Kinderbuch Lesebändchen, farbiger Falz

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Kinderbuch Lesebändchen, farbiger Falz
BUCH MEDIEN
Mit Gimmicks
punkten
Kinderbuch Lesebändchen, farbiger Falz, schönes Papier:
Junge Leser mögen attraktiv gestaltete Bücher, wie ein Projekt
mit 100 Mainzer Schülern zeigt. Ein Roundtable-Gespräch mit
Lehrern und Verlegern.
© Ralf Dinse
Bei einem Schulprojekt in
Mainz haben Sie Kinder zur
Buchgestaltung befragt –
die erste Untersuchung dieser Art. Warum ist das Thema bisher noch nie erforscht worden?
Schmidt-Friderichs: Einige Professoren sagten mir, Kinder zur Typografie zu befragen sei völliger Blödsinn – Kinder würden gar keine typografischen Unterschiede erkennen. Aber dieselben Kinder, denen
wir nicht zutrauen, dass sie Qualitätsunterschiede in der Kinderbuchgestaltung sehen und beurteilen können, liegen ihren Eltern in
den Ohren, weil sie unbedingt eine
Miss Sixty Jeans wollen. Sie erkennen den Schnitt, sie wissen, dass er
einen etwas kesseren Hintern
formt, haben eine exakte Vorstellung davon, wie »used« die Jeans
sein soll und verzweifeln bei der
Wahl zwischen den Farbnuancen.
Was sind denn die wesentlichen Erkenntnisse des Typografie-Projekts?
Schmidt-Friderichs: Es hat die Behauptung widerlegt, Kinder würden Typografie und Gestaltung
nicht wahrnehmen. Kinder wissen
sehr genau, was ihnen gefällt und
können nach einiger Zeit auch in
Worte fassen, woran das liegt. Bei
einer Cover-Gruselschrift, die gewollt aber nicht gekonnt war, sagte ein Junge beispielsweise, das sei
eine »Keksschrift«.
Willberg: Und er hat Recht: Die
Schrift bröckelt, zerbröselt – der
Junge hat die Wirkung dieser
Schriftart mit seiner Beschreibung
gut erfasst.
Brandenburg: Die Kinder haben
auch sofort begriffen, dass Glitzerund Hologrammfolien, UV-Lackierung und Glanzfolienprägung
zur Veredelung dienen.
Henrich: Und sie merken, wenn
ein Buch nicht hält, was das Cover verspricht – inhaltlich wie optisch. Wenn es hinter einer kunterbunten Glitzerfassade plötzlich
schwarz-weiß und »ganz normal«
weitergeht, sorgt das für Enttäuschung.
Nach welchen Kriterien
haben sich die Kinder Bücher ausgesucht?
Schmidt-Friderichs: Sie haben
sich zunächst einmal für Themen
entschieden, die sich ihnen über
das Cover und über die Schrift
vermitteln. Ein Junge griff zum
Beispiel spontan zu einem Piratenbuch mit der Begründung:
»Das ist eine ganz piratige
Schrift!«
Brandenburg: Einen zusätzlichen Reiz haben Aufkleber wie
»Für Mädchen verboten« auf die
Kinder ausgeübt.
Berg: Auch der Reihencharakter
spielt bei der Auswahl eine große
Rolle. Die Schüler greifen gern zu
den Serien, die sie schon kennen.
Schmidt-Friderichs: Heftig diskutiert wurde übrigens das Leitsystem für die verschiedenen Altersgruppen. Eigentlich war ein
Buch für die Kinder umso interessanter, je älter der Protagonist und
damit auch das angegebene Lesealter war – aber dann sind sie
doch wieder zu den Titeln für ➤
Interview:
Stefan Hauck
Podiumsteilnehmer
Karin Schmidt-Friderichs, Verlegerin, Hermann Schmidt Verlag,
Mainz (Projektleiterin)
Klaus Willberg, Thienemann-Verleger, Stuttgart
Lehrer der Martinusschule in Mainz:
Thomas Berg, stellvertretender Schulleiter
Britta Brandenburg
Martina Henrich
Angela Reichelt
30-2005 börsenblatt
| 29
MEDIEN BUCH
alle © Harry Braun
Erarbeiteten die
Ergebnisse des Projekts:
(von links) Britta
Brandenburg, Thomas
Berg, Martina Henrich,
Angela Reichelt, Klaus
Willberg und Karin
Schmidt-Friderichs
Nehmen Kinder die Qualität der Illustrationen
wahr?
Schmidt-Friderichs: Kinder sind
keineswegs nur von süßlichen Illustrationen angetan. Es beeindruckt sie, wenn Charaktere gut
getroffen sind und Bewegungen
eindrucksvoll angehalten werden.
Und sie filtern auch aus einer Bildfolge die schwächeren Bilder heraus.
