amherst, Massachusetts, wo sie Zeit ihres Lebens wohnte, ist heute ein Museum. Ganz unten: Das Schlafzimmer der Dichterin. JESSICA MESTRE / AP AMHERST COLLEGE ARCHIVES AND SPECIAL COLLECTIONS AND THE EMILY DICKINSON / AP Die amerikanische Schriftstellerin Emily Dickinson (1830–1886) entstammt einer streng puritanischen Familie des College-Städtchens Amherst (Massachusetts), das sie zeitlebens kaum verlassen hat. Sie publizierte zu Lebzeiten nur 10, hinterliess aber rund 1800 Gedichte. Lieferbare deutsche Übersetzungen ihrer Lyrik: • Gertrud Liepe, Reclam, ca. 100 Gedichte. • Lola Gruenthal, Diogenes, ca. 100 Gedichte. • Werner von Koppenfels, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, ca. 300 Gedichte. • Wolfgang Schlenker, Engeler, 51 Gedichte. • Gunhild Kübler, Hanser, ca. 600 Gedichte. Diese 2008 mit dem Paul-Scheerbart-Preis ausgezeichnete Ausgabe gibt es mittlerweile auch als Fischer-Taschenbuch. 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay «Emily Dickinsons Lyrik ist mutig, frei und radikal, verwegen bis zur Blasphemie und mitunter schockierend rückhaltlos in ihrer Selbstenthüllung.» gen im Ohr und setzte sie ein als die zauberischen Suggestionstechniken, die sie von Alters her waren – ein das Denken und Sprechen auf Touren bringendes und seine Logik, Eindringlichkeit und Schlagkraft erhöhendes Instrument. Das sollte in meiner Übersetzung hörbar sein, nahm ich mir vor. Doch genau dagegen leisten Gedichte, eben weil sie Gedichte sind, extremen Widerstand. Schillernd vor Vieldeutigkeiten, spielen sie gleichzeitig auf mehreren Ebenen. Unmöglich, das alles in einer anderen Sprache nachzubilden, noch dazu, wenn der dafür vorgesehene Raum durch Metrum und Reim so streng eingeengt ist wie sonst nie. Das BETH HARPAZ / AP ▼ legte und Schluss machte mit der weit verbreiteten Vorstellung, Dickinson sei eine Dichterin ohne jede Entwicklung. Ich stürzte mich drauf. Es war atemberaubend, zu beobachten, wie sich dieses riesige Werk in seiner ganzen Fülle Zug um Zug entfaltete. Um meinem Verständnis auf die Sprünge zu helfen und mir so etwas wie eine Vertrautheit aus der Ferne anzueignen, las ich mich nebenbei durch ganze Regale von Sekundärliteratur, die ich aus der Zürcher Zentralbibliothek nach Hause schleppte – Biografien, Geschichtsbücher und Stapel von Einzeldarstellungen. Nur die beiden stockfleckigen Bände eines Websters aus dem Jahr 1832 (fast das gleiche Wörterbuch lag bei Emily Dickinson ständig auf dem Tisch) mussten im Lesesaal bleiben. So viel verstand ich, je mehr ich las: Diese Dichterin ist weit mehr als hundert Jahre weit weg von der damals von Frauen ihres puritanischen Milieus geforderten biederen Schicklichkeit. Ihre Lyrik ist mutig, frei und radikal in der Erforschung von Lebens- und Liebesfragen, verwegen bis zur Blasphemie in der Durchleuchtung von Glaubensinhalten und mitunter schockierend rückhaltlos im Ausmass der Selbstenthüllung. Kein Wunder, dass sie ihre Kühnheiten lebenslang unter Verschluss hielt. Unerschütterlich ist dabei ihr Vertrauen in die Bannkraft der poetischen Sprache. Die akustischen Finessen der lyrischen Tradition hatte sie von Kirchenliedern her seit Kinderta- Der Grabstein von Emily Dickinson auf dem Friedhof von Amherst (MA), im Nordosten der USA. kann nicht gutgehen. Jacob Grimm hat es schon vor über 200 Jahren gewusst: «Eine treue Übersetzung eines wahren Gedichts ist unmöglich, sie müsste, um nicht schlechter zu sein, mit dem Original zusammenfallen.» Also lässt man besser die Finger davon? – «Impossibility, like Wine / Exhilirates the Man / Who tastes it» (Unmöglichkeit, wie Wein / Beschwingt den, der sie kostet) – so beginnt eins von Dickinsons Gedichten. Man kann es auf viele Spielarten der Unmöglichkeit beziehen, und natürlich sind die hier Angesprochenen nicht nur Männer. Rechnet man auch die Unmöglichkeit, Dickinsons Lyrik zu übersetzen, dazu, dann redet das Gedicht vom belebenden Bedürfnis, es trotzdem zu tun. Dickinson-Liebhaber in aller Welt Dass es ungeachtet aller Hindernisse gelingen kann, dafür steht kein Geringerer als Paul Celan. Insgesamt zehn Gedichte von Emily Dickinson hat er 1959 und 1963 mit einer umwerfenden Prägnanz übersetzt, die mir bewusst machte, was auf Deutsch möglich ist. Ein Beispiel: Die Verszeile «We slowly drove – He knew no haste» (aus dem Gedicht «Because I could not stop for Death») übersetzt Celan: «Ihm gings auch langsam schnell genug.» Seine Version mit dem Zusammenprall der antithetischen Kontraste genau in der Versmitte gefällt mir noch besser als das Original. Man kann von ihr lernen. Sie zu kopieren, verbietet sich von selbst. Meine Version desselben Verses ist zwar näher am Original, aber weniger brillant: «Gemächlich gings – Ihm eilt es nicht.» Die Ermunterung durch Celans Version war jedoch be- <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MLOwNAIAFsuL9A8AAAA=</wm> <wm>10CFWMKw4CQRAFT9ST9_qXGVqSdZsVBN-GoLm_IoNDlKuq86wY-HE_rufxKAIewplzacWKMd2LSwfDCkpX0G5MVdLtTxdwpcF6KwIVejNFKbQOZtP2oHcMHZ_X-wtsyfiKfwAAAA==</wm> 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 trächtlich. Sie setzte Massstäbe. Dass man Einfallsreichtum trainieren kann wie die Fingerfertigkeit beim Klavierspielen, ist eine alte Übersetzerweisheit. Weit davon entfernt, meine Tätigkeit als Dichten einzuschätzen, sehe ich mich selber als mittlerweile gut trainierte Vermittlerin, respektvoll hingegeben an eine überwältigende Arbeit. Die hat mir mit den Jahren auch ihre elende Seite offenbart, doch will ich hier nicht jammern. Denn klar steht mir vor Augen, was Emily Dickinson mir inzwischen geschenkt hat zusätzlich zu ihrer Lyrik: ergiebige (wenn auch oft nur elektronische) Kontakte mit Dickinson-Liebhabern und -Experten in aller Welt und viele Freunde, die ich mit meiner Freude angesteckt habe. Diese so spät entdeckte Dichterin durchquert inzwischen Zeiten und Räume. Schon vor Jahrzehnten ist eine erste japanische Übersetzung ihrer sämtlichen Gedichte erschienen. Es gibt italienische und französische Gesamtausgaben. Zurzeit entsteht eine Übersetzung ins Chinesische, und in Shanghai wird eine Konferenz vorbereitet zum Thema «Emily Dickinson – a World Poet». Skrupulöser geworden Meine zweisprachige Anthologie mit etwas über 600 Gedichten ist 2006 bei Hanser erschienen, und seit zwei Jahren gibt es davon eine Taschenbuchausgabe bei Fischer. Doch habe ich mit dem Übersetzen nicht aufgehört und arbeite seit Jahren kontinuierlich an der ersten deutschen Ausgabe sämtlicher Gedichte. Es geht langsam voran, nicht nur, weil jetzt auch eine Reihe von fast unlösbar rätselhaften Gedichten auf dem Programm steht, sondern auch, weil ich bei der Arbeit in all den Jahren nicht etwa routinierter, sondern vorsichtiger, skrupulöser geworden bin. Schier endlose Knobeleien verfolgen mich weit jenseits vom Schreibtisch mittlerweile überallhin. Und ich bin glücklich damit. Emily Dickinson hat, seit ich ihr Gesamtwerk in- und auswendig kenne, für mich ein neues Gesicht bekommen. Jetzt sehe ich den tiefen Abdruck der Schrecken des amerikanischen Bürgerkriegs in ihren Gedichten. Noch abgründiger kommt mir nun ihr Reden vom Tod vor, noch intensiver ihre Diesseitsfreude, noch moderner ihre Skepsis in religiösen Dingen und ihre Erforschung der «Keller» unserer Seele. Und manchmal sehe ich aus dem 19. Jahrhundert eine Zeitgenossin auf mich zukommen. Wenn das keine wundersame Erweiterung der Pupillen ist. l Gunhild Kübler übersetzt zurzeit sämtliche 1800 Gedichte von Emily Dickinson. Der Erscheinungstermin ist noch offen. Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Ich war schon als kleiner Junge ein Lügner. Das kam vom Lesen. Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neues Buch «Schweizen – vierundzwanzig Zukünfte» ist soeben im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Thomas Sprecher: Schweizer Monat 1921-2012. Eine Geschichte der Zeitschrift. SMH Verlag, Zürich 2013. 272 Seiten, Fr. 39.–. Toby Lester: Die Symmetrie der Welt. Leonardo und seine berühmteste Zeichnung. Berlin Verlag, Berlin 2012. 287 S., Fr. 37.90. Im Oktober 2012 feierte der «Schweizer Monat» seine 1000. Ausgabe. Nun wirft Thomas Sprecher, Jurist und Germanist, einen Blick auf die wechselvolle Geschichte des Journals, dessen Verlag er präsidiert. 1921 gegründet, geriet das Blatt erst unter frontistisch-deutschfreundlichen Einfluss bis 1934. Im Zweiten Weltkrieg schaffte es die Wende, seither versteht es sich als intellektueller Vorposten des Liberalismus mit stark kultureller Ausrichtung. Zu den Mitarbeitern zählten Persönlichkeiten wie Carl J. Burckhardt, Friedrich August von Hayek, Ludwig Erhard, Herbert Lüthy, Hugo Loetscher und François Bondy. Seit 2008 führt eine freche junge Crew die Publikation zu neuem Erfolg. Auch wenn ein paar Kürzungen der Chronik gut getan hätten, illustriert sie doch lebhaft das Werden einer Zeitschrift, die der Autor Rolf Dobelli heute «das intelligenteste Magazin der Schweiz» nennt. Urs Rauber Der nackte Mann im Kreis und Quadrat ziert heute T-Shirts, Euromünzen und Kaffeetassen. Leonardo da Vinci hat ihn wohl im Jahr 1490 als Selbstporträt gezeichnet. Mit diesem «vitruvianischen Menschen» gelingt dem 38-jährigen Leonardo die Visualisierung einer Theorie, die der römische Architekt Vitruv in Worten dargelegt hatte und die, von der Antike ins mittelalterliche Christentum tradiert, über 2000 Jahre lebendig war: die Idee nämlich, dass der menschliche Körper einen Mikrokosmos darstelle, in dem sich die göttliche Ordnung von Kosmos und Welt im Kleinen darstellt. Wo diese Idee auftaucht (in den Visionen der Hildegard von Bingen etwa, in frühen Weltkarten, in Christus-Darstellungen) und wie nach anderen Architekten-Künstlern der Renaissance gerade Leonardo ihre ideale Darstellung gelang – dies ist das Thema dieses brillanten und wunderbar illustrierten Buches. Kathrin Meier-Rust Ritchie Pogorzelski: Die Traianssäule in Rom. Nünnerich-Asmus, Mainz 2012. 146 Seiten, Fr. 40.90. Christoph Zürcher: Wie ich Kannibalen, die Taliban und die stärksten Frauen überlebte. Orell Füssli 2013. 