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www.lehrerservice.at aktuell ONLINE das junge Magazin Ausgabe 21 l April 2015 Picturedesk Die Absturzstelle in den südfranzösischen Alpen Die Stimmen der Toten Angsterfüllte Schreie; dann der explosionsartige Aufprall des Flugzeugs; und zuletzt Stille; Totenstille. s o viel ist bekannt über den nen zum allgemeinen Ablauf des Fluges wahrscheinlich tragischs- sowie der Flugdatenschreiber und die ten Flugzeugabsturz der Tonaufnahmen eines Stimmrekorders letzten Jahre: das Zerschel- die unter den Wrackteilen gefunden len des Fluges U4 9525 wurden, liefern uns Hinweise. der Fluglinie „Germanwings“ an einer Alles Wie gewohnt Felswand der südfranzösischen Alpen. Es begann an einem, wie es schien, Alle 144 Passagiere und sechs Crewganz normalen Dienstag, dem 24. März. mitglieder fanden den Tod. Gemäß den Untersuchungen der Be- Menschen aus 18 verschiedenen Länhörden besteht kein Zweifel mehr: Der dern bestiegen am Flughafen von Barpsychisch kranke Kopilot Andreas L. celona das Flugzeug der Germanwings. steuerte die Maschine absichtlich ge- Sie hatten bei der Billigfluglinie der gen die Felswand. Er wollte sterben – Lufthansa Tickets für den Flug nach und 149 Menschen mussten mit ihm Düsseldorf erworben. Unter ihnen zwei sterben. Keiner von ihnen kann mehr namhafte Opernsänger, zwei iranische für sich sprechen. Nur die Informatio- Journalisten, Geschäftsleute, Urlauber, und eine 16-köpfige Schülergruppe (14 Mädchen, zwei Buben), und zwei Lehrer der Joseph-König-Schule in Haltern (Nordrhein-Westfalen). Sie hatten an einem Spanisch-Deutschen-Austauschprogramm teilgenommen und wollten jetzt heimfliegen. Eine der Schülerinnen hatte ihren Personalausweis im Haus ihrer Gastgeber vergessen. Voll Nervosität bat sie am Telefon darum, dass sie ihn ihr nachbringen mögen – was sie auch taten. In letzter Sekunde erwischte sie den Flieger – und mit ihm den Todesflug. Bevor die Maschine endgültig abheben konnte, bedeutete das Bodenpersonal den Piloten zu warten. Sie durften die Motoren noch nicht einschalten, weil die Abflugschneise blockiert war. Aber dergleichen ist im < TOPICaktuell ONLINE – ab sofort auf www.lehrerservice.at Ausgabe 21 l april 2015 l seite 2 lich hat der Kapitän sie gedrückt. Aber Andreas L., der ihn mithilfe eines Bildschirms sehen konnte, dürfte den kleinen Hebel betätigt haben, mit dem er diese Art des Öffnens von Außen verhindern kann. Auch das sollte eigentlich vor Terroristen schützen – in diesem Fall verhinderte es, dass der Kapitän rettend eingriff. Am Stimmrekorder sind dumpfe Geräusche zu hören. Wahrscheinlich hämmerte er mit den Fäusten gegen die Tür und versuchte zuletzt, sie mit Gewalt aufzubrechen. Erfolglos. Andreas L.s krankhafter Wunsch nach dem Tod war stärker. Der Aufprall Flugverkehr ganz normal – die Startbahn zum Flug in den Tod wurde selbstverständlich freigegeben. Um 10 Uhr am Vormittag hob die Maschine ab. Nach einer guten halben Stunde erreichte sie die Reiseflughöhe von 11,5 Kilometern. Zu diesem Zeitpunkt machen die Passagiere normalerweise ihren Sicherheitsgurt auf, stellen die Sitzlehne etwas zurück und holen ein Buch aus der Tasche, um die Zeit zu überbrücken. Dramatische Wende Doch ein scheinbar harmloses Unterfangen änderte alles: Der Flugkapitän musste kurz die Toilette aufsuchen. Dazu verließ er das Cockpit und sein Kopilot übernahm das Steuer. Es ist möglich, dass die Passagiere den Flugkapitän sahen, als er zur Toilette ging. Es ist auch möglich, dass sie bemerkten, wie der Flieger langsam an Flughöhe verlor – obwohl sie erst eine halbe Stunde unterwegs waren. Was sie bestimmt nicht ahnen konnten, war, dass der 27-jährige Kopilot Andreas L. das Flugkontrollsystem absichtlich verstellt und einen Sinkflug eingeleitet hatte. Das war um 10:45 Uhr. Es war nicht so, dass der Flieger plötzlich im Sturzflug hinabsauste und auf dem Boden aufschlug. Vielmehr Der Voice Recorder gab die Schreie der Passagiere wieder