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33Bücher, Kult und Kultur von Boccaccio bis Wilde – ein Kanon der Weltliteratur die Sie lesen müssen Von Hellmuth Karasek urzeit ist der Literaturkanon in aller Munde – welche Bücher gehören zum eisernen Bestand einer lesenden Nation? In den Schaufenstern stehen Schuber mit den Romanen, die mein Freund und großer Kollege Marcel ReichRanicki „kanonisiert“ hat; Bücherpakete mit Dramen, Erzählungen, Gedichten und Essays werden folgen. Meine Liste der 33 Bücher erzählender Prosa hat eine andere innere Begründung: Es ist die der Welt- gegenüber der deutschsprachigen Literatur, wie sie sich ReichRanicki zur Aufgabe gestellt hatte. Z f o to graf i e rt von dani e l bi skup 35 reader’s digest 3 dezemb er 2002 Weltliteratur statt Nationalliteratur: Man sollte denken, dass der Hauptunterschied die Sprache ist; die eine ist in Sprachen abgefasst, die andere in deutscher Sprache. Doch das ist in Wahrheit nicht der Unterschied. Goethe war es, der den Begriff der Weltliteratur geprägt hat. Und er hat ihn vor allem so gemeint, dass man die Literaturen anderer Sprachen durch Übersetzungen im Deutschen heimisch macht. Nicht zufällig waren die Klassiker Goethe und Schiller auch Übersetzer, nicht zufällig folgten ihnen die Romantiker, und der Schlegel-Tieck-Übersetzung verdanken wir den klassischen „deutschen“ Shakespeare. Das erste Buch der (neuen) deutschen Literatur ist die Luther-Bibel. Martin Luther beherrschte außer Latein auch Hebräisch und Griechisch – und hat uns neben der Übertragung gleich noch das Hochdeutsche geschaffen. Welches Buch also könnte besser geeignet sein, den Reigen der 33 Werke zu eröffnen, der danach schlicht dem Alphabet folgt (genannt ist übrigens meist die preiswerte Taschenbuchausgabe). Manche Klassiker wie den Don Quijote des Cervantes, Dantes Göttliche Komödie oder Homers Ilias und Odyssee, aber auch das Nibelungenlied werden Sie vergeblich suchen. Weil sie zum festen Bildungsgut gehören, ohne dass man sie selbst noch lesen muss: Ihr Einfluss ist in alle nachfolgende Literatur eingegangen und lebt dort, zumindest als Spurenelement, fort. 36 1. Die Bibel (1522/1534) Deutsche Bibelgesellschaft, 1982; 21,50 Euro Luther veröffentlichte 1522 die Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen, 1534 folgte die Übertragung des Alten Testaments aus dem Hebräischen. In einer kraftvollen, eigens für das Werk geschaffenen Sprache (wobei Luther dem Volk „auf das Maul“ schaute) gehört sie zum Sprachschatz jedes Deutsch Sprechenden; ihre Bilder, Mythen, Gleichnisse, Legenden (Judaslohn, Sintflut, Heimkehr des verlorenen Sohnes) bestimmen bis heute unser (Sprach-)Bewusstsein. 2. Giovanni Boccaccio Das Dekameron (13481353) Insel Verlag, 1999; 15 Euro Die Novellensammlung ist ein ganz und gar irdisches Buch über den Menschen, der in der Renaissance zum Maß aller Dinge wurde, mit Leiden und Freuden, komischen und gefährlichen Erfahrungen. Den Rahmen bildet die Pe s t : Vo r d e r Krankheit flüchtende Florentiner erzählen einander zu Zeitvertreib, Trost und Belehrung Geschichten . Die Liebe ist die beherrschende Kraft, Männer und Frauen erscheinen gleichberechtigt. 