219 S., Fr. 26.90. Auf dem Forum in Rom steht ganz allein eine fast 40 Meter hohe, innen begehbare Marmorsäule. Auf ihrer Aussenseite windet sich ein 200 Meter langer Fries in die Höhe; wie ein Comicstreifen stellt er den Sieg Kaiser Traians über die Daker dar. Der heutige Besucher vermag die Bilder kaum noch zu erkennen, zumal die ätzende Luft Roms vieles bereits weggefressen hat. Schade, denn die vielen Details geben das lebendige Bild eines Heereszuges ab. 1400 neue Fotos des steinernen Frieses hat der Autor für das Buch aufgenommen, am Computer entzerrt und koloriert, denn auch die Traianssäule war einst farbig bemalt. 2500 Figuren – Legionäre, Offiziere, Pferde, Wagen – bevölkern die Bilder, auch kleinste Details wie Schuhe oder Waffen sind liebevoll dargestellt. Die Handlung wird in einem kurzen Begleittext erläutert. Für Romfans ein Muss! Geneviève Lüscher Eine Expedition zu Menschenfressern. Skirennen in Afghanistan. Auf der Suche nach Bin Laden in Pakistan. Besuch beim Matriarchat in China. Christoph Zürchers grosse Reisereportagen im Gesellschafts-Bund der «NZZ am Sonntag» sind legendär: weil sie polarisieren, vom Publikum entweder als «ignorant» und «despektierlich» verdammt oder als gnadenlos unterhaltender Lesestoff verschlungen werden. Der Autor pflegt einen radikal subjektiven, umwerfend selbstironischen und gleichzeitig gesellschaftskritischen Journalismus. Man kann ihn nur lieben – oder hassen. Auch ich bekenne mich, nach anfänglicher Skepsis, als Fan der blühenden Abenteuergeschichten. Das Buch versammelt 18 von ihnen in geballter Wucht. Wie recht hat doch ein Leser: «Christoph Zürcher ist der Karl May der Gegenwart – nur authentischer, humorvoller, packender.» Urs Rauber Isaak Babel «Alle Autoren sind Lügner», sagt ein chinesisches Sprichwort. (Und fügt, gegen alle fernöstliche Höflichkeit hinzu: «Alle Leser sind Idioten, weil sie die Lügen glauben.») Der Satz hat was. (Nur der erste Teil natürlich.) Ein Buch zu schreiben ist eine der wenigen gesellschaftlich akzeptierten Arten, die Unwahrheit zu sagen. Zugegeben, es gibt auch andere Berufe, bei denen der ökonomische Umgang mit der Wahrheit zum professionellen Alltag gehört. Politiker, zum Beispiel, oder Werbeleute. Aber die dürfen den mangelnden Wirklichkeitsbezug ihrer Aussagen nicht offen zugeben, sondern müssen im Brustton der Überzeugung behaupten, immer nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Weil sie sonst nämlich Gefahr laufen, ihr Amt zu verlieren. Oder, noch viel schlimmer, ihren Account. Wir Schreiberlinge hingegen… Wir dürfen von Heldentaten erzählen, die nie stattgefunden haben, dürfen uns Liebesgeschichten mit bonbonrosafarbigen Happyends ausdenken, dürfen unsere Protagonisten Schlachten schlagen lassen, in denen wir ganz allein über Sieger und Verlierer entscheiden. Wir dürfen alles. Manchmal bekommen wir sogar Preise dafür. Und der Leser, dieser nette Mensch, ist stets bereit, uns unsere Lügen zu glauben. Nicht etwa, weil er ein Idiot ist – Schande über den unhöflichen chinesischen Sprichworterfinder! –, sondern weil er weiss, dass die sonst so gut bewachte Grenze zwischen Wahrheit und Erfindung in einem Buch durchlässig wird. Und weil die literarische Lüge manchmal viel wahrer sein kann als die Wirklichkeit, die sie zu beschreiben vorgibt. Einmal, ich erinnere mich gern daran, ist mir so ein perfektes Täuschungsmanöver gelungen. Als ein Kritiker «Melnitz» rezensierte und meinte, manche der Figuren, die darin vorkämen, müssten wohl ein reales Vorbild haben. Weil man nämlich, schrieb er, so lebendige Charaktere nicht erfinden könne. Für den schreibenden Berufslügner ist so eine Bemerkung schon fast der Münchhausen-Pokal. Ja, wir dürfen rund um die Uhr nach Herzenslust lügen und schummeln. Und nur schon deshalb ist das Schreiberleben auch immer ein reines Vergnügen und hat mit wirklicher Arbeit überhaupt nichts zu tun. (Was eben, falls Sie es nicht gemerkt haben sollten, auch schon wieder gelogen war.) 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Musik Vor 200 Jahren wurde Richard Wagner geboren. Die radikale politische Haltung des deutschen Komponisten und Opernregisseurs polarisiert bis heute Rauschmusik für Unmusikalische Udo Bermbach: Mythos Wagner. Rowohlt, Berlin 2013. 336 Seiten, Fr. 28.50, E-Book 20.90. Friedrich Dieckmann: Das Liebesverbot und die Revolution. Insel, Berlin 2013. 235 Seiten, Fr. 32.90. Jens Malte Fischer: Richard Wagner und seine Wirkung. Zsolnay, Wien 2013. 320 Seiten, Fr. 27.90. Von Fritz Trümpi Dass Richard Wagner (1813-1883) bis heute polarisiert, wird derzeit wieder besonders deutlich. Aus der Flut an neuen Publikationen über den Komponisten und dessen Werk ist eine betonte Mehrstimmigkeit herauszuhören, vor allem Wagners politische Positionen erfahren grosse Aufmerksamkeit. Sie werden aber auf sehr unterschiedliche Weise durchleuchtet, wie an drei ausgewählten Neuerscheinungen unschwer abzulesen ist. Udo Bermbach spürt dem «Mythos Wagner» nach. Dessen Entwicklungsgeschichte sieht der Hamburger Politologe Wagner-Jahr 2013 Richard Wagners 200. Geburtstag liefert nicht nur für den Musikbetrieb einen willkommenen Anlass, dem Opernrevolutionär zu huldigen. Auch die Buchproduktion läuft dieses Jahr auf Hochtouren. Unter den weiteren Neuerscheinungen sind zu erwähnen: • Dieter Borchmeyer: Richard Wagner. Leben – Werk – Zeit (Reclam 2013, 408 Seiten). • Enrik Lauer, Regine Müller: Der kleine Wagnerianer. Zehn Lektionen für Anfänger und Fortgeschrittene (C. H. Beck 2013, 261 Seiten). • Sven Oliver Müller: Richard Wagner und die Deutschen (C. H. Beck 2013, 320 Seiten). 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 eng mit den politischen Konstellationen verknüpft – jenen zu Wagners Lebzeiten ebenso wie jenen nach dessen Tod 1883. In chronologischer Folge steckt Bermbach die wichtigsten Stationen der Mythenbildung ab: Die ärmliche Existenz in Paris als «Katharsis», das Zürcher Exil als Schaffensquell für seine Opernproduktion, die Münchner Jahre als Verwirklichung seiner politischen Träume, sodann das luzernische Tribschen als idyllischer Kraftort, Bayreuth hingegen als Festspielmekka und Vollendung des Mythos. Der Ausgangspunkt für diese Mythenkonstruktion liegt jedoch im Dresden der 1840er Jahre – das heisst in Wagners Revolutionsphase. Schon früh Antisemit Zweifellos war Wagner bereits in jungen Jahren ein äusserst politischer Kopf, Revolution und Kunst gehörten für ihn schon früh untrennbar zusammen. Es war darum kein Zufall, dass der Entwurf sämtlicher späterer Werke – mit Ausnahme des «Tristan» – zwischen 1842 und 1849 entstanden, während der Phase der bürgerlichen Revolution in Dresden. In dieser Zeit, so hebt Bermbach hervor, sei auch Wagners zentrale Überzeugung entstanden, dass «das Leben in der Kunst und die Kunst im Leben aufgehen sollen». Doch damit dies gelinge, müsse das Volk zunächst in seine Rechte eingesetzt werden, so Bermbach über Wagners Revolutionsanspruch. Dieser zunächst emanzipatorisch verstandene Volksbegriff verwandelte sich aber bald in einen aggressiven völkischen Nationalismus. Die Ursachen dafür sucht Bermbach – und dies ist sein blinder Fleck – allerdings nicht bei Wagner selbst, sondern ausschliesslich bei den Nachlassverwaltern, die sehr früh ins nationalsozialistische Fahrwasser gerieten. «Braune Indienstnahme des Mythos Wagner» nennt dies der Autor zu Recht – dass der Wagnerclan bald zur begeisterten Hitler-Anhängerschaft gehörte, ist hinlänglich bekannt. Doch ohne Wagners eigenes Zutun hätte diese «Indienstnahme» nicht so ungehindert verlaufen können. Wagners Antisemitismus, der schon früh in diversen Schriften auftaucht und in der hetzerischen Schmähschrift «Das Judenthum in der Musik» ihren Höhepunkt findet, erwähnt Bermbach nur nebenher. Als Erklärungshilfe dafür, warum die braune Einfärbung gerade beim «Mythos Wagner» so leicht gelang, zieht er ihn nicht herbei. Das ist gelinde ausgedrückt erstaunlich. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass Friedrich Dieckmann ein ganzes Buch lang ohne einen einzigen Hinweis auf Wagners Antisemitismus auskommt. Und dies, obschon der deutsche Publizist vermeintlich akribisch analysiert, inwiefern sich die politische Revolutionsbewegung in Wagners Opern abbilde. Unter beträchtlichem sprachlichem Verzierungsaufwand erzählt Dieckmann ausführlich von Wagners Dasein als unerschrockenem Politaktivisten, der allerdings stets das Theater im Kopf gehabt habe: «Auch wenn Wagner Handgranaten bestellt, denkt er zuletzt an nichts anderes als an die Oper.» Für Dieckmann bildet sich Wagners politischer Aktivismus deshalb auch überdeutlich in dessen Werken ab. Der Autor belegt dies an zahlreichen Analogien zwischen biografischen Überlieferungen und werkimmanenten Figuren und sucht ausserdem nach Parallelen zwischen der Person Wagner und anderen Polit-Künstlern. Das ist ein hochspekulativer, mitunter aber erkenntnisreicher Ansatz. Durchwegs nachvollziehbar gestaltet Dieckmann etwa das Motiv von Wagners unterdrückter Geschwisterliebe, die er mit dem revolutionären Gestus des Komponisten kurzschliesst und zur Gesellschaftskritik gewendet insbesondere in Wagners frühen Opern aufspürt – im «Liebesverbot» etwa, dann aber auch in den «Feen», ja noch im «Rienzi» und im «Fliegenden Holländer». Doch Dieckmanns Analogiebildungen greifen manchmal auch gründlich Gesamkunstwerk als Idee Es braucht einen Jens Malte Fischer, der diese Lücke schliesst und schonungslos kenntlich macht, wie eng Wagners antisemitische Theorieschriften mit seinem Schaffen als Komponist zusammenhängen. Die vielfach geäusserte Entschuldigung, Wagners Antisemitismus sei damals eine reine Modeerscheinung gewesen, lässt der renommierte Musikhistoriker nicht gelten. Im Gegensatz zur damals weitverbreiteten antijüdischen Stimmung habe man es bei Wagner nämlich mit einem Frührassismus zu tun, der den Juden «unabänderliche Unterschiede» gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung unterstelle, womit Wagner bereits bei einer «rassischen» Distinktion angelangt sei. Von Wagner seien somit Ideen ausgegangen, die nicht nur von späteren Antisemiten wie Houston Stewart Chamberlain, Otto Weininger oder Adolf Hitler, sondern auch von der gesamten «völkisch-nationalsozialistischen» Musikpublizistik übernommen worden seien. Wagner redet etwa vom «verfluchten Judengeschmeiss» und vergleicht die Juden in seinen Tagebüchern mit «natürlichen schmarotzenden Parasiten». Im Pamphlet «Das Judenthum in der Musik», dessen erste Ausgabe von 1850 noch unter dem Pseudonym K. Freigedank veröffentlicht wurde, appelliert «Auch wenn Wagner Handgranaten bestellt, denkt er an nichts anderes als an die Oper»: Richard Wagner (1813–1883), Musikrevolutionär und Nationalist. AUSTRIAN ARCHIVES / IMAGNO ins Leere. Die These über die grosse Ähnlichkeit zwischen Wagner und Brecht etwa ist nicht nur aufgrund inhaltlicher, sondern auch allgemein historischer Unschärfen nicht haltbar. Das Problematischste an dieser Publikation ist jedoch das konsequente Ausblenden von Wagners Antisemitismus. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Autor gerade diesen Aspekt in seiner politischen Ausdeutung von Wagners Werk vollständig ignoriert. Dieckmanns vielfach spannende Opernanalysen werden in ihrem Aussagewert dadurch jedenfalls beträchtlich beschnitten. der Komponist an die Assimilationsbereitschaft der Juden, hält jedoch zugleich fest: «Aber bedenkt, dass nur Eines Eure Erlösung von dem auf Euch lastenden Fluche sein kann, die Erlösung Ahasvers: Der Untergang!» Anhand solcher Zitate erweist sich Fischers pointierte Argumentation durchwegs als stichhaltig. Obwohl die Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus bei Fischer eine zentrale Rolle spielt, hat er auch zu anderen Aspekten von Wagners Leben und Werk Gewichtiges beizutragen. Seine detailreichen Ausführungen zur Geschichte der Aufführungspraxis etwa, vom frühen «Rienzi» über «Tristan und Isolde» bis zum «Ring des Nibelungen» und des späten «Parsifal», liefern vielerlei neue Einsichten in Wagners schillernde Idee des «Gesamtkunstwerks», das Tanz-, Ton- und Dichtkunst ebenso umfassen sollte wie Bau-, Bildhauer- und Malerkunst. Was Wagner daraus fertigte, könnte man oberflächlich betrachtet zwar als «Rauschmusik für Unmusikalische» abtun. Doch ob aller Kritikbereitschaft gegenüber dem Phänomen Wagner attestiert Fischer dem revolutionären Komponisten eine ungebrochene Vormachtstellung in der Musikgeschichte: Kein Komponist habe «bis heute eine solche sengende Strahlung (im Positiven wie im Negativen) ausgesendet wie Richard Wagner.» Dem ist nichts hinzuzufügen. l 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Arabischer Frühling Während autoritäre Regimes gestürzt wurden, verharren Sexualität und das Geschlechterverhältnis in alten Strukturen Gretchenfrage der Revolution Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt. Hanser, Berlin 2013. 408 Seiten, Fr. 34.90. Zwei Jahre nach Beginn der Volksaufstände in der arabischen Welt ist die Zeit reif für eine Zwischenbilanz. Was ist aus der euphorischen Aufbruchsstimmung geworden? Wo ist die Meinungsfreiheit, wo sind die Frauenrechte? Bereits wenige Monate nach dem Sturz Mubaraks wurden in Ägypten erneut Demonstranten auf der Strasse von Sicherheitskräften zusammengeschlagen und brutal gefoltert. An festgenommenen Demonstrantinnen führten Polizeiärzte sogenannte Jungfräulichkeitstests durch. Gegen diese Akte der Gewalt wird lautstark protestiert und vor Gericht prozessiert, aber niemand stellt die gesellschaftliche Funktion der Jungfräulichkeit in Frage. An diesem Punkt setzt Shereen El Feki mit ihrem Buch an. Die ägyptischbritische Immunologin und Wissenschaftsjournalistin untersucht die Rolle der Sexualität, die Beziehung der Geschlechter und die Machtbeziehungen innerhalb der Familie vor dem Hintergrund des politischen Umbruchprozesses in Ägypten und anderen arabischen Ländern. Sie weiss, dass die politischen Revolutionen zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie nicht von sozialen, sexuellen und kulturellen Veränderungsprozessen im Bewusstsein begleitet werden. «Es ist schwer vorstellbar, wie die Demokratie in einer Gesellschaft florieren soll, wenn deren konstitutioneller und kultureller Eckpfeiler in der Familie so undemokratisch ist», schreibt die Autorin und stellt fest, dass es für junge Frauen und Männer in Ägypten leichter ist, den Präsidenten zu stürzen, als von zu Hause auszuziehen. Doppelmoral im Islam Shereen El Feki wuchs als Tochter eines ägyptischen Muslims und einer britischen Christin, die zum Islam konvertierte, in Kanada auf. Der Islam wurde ihr als Kind weder aufgedrängt, noch interessierte sie sich dafür. Erst mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begann sie, sich mit ihrer ägyptisch-muslimischen Herkunft zu beschäftigen. Bei ihren Recherchen im Rahmen einer UN-Kommission über Aids im arabischen Raum fiel ihr «die Kluft zwischen dem öffentlichen Anschein, wie er sich in den Statistiken niederschlug, und privater Wirklichkeit» auf. Diese Kluft zwischen Sein und Schein geht nirgends so tief wie in der Sexualität. So wird in Jemen und SaudiArabien die voreheliche Beziehung zwischen Jugendlichen nicht toleriert, aber mit der Verheiratung von Mädchen an 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 FEMEN Von Susanne Schanda Die ägyptische Nacktfoto-Revolutionärin Aliaa Elmahdy (Mitte) protestiert mit zwei ukrainischen FemenAktivistinnen in Stockholm gegen die neue Verfassung in Ägypten (Dez. 2012). ältere Männer der institutionalisierten Pädophilie Vorschub geleistet. Prostitution ist in Ägypten illegal, funktioniert aber unter dem Deckmantel von «Vertragsehen», wie sie oft von Touristen aus den Golfstaaten für die Dauer der Sommerferien mit Ägypterinnen abgeschlossen werden. Während fünf Jahren reiste Shereen El Feki quer durch die arabische Welt, sprach mit verheirateten, ledigen und geschiedenen Frauen und Männern, Bloggerinnen, Salafisten und Muslimbrüdern, mit einer Fernseh-Sextherapeutin und Zuhältern, die sich Ehevermittler nennen. Dabei kommt ihr die doppelte Identität als Ägypterin und Aussenstehende zugute. Sie zeigt sowohl Einfühlungsvermögen wie kritische Distanz. Die Menschen vertrauen ihr, weil sie zu ihnen gehört, und sehen ihr die etwas anrüchige Beschäftigung mit der Sexualität nach, weil sie eine Frau aus dem Westen ist. Die Autorin spannt den historischen Bogen weit zurück in die heute vergessene Hochzeit der islamischen Kultur vom 8. bis zum 10. Jahrhundert. Diese war nicht nur eine Blütezeit der arabischen Wissenschaft, sondern auch der Sexualität. In der «Enzyklopädie der Lust» von Ali ibn Nasr al-Katib aus dem Bagdad des 10. Jahrhunderts reicht das Themenspektrum von Bisexualität über Techniken des Beischlafs, Eifersucht, die Steigerung der Lust bei Mann und Frau bis zur Beschreibung des Geschlechtsverkehrs und von anzüglichem Sex. All dies mit der deutlichen Botschaft, dass Sex ein Geschenk Gottes an die Menschheit sei und genossen werden soll. Nichts davon ist übrig geblieben in der Verteufelung der Sexualität durch die radikalkonservativen Salafisten. Den Niedergang der lustvollen Kultur führt El Feki auf die Kolonisierung im 19. Jahrhundert zurück, auf die die Araber mit Abschottung reagierten. Die einstige sexuelle Freizügigkeit wurde nun als Symptom von Dekadenz gesehen, als Gegenbewegung entstand der islamische Fundamentalismus. Dieser droht nun die Kinder der Revolution zu fressen. Frauen mit Zivilcourage Shereen El Feki beschönigt nichts in ihrem Buch. Sie verschweigt weder die in Ägypten trotz Verbot weit verbreitete Genitalverstümmelung bei Frauen noch die gesellschaftliche Stigmatisierung von geschiedenen Frauen oder die heimliche Prostitution aus materieller Not. Aber sie zeigt auch, wie es in dieser Gesellschaft brodelt – dank zahlreicher Frauen mit Zivilcourage, wie der Studentin Aliaa Elmahdy, die als «Nacktfoto-Revolutionärin» die Scheinheiligkeit der Gesellschaft blossgestellt hat, oder die Radiomacherin Mahasin Sabir, die geschiedenen Frauen eine Stimme gibt. Die arabischen Revolten haben weit mehr als die Korruptheit des politischen Systems ans Tageslicht gezerrt und zur Debatte gestellt. An eine sexuelle Revolution in der arabischen Welt glaubt Shereen El Feki nicht – wohl aber an eine sexuelle Neubewertung. Ein langwieriger Prozess, der jetzt immerhin begonnen hat. l Susanne Schanda ist Ägypten-Expertin; im April erscheint im Rotpunktverlag ihr Buch «Literatur der Rebellion». Essays Der US-Autor Jonathan Franzen seziert sein Leben und die Mühen des Schreibens Mit jedem Buch ein neuer Mensch Jonathan Franzen: Weiter weg. Essays. Rowohlt, Reinbek 2013. 