Reichelt: Zudem fällt den Kindern auf, wenn die Bilder nicht
zum Inhalt passen. Beispielsweise
wollen sie ernste Inhalte nicht
durch zu heitere Bilder nahe gebracht bekommen.
Brandenburg: Moniert wird
auch, wenn die Bilder nicht an
der richtigen Stelle stehen und etwas vorwegnehmen, was im Text
erst weiter hinten passiert – und
umgekehrt.
Berg: Kinder sind ausgesprochen
kritische Leser und Betrachter. Ist
der Protagonist auf dem Cover anders gekleidet als er im Text beschrieben wird, merken sie das
garantiert.
© Ralf Dinse
20 Verlage der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (AvJ)
haben der Martinusschule in Mainz 300 Titel je zweimal zur Verfügung gestellt. Etwa 100
Zweit- und Drittklässler
konnten die Bücher
nach Lust und Laune
ausleihen. In verschiedenen Schritten näherte sich Verlegerin Karin
Schmidt-Friderichs mit
den Schülern den Kriterien, auf die Kinder achten. Am Ende des Projekts wurde für jedes
gelesene Buch (im
Durchschnitt drei pro
Schüler) ein Fragebogen
rund um die Buchgestaltung ausgefüllt.
Derzeit loten SchmidtFriderichs und Klaus
Willberg Möglichkeiten
für ein AvJ-Seminar mit
der Fachhochschule
Mainz aus, in dem die
Ergebnisse für interessierte Verlagsleute vertieft werden.
kann, haben manche auch schon
schmerzlich erfahren. Sie wünschen sich deshalb ein Papier, bei
dem das nicht passiert.
© Harry Braun
Typografie-Projekt
der AvJ
➤ die Jüngeren zurückgekehrt,
weil diese einfach mehr Bilder
enthalten.
Henrich: Erfahrene Vielleser
wollen allerdings möglichst dicke
Bücher haben und meinen, die
Bilder nehmen dem Text nur
Platz weg. Interessant fand ich,
dass es für die Kinder offenbar
nicht besonders wichtig ist, ob die
Bilder nun schwarz-weiß oder farbig sind.
Willberg: Na, da könnte man ja
als Verlag Geld sparen ...
Der Inhalt muss einlösen, was das Cover verspricht:
Kinder merken sofort, wenn die Gestaltung nur Fassade ist
Ungewöhnliche Typen: Ist die Handlung spannend,
sollte sich auch im Schriftbild einiges bewegen
Schmidt-Friderichs: Hier ist besonders bei Lizenztiteln Vorsicht
angebracht. Wenn die engagierte
Übersetzerin modische Grüntöne
auf den Schulhöfen entdeckt und
in die Personenbeschreibung einflicht, sollte auch die Cover-Illustration noch einmal überarbeitet
werden.
Rätsel, Comics und dergleichen
wurden ausdrücklich gelobt. Und
wenn man eine rote Folie zur Entschlüsselung eines rot-grün gedruckten Textes oder Bildes
braucht, fanden die Kinder das
ebenfalls »cool«.
Reichelt: Die Schüler mögen
auch bedruckte Vorsatzpapiere –
am liebsten dann, wenn das Thema des Buchs dort aufgegriffen
wird, ohne dass es allzu konkret
wird. Eine Landkarte, die beim
Lesen Orientierung gibt, wurde
gelobt, ebenso die Vorstellung der
Akteure.
Berg: Beim Thema Schutzumschlag geht es den Kindern dagegen ähnlich wie den Erwachsenen. Er sieht schön aus,
wird aber als unpraktisch empfunden. Kinder entfernen ihn
schnell.
Willberg: Fragt sich dann, warum der Schutzumschlag eigentlich Schutzumschlag heißt ...
Schmidt-Friderichs: Damit er
nachher wieder sauber um das
Buch kommt. Ob mit oder ohne
Umschlag – bevorzugt werden
eindeutig Hardcover. Softcover
Haben sich Mädchen und
Jungen bei dem Projekt für
unterschiedliche
Bücher
entschieden?
Schmidt-Friderichs: Bei aller
Emanzipation – die Auswahl verlief völlig klischeehaft. Wenn wir
die Glitzerbücher auf die eine Seite getan hätten und Gruselbücher
auf die andere, dann hätten wir einen kleinen Hammelsprung gehabt.
Willberg: Schade finde ich, dass
viele Buchhändler die Glitzerbücher – bildlich gesprochen –
nur mit Gummihandschuhen
anfassen, während hier die Mädchen im Alter der Zielgruppe sofort zugreifen. Sie sind schließlich
alt genug, um sich ihre Lektüre
selbst auszusuchen.
Schmidt-Friderichs: Deshalb finde ich unser Experiment in Mainz
auch so spannend: Die Kinder
durften wählen, ohne dass Pädagogen oder Eltern gesagt haben:
Nimm mal lieber dieses Buch und
nicht das.