33 Bücher, die Sie lesen müssen 3. Pierre Ambroise François Choderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften (1782) 6. Francis Scott Fitzgerald Der große Gatsby (1925) Diogenes, 1989; 10,90 Euro Dieser Briefroman, scheinbar frivol, ist der Spiegel einer dekadenten raffinierten Adelswelt, den der Autor seiner Zeit vorhält: Die Liebe ist perversen Gelüsten gewichen, die Tugend gilt als zerstörenswerte Torheit. Das Werk eines großen Moralisten über das Auseinanderklaffen von Sein und Schein. Diogenes, 1974; 8,90 Euro Ein fahles und kaltes Licht fällt auf den Glamour der „Goldenen 20erJahre“. Der Held hat sich rigoros als Neureicher in der NeuenglandGesellschaft der Ostküste der USA hochgeboxt und scheitert, als er die romantischen Ideale, welche die Schönen und Reichen zu haben vorgeben, zu leben versucht: Er wird ermordet, aber eigentlich erfriert er an der Kälte der glitzernden Welt. 4. Daniel Defoe Robinson Crusoe (1719) 7. Gustave Flaubert Madame Bovary (1857) Insel Verlag, 2000; 9 Euro Als England die Welt entdeckte und eroberte, entstand dieser Roman vom Schiffbruch und der Kraft, sich in der Natur allein zu behaupten. Und ihr die menschliche (christliche) Ordnung aufzuzwingen. Insel Verlag, 1996; 10 Euro Der Epoche machende Roman über den Selbstmord einer Ehebrecherin – nicht aus Liebeskummer, sondern aus genereller Enttäuschung. Das Werk über eine Landarztgattin, die in ihren romantischen Träumen von höher gestellten oder scheinbar hö- 5. Fjodor Michailowitsch Dostojewski Schuld und Sühne (1866) Aufbau Verlag, 1997; 12 Euro Die Mordtat, die der aus verarmter bürgerlicher Familie stammende Student Raskolnikow an einer alten Wucherin begeht, ist einer der ersten schrecklichen Diskurse über die Berechtigung eines Mordes und die Diskussion über lebenswertes Leben. Ein philosophischer Roman, auch über das Fegefeuer der Sühne und die Auferstehung in der Liebe, der Opferliebe Sonjas, die dem Verbrecher nach Sibirien gefolgt ist. H Z U R P E R S O N H Hellmuth Karasek rof. Dr. Hellmuth Karasek ist einer P der prominentesten deutschen Kulturkritiker. Der 1934 in Brünn geborene Schriftsteller und Dramaturg wurde unter anderem durch seine Redakteurtätigkeit beim Spiegel bekannt sowie durch die ZDF-Kultursendung Das literarische Quartett (u. a. mit Marcel Reich-Ranicki). Der Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegels ist verheiratet und hat vier Kinder. 37 reader’s digest 3 dezemb er 2002 her gebildeten Liebhabern missbraucht wird, wurde zum Spiegel eines bürgerlichen Zeitalters und seiner Provinzialität. 8. Theodor Fontane Effie Briest (1894/1895) Ullstein, 1994; 5,95 Euro Ein Roman, der auf einen wahren Skandal zurückgeht. Das Werk illustriert die Brüchigkeit einer Gesellschaft mit dem Fehltritt einer Landratsfrau und ihrer Ächtung, nachdem ihr Liebhaber im Duell getötet wird. Deutlich wird eine Gesellschaft, die ihr Leben in längst leer gewordenen Formen begraben hat und jene zermalmt, die das deutlich machen – weil sie, für Augenblicke wenigstens, leben. 9. Nikolaj W. Gogol Die toten Seelen (1842 - 1855) dtv, 1998; 11 Euro Dieser fragmentarisch gebliebene, als Dreiteiler geplante Roman besticht durch seinen überragenden ersten Teil: Ein Schwindler taucht in den Weiten der Provinz des zaristischen Russland auf, um den in Geiz, Verbitterung, Hass und Angst dahinvegetierenden Adligen die „toten Seelen“, also die verblichenen hörigen Landarbeiter, abzukaufen. Satirisch großartiges Porträt einer Gesellschaft lebender Gespenster. 38 10. Günter Grass Die Blechtrommel (1959) dtv, 1993; 11 Euro Der immer noch beste Nachkriegsroman Deutschlands, der mit bös genauem Blick die Kleine-Leute-Welt in Danzig vor und nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs festhält: Es ist der Blick der Kinderaugen, die ungerührt und mit kruder Fantasie sehen, was zu sehen ist. 11. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1669) dtv, 1975; 11,50 Euro Dieser deutsche Schelmenroman hält die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges in durchaus komischen und satirischen Schilderungen fest. Er ist – aus der Sicht eines naiven Kindes scheinbar unschuldig geschrieben – ein Vorbild bis zu Grass’ Blechtrommel (siehe oben). ^ 12. Jaroslav Hasek Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk (1921 - 1923) Suhrkamp, 2000; 14 Euro Ein moderner Schelmenroman, der eine kriegerische Welt als närrisch erscheinen lässt. Episch wild wuchernd, von anarchischer Erzählkraft, hat Hašek eine typische Eulenspiegel-Figur geschaffen. Die versteht es, den industriell geführten Krieg nicht nur durch Gehorsam zu überleben, sondern ihn durch scheinbare Anpassung zu blamieren. 13. Hermann Hesse Der Steppenwolf (1927) Suhrkamp, 1997; 8,50 Euro Der Held, ein von seiner kleinbürgerlichen Welt entfremdeter Außenseiter, sehnt sich gleichzeitig in diese gehasste Ordnung zurück. Die auf Nietzsches Gedanken basierende Zivilisationskritik, die tiefenpsychologische Sicht auf die moderne Massengesellschaft, die daraus resultierende Weltflucht und der Weltekel haben das Werk zu einer Bibel der sich auflehnenden Jugend gemacht. 14. James Joyce Ulysses (1922) Suhrkamp, 2000; 16 Euro Beim Erscheinen als Skandal empfunden, wohl wegen des freimütigen Sexualwachtraums der Molly Bloom („Ich bin das Fleisch, das stets bejaht“), ist diese Irrfahrt in die Banalität eines Tagesablaufs in Dublin nicht leicht zu lesen. Aber das Jahr- hundertbuch hat Schule gemacht und zeigt, wo sich die modernen Mythen abspielen: im Berufs-, Straßen- und Kneipenalltag der Großstadt. 15. Franz Kafka Der Prozess (1914/1915) dtv, 1998; 7,50 Euro Kafka beschreibt die Apokalypse des Individuums, das in das Räderwerk einer von außen behaupteten Schuld gerät. Akkurat nüchtern geschrieben, offenbart das Werk die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts, das den Einzelnen mit seiner ohnmächtigen Mitwirkung zermalmt – nicht ohne dessen verzweifeltes Einverständnis. 16. Imre Kertész Roman eines Schicksallosen (1975) Rowohlt, 1999; 8,90 Euro Einen pervertierten Entwicklungsroman hat man das Buch des großen 39 reader’s digest 3 dezemb er 2002 ungarischen Autors genannt, der als Jude aus seiner Kindheit gerissen und den Nazi-Todesfabriken übergeben wurde. Es ist das schrecklich genaue Werk eines Autors, dem das Schicksal zugemutet wurde, in der Hölle zu leben und sie zu überleben – um über sie berichten zu können und zu müssen. Dafür erhielt Kertész 2002 den Literatur-Nobelpreis. 17. Heinrich Mann Professor Unrat (1905) Rowohlt, 2002; 6,50 Euro Sicher ist der Film Der blaue Engel, der nach diesem Roman über einen wilhelminischen Kleinstadt-Schulmeister entstand, berühmter als seine Vorlage – auch dank Marlene Dietrich in der Titelrolle. Trotzdem gibt es kein besseres Buch über das Atmosphärische im Vorkriegsdeutschland, und will man verstehen, aus welchen Gründen Deutschland in zwei Kriege geriet – vielleicht findet man hier eine wichtige Antwort über den psychischen Druck im Kaiserreich. 18. Thomas Mann Der Zauberberg (1924) Fischer, 1991; 12,90 Euro Der Roman endet mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, in dessen Schützengräben und Materialschlachten auch die morbide Zauberbergwelt des Helden Hans 40 Castorp untergeht, eine Welt, die im Lungensanatorium in den Schweizer Bergen gespiegelt wird: eine Kunstwelt unter Künstlern, die das Leben als Untergang disputieren und im Verfall lieben. 19. Gabriel García Márquez Hundert Jahre Einsamkeit (1967) Kiepenheuer & Witsch, 2002; 10 Euro Unter der ohnehin wild wuchernden lateinamerikanischen Literatur stellt die Chronik der Familie Buendia einen üppigen Höhepunkt da. Ein Buch, das für die Schilderung menschlicher Tragödien scheinbar keine Moral bemühen muss – und dem es gelingt, die mythische Tragödie eines schlingernden Kontinents mitsamt seiner brutalen Fruchtbarkeit und todbringenden Grausamkeit einzufangen. 20. Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften (1930 - 1942) Rowohlt, 1978; 14,90 Euro Dieser große Roman ist Fragment geblieben, wie der satirische Anlass, den er beschreibt, Stückwerk bleibt: die Vorbereitung der „Parallelaktion“, eines nationalen Ereignisses zum geplanten 70-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser FranzJosephs I; tatsächlich bleibt selbst der Untergang „Kakaniens“, wie Musil das alte Österreich ironisch nennt, fragmentarisch. Ein mit bebender Distanz und anteilnehmender Ge- 33 Bücher, die Sie lesen müssen scheitheit geschriebener philosophischer Roman, groß noch im Scheitern. willigen Sklaven verformt. Die Zukunft ist längst nicht zu Ende. 21. Wladimir Nabokov Lolita (1955) 23. Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913 1927) Suhrkamp, 2000; 50 Euro Rowohlt, 1999; 8,90 Euro Mitten in der scheinheiligen Spießigkeit der USA schlug das Buch vom Professor, der ein „Nymphchen“ liebt, wie eine Granate ein. Auch hatte es eine derartige Mischung aus Kunstfertigkeit und Ursprünglichkeit lange nicht gegeben: die Liebe als heimtückisch machender Wahn, der das angebliche Opfer in den Mord treibt. Das war ein böser Spaß über und ein diabolischer Blick auf das scheinbar brave Amerika; von einem, der sich mit perfider Kunstfertigkeit eingeschlichen hatte – und die Welt zeigte, wie sie ist und nicht sein sollte. 22. George Orwell 1984 (1949) Ullstein, 1994; 7,95 Euro Eine Zukunftsvision ist dieser düster-scharfsichtige Roman nicht mehr – wohl aber immer noch die beste literarische Analyse für die Herrschaft des „Großen Bruders“ überall. Und für die „double speech“, diese besondere Form der Doppelzüngigkeit, mit der totalitäre Propaganda ihre Untertanen mundtot macht und scheinbar zu Der siebenbändige Romanzyklus ist der imponierende Versuch Prousts, in einem jahrelangen Wettlauf mit dem Tod ein Monument der Erinnerungen zu errichten: In einem Paradox wird Vergangenheit als eigentliches Leben beschworen. Das verarbeitende Bewusstsein ist das eigentliche Sein. Ein Roman größter innerer Genauigkeit, der eine verblühende Gesellschaft und ihre Leiden an Liebe und Verrat festhält. 24. Joseph Roth Radetzkymarsch (1932) dtv, 1998; 9,50 Euro Viele Autoren haben versucht, im Untergang der habsburgischen Monarchie und des K.u.k.-Vielvölkerstaats das Verlöschen einer alten Welt voller Glanz, Melancholie und Widersprüche zu spiegeln – kaum einem ist das atmosphärisch so dicht, erzählerisch so spannend und elegisch geglückt wie Roth. Sein Meisterwerk reflektiert den Untergang vom Rand der Provinz aus und trifft damit mitten ins Zentrum. 25. Jerome David Salinger Der Fänger im Roggen (1951) Rowohlt, 1966; 5,90 Euro Ein wichtiges Buch für viele Generationen Heranwachsender. Drei Ta- 41 reader’s digest 3 dezemb er 2002 ge treibt sich der aus dem Internat verwiesene Held Holden haltlos in New York herum, bis er, zerschlagen und krank von der Falschheit, zu seiner Familie zurückkehrt – ein moderner Entwicklungsroman mit der Kraft der Verzweiflung, die verzweifelten Jugendlichen die Kraft der Solidarität gab und gibt. 26. Arthur Schnitzler Leutnant Gustl (1900) Fischer, 2001; 8,90 Euro Diese schmale, aber Epoche machende Novelle erzählt in einem inneren Monolog etwas über die Angst eines Offiziers, bei einem banalen Zwischenfall seine Ehre verloren zu haben. Äußerlich passiert nichts, da der Provozierer des Ehrverlusts wegstirbt – innerlich wird die lächerlichtragische Ehrlosigkeit der untergehenden K.u.k.-Monarchie sichtbar. 