365 Seiten, Fr. 20.90. Als Jonathan Franzen mit «Freiheit» (2010) seinen letzten grossen Erfolg feierte, stand neben den klassischen Ingredienzen Liebe, Familie und Betrug ein Thema im Mittelpunkt seines Romans: der Einsatz eines fanatischen Umweltaktivisten (Walter Berglund) für den Schutz einer bedrohten Vogelart. Im neuen Sammelband von 21 Essays, Reden und Buchbesprechungen, die Franzen zwischen 1998 und 2011 verfasst hat, ist ebenfalls oft von Tierschutz die Rede. Im Essay «Der leergefegte Himmel» erzählt der passionierte Vogelbeobachter Franzen von seinen Exkursionen mit kombattanten Ornithologen auf Zypern, Malta und Italien. Dort, wo Vögel trotz strenger EU-Richtlinien immer noch häufig auf dem Teller landen – in Italien zum Beispiel als «pulenta e osei». Anschaulich schildert er, wie die Auseinandersetzung mit den Wilderern gelegentlich in einer Schlägerei mit zerstörten Kameras und in einer Flucht endet. So grossartig Franzens Landschafts- und Tierbeschreibungen sind, so furios lässt er seinem Hass auf «Vogelmörder» und Umweltzerstörer freien Lauf. Doch immer bleibt Franzen der sensible, zweifelnde Reporter, der dem zwiespältigen Ich viel Raum gibt. Einen jungen italienischen Jäger lässt er sagen: «Mein Raubtierinstinkt steht in krassem Widerspruch zur Vernunft, (doch) die selektive Jagd ist mein Versuch, diesen Instinkt zu bändigen.» Selbstkritisch fragt sich der Autor, ob sein eigenes Engagement für die Artenvielfalt und das Wohlergehen der Tiere «nicht vielleicht eine Art Regression in mein Kinderzimmer und dessen Gemeinschaft der Plüschtiere ist». Es ist diese schonungslose Radikalität auch sich gegenüber, die uns den vehement-fragilen Zivilisationskritiker so sympathisch macht. MICHAEL LOCCISANO / GETTY IMAGES Von Urs Rauber Jonathan Franzen ist auch ein passionierter Vogelbeobachter. Hier vor der Premiere des Films «Birders» im New Yorker Central Park (Juni 2012). Ein zweites Franzen-Thema ist die Einsamkeit. Nach jedem grossen Roman und dem damit verbundenen Lese-Marathon flüchtet er sich ein paar Monate in das Alleinsein. Nach seinem letzten Opus suchte er eine 800 Kilometer vor der chilenischen Küste liegende Vulkaninsel im Südpazifik auf, die von Millionen Seevögeln und Tausenden Seebären bevölkert ist. Auf dieser Insel namens «Weiter weg» (sie gab dem Buch den Titel) versuchte er mit ausreichend Vorräten, einem Zelt und dem Buch «Robinson Crusoe» einige Wochen ohne Laptop, nur mir einem Satellitentelefon und einem GPS zu leben. Dort zerstreute er auch eine Zündholzschachtel voll Asche seines Schriftsteller-Freundes und Rivalen David Foster Wallace im Auftrag von dessen Witwe Karen. Jonathan Franzens Buchrezensionen über Werke von Alice Munroe, Paula Fox, Fjodor Dostojewski oder Frank Wedekind sind derart enthusiastisch geschrieben, dass man nach der Lektüre gleich die besprochenen Bücher lesen möchte. Auf der anderen Seite zeigt der Romancier, mit welch ungeheurer Anstrengung sein Handwerk verbunden ist. «Mit jedem Buch muss man so tief wie möglich graben und so weit wie möglich ausholen.» Und wenn einem dann ein halbwegs gutes Buch gelinge, müsse man beim nächsten noch tiefer graben und noch weiter ausholen. Für jedes neue Buch müsse der Autor ein anderer Mensch werden, weil er «das beste Buch, das er schreiben konnte, ja bereits geschrieben hat». Berührend an Franzens Essaysammlung sind nicht nur solche Einsichten, sondern auch die Verletzlichkeit, mit der er seiner Leserschaft gegenüber tritt. Er erzählt von seiner Scham und den Schuldgefühlen, die er nach seiner Depression und der gescheiterten ersten Ehe mit einer erfolglosen Schriftstellerin überwinden musste; von seinem «schlimmsten Jahr» 1993, als sein Vater im Sterben lag und ihm das Geld ausging. «Mitte dreissig schämte ich mich für so ziemlich alles, was ich in den fünfzehn vorangegangenen Jahren meines Lebens getan hatte», schreibt der heute 53-Jährige. Vielleicht gerade deswegen entstand in jener Zeit sein Meisterwerk «Die Korrekturen», für das er 2001 mit dem National Book Award geehrt wurde und das in der Folge zu einem Welt-Bestseller wurde. l <wm>10CAsNsjY0MDAx0gUSZpbmAGVLn9UPAAAA</wm> <wm>10CFWMoQ7DQAxDvyinOGlySwOrsmpgKg-phvf_aHdlBTawn30caY1vbfv73D8J5kVomEdPC2vSPRHSunmyjJKhKwQOdekPnhjhylqTIR7xUhCCEVDx8oLOh5prlva7vn-mKlRSgAAAAA==</wm> 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Gulag Posthum erscheinen die Erinnerungen von Horst Bienek über seine Zeit in Lagerhaft «Meine Seele war wie aus Blei» Horst Bienek: Workuta. Wallstein, Göttingen 2013. 80 Seiten, Fr. 21.90. Von Anja Hirsch Arbeit. Hunger. Liebe/Sex. Beschreibung der Mithäftlinge. Das waren die ersten Stichworte, unter denen der Schriftsteller Horst Bienek (1930–1990), angeregt von seinem Lektor, dem Hanser-Verleger Michael Krüger, seine Erinnerung aufwecken sollte, vierzig Jahre danach. Mit 22 Jahren war Horst Bienek, der als Vertriebener aus Oberschlesien in der damaligen DDR eine neue Heimat gefunden hatte, in das Lager Workuta gebracht worden – ins Polargebiet, wo grosse Kohlevorkommen unter der Erde ruhten. Unter Stalin arbeiteten hier zeitweise über eine Million Gefangene, oft wegen einer Lappalie als Vorwand verurteilt – wie Bienek, dem unter anderem ein Telefonbuch, das er in den Westen brachte, zum Verhängnis wurde. Das Urteil über zwanzig Jahre Zwangsarbeit wegen Spionage wurde inzwischen aufgehoben. Vier Jahre, von 1952 bis 1955, verbrachte Bienek in Workuta, von einem Tag auf den anderen herausgerissen aus dem Leben. Er wollte sich gerade als Künstler etablieren. Bertolt Brecht hatte ihn als Schauspielschüler in sein Ensem- Fotografie Schnappschüsse aus dem Zarenreich 1905 verspürte der russische Zar Nikolaus II. den Wunsch, sein riesiges Land besser kennenzulernen. Eine Reise war ihm aber zu beschwerlich und so schickte er einen Fotografen los, der ihm Landschaften und Menschen bequem in den Palast liefern sollte. 10 Jahre war Sergei Prokudin-Gorski (1863– 1944) in einem Spezialzug inklusive Dunkelkammer unterwegs, 10 000 mit einer eigens entwickelten Kamera aufgenommene Farbbilder waren seine Ausbeute. Die Drei-Farben-Fotografien, heute in der Library of Congress in Washington archiviert, galten lange als Geheimtipp. Zusammen mit Schwarz-WeissFotos anderer zeitgenössischer Fotografen sind nun 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 die schönsten unter ihnen erstmals im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Das Panorama zeigt das Zarenreich kurz vor seinem Zusammenbruch, mit seinen schönen und auch weniger schönen Seiten. Die Reise der Autoren Veronica Buckley und Philipp Blom beginnt in St. Petersburg, führt in den Westen und Nordwesten, dann nach Zentralasien (im Bild: jüdische Kinder mit ihrem Lehrer in Samarkand, 1911), erreicht den fernen Osten, Sibirien, den Ural und endet in Moskau. Geneviève Lüscher Philipp Blom, Veronica Buckley (Hrsg.): Das russische Zarenreich. Eine fotografische Reise 1855– 1918. Brandstätter, Wien 2012. 248 Seiten, Fr. 66.90. ble geholt. Nach der skandalösen Verhaftung rührte Brecht jedoch keinen Finger für ihn. Der Autor, Lektor und Kulturredaktor Horst Bienek, heute bekannt vor allem durch die literarische Verarbeitung seiner oberschlesischen Kindheit, hatte zwar in seinen ersten Roman «Die Zelle» (1968) schon eigene Erfahrungen einfliessen lassen, verstand sein damaliges Buch aber allgemeiner: Die Zelle war ihm der herausragende Ort des 20. Jahrhunderts schlechthin. Wie aber war es wirklich? Das erzählt er in «Workuta» mit grosser Klarheit. Er schafft allein durch die Chronologie der Details eine schockierende Nähe. Am Anfang steht die Ohnmacht in ersten, nächtlichen Verhören, die mit Willkür als zermürbender Strategie arbeiten. «Als ich einmal fragte, warum ich nicht verhört würde, schob er meine Worte mit der Hand zurück. Hier hatte nur einer zu fragen, und das war er. In der dritten Nacht fing ich an zu schreien.» Bis Workuta folgt man dem Wirken dieses Gifts der Mächtigen. Bienek, zeitweise in der Einzelzelle, beginnt mit absurden Selbstbefragungen auf der Suche nach der ihm unterstellten Schuld – weil er in Berlin eine surrealistische Gruppe mitgründete? Weil der Mitbegründer als Trotzkist gebrandmarkt war oder Kontakt zu einem Jugendfreund bestand, der sich rühmte, CIA-Agent zu sein? «Meine Seele war wie aus Blei.» Man begleitet Bienek mit anderen Häftlingen auf Transporte ins Zwischenlager. Das anfängliche Abkapseln verschwindet schnell: «Ich hörte zu, und ich merkte, ich gehörte schon zu ihnen.» Selten denkt er noch an den Geschmack der Sahnebonbons, die er als Kind liebte. Zwischen die sich immer wiederholenden Erzählrituale, mit denen man gegen die Wartezeit angeht, mischt sich anfangs noch vage Hoffnung. Lieber ein deutsches Gefängnis als Sibirien. Und es gibt auch «Humor, der uns überleben half und der die Zeit verkürzte». Oder jenen namenlosen Litauer, der den Schwächeren unter die Fittiche nimmt und «für zwei schuftete». Doch der lange, unaufhaltsame Weg nach Workuta, wo Zehn-StundenSchichten auf Kohleschacht 29 die Regel sind, ist eine Fallstrecke. Irgendetwas zerbricht. Das hat sich diesem Erinnerungstext von Horst Bienek tief eingebrannt, gerade weil es selten direkt benannt wird. Schwierigkeiten bei der Sichtung des Nachlasses sind auch ein Grund dafür, warum dieser Text erst heute veröffentlicht wird. In einem sehr persönlichen Nachwort schreibt Michael Krüger, wie er Bienek, der anfangs konsequent alles klein schrieb, zu normaler Schreibweise überredete: Inhalt und Form schienen abstrakt genug; warum unnötig das Lesen erschweren? Bienek aber wollte das «Eingesperrtsein» im Vordergrund haben. Er starb 1990 über den Aufzeichnungen zu «Workuta», die das abgrundtief vermitteln. l Werkbiografie Die Filme Andrej Tarkovskijs sind wuchtige, aber enigmatische Meisterwerke. Eine Monografie erschliesst nun das grandiose Werk Russischer Bildmagier Andrej Tarkovskij, Leben und Werk: Filme, Schriften, Stills & Polaroids. Schirmer/ Mosel, München 2012. 