Melodien, Marktwirtschaft und Integration
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Melodien, Marktwirtschaft und Integration
Melodien, Marktwirtschaft und Integration – der deutsche Schlager brachte den ersten sogenannten Gastarbeitern die deutsche Sprache bei, erzählt Sarah Khan, Tochter eines pakistanischen und viel singenden Einwanderers. 86 Ein Gemeinplatz lautet, dass es nur Versäumnisse gab, als die ersten Einwanderer, die damals noch Gastarbeiter hießen, nach West-Deutschland kamen, dass jede Chance auf Einbeziehung und Neubeheimatung vertan wurde. Dem sei hiermit widersprochen. Zugegeben, es gab damals keine obligatorischen Sprachkurse und Integrationsbeauftragten, und der Umgang mit Ausländern war oft ausgrenzend und von Vorurteilen geprägt. Aber es gab zwei Faktoren, die dazu führten, dass diese herbeigerufenen Arbeiter, die in der Überzahl Männer waren, schnell Deutsch lernten und sich zügig in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben einfügten: Die deutschen Frauen und der deutsche Schlager kümmerten sich um sie und sie taten es gemeinsam. Zu dieser These komme ich als das erstgeborene Kind eines Pakistaners, der Ende der 1960er-Jahre nach WestDeutschland kam und zunächst als Schweißer für die Deutsche Werft arbeitete und sich später als Teppichhändler erfolgreich selbstständig machte. Er sprach mit seinen zwei Kindern, die er mit einer deutschen Ehefrau in kurzlebiger Ehe bekam, ausschließlich Deutsch. Es war kein perfektes, nicht mal gutes Deutsch, aber es war emotional, er konnte damit so streng wie sentimental sein. Er konnte gut Regeln aufstellen, eine lautete: Man darf keine Behinderten nachmachen! Ich liebte es, Behinderte nachzumachen. Ich tat, als hätte ich ein lahmes Bein, und schleppte mich zum Supermarkt, um ein Was sereis zu kaufen. Mir hing die Zunge raus, meine Hand schlackerte, der Oberkörper schief, mit Zuckungen im Gesicht und schielenden Augen taumelte ich glücklich zum Süßigkeitenkauf. Wehe, der Vater sah das! „Aber weißt du denn nicht, Gott kann dich sehen“, sagte er dann, „er straft dich, dann bekommst du wirklich ein lahmes Bein, dann bist du wirklich behindert, willst du das, Kind? Behinderte Menschen brauchen Mitgefühl.“ Bilder Dave Muller Text Sarah Khan Ein bisschen Spaß muss sein Er sagte nicht: Sofort aufhören – und Backpfeife. Nein, er erläuterte seinen Standpunkt mit diesem allwissenden Gott und der auf dem Fuße folgenden, gerechten Strafe. Sein Deutsch gab das her, aber wieso nur? Heute glaube ich, weil es die große Zeit des deutschen Schlagers war. Der Schlager belebte die Sprache, machte Worte leicht für die Zunge und warm fürs Herz. „Ich spreche alle Sprachen dieser Welt, denn meine Sprache ist die Musik. / Mein Reisepass ist immer dieses Lied und meine gute Laune ist mein Geld“, fasste 1978 die Sängerin Lena Valeitis die Methode gleichfalls in einem Schlager zusammen. Es war die Zeit, als der Kalte Krieg, die Unwirtlichkeit der Städte, die Wohnungsnot und die Studentenbewegung die Menschen stressten, aber die Schlagermusik sich wie ein Störgeräusch darüber legte. So hielt sich die Bevölkerung alle Schrecken fern; natürlich ohne den Schlager selbst als dialektischen Teil der Schrecklichkeit zu begreifen. Die Gastarbeiter konnten sich der psychoaktiven Situation nicht entziehen, ahnten zunächst aber nichts, als sie von den Arbeitgebern an den Bahnhöfen, Häfen und Flugplätzen mit Arbeitsverträgen begrüßt und zu den Fabriken und Arbeiterunterkünften transportiert wurden. Sie arbeiteten hart, aber sie waren einsam. Das bewirkte, dass sie Orte aufsuchten, an denen Musik gespielt wurde. Um die einheimischen Frauen anzusprechen, war ein wenig Schlagerdeutsch vorteilhaft. Das erste Ich-Du-Wir, es reimt sich auf Cola-statt-Bier, stellte kein Problem dar, denn die Frauen waren durch den Schlager auf den Kontakt mit den Fremden vorbereitet worden und träumten sich als Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe von Bill Ramsey: „Da staunt der Vordere Orient, / da staunt der Hintere Orient, / da staunt ein jeder, der sie kennt! / Und mancher Wüstensohn / hat sie schon / als Fata Morgana geseh'n.