27. Aleksandr Issajewitsch Solschenizyn Der Archipel Gulag (1973 - 1975) Rowohlt, 1988; 11 Euro Ein gewaltiges episches Dokumentarwerk in sieben Teilen. Es ist die genaue Schilderung des von Stalin geschaffenen Lager- und Vernichtungssystems der Sowjetunion, dessen höllische Dimensionen den Maschinerien der Nazis oder Pol Pots in nichts nachstehen. In Zeiten sich anbahnender Koexistenz war das Buch als böser Brocken und sperriger Block ob seiner Wahrheiten unbequem – so unbequem, wie es sein Autor geblieben ist. Aber es ist eine 42 Schilderung der entmenschlichten Welt, die im 20. Jahrhundert errichtet wurde. 28. Stendhal Rot und Schwarz (1828/1830) dtv, 1998; 11 Euro Seinen Roman über den jungen ehrgeizigen leidenschaftlich entflammbaren Hauslehrer Julien Sorel (er basiert auf einer wahren Geschichte) hat Marie Henri Beyle alias Stendhal als „Chronik des 19. Jahrhunderts“ verstanden: eine Tragödie zwischen Karrieresucht und Liebe, die in perverser Weise im Mordversuch an der Geliebten endet und mit dem Tod durch die Guillotine bezahlt wird. 29. Jonathan Swift Gullivers Reisen (1726) Insel Verlag, 1996; 10 Euro Scheinbar für Kinder ist dieser erste fantastische Roman eines der vergnüglichsten und bösesten Bücher über den Menschen, der sich klein groß aufspielt, groß von erschreckender Plumpheit ist, abstoßend in seiner Verrohung und lächerlich in seiner scheinbar gelehrten Weltentrücktheit. Ein ewig gültiges Nachschlagewerk über die schwache, eitle, böse und doch auch liebenswerte Natur des Menschen. 33 Bücher, die Sie lesen müssen 30. Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi Anna Karenina (1878) 32. Voltaire Candide oder Der Optimismus (1759) Lübbe, 1997; 8,45 Euro Als Hohes Lied auf die Familie und das einfache Leben angelegt, besticht dieses Meisterwerk durch die Raffinesse, Tiefe und Genauigkeit, mit der es eine Gesellschaft spiegelt, die die Creme des zaristischen Russland bildet: Ihr glänzender, aber dünner Schein zerbricht an der kurzen Wahrheit der großen Gefühle. Insel Verlag, 2000; 7,50 Euro Eine bittere Satire auf die „beste aller möglichen Welten“, von der die Aufklärung und ihre Philosophen schwärmten: Der Held wird vom Unglück verfolgt, von Katastrophen heimgesucht, verstümmelt, gefoltert, von der Liebsten getrennt, grausam enttäuscht und beraubt. Kann man da noch Optimist bleiben? Es bleibt einem nichts anderes übrig. Ein grandioses Lehrbuch über das Leben. 31. Mark Twain Die Abenteuer des Huckleberry Finn (1884) 33. Oscar Wilde Das Bildnis des Dorian Gray (1891) dtv, 1997; 8,50 Euro Dressler, 1998; 7,50 Euro Dies ist wahrlich mehr als ein Kinderbuch und mehr als die Fortsetzung des populären Tom Sawyer. Die abenteuerliche Reise eines anarchischen jugendlichen Außenseiters mit außergewöhnlicher Beobachtungsgabe lenkt den Blick auf eine scheinbar freie, aber schon verbogene amerikanische Welt. Der Roman über einen geistreich zynischen Dandy begründet einen neuen, scheinbar amoralischen Ästhetizismus, mit dem das Fin de Siècle das Tor zur Moderne aufstieß. Trotz seiner Melodramatik ein Meilenstein moderner Literatur – dem Werk Prousts durchaus verwandt. n Diesen Artikel gibt es als Sonderdruck. Näheres lesen Sie auf Seite 4. Auf den Hund gekommen An einem düsteren Wintermorgen ging ich im Park mit meinem Hund spazieren und sah eine Frau, die einen Terrier trainierte. Sie warf ein Stöckchen und tat dann so, als ob sie weglief. Jedesmal schnappte der Hund das Stöckchen, jagte ihr nach und stellte sich ihr in den Weg, damit sie es nochmals warf. Beeindruckt bemerkte ich: „Es ist leicht, einem Hund Auslauf zu verschaffen, wenn er aportieren kann, nicht wahr?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete die Frau atemlos. „Ich will nur nach Hause, doch das verflixte Vieh lässt mich hier nicht weg.“ — j. wilkinson, Großbritannien 43