Willberg: Bei der Auswahl spielt
auch die Gruppendynamik eine
nicht zu unterschätzende Rolle.
Unser Cheflektor bei Thienemann
macht Bibliothekaren gern den
Vorschlag, die Jungenbücher weit
weg von den Mädchenbüchern
ins Regal zu stellen. Sind die Kinder unbeobachtet – und damit
unbeeinflusst –, greifen sie nämlich unter Umständen zu ganz anderen Büchern.
Wenn die Glitzerbücher bei
Mädchen so beliebt sind –
lässt sich dann sagen, dass
eine besondere Ausstattung
insgesamt bei den Kindern
gut ankommt?
Schmidt-Friderichs: Unbedingt.
Wackelbilder, Glitzersternchen
und Ähnliches machen die Schüler an. Die Kinder wünschen sich
darüber hinaus Gimmicks; auch
haben die Schüler dagegen eher
irritiert. »Megacool« fanden die
Kinder ein Buch mit gelb-rot gestreiftem Fälzel. Und für die Kinder steht fest, dass jedes Buch ein
Lesebändchen haben sollte.
Haben die Schüler die Verlagslogos entdeckt und
identifiziert?
Berg: Ja, schon, sie haben versucht, die Bücher mit denselben
Logos einander zuzuordnen –
wie beim Memory. Aber den Bezug zu einem Verlag herzustellen,
fällt ihnen eher schwer.
Gibt es bei der Papierqualität spezielle Wünsche?
Henrich: Sie machen die Papierauswahl gern vom Thema abhängig. Gruselige Bücher sollten graues Papier haben und »schöne«
eher weißes.
Brandenburg: Naturweiß blendet weniger beim Lesen, was die
Kinder sehr gut fanden.
Schmidt-Friderichs: Die Schüler
wissen auch, dass dickeres Papier
nicht so schnell einreißt. Und dass
man sich an den Seiten schneiden
Wie nehmen die Schüler
die Schriften wahr – abgesehen von dem erwähnten Beispiel mit der »Keksschrift«?
Schmidt-Friderichs: Kinder lesen grosso modo nach denselben
Gesetzen wie wir Großen. Nur
stört sie ein Verstoß gegen die
klassischen Typografie-Regeln
mehr als uns – einfach, weil sie
weniger Leseerfahrung haben.
Reichelt: Das Lesen allzu
kleiner Schriften empfinden die
Kinder als anstrengend. Einige
lesen ja auch noch mit dem Zeigefinger – und der verrutscht,
wenn die Zeilen zu lang und zu
eng sind.
Schmidt-Friderichs: Bei der
Schriftwahl überzeugen auch Mischungen – wenn sie sie als solche
erkennen. Den handelnden Personen Schriften zuzuordnen, bewerten die Drittklässler etwa als
tolle Idee. Initialen kommen gut
an, eine altdeutsch anmutende
Schrift überfordert viele jedoch.
Und: Rein dekorative Schriftspielereien zu Lasten der Lesbarkeit enttarnen die Kinder. Das lehnen sie ab.
Welche Gesamtbilanz für
die Gestaltung von Kinderbüchern ziehen Sie aus dem
Projekt?
Schmidt-Friderichs: Ein Kind
meinte in Mainz: »Würden die
Verlage die Bücher ändern, wenn
wir sie nicht schön finden?« Diese Frage kann ich nur an die Verleger weitergeben. Jetzt sind sie
gefordert, wenn es darum geht,
die gestalterischen Wünsche ihrer
Zielgruppe genauer zu erforschen.
Denn dass die Kinder ein handwerklich und ästhetisch gut gemachtes Buch zu schätzen wissen
– das hat unser Projekt eindeutig
b
belegt.
Kinder mögen
■ lieber Hardcover
■ keine scharfen Kanten
■ naturweißes Papier
■ farbige Fälzel und Le-
sebändchen
■ ein Inhaltsverzeichnis
■ Seitenzahlen
■ keine aneinanderge-
quetschte und kleine
Schrift
■ verschiedene Schrif-
ten nur, wenn sie klar
zuzuordnen sind
■ Illustrationen mit kla-
ren Charakteren und
eindrucksvollen Bewegungen
■ es nicht, wenn Illus-
trationen an der
falschen Stelle im Text
sitzen
■ es nicht, wenn der
Satzspiegel keinen
Platz für den Daumen
lässt
■ weiterführende Infor-
mationen zu Autor und
Illustrator – aber am
Ende des Buchs
■ Empfehlungen zum
Weiterlesen, gern als
Booklet
■ Wackelbilder und Glit-
zerfolie auf dem Cover
■ jedwede Gimmicks
■ Zusatzelemente wie
Rätsel und Comics
■ rote Folie zur Ent-
schlüsselung
■ wenn der Inhalt auch
hält, was die Verpackung verspricht
30-2005 börsenblatt
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