“ Ohne despektierlich sein zu wollen, aber es waren eher die Mauerblümchen, die mit den fremden Män- 87 nern gingen, eher die dicklichen, schüchternen Mädchen, die sich schwer damit taten, einen abzukriegen. Gerade diese, die keine Mädchen nach Maß waren (so ein Titel von Chris Roberts), hatten Zuneigung und Zeit für die Männer aus den fernen Welten. Diese anfechtbare Tatsache stellte bei den Verwandten und Tanten in den Heimatländern übrigens ein beliebtes Gesprächsthema dar: die Verwunderung darüber, dass ihre schönsten wie stärksten Männer, die nach Germany aufgebrochen waren, Beziehungen mit Frauen eingingen, deren hervorstechendste Eigenschaft nicht die Schönheit war. Der Schlager half den fremden Männern aber nicht nur bei der Anbahnung, auch im Alltagsleben war es von Vorteil, eine Phrase gefühlvoll abzurollen. Mein Vater betrieb einige Jahre lang auf diversen Wochenmärkten einen Stand, wo er Tellerröcke, Indienblusen, Schmuck, Dekor-Elefanten und glitzernde Halstücher verkaufte. Der Hippie-Geschmack war in die Wohnzimmer der Bürger eingezogen, und auch die Hausfrauen, die mit ihren Hackenporsches über die Märkte streiften, zeigten Interesse an der unkomplizierten Baumwollkleidung. Da ich die Markttage am Wochenende stets mitmachte – nach der Trennung der Eltern wuchsen mein Bruder und ich bei unserem Vater auf – erinnere ich mich daran, wie die Frauen sich fragten, ob sie es wagen konnten, sich mit Kamelknochenketten und Messingarmreifen zu schmücken. Dass eine Elefantenparade im Wandschrank gut aussah, vorne ein großer Elefant, dahinter fünf kleine, das war ihnen schnell beizubringen – aber war dieses Material auch auf der Haut geeignet? „Achtung beim Messing, meine Dame“, antwortete der Karawanenführer dann melodiös, „man muss es regelmäßig polieren. Aber das schaffen wir gerne.“ Er nahm die Hausfrauenhand mit eleganter Geste, legte ihr einen Armreif an und polierte das gute Stück vorsichtig mit einem weichen Tuch. Er 88 lachte und lobte, schmeichelte und lockte, verkaufte Sehnsüchte und Träume, denn er besaß die Worte dazu. In seinem VW-Bus, auf dem Weg zum Markttag, sang er gerne ein Lied von Wencke Myhre: „Eine Mark für Charlie, denn Charlie kann nicht zahlen, / wieder einmal Ebbe in seinem Portemonnaie.“ Nee, eigentlich sang er: „Wieder einmal Äpfel in seinem Portemonnaie.“ Wencke Myhre war ja selbst Ausländerin, Norwegerin, und da der Begriff „Ebbe“ nicht wirklich durchdrang, sang mein Vater von Äpfeln im Portemonnaie, als wäre das eine glasklare Metapher. Der deutsche Schlager kannte schließlich viele ausländische Interpreten: Roberto Blanco (Kubaner, geboren in Tunesien), Adamo (Belgier italienischer Herkunft), Costa Cordalis (Grieche), Vico Torriani (Schweizer), Ricky Shayne (libanesischer Franzose), Gitte Haenning (Dänin), Caterina Valente (Italienerin). Wenn deren Akzent als charmante Eigenheit durchgehen konnte, wieso nicht auch der seine? So zog er in den Verkaufsgesprächen eine starke Grenze zwischen Mann und Frau, und es war ausgemachte Sache, dass die Frauen sich für die Männer zu schmücken hatten, damit es nachts in den Schlafzimmern knisterte. In diesen Momenten, die ja auch der Schlager produzierte, sahen sich die Hausfrauen in einem neuen Licht und öffneten ihre Geldbörsen für experimentelle Kleidung und Geschmeide aus Pakistan. Aber der Schlager brachte nicht nur Eingliederung, sondern auch Angst und Gefahr. „Griechischer Wein / ist so wie das Blut der Erde“, sang Udo Jürgens, doch trank mein Vater diesen Wein nicht, wenn er von deutschen Freunden eine Flasche erhielt. Ein vertrauter Ablauf, den ich entsetzt wahrnahm: Erst bedankte er sich für die schöne, interessant anzusehende Flasche, die von einem goldenen Fadennetz umspannt war oder ein Baströckchen trug. Er stellte die Flasche in die Küche, bewirtete seine Gäste üppig, mit Nüssen, Säften, war- Der Schlager belebte die Sprache, machte Worte leicht für die Zunge und warm fürs Herz. beiter besang, der in der Taverne sitzt und mit Wein in der Kehle der Heimat nachheult. Es machte mich als Kind traurig, wenn er den Wein ins Abwasser gab, er hätte ihn zurückgeben sollen. „Danke für das nette Geschenk, aber Sie haben sicher mehr Freude daran, nehmen Sie ihn bitte wieder mit, in diesem Haushalt findet er keine Verwendung.