320 Seiten, Fr. 88.90. Von Christian Jungen In den Sechzigerjahren begannen Filmregisseure sich als Künstler zu verstehen und prägten mit unverwechselbaren Handschriften ihre Werke. Ihre Erneuerungen gingen als neue Wellen in die Filmgeschichte ein. Aus dieser Epoche ragen jedoch Monumenten gleich drei Regisseure heraus, die sich kaum schubladisieren lassen und die kraft ihrer philosophischen Durchdringung der Filmkunst einen ebenso aufmerksamen wie demütigen Zuschauer erfordern: Ingmar Bergman, Jean-Luc Godard und Andrej Tarkovskij. Ihre Œuvres widersetzen sich der schnellen Aneignung. Vorbild Ikonenmalerei Das Werk des russischen Bildmagiers Tarkovskij (1932–1986) ist für westliche Filmfreunde vielleicht das schwierigste der drei, weil unsere rationale Art der Analyse bei ihm zum Scheitern verurteilt ist. Im Science-Fiction-Klassiker «Stalker» (1978) führt der Titelheld einen Schriftsteller und einen Wissenschafter in eine geheimnisvolle Zone, wo es ein Zimmer geben soll, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen. Kritiker rätselten vergebens über den Sinn dieser in Bildern von archaischer Wucht erzählten Odyssee. «Häufig wurde ich gefragt, was denn nun eigentlich die Zone in Stalker symbolisiert», schrieb Tarkovskij einst. «Derlei Fragen bringen mich jedes Mal in Verzweiflung und Raserei. In keinem meiner Filme wird irgendetwas symbolisiert. Und auch die Zone tut das nicht. Die Zone ist einfach die Zone.» All jenen, die das Schaffen Tarkovskijs besser verstehen wollen, ist die herausragende Monografie empfohlen, die der Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel zusammen mit Tarkovskijs Sohn Andrej kuratiert hat. Schlegel ist einer der profundesten Kenner des osteuropäischen Kinos. Er hat Tarkovskij persönlich gekannt und seine Tagebücher wie auch seine filmtheoretischen Schriften ins Deutsche übersetzt. In einem luziden Essay führt er aus, dass Filme wie «Ivans Kindheit» oder «Solaris» weniger einen analytisch fragenden Zuschauer als vielmehr einen naiven Beobachter erforderten. Denn Tarkovskij wollte mit seinen Filmen das eigene Denken transzendieren, die Suche nach einem filmischen Stil war ihm Mittel, seine Gefühle auszudrücken und beim Zuschauer über die ästhetische Bildwirkung seine Sicht der Welt fassbar zu machen. Eine wichtige Quelle von Tarkovskijs Streben sei das spirituelle Bildverständnis der Ostkirche ge- Szene aus dem Filmklassiker «Stalker» von Andrej Tarkovskij (1978), der sich der rationalen Analyse entzieht. wesen, insbesondere die Ikonenmalerei, die eine Ahnung des Göttlichen gebe. Schlegel skizziert auch, wie Tarkovskij früh Probleme mit der Sowjetzensur bekam. Tarkovskij polemisierte nicht nur gegen die intellektuelle Montagetheorie von Sergej Eisenstein, er wehrte sich auch gegen schulmeisterliche Einwände der staatlichen Studios: «Eine dogmatische Sprache kann nicht sprechen.» Deren Auflagen unterlief er unter anderem, indem er in seinen Filmen ein poetisches Ich auftreten liess. Der gegen die Kirche rebellierende Ikonenmaler in «Andrej Rubljov» (1969) ist auch ein Alter ego des Regisseurs, der indirekt von seinen eigenen Schwierigkeiten kündet, in einem ideologisch starrsinnigen Umfeld kreativ zu sein. Neue Sehgewohnheiten Man merkt, dass Schlegel die Schriften Tarkovskijs übersetzt hat. Er nimmt den Regisseur oft beim Wort, etwa wenn er erläutert, warum Tarkovskij sich im Westen nicht wohl fühlte. «Der Osten war der ewigen Wahrheit stets näher als der Westen», schrieb Tarkovskij dazu. «Man vergleiche nur einmal östliche Musik und westliche Musik. Der Westen schreit: Hier – das bin ich! Schaut auf mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben verstehe! Wie unglücklich und glücklich ich sein kann! Ich! Ich! Ich!!! Der Osten sagt kein einziges Wort über sich selbst! Er verliert sich völlig in Gott, in der Natur, in der Zeit, und er findet sich in all dem wieder.» Der Band verdeutlicht, dass Tarkovskijs grösste Leistung in der Schöpfung einer eigenen filmischen Zeit war, die den Betrachter von seiner utilitaristischen, auf der Einstellung «Zeit ist Geld» basierenden Sehgewohnheit des westlichen Kulturkonsums herausreisst. Nebst Kommentaren zu Filmen, Auszügen aus Tarkovskijs Schriften und einer Biografie des Regisseurs enthält das Buch Zeugnisse von Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre, der 1962 Tarkovskij gegen schlechte Kritiken verteidigte, oder von Ingmar Bergman, der 1986 festhielt: «Tarkovskij ist für mich der Grösste, weil er dem Kino eine neue, besondere Sprache gegeben hat, die es ihm erlaubt, das Leben als Vision, als ein Traumbild zu erfassen.» Die Quellenausschnitte widerspiegeln die Debatten, welche die Filme Andrej Tarkovskijs auslösten. Ein Manko ist, dass die Herausgeber nicht erklären, wer die Autoren sind. Wer nicht weiss, dass Erland Josephson ein schwedischer Schauspieler ist, der in «Nostalghia» und «Opfer» für Tarkovskij vor der Kamera stand, dem hilft das Buch nicht weiter. Abgesehen davon ist das Werk allgemeinverständlich. Es wird dem Schaffen des Regiepoeten auch insofern gerecht, als es nebst fundierten Essays auf fast 300 Seiten Filmstills und Polaroidaufnahmen enthält, die Tarkovskij von Dreharbeiten und seiner Familie machte. Und nur über die Bilder lässt sich dieses Schaffen letztlich ergründen. l 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Autobiografie Das exzentrische Leben des untergetauchten deutschen Hedge-Fund-Managers Florian Homm, von ihm selbst erzählt Rauchzeichen eines Phantoms Florian Homm: Kopf Geld Jagd. Wie ich in Venezuela niedergeschossen wurde, während ich versuchte, Borussia Dortmund zu retten. Finanzbuch, München 2013. 362 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.30. Von Sebastian Bräuer Inbegriff der Heuschrecke: der Hedge-Fund-Manager Florian Homm. Hier als Grossaktionär von Borussia Dortmund, 16. November 2004. einer früheren Version soll allerdings auch noch gestanden haben, er habe ein paar Dinge erfunden, um den «allgemeinen Unterhaltungswert» zu steigern. Das wäre nicht schlimm. Es ist nämlich unterhaltsam, wie sich Homm zeitlebens aus Prinzip nicht an gesellschaftliche Konventionen hält. Wie er als Jugendlicher bei einem Kurzbesuch in einer Nervenheilanstalt die teils schwerkranken Patienten dazu gebracht haben will, «Scheissfaschisten, Psychoterroristen» zu skandieren. Oder wie er, in jungen Jahren ein begnadeter Basketballer, angeblich bei einem Freundschaftsspiel in Detroit zusammen mit der NBA-Legende Earvin «Magic» Johnson aufläuft. Wobei sie das gegnerische Team natürlich nicht besiegen, sondern demütigen. Die Elite-Uni Harvard absolviert er, obwohl in dieser Zeit mit Drogengeschäften beschäftigt, praktisch im Schlaf. LARS BARON / GETTY IMAGES Dies ist kein normales Buch. «Wichtiger Hinweis: Der Verlag und alle an diesem Buch beteiligten Personen wissen nicht, wo sich Florian Homm aufhält», heisst es noch vor dem Inhaltsverzeichnis in fett gedruckten Buchstaben, und wer das für merkwürdig hält, dem sei gesagt: Auf den folgenden 362 Seiten ist einiges noch viel merkwürdiger. Der deutsche Hedge-Fund-Manager Homm, heute 53 Jahre alt, ist seit September 2007 verschwunden. So lange von keiner Behörde entdeckt zu werden, wäre schon für einen weniger gefragten Menschen ein Kunststück. Aber Homm, mit seinen 2,03 Metern ein Hüne, ausgestattet mit markanten Gesichtszügen, ist von der amerikanischen Börsenaufsicht angeklagt, Bilanzen gefälscht zu haben. Private Investoren verlangen Schadensersatz: sie haben viel Geld verloren. Und sogar die US-Drogenpolizei DEA sucht Homm, angeblich unterhält er Kontakte zu südamerikanischen Drogenbossen. Als würde das nicht reichen, hat vor einigen Monaten auch noch ein kaum weniger obskurer Gegenspieler ein Kopfgeld von 1,5 Millionen Euro auf den Unternehmer ausgesetzt. Der Mann meint es ernst: Er hat ein Video ins Internet gestellt, in dem er das Geld in dicken Bündeln auf den Tisch legt. Schon vor seinem Verschwinden galt er in Deutschland als Inbegriff der skrupellosen Heuschrecke. Er verdiente an der Zerschlagung von Firmen und an fallenden Aktienkursen. Wobei er nicht davor zurückschreckte, mit der Verbrei- tung negativer Analysen dafür zu sorgen, dass die Kurse auch wirklich in die Tiefe rauschen. Am Ende riss er mit seinem abrupten Abgang auch noch die eigene Firma ACMH in den Abgrund. Und verschwand mit 500 000 Dollar in Aktenkoffer, Zigarrenkiste und Unterhose. Dass so jemand aus dem Untergrund heraus eine Autobiografie schreibt, in der er mit geschäftlichen und persönlichen Erfolgen prahlt, ist eine gewaltige Provokation gegenüber Anlegern und Mitarbeitern. Dass er dabei auch Details über seine Flucht verrät, zeugt von seiner Überheblichkeit. Es ist auch nicht zu beurteilen, ob sich sämtliche der teils schrillen Anekdoten wirklich so zugetragen haben. Homm schreibt im Vorwort, die Geschichte beruhe auf Tatsachen, er habe lediglich gewisse Namen und Orte geändert, um juristische Auseinandersetzungen zu vermeiden. In Medizin Streiflichter auf Leben und Werk von Burghölzli-Direktor Eugen Bleuler (1857–1939) Psychiatrie-Pionier wäre noch zu entdecken Rolf Mösli (Hrsg.): Eugen Bleuler – Pionier der Psychiatrie. Römerhof, Zürich 2012. 228 Seiten, Fr. 44.–. Von Willi Wottreng Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) war eine komplexe, spannende Persönlichkeit. Ein Arzt, der aus der Praxis lernte und Theorien suchte, die dem Erlebten entsprachen. Ein Mensch, der zugleich in sich verschlossen war, aber offen für das Leiden der Mitmenschen in seinen Kliniken. Bleuler hat den Begriff der Schizophrenie 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 entwickelt, welcher die Patienten in ihrem Leiden widerspiegeln sollte und der sie nicht wie der bisherige Ausdruck Demenz abqualifizierte. Doch in der Praxis hat er Behandlungsmethoden – etwa die Malaria-Fieberkur – zugelassen, die den Charakter von Menschenversuchen hatten. Die Persönlichkeit Bleulers hätte eine bessere Biografie verdient als das vorliegende Werk. Genau genommen handelt es sich nicht um eine Biografie, auch nicht um eine Darstellung seines Wirkens, sondern um Textelemente und Dokumente, die einzeln für sich Interesse beanspruchen können, aber sich weder zu einer Biografie noch zu einem impressionistischen Panoramabild der psychiatrischen Welt fügen. Da findet sich etwa ein subtiler Text des einstigen «Burghölzli»-Direktors Daniel Hell über Herkunft und junge Jahre Bleulers, der Neugier weckt über den weiteren Lebensweg – welcher dann nicht geschildert wird. Denn über weite Strecken wird die Person Bleulers verlassen und das Gewicht auf die Wiedergabe von Pflegerberichten über ihr Tun in der Klinik gelegt. Eingestreut sind ansprechende Fotodokumente. Anschaulich auch die Ausführungen über die Ehefrau Hedwig Bleuler-Waser, die eine Aber auch auf einer ernsthafteren Ebene gibt es sehr gute Gründe, das Buch zu lesen. Florian Homm geht gnadenlos mit sich selbst ins Gericht. Er reflektiert seinen rasanten Auf- und Abstieg mit einer Radikalität, die seinem Charakter entsprechen mag, die aber selbst in seiner von Exzentrikern bestimmten Branche ihresgleichen sucht. Homms Leben ist eine Abfolge von Exzessen. In teils derber Sprache berichtet er von Prügeleien, Drogen- und Sexeskapaden. Immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, mit immer mehr Geld um sich schmeissend. Aber eines will sich einfach nicht einstellen: innere Zufriedenheit. «Mein Leben war äusserst intensiv und technisch betrachtet erfolgreich», schreibt Homm. «Dabei fühlte ich mich leerer