sank er ungefähr 1.000 Meter pro Minute. Diese Art Sinkflug erwartet man, wenn der Zielflughafen erreicht ist – kaum, wenn man gerade über die Alpen fliegt. Dennoch ist der stetige Abwärtskurs den Passagieren vielleicht nicht aufgefallen. Erst als die Ereignisse im vordersten Teil des Flugzeuges unüberhörbar wurden, muss Panik sie ergriffen haben. auf Selbstmordkurs Durch den Stimmrekorder wissen wir: Andreas L. am Steuer der Maschine atmete ganz ruhig, obwohl die Maschine auf Kollisionskurs flog. Dann war außerhalb des Cockpits die Stimme des Flugkapitäns zu hören, die lauter und lauter wurde, bis er zu schreien begann: Er forderte Einlass. Zum Schutz vor Terroristen lässt sich das Cockpit verriegeln, doch diese Verriegelung lässt sich von außen lösen, indem man eine bestimmte Tastenkombination drückt. Vermut- < Hörten die Passagiere das alles? Es ist davon auszugehen. In jedem Fall hätte ein Blick aus dem Fenster gereicht: Das Bergmassiv, das weit unter ihnen emporragen sollte, kam näher und näher. In den letzten Minuten wird es auf dem Stimmrekorder im ganzen Flugzeug laut: Viele Menschen schreien. Der Flug ist zum Albtraum geworden. Er endet mit einem Knall. Die Schreie verstummten. Die 150 Menschen an Bord des Flugs 9525 sind tot. Kathrin Madl was heisst: Blackbox: Sie setzt sich zumeist aus einem Stimmrekorder, der die Gespräche der Piloten während des Fluges aufzeichnet, und dem Flugdatenschreiber zusammen. Dieser speichert technische Daten des Flugzeuges (Geschwindigkeit, Treibstofffluss, Außendruck, Flughöhe …), während es in der Luft ist. Die Geräte befinden sich in einem äußerst robusten Metallgehäuse, das selbst einen Absturz aus enormer Höhe unbeschadet überstehen sollte. Gerade bei einem Unfall bietet die Blackbox wichtige Informationen über den Flugverlauf und mögliche Ursachen. Picturedesk (2) Trauernde Mitschüler der Toten vor dem Gymnasium in Haltern TOPICaktuell ONLINE – ab sofort auf www.lehrerservice.at Ausgabe 21 l april 2015 l seite 3 InfoiBox InfoiBox Wurden Fehler gemacht? Hätte der Todesflug vermieden werden können? Andreas L., so weiß man heute, litt seit Jahren an einer schweren Depression: einer psychischen Krankheit, bei der man sich zwanghaft nach dem eigenen Tod sehnt. Er war deshalb in ärztlicher Behandlung und meist hilft diese Behandlung auch. Bei Lufthansa, der Fluglinie zu der Germanwings gehört, hielt man ihn für geheilt. Das war eine Fehleinschätzung. Andreas L. litt weiterhin an Depressionen und war am Tag des Fluges von seinem behandelnden Arzt krankgeschrieben. Aber die Lufthansa wusste nichts davon, denn er zerriss die Krankschreibung. Und der Arzt darf dem Arbeitgeber nur dann etwas über die Erkrankung eines Patienten mitteilen, wenn er annehmen muss, dass der Betreffende jemanden töten oder schwer verletzen könnte. Andreas L. hat aber gegenüber seinem Arzt offenkundig keine Andeutung in diese Richtung gemacht. Manche Leute meinen jetzt, man sollte die strenge „Schweigepflicht“ der Ärzte lockern. Aber dann gingen die Kranken schon gar nicht zum Arzt und jede Behandlung unterbliebe. Wenn jemand häufig niedergeschlagen und traurig ist, nennt man ihn „depressiv“. Wiederkehrende Anfälle von Depression können eine schwere psychische Krankheit sein. Man spricht dann von einer „endogenen“ (von innen herauskommenden) Depression. Das Besondere daran ist: Die Traurigkeit des Kranken braucht keinen verständlichen Anlass. Er ist nicht nur traurig, wenn ihm et- was Trauriges zustößt – wenn etwa ein guter Freund stirbt –, sondern auch, wenn alles rund um ihn herum in Ordnung ist. Wenn andere Menschen ihn durchaus gernhaben und sich um ihn kümmern. Meist äußert sich ein Anfall anfangs dadurch, dass der Betreffende sich zurückzieht und „abkapselt“. Er kann sich zu nichts aufraffen. Oft will er nichts mehr essen, hebt das Telefon nicht mehr ab und steht morgens nicht mehr auf. Er spielt ständig mit Selbstmordgedanken. Und im Extremfall wird der Wunsch, im Tod