“ Die Wahrheit ist, es gab eine Verwendung. So schlug er die Gelegenheit aus, eine essenzielle europäische Erfahrung zu machen und eines der wunderbarsten Kulturgüter zu schmecken, welches zu Recht als Gastgeschenk hoch angesehen ist und auch im Schlager eine exponierte Stellung besitzt. „Sieben Fässer Wein können uns nicht gefährlich sein! / Das wäre doch gelacht, wer steht gerne auf einem Bein? / Wir machen durch, kommt, Freunde, seid bereit. / Wie schön war doch die Junggesellenzeit.“ (Roland Kaiser) So verstärkte der Schlager noch die Überzeugung, dass Alkohol nichts anderes als Verderbtheit und Krankheit bewirkt. Wer wirtschaftlich aufsteigen wollte, musste diszipliniert sein, enthaltsam, gottesfürchtig. Weil Gott will, dass wir Arbeit schaffen. Als wäre Gott nicht nur ein glühender Vertreter sozialer Marktwirtschaft, sondern auch Anti-Alkoholiker. Sind die Schlager wirklich für die Männer aus den fremden Ländern gesungen worden? Stimmung, Gemütlichkeit, Verständigung, „und Erwin fasst der Heidi von hinten an die Schulter“. Meine Mutter verbrachte viel Zeit damit, Schlager zu hören, sie war fast krankhaft verträumt, sprach flüsternd mit sich selbst, in Gedanken immer woanders. Mein Vater nannte sie „Billie“, weil das auf Urdu „Kätzchen“ bedeutet, aber sie hieß nicht so, und auch nicht Elfriede, aber fast. „‚Elfriede, Elfriede!’, rief ich durch den Saal, / denn diese Zuckerpuppe / aus der Bauchtanztruppe / kannte ich aus Wuppertal. Aus Wuppertal!“ (nochmals Bill Ramsey) Die Entzauberung geschah. An der Seite eines pakistanischen Schweißers, Markt- men Speisen, Tee und Obst. Den Wein bot er nicht an. Kaum dass die Gäste gegangen waren, raste er in die Küche, öffnete die Flasche und kippte den Inhalt in den Ausguss. Wir Kinder standen daneben und hörten zu, wie der Vater seine Version vom griechischen Wein sang. Das ergab ganz andere Töne: „Alkohol macht kaputt, / das-ist-schlecht-Gott-mag-nicht, wenn man Alkohol trinkt, / Alkohol macht den Kopf kaputt. Überall auf den Straßen gehen die Besoffenen, die Deutschen saufen sich das Gehirn krank / Toba, toba astafa (Ausdruck auf Urdu für Reue und Buße). / Wie das stinkt. / Meine Güte, soll das etwa Wein sein? / Was ist das für ein Mist … “ Aber dann kicherte er, er wusste ja, dass er übertrieb, so wie Udo Jürgens übertrieb, wenn er den Gastar- Wenn Gitte „Ich kämpf’ das aaaaaaaus!“ singt, dann denke ich an die Jugend dieses Elternpaares, die ich als Kind nicht erkennen konnte, und wie diese Sätze meinen Vater gemeint haben könnten. VOX POPULI 89 händlers und späteren Importeurs von Orientteppichen konnte sie sich nicht in etwas Wunderbares verwandeln. Sie versuchte es, das sehe ich auf den Fotos aus den frühen 1970er-Jahren, da trägt sie sogenannte „Gewänder“ und probiert keusche Bedeckungen auf dem Kopf. Sie sitzt auf einer Parkbank und hält den Kopf leicht vor, als würde der zarte Schleier arg drücken, viele Kilo schwer. Orientalische Anmut sieht anders aus. „Deine Mutter wollte eine hundertfünfzigprozentige Mohammedanerin sein“, lautete in der deutschen Familie der achselzuckende Standardsatz über diese Phase in ihrem Leben. Ihr Verhalten als Ehefrau eines Pakistaners und Mutter zweier kleiner Kinder, die sie verließ, wurde nur ironisch kommentiert. „Freu dich bloß nicht zu früh, / spar dein Mitleid dir auf “ (Gitte Haenning) – „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst“ (Juliane Werding) – „So schön kann doch kein Mann sein, / dass ich ihm lange nachwein’“ (Gitte Haenning) Schlagertexter wie Michael Kunze und Gunter Gabriel gaben große Portionen Selbstbehauptung in ihre Liedertexte – und das berührte Frauen wie Männer. Wenn Gitte „Ich kämpf’ das aaaaaaus!