als eine aufgeblasene Sexpuppe.» Alles ist dem Ziel untergeordnet, die Milliarde zu schaffen. Auch eine Ehe hält so etwas auf Dauer nicht aus, so dass es schliesslich zu einer hässlichen Scheidung kommt, bei der ihm seine Frau die gemeinsame Kunstsammlung sprichwörtlich vor der Nase wegreisst. Und damit einmal in ihrem Leben schneller ist als er: Homm hatte dasselbe vor. Wenige Monate später kommt es in ihrer Beziehung zu einer weiteren eindrücklichen Szene. Homm wird in Venezuela angeschossen und schwer verletzt, wobei unklar bleibt, ob es sich um einen Raubüberfall oder ein gezieltes Attentat handelt. Er fürchtet zu verbluten. Daher ruft er seine Ex-Frau an. Und rät ihr, die Aktien seines Unternehmens zu verkaufen, bevor die Todesnachricht in den Nachrichten kommt. «Ich bin nicht völlig psychotisch und gefühlskalt», meint Florian Homm rückblickend. «Ich war zu dem Zeitpunkt nur stark auf Finanzen fokussiert.» Das Buch enthält die implizite Botschaft, dass Geld niemals glücklich macht – wenn der Rest nicht stimmt. l wissenschaftliche Karriere schmiss, um als Ehefrau da zu sein und an der Klinik Weihnachtsveranstaltungen zu organisieren. Und zum Schluss eine Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen Bleulers durch den Chefarzt der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, Paul Hoff, die Thesen vorlegt, ohne dass zuvor das Material ausgebreitet worden ist, das analysiert wird. Das betrifft etwa den heiklen Punkt der Degenerationslehre. Der Herausgeber des Buches hatte seinerzeit als Pfleger im Burghölzli gearbeitet und ein kleines Hausmuseum aufgebaut. Nun hat er seine gesammelten Funde in ein Buch überführt. l ULLSTEIN Operettenhafter Putschversuch der Franquisten am 23. Februar 1981: Oberst Antonio Tejero mit Pistole und bewaffneten Putschisten im spanischen Parlament. Spanien Opfer des Franquismus fordern eine historische Aufarbeitung Verdrängte Erinnerung Georg Pichler: Gegenwart der Vergangenheit. Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien. Rotpunktverlag, Zürich 2013. 250 Seiten, Fr. 33.90. Von Tobias Kaestli Spanien leidet nicht nur an ökonomischen Problemen, sondern auch an seiner verdrängten Geschichte. Die Regierungszeit Francos (1939–1975) hat gesellschaftliche Beschädigungen hinterlassen, von denen man im Ausland kaum etwas weiss. Das Buch von Georg Pichler gibt dazu präzise Auskünfte. Der in Graz geborene Autor ist Professor für deutsche Sprache und Literatur in Madrid. Sein Interesse für die literarische Verarbeitung politischer Kämpfe zwischen links und rechts hat ihn dazu motiviert, ein Buch über die vergangene Zeit des Franquismus, die danach beginnende Zeit der «Transición» und die gegenwärtige Veränderung des kollektiven Gedächtnisses zu schreiben. Einen guten Teil des Buches machen die eingestreuten Interviews mit Menschenrechtsaktivisten, Juristen und Angehörigen von Opfern des Franquismus aus. Das Ende eines Unrechtsregimes bedeutet in vielen Fällen, dass früher oder später die Hauptverantwortlichen für ihre menschenrechtswidrige Politik verurteilt werden. Nicht so in Spanien. General Franco, der im Juli 1936 mit seinen nordafrikanischen Truppen gegen die gewählte links-republikanische Regierung rebelliert und in einem blutigen Bürgerkrieg die Macht erobert hatte, blieb so lange an der Spitze des Staates, dass er zuerst alle linken Gruppierungen blutig unterdrücken oder ins Exil treiben konnte, um dann zumindest dem Anschein nach sein Gewaltregime ein wenig zu mildern. So blieb er von der Justiz unbehelligt. Der Übergang zu einer parlamentarischen Monarchie war schon vorbereitet, als er im November 1975 starb. In der Periode der «Transición» blieben die Fran- quisten vorerst an der Macht und verhinderten eine neue Sicht auf die von ihnen schöngeredete Vergangenheit. 1977 verabschiedeten sie das Amnestiegesetz, das ihnen Straffreiheit für alle zuvor geschehenen politischen (Un-) Taten garantierte. Doch die Opfer des Franquismus bauten zunehmend Druck auf und forderten Gerechtigkeit. Die linke Opposition erstarkte. Da drang am 23. Februar 1981 der franquistische Oberst Antonio Tejero ins spanische Parlament ein und fuchtelte mit seiner Pistole herum. Der Putschversuch misslang, doch die Linken waren gewarnt: Rührt nicht an die Vergangenheit, schweigt über die Verbrechen des Franquismus, sonst droht ein Rückfall in die blutigen Auseinandersetzungen der Bürgerkriegszeit! Viele Gegner Francos waren nach pauschalen Urteilen erschossen und irgendwo in Massengräbern verscharrt worden. Viele Angehörigen verlangten, dass die Leichen gesucht und anständig begraben würden. Im Jahr 2000 wurde ein Verein gegründet, der die Exhumierungen und die DNA-Analyse der sterblichen Überreste organisierte und finanzierte. Was zuerst als private Angelegenheit aufgefasst wurde, entwickelte sich zu einer politischen Bewegung, die endlich die verdrängte Erinnerung hervorholte und die historische Aufarbeitung des Franquismus ermöglichte. «Memoria histórica» nennen das die Spanier. Doch das Amnestiegesetz ist weiterhin in Kraft, was der mutige Richter Baltasar Garzón, der seinerzeit gegen Pinochet Klage einreichte, schmerzhaft zu spüren bekam. Als er gegen Franco und seine Gehilfen posthum Klage erheben wollte, wurde er im Mai 2010 in seinem Amt suspendiert. Pichlers Buch ist reich an Informationen über die jüngste Geschichte Spanien, macht gesellschaftliche Widersprüche sichtbar und öffnet den Blick für ähnliche Probleme in anderen Ländern. Wer sich für Spanien oder für Erinnerungspolitik interessiert, sollte es unbedingt lesen. l 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Paläontologie Der Naturforscher Oswald Heer (1809 bis 1883) war Lehrer Alfred Eschers, Doppelprofessor und erster Direktor des Botanischen Gartens Zürich Conradin A. Burga (Hrsg.): Oswald Heer 1809–1883. Paläobotaniker, Entomologe, Gründerpersönlichkeit. NZZ Libro, Zürich 2013. 511 Seiten, Fr. 64.90. Von Geneviève Lüscher Sie hatten den gleichen Jahrgang – 1809 – und kannten einander. Während aber der eine zu Weltruhm gelangte, geriet der andere in Vergessenheit. Natürlich sind die wissenschaftlichen Verdienste des Schweizers Oswald Heer mit denen von Charles Darwin nicht vergleichbar. Aber auch Heer beschäftigte sich mit der Erdgeschichte, der Evolution, auch er war, wie Darwin, zuerst Theologe. Beide lieferten Argumente und fossile Belege für eine Abfolge von ausgestorbenen und neu entstandenen Tier- und Pflanzenarten im Lauf der Zeit. Mehrfach verwies Darwin in seinen Werken auf die Funde aus Schweizer Pfahlbausiedlungen und gab dabei Heer als Informationsquelle an. Wer also war Oswald Heer? Conradin A. Burga, Dozent an der Universität Zürich, versucht unter Mithilfe zahlreicher Spezialisten und Spezialistinnen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Über 500 Seiten schwer ist die Biografie geworden und in ihrem Detailreichtum bisweilen verwirrend. Von Gott zu den Käfern 1809 kommt Oswald Heer als zweites von neun Geschwistern im sanktgallischen Niederuzwil zur Welt. Der Vater ist Pfarrer und amtet ab 1817 in Matt im Kanton Glarus, wo Oswald seine Kindheit verbringt. Vater Heer betreibt neben dem Pfarramt eine Art privates Gymnasium, wo er seine Kinder und auch auswärtige Schüler unterrichtet. Schon als Kind sammelt Oswald eifrig Pflanzen, legt Herbarien an, unternimmt Exkursionen in die Bergwelt. Ab 1828 studiert er Theologie in Halle. Neben Kirchengeschichte, Exegese und Psalmenstudium besucht er Vorlesungen in Entomologie (Insektenkunde), Mineralogie, Botanik und Zoologie. In Halle begegnet er auch Arnold Escher von der Linth, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 1831 folgt die Ordination. Heer kehrt aber der Theologie den Rücken und nimmt in Zürich eine Stelle als Konservator der Käfersammlung von Heinrich Escher an. Gleichzeitig ist er Hauslehrer der beiden Sprösslinge Alfred und Clementine; der später sehr einflussreiche Alfred Escher wird seinen Lehrer Zeit seines Lebens fördern. 1838 heiratet Heer Margarethe Trümpy, sie wird ihm vier Kinder schenken. Er doktoriert und habilitiert an der neugegründeten Zürcher Universität, steigt rasch vom Extraordinarius zum Professor auf und wird gleichzeitig Direktor des Botanischen Gartens. 1855 kommt noch die Professur für Botanik, Paläobotanik und Entomologie an der neugegründeten ETH dazu. Erst spät, mit 72 Jahren, tritt er aus gesundheitlichen Gründen zurück. Zwei Jahre später, 1883, stirbt er. Das Hauptinteresse Heers gehörte – nach den frühen Forschungen zur Höhenverbreitung von Insekten und Pflanzen – der paläobotanischen Erforschung der Schweiz und Europas im Tertiär. Er schuf dazu die Grundlagen, er entwickelte neue Bestimmungsmethoden fossiler Pflanzen und leistete Pionierarbeit in der Erforschung fossiler Früchte und Samen. Heer interessierte sich darüber hinaus auch für die Botanik im Eiszeitalter, für die Pflanzenfunde aus den prähistorischen Pfahlbausiedlungen und sogar für die Landwirtschaft. Seine Publikationen füllen Regale. Populär wurde er 1865 mit dem Buch «Die Urwelt der Schweiz», wo er als erster die Funde aus 300 Millionen Jahren epochenweise zu anschaulichen Lebensbildern zusammenstellte. Für sein Werk wurde er vielfach auch international geehrt. Der Gelehrte war ein passionierter Briefschreiber. Die neue Biografie hat sich verdankenswerterweise dieser noch kaum angetasteten Quelle besonders intensiv angenommen und zitiert zahlreiche Briefpassagen. Die Korrespondenz in verschiedenen in- und ausländischen Archiven richtete sich an über 650 Adressaten! Zu den berühmtesten zählen Alexander von Humboldt und Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie Heer scharf kritisierte. Heer war ein vehementer Verfechter der «Umprägungstheorie», die von einer unregel- LANDESARCHIV DES KANTONS GLARUS, FOTOSAMMLUNG 2.1 HEER Darwins kleiner Bruder Der Botaniker Oswald Heer um 1835. Das Aquarell soll Clementine StockarEscher gemalt haben, die Schwester von Alfred Escher. mässigen und sprunghaften Entwicklung der Organismen ausging. Als gläubiger Mensch suchte