Erlösung zu finden, am Ende so stark, dass er ihm nicht mehr widerstehen kann. Vermutlich hängt die Erkrankung nicht nur mit psychischen Problemen, sondern mit einer Störung in den chemischen Abläufen des Gefühlslebens zusammen. Man kann sie jedenfalls mit einer Kombination aus Medikamenten und hilfreichen Arztgesprächen durchaus unter Kontrolle bekommen. „Depressive“, die in Behandlung sind, können ein zufriedenes Leben führen und erfolgreich auch schwierigste Berufe ausüben. Ob man ihnen allerdings auch den Beruf eines Linienpiloten zumuten darf, ist nach diesem Unglück fraglich. Zumal sich viele Depressive sehr gut verstellen können: Von außen sieht es so aus, als ob es ihnen tadellos ginge – innerlich fühlen sie sich elend. Normalerweise sind Depressive allerdings völlig ungefährlich für andere Menschen: Sie suchen nur den eigenen Tod – nicht auch den Tod anderer. Die meisten Psychiater meinen daher, dass die Tat des Andreas L. „untypisch“ ist. Dass etwas zu seiner depressiven Erkrankung hinzugetreten sein muss: vielleicht die Nebenwirkung eines Medikamentes. Vielleicht krankhafte „Wahnideen“, die über eine Depression hinausgehen. Einer Freundin sagte er, dass einmal die ganze Welt seinen Namen kennen würde – auch wahnhaftes Geltungsbedürfnis kann ein Motiv sein. Da Andreas L. keine Hinweise hinterlassen hat, werden wir nie erfahren, was wirklich in ihm vorging. Auch das ist eine der Lehren des Unglücks: Es gibt Handlungen, die unbegreiflich sind und unbegreiflich bleiben. Picturedesk, Shutterstock Was ist eine krankhafte Depression? TOPICaktuell ONLINE – ab sofort auf www.lehrerservice.at Ausgabe 21 l april 2015 l seite 4 Kerzen vor der Schule von Heutern InfoiBox Was bekommen die Hinterbliebenen? Ist Fliegen gefährlich? Die Lufthansa werden die 149 Toten teuer zu stehen kommen. Schon jetzt muss sie den Familien der Opfer jeweils 50.000 Euro als Soforthilfe ausbezahlen. Diese Summe wird sich aber erhöhen. Denn das Gesetz bestimmt, dass Hinterbliebene auf jeden Fall – auch wenn die Fluglinie an dem Unfall völlig schuldlos ist – Schadenersatzansprüche bis zu einer Höhe von 135.000 Euro haben. Wenn sie etwa nachweisen können, dass der Verunglückte im Laufe seines Lebens 135.000 Euro verdient hätte, die seiner zurückgebliebenen Familie jetzt fehlen. Sofern ein Gericht feststellt, dass die Lufthansa Schuld oder Mitschuld an dem Unglück trägt kann In den vergangenen Monaten sind drei Passagierflugzeuge abgestürzt. Wer diese traurigen Nachrichten mitverfolgt, wird sich die Frage stellen: Wie sicher ist Fliegen eigentlich? Doch die Schlagzeilen täuschen: Flugzeugabstürze stehen zwar immer groß in der Zeitung, weil sie auf einen Schlag viele Menschen das Leben kosten – aber gemessen an der Zahl der beförderten Menschen und der zurückgelegten Distanzen sind sie extrem selten. Innerhalb der letzten vier Jahre sind auf einer Milliarde Kilometer im Flugzeug 0,3 Menschen, im Zug 2,7 und im Auto 276 verunglückt. Nimmt man die vielen Jahrzehnte, in denen Menschen mit Flugzeugen befördert wurden, so liegt die Zahl der Toten pro Milliarde Kilometer noch immer bei null. Auch die Bahn ist mit 0,04 Todesfällen sehr sicher. Jedenfalls im Vergleich zum Auto mit 2,9 Toten auf einer Milliarde Kilometer. (Pro Tag sterben in Europa etwa 70 Menschen bei Autounfällen.) die Summer sogar noch höher bemessen werden. Für die Hinterbliebenen ist das Geld zwar kein Trost. Für sie ist eine Welt zusammengebrochen. Sie haben ihre Liebsten verloren. Aber die hohen Zahlungen bewirken, dass Flugunternehmen alles unternehmen, um das Fliegen möglichst sicher zu machen. So wurde sofort eine in den USA geltende Regel auch bei europäischen Fluglinien eingeführt: Es müssen immer zwei Personen im Cockpit sein. Wenn ein Pilot auf die Toilette geht, muss jemand aus der Crew seinen Platz einnehmen. Und man wird die Piloten wohl in Zukunft auch öfter psychologisch untersuchen. Ein Gedenkstein erinnert an die Toten Picturedesk (3) InfoiBox