“ singt, dann denke ich an die Jugend dieses Elternpaares, die ich als Kind nicht erkennen konnte. Ich sah immer nur den großen, strengen Bestimmer und die verträumte, unansprechbare Mutter. Mehr als dreißig Jahre später vollziehe ich nach, wie diese Sätze eigentlich ihn gemeint haben könnten, den Gehörnten, der sich nicht darauf verlassen konnte, dass die Frau treu blieb, während er auf Montage war. Es kam vor, dass die Mutter uns Kindern sagte, sie gehe nur kurz einkaufen, aber dann kam sie den ganzen Tag nicht wieder. „Tut mir leid – / dein Triumph ist viel kleiner, als du denkst, / ob du’s glaubst oder nicht: / Ich weiß es längst.“ Wunderbares Deutschland, du schaltest den Fernseher oder das Ra- 90 dio an, und dann sagen dir diese Lieder, was Sache ist, und du wirst getröstet und aufgerichtet. Einige Jahre nach der Scheidung ging mein Vater eine arrangierte Ehe mit einer Frau aus Pakistan ein, der schönen wie stolzen Amroza, die sich liebevoll um uns verwilderte Kinder kümmerte. Ich brachte ihr ruck-zuck Deutsch bei. „Was ist dein Lieblingslied, Amroza? Sag schnell, was ist dein Lieblingslied in Deutschland?“ Ihre Antwort lautete: „Ein bisschen Frieden von Nicole.“ Ich schenkte ihr nach diesem sehr wichtigen Bekenntnis die Single. Immer wenn Nicole im Fernsehen auftrat, wenn auch nur das kleinste bisschen mit Nicole im Fernsehen veranstaltet wurde, riefen wir sie aufgeregt herbei. „Amroza, Amroza, komm schnell – Nicole!“ Dann musste sie den Herd abschalten, das Bügeleisen aufstellen, den Staubsauger fallen lassen und in den Pantoffeln hurtig in die Stube zum Fernsehgerät rennen. Wir beobachteten genau, wie sie sich freute, ob sie auch wirklich glühte. Erst dann freuten wir Kinder uns. Wir brauchten ihre Gefühle und Affekte, wir waren schon so erfroren, dass wir von ihr lernen mussten, wie man sich freuen kann. „Sing mit mir ein kleines Lied, dass die Welt im Frieden lebt.“ So erlebten wir mit der Nation und der europäischen Eurovision-Gemeinschaft das Glück von gewonnenem Grand Prix und neuem, trautem Familienleben. Wir, an unserem Empfangsgerät sitzend, brauchten dazu diese Frau aus Pakistan, die sich zielsicher einen Schlager herausgesucht hatte, der das Wichtigste und Wesentlichste thematisierte, ohne dabei Wein gegen Wasser aufzurechnen, den Kampf der Geschlechter zu begleiten oder Gekränkte anzufeuern. Ein bisschen Sonne, ein bisschen Träumen, ein bisschen Liebe, das brauchten wir. Die große Ära des deutschen Schlagers ging kurz darauf zu Ende. Die Charts wurden einerseits internatio- naler und englischer, aber der Schlager volkstümlicher. Von der Zeit seiner Hegemonie wird seither schamvoll oder begeistert-nostalgisch gesprochen. Seine Bedeutung aber für die Lebensgeschichte der ersten Gastarbeiter ist kaum bekannt. Wir dürfen annehmen, dass diese Männer selbst nicht wissen, wie wichtig er für sie war. Störgeräusch und Lehrmeister zugleich, bleibt sein Vermächtnis bestehen: Man könnte zusammen, wenigstens einmal, davon singen. Mehr über die Autorin auf S. 8 Bilder Dave Muller: Seite 86: Ann’s Top Fourteen (I can’t count), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Justine and Mark Fluent, Studio City Seite 87: Matthew’s Top Ten (1979-1983), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Peter Michael, San Francisco Seite 89: Mike’s Top Ten (PINK), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Amy and Dean Valentine, Los Angeles Seite 89: Jeff ’s Top Ten (for the last month I was single), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Niels Kantor, Beverly Hills