er damit einen Kompromiss zwischen Schöpfungslehre und Evolutionstheorie. «Ich halte dafür, dass Gesetze auch einen Gesetzgeber voraussetzen», schrieb er 1859. Mit der Ablehnung der zukunftsweisenden Evolutionstheorie hatte sich Heer aber ins Abseits manövriert, sicher mit ein Grund, weshalb er heute in Vergessenheit geraten ist. Überfülle an Fachlichem Heer kannte zahlreiche Persönlichkeiten und gründete etliche Institutionen. Viele werden im vorliegenden Buch in aller Breite vorgestellt. Manchmal geht das so weit, dass beim Botanischen Garten auch noch die Obergärtner porträtiert werden. Unter der überbordenden Fülle an Informationen, die wegen der Aufsplitterung des Stoffs in zahllose Kapitel bisweilen redundant sind, droht der Leser den roten Faden zu verlieren. Das Ausbreiten von Fachdetails im entsprechenden Jargon überfordert den Laien, was insofern schade ist, als damit die Chance, Heers Werk einem breiten Publikum bekannt zu machen, verpasst worden ist. Auf der anderen Seite erfährt man fast nichts über Heers Leben ausserhalb der Forschung, zum Beispiel über sein Wirken im Zürcher Kantonsrat, dem er immerhin von 1850 bis 1868 angehörte. Eine Einbettung in die damalige Zeit findet kaum statt. Insgesamt wäre weniger Fachliches mehr gewesen; eine straffe Lektorierung und das Beiziehen eines versierten Historikers hätten dem Werk sicher gut getan. Dem Laien bleibt aber zum Schmökern eine Fülle an Wissenswertem aus dem Leben des grossen Paläontologen Oswald Heer. l Utopie Das linksradikale Philosophenduo Hardt/Negri kämpft weiter für die echte Demokratie Alle Macht den Ferienlagern! Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Campus, Frankfurt a. M. 2013. 127 Seiten, Fr. 18.90. Von Michael Holmes Zelte und Feuer, Fahnen und Lieder. Am Tage wird Räuber und Gendarm gespielt. Abends erzählt man Geschichten von tapferen Superhelden, die fest zusammenhalten, um die Bösewichter zu vernichten und die Welt zu retten. Wie Ferienlager schildert das linksradikale Philosophenduo Antonio Negri und Michael Hardt die Protestcamps der Bewegungen, die sie zur revolutionären Avantgarde erkoren haben. Ihr Hauptwerk «Empire» wurde als die Bibel der Globalisierungsgegner gefeiert. Ihre neue Kampfschrift «Demokra- tie!» glorifiziert die Occupy-Proteste, die arabischen Aufstände sowie die Unruhen in Frankreich und England als Spielarten einer authentischen, tiefen, lebendigen Demokratie – der «Herrschaft der Multitude». Hinter einem Wirrwarr aus Angeberwörtern verbirgt sich die alte Mär: Die repräsentative Demokratie und der liberale Rechtsstaat verschleierten die «Kontrolle des gesamten Lebens durch den Finanzmarkt» und müssten überwunden werden. Das Kapital habe den «dauernden Ausnahmezustand» und «totalen Überwachungsstaat», ja einen «absoluten Despotismus» geschaffen, der die Gesellschaft in eine Fabrik, einen Alptraum, ein Gefängnis verwandle. Die Bürger seien hypnotisiert, korrupt, blind für ihre «unsichtbaren Ketten». Echte Demokratie lässt sich den Autoren zufolge «nur von einer Multitude verwirklichen, die in der Lage ist, sie zu verstehen.» Die Bewegungen kommunizieren mittels Gebärden und Zurufen und erfassen «Frequenzen, die Menschen ausserhalb des Kampfes weder hören noch verstehen können». Da ihre kollektive Intelligenz das Wissen aller nutze, müsse kein Andersdenkender um seine Stimme bangen. Michael Hardt und Antonio Negri unterstreichen, dass die Multitude Zwangsmittel gegen Konzerne und Nationalstaaten einsetzen müsse, um einen eigentumsfreien Kommunismus zu verwirklichen. Ihre Macht äussert sich in Brandstiftungen, Plünderungen und Guerillakriegen. Bleibt die Frage, warum sich der Campus-Verlag in Frankfurt dazu hergibt, die Hetzschriften dieser militanten Extremisten zu publizieren. Demokratie ist kein Kinderspiel. l Kuba Der deutsche Journalist Carlos Widmann analysiert das Phänomen Fidel Castro Der Verehrung folgt die Abrechnung Carlos Widmann: Das letzte Buch über Fidel Castro. Hanser, München 2012. 335 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 19.30. Von Reinhard Meier An Fidel Castro scheiden sich die Geister – schon seit einem halben Jahrhundert. Die heutige kubanische Jugend, schreibt Carlos Widmann, habe vom Regime des alten Zuchtmeisters «die Schnauze voll». In Venezuela und in anderen lateinamerikanischen Ländern dagegen wird der Mythos des Revolutionärs und Herausforderers Amerikas von linken Populisten neu beschworen. Widmann, in Argentinien geboren und aufgewachsen, ist als welterfahrener Korrespondent mit dem Phänomen Castro und dessen streckenweise dramati- scher Ausstrahlung weit über die Karibik-Insel hinaus eng vertraut. Der Titel seines Buches ist offenbar eine ironische Anspielung darauf, dass Castros Herrschaftsexperiment historisch eigentlich abgelaufen ist, auch wenn der inzwischen 86-jährige, kranke Revolutionsführer weiterhin als «charismatisches Gespenst» umhergeistert. Zeit also, für eine Abrechnung. Widmann geht es bei seiner Bilanz nicht um ideologisches Schwarz-Weiss. Er schildert packend und mit dem sicheren Blick des gewieften Reporters für signifikante Einzelheiten Kernelemente von Fidel Castros flamboyanter Persönlichkeit. Dazu gehören seine privilegierte Herkunft aus einer Grossgrundbesitzerfamilie und seine skrupellosen, mitunter stalinistischen Methoden bei der Durchsetzung seiner Machtansprüche. Der Autor verhehlt bei seiner Abrechnung nicht frühere eigene Anfälligkeiten für die romantische Verklärung der Diktatur in Kuba. Er berichtet, dass er 1969 als junger Reporter für die «Süddeutsche Zeitung» die später zum Evangelium («Die Geschichte wird mich freisprechen») aufbereitete Verteidigungsrede Castros von 1953 nach dem gescheiterten Sturm auf eine Kaserne «als eine der grössten rhetorischen Leistungen spanischer Sprache im 20. Jahrhundert» gefeiert hatte. Jetzt fragt sich Carlos Widmann selbstkritisch, welcher Dämon ihn damals geritten habe, denn «in Wirklichkeit troff Fidel Castros 100-mal nachgebessertes Plädoyer von Eigenlob, Opportunismus und Klischees …». Ausser Kraftmeierei sei nichts an dieser Rhetorik zu finden, «vor allem keine Substanz». l <wm>10CAsNsjY0MDAx0gUSZpYWAPRWIEUPAAAA</wm> <wm>10CFWMsQ4CMQxDvyiVnTS5Cx3RbacbEHsWxMz_T7RsDPZgP_s8hzf8dD-u5_EYBLrKtMh9eHrTLQZT2-YxoLME7UZl0PfIP17ADIPVYgQz7kUVulgvhBdtPdRaQ9vn9f4CVae-AYAAAAA=</wm> 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Berlin Ilma Rakusa hat ein Journal über ihren Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt geführt Ebenso lebendig wie geschichtsträchtig Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke. Berlin- Journal. Droschl, Graz 2013. 112 Seiten, Fr. 24.90. Von Ina Boesch Die «Vorbemerkung» ist eine Liebeserklärung an Berlin. Sie sei von Berlin «berührt», bekennt die Schriftstellerin Ilma Rakusa auf der ersten Seite, «gerade weil die Stadt weh tut». Weil Geschichte nicht «wegretuschiert» wird. Weil Berlin ein «Scharnier zwischen Ost und West» ist. Und wegen seiner Vitalität: «Mit Phantasie werden triste Höfe umgenutzt, Brachen bebaut, marode Räume in quirlige Galerien verwandelt.» Tatsächlich ist es dieser lebendige, widerspenstige und geschichtsträchtige Charakter, der für viele treue Besucher den unwiderstehlichen Charme Berlins ausmacht. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Lektüre des Jour- nals, das die Autorin während ihres Berlin-Aufenthalts (Oktober 2010 bis Juli 2011) als Fellow am Wissenschaftskolleg geführt hat. Gleich zu Beginn nimmt die Autorin uns mit zum S-Bahnhof Grunewald, zu Gleis 17, von wo Juden deportiert wurden, schlendert weiter durchs Villenviertel, erzählt von einer witzigen Begegnung mit einem Deux-CheveauxBesitzer, um schliesslich den Tagebucheintrag mit einer Reflexion über ihre Arbeit am Wissenschaftskolleg zu beenden. In wenigen Sätzen bringt Rakusa zusammen, was in der Stadt ebenfalls auf knappem Raum zu erfahren ist: der Schrecken des Nationalsozialismus, der Reichtum Weniger, die Begegnung mit einem Original, das intellektuelle Leben. Solche Verdichtungen sind rar, leider. Auf den folgenden Seiten des schmalen Bändchens hält Rakusa fest, was sie an ausgewählten Tagen bewegt oder erfahren hat: Sie notiert, wie das Wetter war und ob es sie gesundheitlich beeinträchtigt hat; sie berichtet von Theater-, Kino-, Konzert- und Ausstellungsbesuchen; sie erzählt von Begegnungen mit der internationalen, vor allem osteuropäischen Kulturprominenz, vom Gulasch-Essen mit den Ehepaaren Esterhàzy und Kertèsz oder von Gesprächen mit dem libanesischen Autor Elias Khoury. Ilma Rakusa zitiert auch andere Journale (beispielsweise von Emine Sevgi Özdamar) oder was andere Schriftstellerinnen (zum Beispiel Ingeborg Bachmann) über Berlin geschrieben haben. Sie holt die weite Welt – die Katastrophe von Fukushima – mittels Zeitungslektüre in ihre Studierstube. Zu selten hält sie Episoden fest, die Berlin-spezifisch und berührend sind wie diese: Mit dünner Stimme preist ein Obdachloser in der UBahn sein Magazin an, doch keiner blickt auf, worauf er sich verzweifelt fragt: Mache ich etwas falsch? l Das amerikanische Buch Aus der Bronx ins Oberste Gericht der USA «Kleine, stetige Schritte» haben sie einen denkbar langen Weg getragen, schreibt Sonia Sotomayor in ihren Memoiren My Beloved World (Alfred A. Knopf, 315 Seiten): Er führte aus der Armut puerto-ricanischer Einwanderer in der Bronx bis hinter die Marmorsäulen des amerikanischen Verfassungsgerichts. Von Präsident Barack Obama ausgewählt, nahm Sotomayor 2009 als erste Persönlichkeit lateinamerikanischer Herkunft Einsitz am obersten Gericht der USA. Sie wurde damit eine historische Figur. Aber dies scheint erst heute wirklich in der breiten Öffentlichkeit und auch in ihrer eigenen «Community» anzukommen. Dafür spricht das enorme Echo auf «My Beloved World». Das Buch ist umgehend an die Spitze der Bestsellerlisten gesprungen und die Lesereise der Richterin im Februar geriet zu einem Triumphzug mit begeistertem Publikum in überfüllten Hallen. 1955 geboren, wuchs Sotomayor mit einer distanzierten Mutter und einem alkoholsüchtigen Vater auf, der nach 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013 PRIVAT Sotomayor notiert zudem, dass ihre Karriere nur deshalb möglich war, weil Institutionen in Staat und Gesellschaft der USA während der 1970er Jahre allmählich Türen für ehrgeizige «Hispanics» öffneten. Sie verteidigt die bis heute umstrittene «affirmative action», also die gezielte Förderung von Angehörigen farbiger Minoritäten, stellt aber selbstbewusst fest: «Meine Herkunft mag mir ein Princeton-Stipendium ermöglicht haben. Aber den Abschluss summa cum laude habe ich mir aus eigener Kraft verdient!» Sonia Sotomayor feiert ihren vierten Geburtstag (1959). Heute ist sie die erste Richterin mit puerto-ricanischen Wurzeln am USVerfassungsgericht (unten). REUTERS Die durchwegs positiven Kritiken nahmen diesen Erfolg vorweg. Das Buch endet zwar bereits 1992, als Sotomayor an das Bundesgericht für den südlichen Bezirk ihrer Heimatstadt berufen wurde. So vermeidet die Juristin Diskussionen ihrer von Republikanern bekämpften Nominierung für den Supreme Court und ihrer Haltung zu aktuellen Fällen. Dafür wird der Leser mit einer packenden und anrührenden Lebensgeschichte belohnt. Diese zieht ihre emotionale Kraft ebenso aus der Offenheit der Autorin, wie aus den Prüfungen, die sie auf ihrem Weg zu bestehen hatte. Freunde. Dazu zählt der einflussreiche Jurist José Cabranes, der heute am Berufungsgericht für den amerikanischen Nordosten wirkt. ihrem neunten Geburtstag verstarb. Erschwert wurde ihre Kindheit durch Diabetes, die sie bereits als Siebenjährige allein meistern musste. Die Kleine lernte, sich selbst die tägliche Insulinspritze zu setzen, und realisierte, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste. Rückschläge nahm das mit einer scharfen Intelligenz begabte Mädchen fortan als Lektionen wahr, die sie mit Fleiss und Beharrlichkeit bewältigen konnte. Wie Sotomayor dankbar hervorhebt, standen ihr dabei an jeder Station Mentoren zur Seite. Nie scheute sie sich, um Rat zu fragen. So gewann sie an der Princeton University und danach an der Yale Law School, bei der New Yorker Staatsanwaltschaft und schliesslich als junge Partnerin einer renomierten Kanzlei in Manhattan lebenslange Doch, obwohl ihr Buch zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem die Hispanics auch als politischer Faktor den endgültigen Durchbruch erzielt haben, ist «My Beloved World» keineswegs eine Streitschrift auf dem Schlachtfeld der Identitätspolitik in den USA. Sotomayor möchte Beispiel sein für die Möglichkeit des klassisch-amerikanischen Aufstiegs und plädiert für schrittweise Reformen: Aufgewachsen in Chaos und Not, hält die Richterin das Recht als Regelwerk hoch, das speziell Bürgern aus benachteiligten Milieus Sicherheit und Chancen gewähren sollte. Dabei hält sie an ihren Wurzeln fest. Dazu zählt eine afrokaribische Spiritualität, die sie an ihrer Grossmutter Mercedes aus Puerto Rico festmacht. So würdigt Sotomayor auch den Geist der geliebten «Abuelita» als Beistand, der sie auf ihrer imponierenden Lebensreise mit Rat und Tat begleitet hat. Von Andreas Mink l Agenda Künstlerkolonie Die Schule von Savièse Agenda März 2013 Basel Freitag, 1. März, 20 Uhr Emil Steinberger: Drei Engel. Bühnenprogramm mit Lesung. Theater Fauteuil, Spalenberg 12. Info: www.fauteuil.ch. Freitag, 8. März, 19 Uhr Rafik Schami: Poetischer Spaziergang durch Damaskus. Lesung, Fr. 25.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. M. MARTINEZ / WALLISER KUNSTMUSEUM EPA Montag, 25. März, 19 Uhr Ursula Krechel: Landgericht. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Bern Mittwoch, 13. März, 20 Uhr Pedro Lenz: Liebesgschichte. Lesung, Fr. 15.–. Buchhandlung Stauffacher, Neuengasse 25/27, Tel. 031 313 63 63. Montag, 25. März, 19 Uhr Ums Jahr 1900 wurde das ländliche Wallis durch Künstler aus der Stadt bevölkert, die auf der Suche nach einer unversehrten alpinen Welt waren. Als «Schule von Savièse» kolonisierten sie die Berglandschaft und schilderten sie als verlorenes Paradies. Paul Virchaux (1862–1930) stellt auf einem 1901 entstandenen Ölgemälde Älplerinnen und Älpler auf der Heimkehr von der Messe in Evolène dar. Drei junge Frauen führen den Zug an, der in der prallen Mittagssonne aus der Kirche kommt. Landschaft und Menschen feiern in realistischer Manier die Heimat. Das Bild ist ein Beispiel für die Ideologie der heilen Welt, welche die damalige Kolonie prägte. Im Spannungsfeld mit anderen künstlerischen Bewegungen wie jener weit farbigeren und anarchischeren auf dem Monte Verità im Tessin gewinnt diese Strömung ihre besondere Bedeutung. Manfred Papst Pascal Ruedin u. a. (Hrsg.): Die Schule von Savièse. Eine Künstlerkolonie in den Alpen um 1900. Kunstmuseum Wallis, Sitten 2012. 296 S., Fr. 59.–. Belletristik Sachbuch 1 Dtv. 656 Seiten, Fr. 27.90. 2 Diogenes. 192 Seiten, Fr. 25.90. 3 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90. 4 Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 27.90. 5 Blanvalet. 544 Seiten, Fr. 28.50. 6 Carl's Books. 366 Seiten, Fr. 18.90. 7 Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90. 8 Carl's Books. 352 Seiten, Fr. 18.90. 9 List. 480 Seiten, Fr. 28.90. 10 Eichborn. 396 Seiten, Fr. 27.90. 1 2 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90. 3 Fischer. 319 Seiten, Fr. 28.90. 4 Insel. 267 Seiten, Fr. 28.40. 5 Beobachter. 228 Seiten, Fr. 38.90. 6 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90. 7 Nagel & Kimche. 204 Seiten, Fr. 25.90. 8 Bibliographisches Institut. 285 S., Fr. 32.40. 9 Gassmann. 128 Seiten, Fr. 39.90. 10 Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 35.90. Paulo Coelho: Die Schriften von Accra. Jonas Jonasson: Der Hundertjährige. Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff. Sandra Brown: Blinder Stolz. Vina Jackson: 80 Days – Die Farbe der Lust. Martin Suter: Die Zeit, die Zeit. Vina Jackson: 80 Days – Die Farbe der Erfüllung. Camilla Läckberg: Der Leuchtturmwärter. Timur Vermes: Er ist wieder da. Mittwoch, 27. März, 19 Uhr 7. Bund-Essay-Wettbewerb unter dem Motto: Der Mutter und die Vaterin; Preisverleihung und Lesungen. Dampfzentrale, Marzilistrasse 47. Eintritt und Reservation: www.essay.derbund.ch. Zürich Mittwoch, 6. März, 19.30 Uhr Bestseller Februar 2013 Jussi Adler-Olsen: Das Washington-Dekret. Ulrich Beseler empfiehlt Bücher zu Ostern. Lesung, Eintritt frei inkl. Apéro. Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14. Info: www.haupt.ch. Thomas Jaenisch, Felix Rohland: myboshi – mützenundmehr. Frech. 111 Seiten, Fr. 21.90. Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens. Florian Illies: 1913 – der Sommer des Jahrhunderts. Pola Kinski: Kindermund. Christoph Stockar: Der Schweizer Knigge. Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns. Isabelle Neulinger: Meinen Sohn bekommt ihr nie. Guinness World Records 2013. Beat Kuhn: Ziemlich wild. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 25. Aufl. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 12.2.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Katja Fusek, Valentin Herzog und Gabriele Markus lesen aus ihren Werken. ZSV Forum im Gartensaal, Cramerstr. 7. Info: www.zsv-online.ch. Dienstag, 12. März, 20 Uhr Joey Goebel: Ich gegen Osborne. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Montag, 18. März, 19.30 Uhr Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Montag, 25. März, 19.30 Uhr Corina Caduff: Szenen des Todes. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Mittwoch, 27. März, 19.30 Uhr Zebra oder weisser Tiger und Fledermaus au Chocolat. Die Lesung zum Tier. Erfundenes und Erfahrbares aus dem Tierreich. Restaurant Zeughaushof, Kanonengasse 20. Info: www.zeughaushof.ch. Bücher am Sonntag Nr. 3 erscheint am 31.3.2013 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Prob e-Ab o best ellen SMS ! mit «NZ Z 26 » an 8 80 Tom Buchanan holte kurz und gezielt aus und brach ihr mit der flachen Hand die Nase. Knack. Aus «Der grosse Gatsby» von F. Scott Fitzgerald <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MLc0MgMAlttsqQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMKw7DMBAFT7TW26_tLozCooCqfElVnPujyGUBw2bmONIb_mz7-dnfyYA58ehTIn16kx45RBqsJ4RdwPpi8y5z-EMn8AyF1lIIQuzFRh5kqBharGtQK4a06_u7AV_gDCt_AAAA</wm> Weltliteratur in Kurzform 10 Klassiker der Weltliteratur, zusammengefasst auf 16 Seiten. Vom 31. März bis 2. Juni 2013 exklusiv in der «NZZ am Sonntag» als kostenlose Beilage. Jetzt 10 Wochen für nur 25 Franken Probe lesen: SMS mit Keyword NZZ26 sowie Namen und Adresse an die Nummer 880 (20 Rp./SMS) oder auf nzz.ch/klassiker. WELT LITERATUR k l a s s i k e r k o m pa k t WELT L I TERATUR WELT L I TERATUR WELTL I TERATUR WELTL I TERATUR WELTL I TERATUR WELTL I TERATUR WELTL I TERATUR WELT LITERAT UR WELT LITERAT UR Ausgabe Nr. 2 Ausgabe Nr. 3 Ausgabe Nr. 4 Ausgabe Nr. 5 Ausgabe Nr. 6 Ausgabe Nr. 7 Ausgabe Nr. 8 Ausgabe Nr. 9 Ausgabe Nr. 10 k l a s s i k e r k o m pa k t Ausgabe Nr. 1 MIT UNTERSTÜTZUNG VON IN KOOPERATION MIT Unbekannt Die Erzählungen aus den Tausend undein Nächten In Kooperation mit: MIT UNTERSTÜTZUNG VON IN KOOPERATION MIT Unbekannt Nibelungenlied k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON Schi Nai An Die Räuber vom Liang Schan Moor IN KOOPERATION MIT k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON IN KOOPERATION MIT Jane Austen Verstand und Gefühl k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON Victor Hugo Die Elenden IN KOOPERATION MIT k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON IN KOOPERATION MIT Leo Tolstoi Anna Karenina k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON IN KOOPERATION MIT Marcel Proust Auf der Suche nach der verlo renen Zeit k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON IN KOOPERATION MIT Virginia Woolf Mrs Dalloway k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON F. Scott Fitzgerald Der grosse Gatsby IN KOOPERATION MIT k l a s s i k e r k o m pa k t MIT UNTERSTÜTZUNG VON IN KOOPERATION MIT Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften Mit Unterstützung von: