Eltern ohne Kinder Eine empirische Studie zu Bewältigungsformen

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Eltern ohne Kinder Eine empirische Studie zu Bewältigungsformen
Eltern ohne Kinder
Eine empirische Studie zu
Bewältigungsformen bei der Unterbringung
in einer Pflegefamilie
Eltern ohne Kinder
Eine empirische Studie zu Bewältigungsformen
bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie
Diplomarbeit
Universität Siegen
Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit
Christina Herr
Wetzlar, im März 2005
Erstgutachter:
Zweitgutachter:
Herr Dr. Klaus Wolf
Herr Dr. Ludwig Stecher
Universität Siegen
Universität Siegen
2
Danksagung:
Diese Diplomarbeit entstand aufgrund der großen Offenheit und Erzählbereitschaft
einer Mutter, deren Kinder fremdbetreut sind. Mein Dank gilt deshalb zunächst ihr,
die mich an ihrer Geschichte teilhaben ließ und dadurch Grundlage dieser Arbeit
wurde.
Mein besonderer Dank gilt ebenfalls meiner Familie, die mir während des
gesamten Studiums und besonders der Zeit der Diplomarbeit sehr wohlwollend
und verständnisvoll beiseite stand; meinen Kindern Elisa, Michel und Nele, die mir
auf vielfältige Weise und durch sehr unterschiedliche positive Verstärker vermittelt
haben: „Mama, du schaffst das!“; meinem Mann, der trotz meines hohen
Anspruchs im Hintergrund unser Familienleben auch in arbeitsintensiven Studienzeiten so gestaltet hat, dass ich mich ruhigen Gewissens herausnehmen konnte,
und durch den dieses Studium deshalb möglich war.
Mein Dank gilt auch der intensiven und sehr guten Begleitung meiner beruflichen
Tätigkeit im Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Wetzlar, das meine Haltung
gegenüber abgebenden Eltern in der Jugendhilfe nachhaltig beeinflusst und
geprägt hat.
Dank auch an Liane, meine Wegbegleiterin während des gesamten Studiums, die
alle Höhen und Tiefen mit mir gemeinsam bewältigt hat. Das hat sehr gut getan.
Ebenso gilt mein Dank dem Jugendamt des Lahn-Dill-Kreises, insbesondere Frau
Feuerbach vom Pflegekinderdienst, die trotz eines oft ausgelasteten Arbeitsalltags
noch Lücken für die Unterstützung meines Anliegens fand.
Zu guter Letzt und doch sehr bedeutsam ist mir der Dank an Herrn Dr. Klaus Wolf,
der diese Diplomarbeit begleitet hat. Durch seine verständnisvolle, unkomplizierte
und empathische Art habe ich mich hervorragend unterstützt gefühlt.
Vielen Dank.
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„(...) und ich möchte Sie, so gut ich es vermag,
bitten Geduld zu haben
gegen alles ungelöste in ihrem Herzen
und zu versuchen,
die Fragen selbst lieb zu haben
wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer fremden Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,
die Ihnen nicht gegeben werden können,
weil Sie sie nicht leben können.
Leben Sie jetzt die Fragen!
Vielleicht leben Sie dann allmählich,
ohne es zu merken,
eines fernen Tages in die Antworten hinein.“
Rainer Maria Rilke
4
Inhaltsverzeichnis________________________________________________ 5
1
Einleitung ___________________________________________________ 7
2
Das Konzept Pflegefamilie ____________________________________ 10
2.1
Pflegefamilien als Jugendhilfemaßnahmen _______________________________ 10
2.2
Entstehungsgeschichte der öffentlichen Erziehung _______________________ 11
2.3
Pflegefamilien aus der Perspektive des Kindes – ein Erklärungsversuch ___ 14
2.4
Pflegefamilien aus der Perspektive der Pflegeeltern –
ein Erklärungsversuch __________________________________________________ 16
2.5
Pflegefamilien aus der Perspektive der Herkunftseltern –
ein Erklärungsversuch __________________________________________________ 18
3.
Methodisches Vorgehen ______________________________________ 20
3.1
Forschungsinteresse ___________________________________________________ 20
3.2
Qualitative Sozialforschung _____________________________________________ 21
3.3
Das narrative Interview __________________________________________________ 22
3.4
Begründung der gewählten Forschungsmethode__________________________ 24
4
Arbeitsbericht ______________________________________________ 26
4.1
Feldzugang und Entstehungsgeschichte einer Einzelfallstudie _____________ 26
4.2
Intervieweröffnung______________________________________________________ 27
4.3
Haupterzählung_________________________________________________________ 28
4.4
Nachfrageteil ___________________________________________________________ 29
5
Geschichte einer Fremdunterbringung __________________________ 31
5.1
Portrait „Frau Schulze“__________________________________________________ 31
5.2
Die Fallgeschichte als zusammenfassende Nacherzählung ________________ 35
5
6 Methode der Textanalyse ________________________________________________ 40
6.1
Auswertungsschritte der qualitativen Inhaltsanalyse ______________________ 41
6.1.1 Bestimmung des Ausgangsmaterials ______________________________________________ 41
6.1.2 Fragestellung der Analyse _______________________________________________________ 42
6.1.3 Bildung eines Kategoriensystems _________________________________________________ 42
7
Interpretation _______________________________________________ 45
7.1
Die Kategorien und ihre Aussagen _______________________________________ 46
7.1.1 Kategorie „Gründe für die Fremdunterbringung“ _____________________________________ 46
7.1.2 Kategorie „Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung“ ____________________________ 47
7.1.3 Kategorie „Verhältnis zum Kind“ __________________________________________________ 50
7.1.4 Kategorie „Verhältnis zu den Pflegeeltern“__________________________________________ 54
7.1.5 Kategorie „Enttäuschungen, Versagen von sozialstaatlichen Einrichtungen“ ____________ 57
7.1.6 Kategorie „Positive Erfahrungen mit sozialstaatlichen Einrichtungen“ __________________ 59
7.2
Die Forschungsfragen – eine Suche nach Antworten ______________________ 61
7.2.1 „Was bedeutet eine Fremdunterbringung für die eigene Lebensgeschichte von
Herkunftseltern?“ _______________________________________________________________ 61
7.2.2 „Was hilft dabei, die Fremdunterbringung als abgebende Eltern annehmen zu können?“ __ 65
7.3
Erstellung von Thesen __________________________________________________ 69
8
Schlussbemerkung __________________________________________ 74
9
Literaturverzeichnis _________________________________________ 75
Anhang:
Transkriptionsregeln
Vollständiges Interview
Interview in kategorisierter Form
Sozialdatenblatt
Elternbrief
6
1 Einleitung
Die vorliegende Diplomarbeit „Eltern ohne Kinder – eine empirische Studie zu
Bewältigungsformen bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie“ beschäftigt sich
mit der Perspektive von Herkunftseltern innerhalb einer Jugendhilfemaßnahme
nach SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, §33 Vollzeitpflege:
„Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen
Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen
Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte
Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und
Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und
auszubauen.“
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Untersuchung der Bewältigungsstrategien von
Herkunftseltern bei der Fremdunterbringung ihrer Kinder in einer Pflegefamilie. Sie
soll aufzeigen und erklären, wie sich Herkunftseltern in einem Pflegeverhältnis
ihrer Kinder fühlen und welche Verhaltenskonsequenzen sich daraus im Einzelnen
ergeben können.
Sie soll auf soziale Wirklichkeit aufmerksam machen, Sinnhaftigkeiten dechiffrieren und somit dem Verstehen anbieten. Verhalten erklärbar zu machen, stellt an
die fachliche Diskussion der Sozialpädagogik und Sozialarbeit die Herausforderung, Strukturen und Konzeptionen zu entwickeln, die konstruktives
Verhalten fördern und destruktives Verhalten bei allen Beteiligten minimieren.
Was aber ist konstruktives beziehungsweise destruktives Verhalten in einem Hilfeprozess, der hier als Jugendhilfemaßnahme benannt ist? Wie können so unterschiedliche Positionen, Rollen und Perspektiven, wie sie in einem „Pflegefamilienarrangement" vorhanden sind, positiv zusammenwirken?
Um deutlich zu machen, wie diskrepant die jeweilige persönliche Betroffenheit
aller am Pflegeprozess Beteiligten sein kann, biete ich im ersten Teil meiner
Diplomarbeit einen kurzen Einblick in die jeweiligen Perspektiven der Betroffenen.
7
Die Perspektive des Jugendamtes kommt an dieser Stelle bewusst nicht zur
Sprache, da keine persönliche, über den professionellen Rahmen hinausgehende
Betroffenheit vorliegt.
Im Anschluss daran werde ich meinen Blick ausschließlich der Perspektive von
Herkunftseltern widmen, da deren Sinnzusammenhänge und Bewältigungsstrategien bisher zu wenig Beachtung finden.
Die Motivation, am Ende eines Studiums an dieser Stelle zu forschen, liegt zum
einen an meinem bisherigen beruflichen Hintergrund und Erfahrungsschatz, zum
anderen an den konstruktiven fachlichen Anregungen und Auseinandersetzungen
innerhalb des Studiums und entsprechender Veranstaltungen.
Im Rahmen meiner bisher zwölfjährigen Tätigkeit im Albert-Schweitzer-Kinderdorf
innerhalb der Familiengruppenarbeit konnte ich sehr positive Erfahrungen mit
einer von grundsätzlicher Achtung und Annahme geprägten Elternarbeit machen,
die meine fachlichen Vorstellungen nachhaltig beeinflusst haben. Zu erleben, dass
Elternarbeit zwischen biologischen und sozialen Eltern funktionieren kann, und
Kinder beziehungsweise Jugendliche dadurch stark entlastet werden, war eine
bereichernde Erfahrung in meinem beruflichen Horizont.
Darüber hinaus während des Studiums in einen fachlichen Diskurs einzutauchen,
der diese Praxiserfahrungen „untermauert“ und bestätigt, gaben zu Genüge Anlass, das Thema in einer Diplomarbeit zu vertiefen.
Die vorliegende Forschungsarbeit, die anhand einer retrospektiven Betrachtung
eines Fremdunterbringungsprozesses vom besonderen Einzelfall auf allgemeine
Problemstellungen im Untersuchungskontext schließen möchte, setzt ihren
Schwerpunkt auf das empirische Material und dessen Interpretation und Analyse.
Sie behandelt deshalb entsprechende Literatur zum Thema nur marginal und als
Affirmation im Bereich der Interpretation und Thesenbildung. Den Aussagen und
somit subjektiven Erklärungsmustern und Sinnzusammenhängen einer betroffenen Mutter und entsprechenden Expertin soll in besonderer Weise Raum und
Bedeutung zukommen.
Vielleicht kann diese Arbeit einen Teil dazu beitragen, den eklatanten Mangel an
empirischer Forschung im Hinblick auf Herkunftseltern in der Kinder- und Jugend-
8
hilfe ein wenig zu verringern und die fachliche und öffentliche Diskussion auf
Wünsche und Bedürfnisse von Herkunftseltern aufmerksam zu machen, um die
Praxis zum Wohle aller Beteiligten zu gestalten.
9
2
Das Konzept Pflegefamilie
2.1 Pflegefamilien als Jugendhilfemaßnahmen
Die Formenvielfalt im Pflegekinderwesen, die von zeitlich befristeten Maßnahmen
über auf Kontinuität angelegte Tagespflegemodelle bis hin zur Dauerpflege reichen, stellen ein umfangreiches Repertoire an Betreuungsformen dar. In dieser
Arbeit beschäftige ich mich mit Hilfen zur Erziehung, die in Vollzeit und auf Dauer
angelegt sind.
Rechtliche Grundlage bildet, wie schon unter Punkt 1 zitiert, das Sozialgesetzbuch
VIII, Kinder- und Jugendhilfegesetz, §33 Vollzeitpflege. Der Gesetzgeber bietet
darin die gesetzliche Grundlage für einen Sozialisationsort, an dem ein Pflegekind
einen festen Betreuungsplatz erhält, der je nach Bedarf und Konzeption sein Herkunftssystem ergänzt oder ersetzt.
Diese Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege wird nötig, wenn das Herkunftssystem
keine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen angemessene Erziehung gewährleisten kann. Die Gründe hierfür sind sehr vielschichtig und individuell. Die auf
Dauer angelegte Vollzeitpflege verlagert den Lebensmittelpunkt und Sozialisationsort eines Kindes in eine der Gesellschaft angepasste Form des Zusammenlebens. Der psychologische Familienbegriff umschreibt, welche Formen des
Zusammenlebens hier gemeint sind.
„Eine Gruppe von Menschen, die durch nahe und dauerhafte Beziehungen
miteinander verbunden sind, die sich auf eine nachfolgende Generation hin
orientiert und die einen erzieherischen und sozialisatorischen Kontext für die
Entwicklung der Mitglieder bereitstellt.“ (Hofer, 2002, S. 6)
Diese Definition von Familie ist auch auf das Modell „Pflegefamilie“ zutreffend und
übertragbar. Die Verlagerung des Lebensmittelpunktes eines Pflegekindes kann
bis zur Verselbständigung angedacht sein. Eine vorzeitige Rückführung in sein
Herkunftssystem bei Verbesserung der Erziehungsbedingungen ist auch in der
Gesetzesgrundlage berücksichtigt.
Die mit der Erziehung des Kindes in einer Pflegefamilie beauftragten
Erwachsenen gelten als „Pflegepersonen“ oder so genannte soziale Eltern.
10
§36 Mitwirkung, Hilfeplan im SGB VIII bildet die Grundlage für eine Einbeziehung
aller am Hilfeprozess Beteiligten und der Mitbestimmung der Hilfebedürftigen. Die
Erstellung des Hilfeplanes soll mit allen Beteiligten beziehungsweise Betroffenen
abgestimmt und erarbeitet werden.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz hat 1990/91 das damalige Jugendwohlfahrtsgesetz abgelöst und damit einen Paradigmenwechsel herbeigeführt. Die
Träger der Jugendhilfe verstanden sich unter den Gesetzen des Jugendwohlfahrtsgesetzes primär als Eingriffsbehörde mit Kontroll- und Ordnungsfunktionen.
Die so genannten Maßnahmegesetze wurden dann 1990/91 durch Hilfsangebote
und Unterstützungsleistungen verändert und erweitert und somit einer neuen
Fachlichkeit angepasst, die den Eltern einen Rechtsanspruch einräumten,
Leistungen freiwillig in Anspruch zu nehmen. Das Hilfsangebot wurde vor allem
durch familienunterstützende Hilfen erweitert. So fügt sich auch das Angebot einer
dauerhaften Pflege in familialen Strukturen in dieses neue Konzept mit ein.
Dennoch erleben Herkunftseltern die Einleitung einer Fremdunterbringung durch
das Jugendamt überwiegend als ein gegen sie gerichtetes Handeln, das sie kaum
beeinflussen können.
Diese Ausgangslage zu verändern und in ein konstruktives Miteinander umzugestalten, ist wohl eine der größten Herausforderungen in der Kinder- und
Jugendhilfe aus sozialpädagogischer Perspektive.
2.2 Entstehungsgeschichte der öffentlichen Erziehung
Die Unterbringungspraxis heimatloser Kinder beinhaltete von jeher ein breites
Spektrum von erschreckenden Maßnahmen bis zu durchaus tolerierbaren Formen
der Betreuung. Während es beispielsweise in der Antike legitim war, Kinder umzubringen oder auch in späterer Zeit die Prostitution und andere Arbeitsdienste für
sie in Betracht zu ziehen, löst diese Tatsache heute Entsetzen bei uns aus.
Die Ausnutzung der kindlichen Arbeitskraft geschah jedoch nicht nur in privaten
Konstellationen, wie in Adelsfamilien oder bäuerlichen Strukturen, sondern auch
innerhalb späterer Heimkonstellationen.
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Wenn ich an dieser Stelle die Entwicklung der Erziehungshilfen in Deutschland
kurz skizziere, dann beginnt meine Retrospektive bei den ersten organisierten und
systematischen Netzwerken für Waisenkinder.
Aufgrund der teilweise katastrophalen und desolaten Umstände für Waisenkinder
nahmen sich Kirchen dieser Situation an. Klöster boten Kindern Aufnahme und es
entstanden erste Institutionen wie so genannte Findelhäuser. Die Ausstattung
dieser Einrichtungen war sehr schlecht, was eine hohe Sterberate der Kinder zur
Folge hatte.
Die ersten Einrichtungen öffentlicher Erziehung stellten kommunale Waisenhäuser
dar, die den Stadtbürgern eine Versorgung ihrer Kinder bei frühzeitigem Ableben
der Eltern gewährleisteten. Versorgung und Aufsicht waren Hauptaufgaben
solcher Einrichtungen, ein Erziehungsauftrag bestand damals nicht. Die teilweise
sehr undurchsichtigen und unbefriedigenden Umstände, in denen Kinder fremdbetreut wurden und die oft in Verbindung mit der Ausnutzung kindlicher
Arbeitskraft standen, förderten den Wunsch nach Modifikation und öffentlicher
Kontrolle.
Die Motivation zur Veränderung war jedoch auch von eigennützigen Motiven
geprägt. Der Preußische Staat beispielsweise machte sich Sorgen um die
Ausbeutung kindlicher Arbeitskräfte in familialen sowie industriellen Strukturen, da
die spätere Verwendung und Verfügbarkeit in der Armee dadurch beeinträchtigt
wurde. Kinder und Jugendliche waren nach einer Unterbringung mit gekoppeltem
Arbeitseinsatz häufig „verbraucht“ und somit militärisch „unbrauchbar“. Ein Verbot
der Kinderarbeit wurde ausgesprochen. Die Waisenhäuser mussten sich
demzufolge oft dem Vorwurf stellen, Kinder auszubeuten.
Im Rahmen des so genannten „Waisenhausstreites“ Ende des 18. Jahrhunderts
wurden vor allem mangelnde pädagogische und medizinische Betreuung sowie
harte Strafen und Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft kritisiert. Eine
Schließung
der
Waisenhäuser
und
die
entsprechende
Umstellung
auf
Familienpflege, besonders in bäuerlichen Strukturen, war die Folge der
öffentlichen Auseinandersetzung.
Allerdings zeigte die Erfahrung, dass auch Kinder in familialen Pflegestellen nicht
vor Ausbeutung und Misshandlung geschützt waren. Kontrollmöglichkeiten in
Waisenhäusern schienen besser umsetzbar als in Familiensystemen. Neben neu
12
entstandenen Waisenhäusern gründeten katholische und evangelische Vereine im
19. Jahrhundert so genannte „Rettungs- und Erziehungsanstalten“. Auch verwahrloste und kriminell gewordene Kinder und Jugendliche fanden hier Aufnahme.
Rechtliche Basis für solche unter Umständen zwangsweisen Unterbringungen in
diesen Besserungsanstalten war das „Zwangserziehungsgesetz“ von 1878. Eine
Straftat des Kindes musste dieser Maßnahme vorausgehen.
Mit Inkrafttreten des „Fürsorgeerziehungsgesetzes“ von 1900 wurde die Möglichkeit geschaffen, auch bei Kindesvernachlässigung oder -misshandlung einzugreifen und Schutz zu gewähren. Erstmals wurden Kinderschutz und -kontrolle
zusammengefasst. Die rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichten eine Unterbringung in Waisenhäusern, Erziehungsanstalten und geeigneten Familien.
Das erste Jugendamt zur Kontrolle der fremduntergebrachten Kinder entstand
1910 in Hamburg. Auch die „Zieh- und Kostkinder“ in Pflegefamilien wurden von
diesen Institutionen überwacht. Die Verbreitung dieser Kontrollfunktion durch die
Jugendämter sowie deren genaue Aufgaben regelte das „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ von 1922/24.
Die Qualität der Unterbringungsformen bot jedoch immer wieder neuen Anlass zur
Diskussion und auch Modifikation.
Die Hospitalismusforschung von Renée Spitz beispielsweise machte deutlich,
dass ein direkter Zusammenhang zwischen gesunder Entwicklung und Emotionalität bestand. Er wies aufgrund seiner Beobachtungen darauf hin, dass Kleinkinder, die ihr erstes Lebensjahr in Heimen verbringen und dort nicht angemessen
betreut werden, Verhaltensauffälligkeiten zeigen, die im direkten Zusammenhang
mit fehlender emotionaler Zuwendung und Interaktion mit einer konstanten
Bezugsperson stehen.
Die Frage nach angemessener Kompensation sowie der Abwägung zwischen
Heimerziehung und Familienpflege beschäftigte immer wieder den fachlichen
Diskurs. Die Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts
hatte zudem zur Folge, dass autoritäre und repressive Erziehungsstile sowohl im
familialen als auch institutionellen Rahmen kritisch hinterfragt wurden. Alternative
Betreuungsformen wie Kleinstheime und Wohngruppen entstanden, Erziehungsberatung und sozialpädagogische Familienhilfe wurden ausgebaut. Diese
Reformen fanden dann im Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 ihre rechtliche
13
Grundlage. Der Begriff der „Lebensweltorientierung“ und somit größerer Nähe zum
Klienten der sozialen Arbeit entstand. Eine Orientierung an den Ressourcen und
entsprechender Einbeziehung der Betroffenen fand Einzug in die konzeptionellen
Ansätze der Jugendhilfe. In diesem Zusammenhang veränderte sich auch die
Rolle der Herkunftseltern in einem Hilfeprozess zugunsten von Einbeziehung,
Beratung und Beteiligung.
Ein
stärkerer
Ausbau
ambulanter
Maßnahmen
zur
Verhinderung
einer
Fremdunterbringung begann, und die Bedeutung familialer Bindungen rückte mehr
und mehr in den Mittelpunkt der Hilfeplanung.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) versteht sich als Leistungsangebot der
öffentlichen Jugendhilfe, über das Eltern als Leistungsempfänger freiwillig
entscheiden können. Eingeschränkt werden diese elterlichen Rechte nur bei
Gefahr des Kindeswohles. Der Spagat zwischen Dienstleistung und Kontrolle
reicht dabei von familienunterstützenden Hilfen und Beratungsangeboten bis zum
Entzug der elterlichen Sorge.
Doch auch bei staatlichem Eingreifen in die elterlichen Rechte regelt das KJHG
die Beratung und Mitbestimmung von Eltern und Kindern bei der Auswahl von
Hilfeleistungen
und
entsprechender
Einrichtungen.
Dieser
oft
als
„Neue
Fachlichkeit“ bezeichnete Ansatz in der Kinder- und Jugendhilfe, der eine aktive
Beteiligung der Betroffenen fordert, setzt das Verstehen der Sinnzusammenhänge
von Klienten voraus. So auch der abgebenden Eltern und deren Biografiezusammenhängen. Inwieweit Herkunftseltern im historischen Rückblick des
Themas „Fremdunterbringung“ Rollenzuschreibungen erfuhren, ist wenig bekannt
und dokumentiert. Seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist ihre
Elternrolle jedoch auch während einer Fremdunterbringung rechtlich anerkannt.
2.3 Pflegefamilien aus der Perspektive des Kindes –
ein Erklärungsversuch
Am Anfang einer Fremdunterbringung steht für alle Beteiligten eine Krise. Aus der
Sicht des Kindes bedeutet dies den Verlust aller Sicherheiten seines bisherigen
Lebenskontextes. Sie offenbart, dass seine Lebens- und Entwicklungsbedürfnisse
in der Herkunftsfamilie nicht gewahrt werden konnten und demzufolge eine
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Fremdunterbringung den Sozialisationskontext völlig verändert. Das grundsätzliche Bedürfnis eines Kindes, bei seinen leiblichen Eltern aufzuwachsen, ist damit
verletzt. Die Verletzungen körperlicher und/oder seelischer Art, die einer Fremdunterbringung oft voraus gehen, kommen in individuellem Umfang dazu.
Die Kinder oder Jugendlichen kommen als Fremde in ein bestehendes soziales
System, das der Pflegefamilie, welches sich in der Regel sehr stark von ihrem
bisherigen sozialen Umfeld unterscheidet. Sie sind belastet mit Gefühlen über die
Fremdplatzierung und deren Gründe, und unsicher über ihre Zukunft und den
anstehenden und nötigen Integrationsprozess. Sie brauchen Zeit und Raum zur
Realisierung der neuen Situation, Möglichkeiten der Aufarbeitung traumatischer
Ereignisse und dementsprechend Beziehungsangebote, die sich ihnen nicht
aufdrängen aber als verlässliche und wohlwollende Option zur Verfügung stehen.
Ihre widersprüchlichen Gefühle bezüglich der Fremdunterbringung benötigen
Akzeptanz. Unter Umständen sind eigene Schuldgefühle vorhanden. Einerseits
sollen und wollen sie vielleicht auch positive Zugehörigkeitsgefühle entwickeln,
andererseits können auch bedeutsame und starke Gefühle zur Herkunftsfamilie
bestehen, die Raum und Anerkennung benötigen, damit keine Loyalitätskonflikte
vorprogrammiert werden.
Die Kinder und Jugendlichen sind entwurzelt und meist mit großen Unsicherheiten
über ihre weiteren Zukunftsperspektiven konfrontiert. Sie sind nun Kinder mit
biologischen und sozialen Eltern, vielleicht auch leiblichen Geschwistern und
Pflegegeschwistern innerhalb der Pflegefamilie. Die Welt ist „aus den Fugen
geraten“. Diese sozialen Realitäten sind auch innerhalb der Gesellschaft nicht
immer akzeptiert und oft mit sozialen Sanktionen belegt.
Der mit der Fremdunterbringung häufig einhergehende Ortswechsel und die damit
verbundene Neuorientierung auch im Schul- und Freundschaftssystem eines
Kindes erfordern Bereitschaft zur Flexibilität und Anpassungsleistungen. Trauer
und Wut sowie Versuche von Schuldzuweisungen und Erklärungsfantasien im
Hinblick auf die Fremdunterbringung gehören zur Aufarbeitung der Situation von
Pflegekindern.
Wenn sie in dieser „Multiproblemlage“ imstande sind, sich positiv und konstruktiv
mit ihrer neuen Lebenssituation zu arrangieren, was in der Regel von ihnen
erwartet wird, haben sie eine enorme Leistung für sich erbracht. Oft fordert diese
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Lebensaufgabe so viel Energie und Anstrengung, dass weitere gesellschaftliche
Anforderungen, wie beispielsweise der Schulbesuch, nur mit einem minimalen
Standard aufrechterhalten werden können.
Pflegefamilien müssen demzufolge aus der Perspektive des Kindes Orte sein, an
denen Heilung möglich ist. Orte, die es dem Kind oder Jugendlichen im Rahmen
seiner derzeitigen Möglichkeiten erlauben, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Sie müssen jedoch auch Orte des Rückzuges sein, die ein Innehalten
ermöglichen, wenn dies die Aufarbeitung der Situation erfordert. Sie sollen Perspektiven für Beziehungen eröffnen, jedoch auch achtsam mit der Vergangenheit
und dementsprechenden Bezügen umgehen. Pflegefamilien sollen Kinder und
Jugendliche mit all ihrer Verletzbarkeit, ihren ganz eigenen Sinnhaftigkeiten und
Überlebensstrategien annehmen und beim dechiffrieren von „veralteten“ Handlungsmustern behilflich sein.
2.4 Pflegefamilien aus der Perspektive der Pflegeeltern –
ein Erklärungsversuch
Wenn durch das Zustandekommen eines Pflegeverhältnisses zwei Familien
miteinander in Beziehung treten, tragen sicher die Pflegeeltern den „Löwenanteil“
an Verarbeitungs- und Bewältigungsaufgaben in der für alle Beteiligten
krisenhaften Situation. Sie müssen sich sorgend und einfühlsam dem Kind und
seinen traumatischen Erfahrungen widmen und den nötigen Integrationsprozess
einleiten. Auch die Umstrukturierung ihres bisherigen sozialen Systems, also der
herkömmlichen Familiensituation, gilt es zu bewältigen. Neue Rollen und
Aufgaben stehen zur Übernahme an, und das ursprüngliche Familiensystem, das
in privater und spontaner Form agierte, ist jetzt öffentlich geworden.
Jürgen Blandow (1972) spricht hier von Rollendiskrepanzen, die in Pflegefamilien
zu bewältigen sind. Der Verlust von Natürlichkeit hin zu einer öffentlich
kontrollierten Institution ist für alle Familienmitglieder spürbar. Die Pflegeeltern
übernehmen eine öffentliche Aufgabe und werden soziale Eltern – neben ihrer
eventuellen biologischen Elternschaft zu eigenen Kindern eine bedeutsame
Rollenerweiterung.
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Diese soziale Elternschaft verlangt von ihnen ein hohes Maß an Verantwortung,
eigene emotionale Beteiligung und in der Regel eine Unberechenbarkeit des
zeitlichen und inhaltlichen Verlaufes der Hilfemaßnahme. Diese Anforderungen
finden in ihrem privaten
sozialen System statt und ermöglichen in der Regel
wenig „Auszeiten“.
Die Pflegeeltern sollen als warme und offene Persönlichkeiten dem Pflegekind
gegenübertreten und ihr Familienleben für dieses Kind öffnen. Pflegeeltern bieten
demnach einem in der Regel sehr stark problembeladenen und unter Umständen
traumatisierten Kind einen Sozialisationsort, der Raum, Zeit und die nötige
Emotionalität bereithält, um neue Entwicklungschancen freizusetzen. Sie bieten
einem Kind Wertschätzung und Empathie und ermöglichen ihm somit eine
Aufarbeitung seiner bisherigen Geschichte.
Pflegeeltern öffnen damit aber auch ihr soziales System für die Herkunftseltern
eines Kindes. Sie gehören zur Geschichte eines Pflegekindes
und fordern
Auseinandersetzung. Unabhängig vom konzeptionellen Ansatz einer Pflegefamilie
und deren Rollenverständnis sind die Herkunftseltern eines Kindes vorhanden.
Das strukturelle Merkmal „doppelte Elternschaft“ ist nicht aufzulösen. Es muss
also ein Rollenverständnis entwickelt werden, das sich im Alltag bewähren kann.
Das
Kind
wird
diese
Auseinandersetzung
einfordern,
aber
auch
die
Herkunftseltern streben in der Regel eine Beteiligung am Pflegeverhältnis an. Es
ist also Brückenbau und Verständigung notwendig, um der Gefahr eines
pathogenen Beziehungsdreiecks weitgehend vorzubeugen. Pflegeeltern sind also
an vielen Stellen gefordert, das Pflegeverhältnis zu gestalten, und sie benötigen
eine große Toleranz gegenüber Widersprüchen, um diese Schwierigkeiten zu
bewältigen. Oft sind sie mit diesen vielfältigen und schwierigen Aufgaben auf sich
selbst gestellt und können nur auf wenige Unterstützungsangebote zurückgreifen.
Auch
gesellschaftliche
Ansprüche
fordern
ihren
Tribut,
wenn
soziale
Unangepasstheit oder Schulschwierigkeiten der Pflegekinder bearbeitet werden
müssen.
Sind im System „Pflegefamilie“ auch eigene Kinder vorhanden, was in der Regel
häufig der Fall ist, müssen auch damit einhergehende Anforderungen und Probleme gelöst werden.
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Ein hohes Maß an Achtung und Anerkennung sowie ein umfassendes Beratungsund Unterstützungsangebot ist deshalb für Pflegeeltern notwendig, um ihren
komplexen gesellschaftlichen Auftrag auch befriedigend ausführen zu können.
2.5 Pflegefamilien aus der Perspektive der Herkunftseltern –
ein Erklärungsversuch
Die Herausnahme eines Kindes aus seiner Herkunftsfamilie ist nicht nur für das
betroffene Kind ein traumatisches Ereignis, sondern auch für dessen Herkunftseltern. Die Trennung vom Kind stellt in der Regel einen emotionalen Ausnahmezustand für die Herkunftseltern dar, der eine ganze Bandbreite an Emotionen
auslöst. Der Schmerz über die Trennung von ihrem Kind und das damit einstürzende Lebensmodell lösen Gefühle von Ohnmacht und Entmündigung aus. Die
Gefühlsbewältigung hat oft zur Folge, dass Herkunftseltern mit Wut und
Aggression reagieren und ihre emotionale Befindlichkeit außer Kontrolle gerät.
Häufig werden Kinder und Jugendliche zwangsweise aus ihren bisherigen
Familiensystemen herausgenommen, eine Einwilligung zur Fremdunterbringung
von Seiten der Herkunftseltern findet selten statt. Eine so genannte Inobhutnahme
oder Herausnahme bildet die rechtliche Grundlage, wenn das Wohl des Kindes in
seinen familialen Bezügen gefährdet ist. Diese Maßnahme wird leider oft ohne
vorherige Vorbereitung durchgeführt, eine Nachbetreuung für Herkunftseltern
findet so gut wie nie statt. Die betroffenen Eltern sind also bei der Verarbeitung
dieses einschneidenden Ereignisses und der entsprechenden Trauerarbeit auf
sich selbst gestellt. Gefühle des Versagens und damit einhergehende Resignation
überwältigen die Herkunftseltern. Häufig wird durch die Herausnahme eines oder
mehrerer Kinder die „Restfamilie“ zusätzlich destabilisiert. Bereits vorhandene
destruktive Faktoren wie beispielsweise Drogenabhängigkeit oder psychische
Erkrankungen werden potenziert.
Herkunftseltern konnten ihren „Elternauftrag“ nicht erfüllen und fühlen sich deshalb
bei dieser zentralen gesellschaftlichen Aufgabe als „Versager“. Sie werden häufig
durch soziale Sanktionen belegt und als „Eltern ohne Kinder“ diskriminiert.
Bei einer Unterbringung in einer Pflegefamilie kann der Schmerz über die
Trennung vom Kind zu Eifersuchtsgefühlen bei den Herkunftseltern führen. Sie
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erleben die Pflegefamilie als starke Konkurrenz zu ihrer bisherigen Elternrolle und
fürchten einen völligen Bindungsverlust. Manche Herkunftseltern können deshalb
einer Heimunterbringung eher zustimmen, weil kein neues Familiensystem an ihre
Stelle tritt.
Herkunftseltern erleben in diesem Zusammenhang
Pflegefamilien oft als den
„verlängerten Arm des Gesetzes“. Sie reagieren dann entweder mit destruktivem
Verhalten oder mit völligem Rückzug. Sie benötigen in dieser schwierigen
Situation dringend Unterstützung und Hilfe. Eine konstruktive Umstrukturierung
ihrer Elternrolle auch innerhalb eines Pflegeverhältnisses kann ihnen helfen, das
Scheitern anzunehmen und eine neue Rolle in der Eltern-Kind-Beziehung zu
finden.
Viele Herkunftseltern können auch positive Aspekte bei der Unterbringung ihrer
Kinder in Pflegefamilien sehen, werden aber oft von ihren Eifersuchtsgefühlen
überwältigt. Sie empfinden nach wie vor Verantwortung, Liebe und Zuneigung für
ihre Kinder, bemühen sich um Umstrukturierung ihrer bisherigen Lebensverhältnisse, stoßen aber sehr schnell an die Grenzen ihrer oft eingeschränkten Möglichkeiten.
Diese von vielen als „Teufelskreis“ empfundene Situation führt dann oft zu
destruktiven Handlungsmustern bezüglich der Fremdunterbringung ihrer Kinder.
Sie fühlen sich als „Verlierer“ und müssen häufig auch in ihrem sozial-räumlichen
Milieu mit deprivierten Bedingungen auskommen. Ihr sozialer Status innerhalb der
Gesellschaft unterscheidet sie im Vergleich zu Pflegefamilien durch unzureichende soziale und wirtschaftliche Voraussetzungen. Auch hier kann eine
Konkurrenzsituation im Vergleich zur Pflegefamilie auftreten. Ihre eigene Lebensgeschichte ist in der Regel mit Entbehrungen und eigenen schwierigen
Kindheitsbedingungen verknüpft. Sie wünschen sich Wertschätzung und Anerkennung ihrer Elternrolle trotz Fremdunterbringung sowie häufigen Kontakt zu ihren
Kindern. Der Wunsch einer Rückführung wird zwar auch immer wieder benannt,
aber häufig an den tatsächlichen Bedingungen korrigiert.
Eine gesellschaftliche Anerkennung und Ambiguitätstoleranz bezüglich der
sozialen Realitäten und ein erweiterter Fokus auf soziale Zusammenhänge und
Ursachen würde dem Lebensgefühl von Herkunftseltern zugute kommen und
letztlich allen Beteiligten eines Pflegeverhältnisses entgegenkommen.
19
3. Methodisches Vorgehen
3.1
Forschungsinteresse
Wie bereits in meiner Einleitung zu dieser Arbeit dokumentiert, ist mein beruflicher
Hintergrund in der Arbeit mit fremduntergebrachten Kindern und der entsprechenden Elternarbeit verwurzelt. Meine Perspektive darin war bisher die der sozialen
Eltern in einem Pflegeprozess – also sehr stark angelehnt an die Rolle der „Pflegeeltern-Position“ in Pflegeverhältnissen nach SGB VIII, §33.
Im Rahmen meines Forschungsvorhabens eine Außenperspektive einzunehmen,
in der Untersuchungseinheit also Unbeteiligter zu sein und bewusst die Perspektive der abgebenden Eltern in den Vordergrund zu stellen, erschien mir eine trotz
des Erfahrungshintergrundes spannende Aufgabe. Ich wollte einerseits meine
Sensibilität und mein Erfahrungswissen einbringen, andererseits meine Sichtweise
so weit als möglich zurückstellen und mich auf die Perspektive der biologischen
Eltern einlassen. Da eine intersubjektive Nachprüfbarkeit bei mündlich-persönlichen Interviews nicht wirklich gegeben und der Einfluss des Interviewers letztlich
nicht zu kontrollieren ist, nehme ich meine bisherige Überschneidung zum Untersuchungsgegenstand als Möglichkeit, im Rahmen des narrativen Interviews, welches meine Untersuchungsmethode darstellt, ein entsprechendes Vorwissen in
die offene und nicht standardisierte Interviewsituation einzubringen.
Mein Forschungsinteresse gilt demnach der Kompetenz und dem Erfahrungswissen von Herkunftseltern. Ihre retrospektive Interpretation soll das soziale
System mit seinen Sinnzusammenhängen und entsprechenden Handlungsschemata erläutern und die Dynamik für das soziale Feld offenbaren.
Anhand der Bewältigungsstrategien von Herkunftseltern, der Art und Weise mit
diesem Umstand zu leben, sollen Zusammenhänge deutlich werden, die uns entweder veranlassen, konzeptionelle Strukturen beizubehalten oder bei Bedarf auch
entsprechend an das soziale System anzupassen.
Im Einzelnen möchte ich herausfinden, welche Bedürfnisse und Wünsche vorhanden sind, und mit den tatsächlichen Erfahrungen und Bedingungen vergleichen.
Zu diesem Zweck habe ich abgebende Eltern in Form eines narrativen Interviews
befragt, deren Kinder dauerhaft in einer Pflegefamilie leben. Wie im Laufe meines
20
Arbeitsberichtes deutlich wird, hat ein geführtes Interview meine gesamte Aufmerksamkeit beansprucht. Anhand dieses Interviews und der entsprechenden
Analyse möchte ich in explorierender und induktiver Weise verdeutlichen, welche
Bedürfnislage und damit einhergehende soziale Dynamik in Pflegeverhältnissen
bedeutsam sein kann.
Ich möchte die gesammelten Informationen mit der momentanen fachlichen Diskussion vergleichen und darüber hinaus zu konzeptionellen Konsequenzen
anregen.
3.2
Qualitative Sozialforschung
„Qualitative Forschung widmet sich der Untersuchung der sinnhaften Strukturierung von Ausdrucksformen sozialer Prozesse. Es geht also darum zu verstehen, was Menschen in einem sozialen Kontext dazu bringt, in einer
bestimmten Weise zu handeln, welche Dynamik dieses Handeln im sozialen
Umfeld auslöst und wie diese auf die Handlungsweisen zurückwirkt.“
(Froschauer und Lueger 2003, S. 17)
Diese Beschreibung qualitativer Forschungsinteressen macht in wenigen Sätzen
deutlich, um was es geht. Es geht um die Erfassung sozialer Wirklichkeit, deren
Sinnhaftigkeit und Wechselwirkung auf das soziale System. Diese im sozialen
Kontext produzierte Sinnhaftigkeit hervorzubringen und sie durch Analyse dem
Verstehen zugänglich zu machen, ist Aufgabe der Qualitativen Sozialforschung.
Die Sozialwissenschaften öffnen sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend qualitativ orientierten Ansätzen. Neben dem Hauptinteresse der Soziologie
und Erziehungswissenschaften entdeckt auch die Psychologie die qualitative Forschung für ihr Fachgebiet und räumt gegenüber der quantitativen Forschung
durchaus Vorteile und Einsatzmöglichkeiten ein. Vorbehalte gegenüber der qualitativen Forschung sind vor allem in den klassischen Gütekriterien wie Objektivität
und Reliabilität zu suchen. Eine unzureichende Generalisierung der Ergebnisse
oder die mangelnde intersubjektive Nachvollziehbarkeit gehören ebenso zu den
Kritikpunkten. Als Ansatzpunkt der Qualitativen Sozialforschung gilt an dieser
Stelle beispielsweise Subjektivität mit zum Forschungsgegenstand zu erheben.
Eine Analyse der eigenen Vorannahmen kann also auch Teil der Untersuchung
sein.
21
Innerhalb der Methodendiskussion findet derzeit konstruktive Annäherung der
quantitativen und qualitativen Forschung statt, die sich durchaus ergänzen und
bereichern kann. Eine strikte Abgrenzung voneinander wird mittlerweile als unsinnig erachtet.
Die Qualitative Sozialforschung zeichnet sich durch eine umfassende Methodenvielfalt aus, deren Königsweg das Interview darstellt. Es nimmt sowohl in der
quantitativen als auch in der qualitativen Forschung eine herausragende Position
ein. In der qualitativen Forschung möchte man über mündlich-persönliche Interviews Zugang zur sozialen Welt der Befragten erhalten. Es geht hierbei um die
Exploration von Sachverhalten und Sinnzusammenhängen in sozialen Systemen.
Die Befragten werden an dieser Stelle zu Experten des Forschungsgegenstandes.
In der Regel werden Einzelbefragungen durchgeführt, aber auch Gruppeninterviews sind möglich. Es sind nicht-standardisierte Interviews mit offenen Fragen
und einer non-direktiven Gesprächsführung. Ein entsprechendes Vertrauensverhältnis bildet die Basis für ein positives Forschungsklima.
Eine Vielzahl von Techniken der Interviewdurchführung steht zur Verfügung, von
denen das narrative Interview einen Teil dieses Angebotes darstellt.
3.3 Das narrative Interview
Um mein Forschungsinteresse umzusetzen, wählte ich das narrative Interview als
Erhebungsform aus. Es ist, wie bereits erwähnt, innerhalb der qualitativen Sozialforschung als eine Form des qualitativen Interviews zu betrachten und wurde in
den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts von F. Schütze entwickelt. Seine Entstehungsgeschichte kann nicht als Erweiterung der Methoden der Qualitativen
Sozialforschung verstanden werden, sondern vielmehr als eine Verknüpfung von
dem Interesse an Erzählung und den formalen Merkmalen dieser Art von Kommunikation, „ ... also darauf wie sie ihre Geschichte erzählten .“ (Schütze 1976)
Schütze sah einen direkten Zusammenhang zwischen der systematischen Fokussierung des „Wie“ einer Erzählung und des daraus resultierenden Verständnisses
des „Was“.
1982 machte Schütze in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass der Erzähler so
genannten Zugzwängen des Erzählens unterliegt und nicht als autonomer Selbst22
darsteller verstanden werden darf. Es kommt also zu einer realitätsgerechteren
Nachbildung früheren Handelns. Man spricht hier auch vom Zugzwang zur Detaillierung.
Über die Fokussierung auf den Einzelfall im narrativen Interview erhofft man sich
wiederum auch gesellschaftliche Bedeutung. Dieser induktive Forschungsansatz
liegt auch meinem Forschungsinteresse zugrunde.
Das narrative Interview möchte über sein geschlossenes, rundes und ganzheitliches Bild auf einen Forschungsgegenstand und dessen Bedürfnisse, Zusammenhänge
und
Wechselwirkungen
aufmerksam
machen.
Es
will
über
die
autobiografische Komponente Einblick in soziale Systeme geben.
Der Befragte wird an dieser Stelle zum Experten und wird aufgefordert zum Gegenstand zu erzählen. Voraussetzung hierfür ist natürlich eine Erfahrungskompetenz.
Wie generell in der Qualitativen Sozialforschung soll die Erhebungssituation möglichst alltagsnah, entspannt und vertraulich sein. Der Interviewstil ist neutral bis
weich und non-direktiv. Eine ausreichende Vertrauensgrundlage, die eine Offenlegung von Forschungsmotivation und späterer Verwendung ebenso einschließt wie
die Zusicherung von absoluter Vertraulichkeit, ist Standard.
Eine weitere Voraussetzung für verlässliche Befunde ist die Empathie des Forschers. Der Forscher nimmt eine zurückhaltende und interessierte Rolle ein, ohne
die Interviewsituation deutlich zu beeinflussen. Da im narrativen Interview kein
Fragebogen vorliegt, muss der Forscher mit dem Gegenstand der Befragung vertraut sein.
Die Interviewsituation ist weder zeitlich noch inhaltlich planbar oder vorhersehbar.
Eine flexible Durchführung ohne Zeitdruck ist deshalb notwendig. Die Dauer des
Gesprächs kann im Durchschnitt zwei bis sechs Stunden betragen. Die Gestaltung
des Interviews hängt im Wesentlichen vom Befragten ab. Seine Erzählungen und
Einlassungen prägen die Situation und das Gespräch. Es sind deshalb besondere
Anforderungen an die befragte Person gestellt. Die Eigenleistungen sind in den
Bereichen Sprachvermögen, Strukturierung und Erinnerungsleistung manifestiert;
außerdem natürlich Bereitschaft zur Offenheit und biografischer Selbstdarstellung.
23
Aufgrund der Vielzahl von Informationen ist eine Aufzeichnung des Gesprächs und
spätere Transkription erforderlich.
Die Struktur eines narrativen Interviews gliedert sich wie folgt:
Ist eine ausreichende Vertrauensgrundlage zwischen Forscher und Informant geschaffen, lässt sich der Befragte also auf die Gesprächssituation ein, eröffnet die
Erklärungsphase das Interview. Darin wird der Befragte auf die Besonderheiten
eines narrativen Interviews hingewiesen und allgemeine und technische Modalitäten werden geklärt. Diese Phase dient auch der Schaffung einer offenen
Gesprächssituation.
Die erzählgenerierende Eingangsfrage eröffnet dann die narrative Erzählphase.
Aufgabe des Forschers ist es dann lediglich, Interaktionsarbeit in Form von
Rezeptionssignalen („mmh“, „ja“, lachen, nicken usw.) zu leisten um damit seine
Aufmerksamkeit und Beteiligung zu demonstrieren.
Nach einem erkennbaren und vom Befragten signalisierten Erzählkoda setzt der
narrative Nachfrageteil ein. Der Forscher versucht hierbei mit dem Inhalt und
Vokabular des Erzählers einen erneuten Erzählstimulus zu formulieren. Es geht
also darum, das Erzählpotential weiter auszuschöpfen, ohne inhaltlichen Einfluss
zu nehmen.
In der so genannten Bilanzierungsphase können dann Fragen aufgrund der
Eigentheorien des Erzählers gestellt werden. Auch unbeantwortete Fragen des
Forschers zum Gegenstand können an dieser Stelle benannt werden. Im
Anschluss daran endet das narrative Interview.
Da das Erzählen immer eine retrospektive Interpretation beinhaltet, ist das narrative Interview besonders gut für die Biografieforschung geeignet.
3.4
Begründung der gewählten Forschungsmethode
Qualitative Sozialforschung und speziell die Form des narrativen Interviews
scheint mir eine geeignete Art der Forschung in einem sozialen Kontext zu sein,
dessen Erkundung zum Ziel hat, individuelles Erleben und Handeln zu dechiffrieren.
24
Ferner empfinde ich einen Forschungsansatz sehr konstruktiv, der Experten von
sozialer Wirklichkeit eine Plattform bietet, ihr Wissen verfügbar zu machen.
Außenstehenden eröffnet sich am Beispiel abgebender Eltern somit ein Teil von
Gesellschaft, deren Blickwinkel bisher nur selten beachtet wurde. Uns als professionellen Helfern in dieser Gesellschaft wird dadurch ermöglicht, die vom gesellschaftlichen System geforderte „Neue Fachlichkeit“ auch umzusetzen.
Durch biografisches Fallverstehen innerhalb der sozialen Arbeit kann ein völlig
neues Verständnis von sozialen Welten und entsprechender Hilfsperspektiven
eröffnet werden.
„Schütze und andere haben bereits in früheren Veröffentlichungen für eine
Übernahme biografieanalytischer Verfahren durch die sozialpädagogische
Praxis plädiert und dies damit begründet, dass es die Praxis permanent mit
Biografien und Erleidenskarrieren von Menschen zu tun hat, die es gelte, vor
dem Hintergrund der lebensgeschichtlichen Logik des Einzelfalls zu verstehen
und zu interpretieren. Mit der biografischen Fallarbeit soll ein Instrumentarium
angewendet werden, das Fehlertendenzen im professionellen Handeln auf ein
vertretbares Maß reduziert.“ ( Faltermeier 2001, S. 298)
Erst durch diese Perspektivenübernahme im Rahmen der qualitativen Sozialforschung wird eine biografische Begleitung von Menschen im Sinne der neuen
Fachlichkeit möglich, die von den sozialhelfenden Instanzen fordert, den Sinn- und
Relevanzrahmen von Menschen einzubeziehen.
Somit erhoffe ich mir über die gewählte Forschungsmethode entsprechende Eindrücke und Erkenntnisse.
25
4 Arbeitsbericht
4.1 Feldzugang und Entstehungsgeschichte einer Einzelfallstudie
Mein Forschungsvorhaben in Form von mehreren narrativen Interviews durchzuführen und die Studie somit explorativ und komparativ zu gestalten, erwies sich in
der Phase des Feldzuganges schwieriger als angenommen. Meine Vorstellungen
bezüglich der Kontaktaufnahme mit möglichen Interviewpartnern sah so aus, dass
ein von mir formuliertes Anschreiben (siehe Anhang) mit der Darstellung meines
Forschungsinteresses, der Bitte um Telefonkontakt und entsprechender Teilnahme, über ein mit mir kooperierendes Jugendamt an die betroffenen Herkunftseltern weitergeleitet werden sollte.
Eine erste Hürde stellten die Amtsstrukturen der Jugendämter, beziehungsweise
die Überlastungslage der entsprechenden Fachkräfte des Pflegekinderwesens
dar. So erwies sich mein eingeschlagener Weg als äußerst zeitaufwendig und
kompliziert. Nach mehreren Telefonkontakten und persönlichen Gesprächen mit
zwei in Frage kommenden Jugendämtern etablierte sich eine Kooperation mit dem
Jugendamt des Lahn-Dill-Kreises. Die zuständigen Mitarbeiter gaben mein
Anschreiben an entsprechende Herkunftseltern weiter, die aus ihrer Sicht für ein
solches Interview geeignet wären. Eine Rückmeldung der Herkunftseltern an mich
bezüglich der Interviewbereitschaft blieb allerdings aus. Offensichtlich war die
Hürde zu groß, mit einer fremden Person in Kontakt zu treten und eine entsprechende Motivation zu entwickeln. Retrospektiv betrachtet ist diese Haltung für
mich verständlich und nachvollziehbar.
Ein weiterer Kontakt mit den Mitarbeitern des Jugendamtes zur Problematik ergab,
dass eine erneute Werbung für mein Anliegen nur über den persönlichen Kontakt
zwischen Jugendamtsmitarbeitern und Herkunftseltern stattfinden kann. Aus
Datenschutzgründen blieb mir der direkte Kontakt zu diesem Zeitpunkt noch verschlossen.
Doch
auch
diese
Vorgehensweise
erforderte
Geduld,
da
entsprechende Kapazitäten im Ablauf des Pflegekinderwesens nur in sehr geringem Umfang vorhanden waren.
Trotzdem ergaben sich insgesamt vier potentielle Gesprächsangebote. Das erste
Interview führte ich mit einer Frau in Rheinland-Pfalz, das zweite mit einer Frau
26
aus Südhessen. Beide Interviews lagen nach erfolgter Transkription zur Analyse
bereit und weitere Interviewtermine konnten meinerseits auf den Weg gebracht
werden.
Mitten in dieser Datenerhebungsphase fiel aber dann die Entscheidung in Richtung Einzelfallstudie. Das Interview aus Südhessen mit Frau Schulze (Name
geändert!) ging mir sehr nahe und beschäftigte mich in großem Umfang. Ihre
Geschichte und die persönlichen Eindrücke in der Interviewsituation bewegten
mich nachhaltig und veranlassten mich, meine ganze Aufmerksamkeit ihrer
Erzählung zukommen zu lassen.
Das Interview mit Frau Schulze zeichnete sich durch eine besonders offene und
sehr differenzierte Haltung ihrerseits aus, die mir einen weiten Blick auf den
sozialen Kontext und die damit verbundene Multiproblemlage eines Pflegeverhältnisses verschaffte. Ihre überaus reflektierte Betrachtung, ihre Fähigkeit zur
Perspektivenübernahme und ihre selbstkritische Haltung sowie Kritikfähigkeit am
gesamten Hilfearrangement macht das Datenmaterial in seiner Fülle an Aussagen, Wünschen, Emotionen und Visionen aus meiner Sicht zu einer guten Grundlage für eine Einzelfallstudie.
4.2
Intervieweröffnung
Nach zwei vorangegangenen Telefonaten über mein Interviewanliegen, organisatorische Fragen und eine sehr unkomplizierte Terminabsprache besuchte ich Frau
Schulze in einer Kleinstadt in Südhessen in ihrer Wohngemeinschaft.
Frau Schulze öffnete mir die Tür und begrüßte mich freundlich und offen in ihrer
Wohnsituation, die sie mit ihrem Lebensgefährten und einem weiteren Mitbewohner und Freund teilt. Beide waren bei meinem Eintreffen noch anwesend, jedoch
bereits im Aufbruch, so dass nur eine kurze Überschneidung mit den Mitbewohnern stattfand. Der Hund von Frau Schulze, der mich recht ungestüm begrüßte,
schien an einem intensiven Kontakt interessiert zu sein, der jedoch meinerseits
nur sehr ungern erwidert wurde. Nach meinem offensichtlichen Unbehagen über
die Kontaktaufnahme des Hundes mit mir wurde er in ein benachbartes Zimmer
„verbannt“, was mich sehr erleichterte. Glücklicherweise schien dieser Vorfall die
Interviewsituation nicht nachhaltig zu belasten. Frau Schulze hatte im gemeinsa27
men Wohnzimmer Kaffee und Kuchen bereitgestellt und sich auf ein längeres
Gespräch mit mir eingestellt. Frau Schulze wirkte zu Beginn unseres Gespräches
angespannt und etwas unsicher, ließ sich jedoch sehr schnell auf eine offene und
mir zugewandte Gesprächssituation ein. Wir unterhielten uns über meine Anreise,
und ich begann mit dem Installieren der technischen Voraussetzungen für das
Aufzeichnen des Interviews. An dieser Stelle versicherte ich Frau Schulze nochmals die Vertraulichkeit bezüglich ihrer Erzählung und erklärte ihr abermals die
Notwendigkeit der Aufzeichnung des Gesprächs. Frau Schulze schien jedoch damit weit weniger Probleme zu haben als ich vermutete.
Nach dem Ausfüllen eines Sozialdatenblattes (siehe Anhang) formulierte ich
meine erzählgenerierende Frage zur Eröffnung des narrativen Interviews:
„Frau Schultze, Ihre drei Kinder leben in einer Pflegefamilie bzw. so, wie ich es
jetzt verstanden habe, zwei in der Pflegefamilie, die andere, älteste Tochter ist
ja in anderen Jugendhilfemaßnahmen untergebracht. Können Sie mir erzählen,
wie es zu der Fremdunterbringung kam und vor allem auch wie Sie mit der
Situation leben können?“ (1, 1–4)
Die Tatsache, dass die älteste Tochter nicht in einer Pflegefamilie lebt, erfuhr ich
erst unmittelbar vor der Intervieweröffnung über das Ausfüllen des Sozialdatenblattes.
Frau Schulze begann direkt mit einer sehr flüssigen, gut verständlichen und
eigenständigen Erzählung ihrer Lebensgeschichte bezüglich der Fremdunterbringung ihrer Kinder.
4.3 Haupterzählung
Frau Schulze stellte in der Haupterzählung und während eines insgesamt gut
zweistündigen Interviews in chronologisch sinnvoller Reihenfolge ihre Situation als
Mutter von fremdbetreuten Kindern dar und ließ mich in detaillierter Weise an
ihrer Lebensgeschichte teilhaben. Die anfängliche Anspannung verschwand relativ
schnell zugunsten einer sehr offenen und teilweise intimen Erzählsituation. Eine
kurze Unterbrechung im narrativen Hauptteil des Interviews wurde durch ein
ankommendes Telefonat herbeigeführt. Eine weitere Unterbrechung forderte der
weg gesperrte Hund ein, indem er lautstark auf sich aufmerksam machte. Beide
28
Situationen hatten keineswegs zur Folge, sich der Gesprächssituation zu entziehen und schmälerten auch nicht die Konzentration von Frau Schulze. Nach etwa
eineinhalb Stunden narrativer Erzählung bat sie um eine Pause und ein Abschalten des Aufnahmegerätes.
„Ja, jetzt hab’ ich wieder so’n, keine Ahnung wie’s ... machen wir mal Pause.“
(14, 3-4)
Sie bat mir Kuchen und erneut Kaffee an und schien eine Rückmeldung bezüglich
ihrer Erzählung zu erwarten. Insgesamt schien sie etwas erschöpft zu sein, und
ihre emotionale Beteiligung an ihrer retrospektiven biografischen Erzählung war ihr
während ihrer Ausführungen wie auch in der gewünschten Pause abzuspüren. Ich
versuchte an dieser Stelle an bereits getroffene Aussagen anzuknüpfen und Frau
Schulze zum Vertiefen ihrer Erzählung zu motivieren, indem ich ihre Haltung
bezüglich des Verbleibens der Kinder in den jeweiligen Pflegefamilien ansprach.
I: „Sie haben erzählt, dass die Unterbringung von Sonja in der Pflegefamilie
mittlerweile für Sie so in Ordnung ist und dass Sie sich auch vorstellen können, dass Sonja dort auf Dauer ihren Lebensmittelpunkt hat. Hab ich das richtig verstanden?“
B: „Ja, ja.“
I: Können Sie mir erzählen, weshalb Sie in dieser Frage für sich diese Position finden konnten, weshalb Sie darüber Ruhe bekommen haben, dass Sonja
in dieser Pflegefamilie auf Dauer bleibt? Und was ist der Unterschied zu
Anette im Bezug auf eine dauerhafte Perspektive? (14, 10–18)
Frau Schulze ging auf mein Nachfragen ein und begann erneut mit einem ausführlichen narrativen Erzählteil.
4.4 Nachfrageteil
Nachdem Frau Schulze über einen langen Zeitraum in der Rolle der Erzählenden
war und somit auch die Gestaltung des Interviews im Wesentlichen von ihr beeinflusst wurde, schien jedoch jetzt ihr Interesse für mein Nachfragen geweckt zu
sein. So kam es im letzten Teil des Interviews immer wieder zu Fragestellungen
meinerseits, die sie bereitwillig und nach wie vor engagiert beantwortete.
29
In dieser Bilanzierungsphase appellierte ich an ihr Expertenwissen und bat sie, mir
Anregungen und Hilfestellungen für die Praxis des Pflegekinderwesens zu geben.
I: „Wie könnte denn aus Ihrer Sicht eine Fremdunterbringung für alle Beteiligten gut funktionieren? Also jetzt am besten aus der Erfahrung der eigenen
Geschichte? Was würden Sie als Rat auch mir mit auf den Weg geben?“ (18,
11–13)
B: „Praktisch?“ (18, 20)
I: „Ja, ganz praktisch!“ (18, 22)
In diesem letzten und dennoch umfangreichen Teil des Interviews äußerte sie sich
detailliert zum Verhältnis zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern, formulierte
Wünsche und Visionen und ließ dabei auch den Blickwinkel aller Beteiligten am
Hilfeprozess nicht außer Acht.
Sichtlich erschöpft von ihren Ausführungen und der entsprechenden Auseinandersetzung mit dem Erzählten und der damit verbundenen eigenen retrospektiven
Interpretation, bot sie mir nochmals Kuchen an und bat um die offizielle Beendigung des Interviews durch Abschalten des Aufnahmegerätes.
Sie wirkte erleichtert und angespannt zugleich und nutzte die Gesprächssituation
ohne Aufnahmegerät zur Reflexion ihrer Ausführungen. Sie empfand den Anteil
ihrer Drogengeschichte am Inhalt des Interviews als recht groß. Dies äußerste sie
mehrmals:
B: „Weiß net, es war jetzt ’ne Menge Drogentherapie Thema ...“ (22, 23)
An dieser Stelle ließ sie mich nochmals teilhaben an ihren persönlichen Zukunftsvisionen und -wünschen. Nachdem sich der Hund erneut bemerkbar machte, beschlossen wir gemeinsam eine Beendigung des Zusammentreffens und
verabschiedeten uns mit guten Wünschen und gegenseitigem Dank für die gemeinsame Zeit.
30
5
Geschichte einer Fremdunterbringung
5.1 Portrait „Frau Schulze“
Frau Schulze ist eine 40-jährige Frau in gepflegter und freundlicher Erscheinung.
Sie ist ca. 1,65 m groß, schlank und bei meinem Besuch dunkel gekleidet mit langen rötlich gefärbten Haaren. Sie hat eine warme Stimme, eine mir zugewandte
und offene Körperhaltung und löste spontan einen positiven ersten Eindruck bei
mir aus. Sie ist Mutter von drei Kindern.
Regina ist bereits 18 Jahre alt, Anette 14 Jahre und Sonja 10 Jahre alt. Vom Vater
der Kinder ist sie geschieden. Sie beschreibt die vergangene Ehe als zerrüttet und
von Gewalt geprägt.
B: „Ja, es kam zu der Unterbringung bei Pflegeeltern durch den Umstand, dass
ich in einer sehr zerrütteten Ehe gelebt hab mit den Kindern, dass ich jahrelang
versucht hab, aus dieser Ehe raus zu kommen, zu flüchten, teils mit und teils
ohne Kinder und letztlich aber im extremen Hörigkeitsverhältnis aufgrund von
Gewalt und Todesangst war, ...“ (1, 6 – 9 )
Sie erzählt von etlichen Trennungsversuchen, Aufenthalten in Frauenhäusern und
letztlich einer Loslösung und Scheidung, die sie als befreiend erlebt. Ihre beiden
jüngeren Töchter leben in Pflegefamilien. Die älteste Tochter hat ihr bisheriges
Leben in unterschiedlichen Hilfeeinrichtungen verbracht und befindet sich derzeit
in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung. Zur Geschichte von Frau
Schulze gehört eine langfristige Drogenproblematik, die sich bis in ihre Jugendzeit
zurückverfolgen lässt.
„Aber ich habe früher auch mal, na ja, bis ich 18 war, mal kurzzeitig mit Heroin,
mit Fixen zu tun gehabt.“ (1, 25–26)
Sie erzählt von Erfahrungen mit Psychopharmaka, Heroin und Kokain.
„Und das is mit Kokain noch viel, viel härter wie mit Heroin. Man kann zwar
eins zwei Tage locker aussitzen und bekommt ja keine Entzugserscheinungen
körperlich, aber der psychische Suchtdruck, der is mit Heroin überhaupt net zu
vergleichen.“ (3, 15 – 15)
31
Die Drogenproblematik zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Lebensgeschichte
und ist aus ihrer Sicht ein Hauptgrund für die Fremdunterbringung ihrer Kinder.
„In meinem Fall ist es eigentlich letztlich die Sucht gewesen, die das verursacht hat.“ (6, 9 – 10)
Der Vater der Kinder ist drogenabhängig, und auch ihre nachfolgende Beziehung
zu Daniel, einem langjährigen Freund und heutigen Ehepartner, ist durch eine beiderseitige Drogenproblematik gekennzeichnet. Das gemeinsame Kämpfen gegen
die Sucht mit allen Höhen und Tiefen, gemeinsamen Entgiftungen und Therapien
prägen den Beziehungsalltag von Frau Schulze und dem neuen Lebenspartner.
„Und dann haben wir gesagt: Mensch, wir waren so glücklich ohne Drogen, wir
verstehen uns so supergut. Das ist ne Schande, wie wir unsere Beziehung hier
kaputt machen.“ ( 3, 8-10 )
Frau Schulze erzählt von Situationen, in denen sie „total abgerutscht“ (3, 3) ist,
von großer Verzweiflung aber auch immer wieder neuer Kraft und neuem Mut,
sich dem Problem zu stellen.
„Wir sind zu allem bereit, aber wir wollen da raus.“ (3, 24)
In diesem Zusammenhang erzählt sie auch von ihrer christlichen Einstellung und
dem Wunsch, in einer entsprechenden Hilfeeinrichtung Aufnahme zu finden.
„Dann haben wir uns um Therapie gemüht, sind aber auch, sagen wir mal,
beide mit christlicher Einstellung, trotz unserer ganzen Sucht und unserem
ganzen Mist, den wir gemacht haben, im Prinzip gläubige Menschen. Wir
wollten gerne in eine christliche Einrichtung.“ (3, 18–21)
Auch als es um die Scheidungssituation mit ihrem ersten Ehemann geht, gibt sie
mir Einblick in ihre Wertvorstellungen.
„Na ja, auf jeden Fall, ich hätte mich ja nicht scheiden lassen dürfen, egal wie
der Mann so is. Ich muss das als Frau ja aushalten und ihn lieben und ehren,
und das wird mir dann .. eh .. scheiße, ja? Nein! Muss ich net, will ich net und
seh ich gar net ein. Ich denk, aus christlicher Sicht, wer mich nicht liebt und
ehrt, der ist auch von meinem Glaubensdings her, der hat auch kein Recht,
mich als seine Frau zu bezeichnen.“ (11, 8–12)
32
An anderer Stelle berichtet sie von einer Situation, in der sie sich gegen eine
eventuelle Betreuungssituation für ihre Tochter wehrt und anhand derer ihre Einstellung zum Thema „Abtreibung“ deutlich macht.
Und es gibt für mich, wenn überhaupt, für mich persönlich, nur einen Grund zu
sagen, o.k, aus strengster medizinischer Indikation. Vielleicht, gut, das kann
ich, ja, hätte ich akzeptiert, aber net für ne, für ne scheiß Mahagonidecke. Da
(Stimme stockt), ja! Und die wollte meine Tochter nehmen! (...) Und da hab ich
auf’m Jugendamt gesagt: Eine Kindermörderin kriegt mein Kind nur über meine
Leiche!“ (7, 35–38, 40–41)
Ihre Muttergefühle und die Bindung zu ihren Töchtern beschreibt sie als intensiv
und emotional gehaltvoll. Besonders zur jüngsten Tochter Sonja hat sie trotz
Fremdunterbringung ein positives Verhältnis.
„Bei der war, wir haben uns gesehen, nach zwei, drei Minuten war sofort jeder
Bann gebrochen. Alles war eigentlich wie immer, ein sehr entspanntes Verhältnis.“ (5, 8–10)
Trotzdem hat sie einen für sich realistischen Blick auf das Verhältnis zu ihren Kindern und ihre Mutterrolle.
„Es sind jetzt fast sechs Jahr, dass die Kinder weg sind und – mit kurzer Unterbrechung mit Sonja, und ich hab, mir ist auch klar, dass ich raus bin, raus
aus dem Alltag mit Kindern, ich müsste mein ganzes Leben komplett umstellen, (...) Und was ich meinen Kindern auf keinen Fall zumuten will, ist ne Mutter, die wieder rückfällig ist und die leben bei ihr, müssen vielleicht wieder weg
oder wer weiß, was dann alles (...)... Also von daher gesehen ist es für die Kinder auf jeden Fall das Beste, und ich bin dann damit auch net überfordert. Ja?
Letztlich wär’s für alle nur schädlich, wenn’s schlecht laufen würde.“
(15, 3–5, 20–25)
Auch der Schmerz über die Fremdunterbringung und die eingestürzten Lebensträume ist immer wieder Thema in ihren Erzählungen.
„Und ich hab die ersten Monate literweise mir den Pulli voll geheult, weil meine
Kinder weg sind. Ich hab mir immer drei Töchter gewünscht. Alle drei waren
absolut gewollt, gewünscht, zumindest von mir. Und, ja, so hab ich mir mein
33
Leben net vorgestellt, dass ich mit 40 irgendwo sitze und keins mehr hab, beziehungsweise eins in – na ja – und zwei bei Pflegefamilien.“ (7, 1–5)
Sie lässt mich teilhaben an ihren Emotionen und wird dadurch für mich zu einem
sehr feinfühligen Menschen, dessen Vielgestaltigkeit und Spektrum, einen biografischen Lebensabschnitt zu beschreiben, sehr beeindruckend wirkte. Besonders
ihre Fähigkeit zur Perspektivenübernahme trotz persönlicher Betroffenheit
erscheint mir außergewöhnlich.
„Und wenn’s den Kindern gut geht – soweit – dann ist das für mich noch alles
irgendwie erträglich.“ (kämpft mit den Tränen) (20, 20–21)
„Dann immer wieder der Gedanke, es geht ja hier nicht um mich, es geht um
das Wohl meines Kindes. (...) Wenn die Pflegefamilien finden, noch dazu gute.
Da ist dann schon so was wie Dankbarkeit gegenüber den Pflegeeltern – auf
jeden Fall!“ (19, 38–39, 33–34))
„Ich will da jetzt net mal dem Jugendamt irgendwie Schuld oder so was zuweisen, weil mein Leben war ja in der Zeit auch net geradeaus und gleichmäßig,
sondern ich war ja sehr sprunghaft. Ich war hier und da, wieder mal rückfällig,
wieder mal clean. Von daher gesehen (...)“ (17, 4–7)
Zu ihren biografischen Besonderheiten gehört für Frau Schulze auch ein rastloser
Lebenswandel, der durch die Drogenproblematik viele Ortswechsel nötig machte.
„Aber Meldeadressen haben wir mindesten 15 gehabt, jetzt in sechs Jahren.“
(6, 7)
„(...) wir sind immer mal umgezogen (...)“ (14, 27)
„Entweder, weil wir als Eltern schon diskriminiert wurden im Heimatort oder
später, weil wir aus irgendwelchen Gründen Außenseiter waren (...)“
(14, 28–29)
Ihre eigene Kindheit ist auch mit dem Entbehren der leiblichen Mutter belastet. Sie
erzählt wenig über ihre Kindheit, lässt mich aber wissen, dass sie selbst fremduntergebracht war und bis vor kurzem keinen Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hatte.
„(...) ich weiß selber ein Stück weit, wie es ist! Ich kenne meine leibliche Mutter
persönlich überhaupt nicht, hab aber zwei Briefe von ihr bekommen im Laufe
des letzten halben Jahres, weil ich es endlich nach 40 Jahren geschafft hab,
34
sie ausfindig zu machen (...) Und, ja! Hat mir therapeutisch sehr gut getan. War
auch sehr nötig! Ich hoffe auch, dass es noch irgendwann weiteren Kontakt
gibt. Aber, die Alte hat mir geschrieben: Ich hatte gehofft, nie etwas von dir zu
hören, weil ich gehofft hatte, dass du in deiner Adoptivfamilie so verwurzelt
bist. (...) Ehm – alle Achtung, dass sie net nach Holland gefahren ist und mich
abtreiben hat lassen mit irgendwelchen, keine Ahnung, diffizilen Geschichten
(...)“. (19, 40–42, 44–47; 20, 9–10)
Über ihre Schul- und Berufsausbildung berichtet sie wenig. Zu welchem Zeitpunkt
sie die Schule verlassen hat, geht aus ihren Erzählungen nicht hervor. Eine Ausbildungsmöglichkeit konnte sie bisher nicht ergreifen und hat auch wenig Hoffnung, dafür noch einmal Gelegenheit zu bekommen. Momentan arbeitet sie als
„Händlerin“ innerhalb der Computerbranche.
„Und ich hab selbst jeden Tag ... ehm auch zu kämpfen! Zu kämpfen mit meinem Alltag, zu kämpfen mit meiner Zukunft, zu kämpfen gegen finanzielle
Armut, für meinen Job, für mein Geschäft und vor allen Dingen gegen die
Sucht immer wieder.“ (15, 6–9)
Ihre Zukunftsaussichten beschreibt sie wie folgt:
„Jetzt bin ich mal acht Monate am Stück clean gewesen. ... Ich hoffe, dass ich
es weiter schaffe, eh ... aber ich werde die Hand nicht mehr für mich ins Feuer
legen.“ (15, 11–13)
Bezug nehmend auf ihre Kinder sagt sie:
„Wenn da jetzt während der Pubertät nicht noch irgendwas ganz anderes
dazwischenkommt, ehm vielleicht ... denk ich mal, wenn man zu nix anderem
gut ist, kann man immer noch als abschreckendes Beispiel dienen.“
(20, 37–39)
5.2 Die Fallgeschichte als zusammenfassende Nacherzählung
Ich möchte an dieser Stelle die umfangreiche narrative Erzählung von Frau
Schulze in komprimierter Form darstellen und damit einen Überblick über die Fallgeschichte bieten.
35
Frau Schulze wird mit der erzählgenerierenden Frage dazu aufgefordert, in retrospektiver Betrachtung ihre Lebensgeschichte bezüglich der Fremdunterbringung
ihrer Kinder zu erzählen.
Sie beschreibt dabei einleitend die Beziehungsproblematik zum Vater der Kinder
und zum damaligen Zeitpunkt Ehemann an ihrer Seite. Sie erzählt von Gewaltausbrüchen ihres Exehemannes, von einem Hörigkeitsverhältnis und Todesängsten ihm gegenüber sowie Gewaltanwendungen gegen die Kinder, insbesondere
gegen die älteste Tochter.
Sie erläutert auch eine Drogenproblematik, von der beide Elternteile betroffen
sind.
Nach mehreren Trennungsversuchen ihrerseits und Aufenthalten in Frauenhäusern entschließt sie sich, die beiden jüngeren Töchter in einer Patenfamilie in
Obhut zu geben. Die älteste Tochter befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in
Jugendhilfemaßnahmen. Nun will sie sich einer Entgiftung unterziehen. Eine
Information über den Sachverhalt richtet sie ans Jugendamt. Im Anschluss an
diese Entgiftungsmaßnahme mietet sie eine Wohnung an, die genügend Platz für
sie selbst und ihre Töchter bietet. Die beiden Töchter sind zu diesem Zeitpunkt
bereits in einer Pflegefamilie. Eine gemeinsame Wohnsituation mit ihren Kindern
wird vom Jugendamt abgelehnt und ein Besuchskontakt unterbunden.
In dieser Zeit trifft sie Daniel, einen früheren Freund, und geht eine erneute Beziehung mit ihm ein. Daniel wohnt in Heidelberg, und Frau Schulze entschließt sich,
da sie die momentane Chance auf Rückführung ihrer Kinder für aussichtslos hält,
zu einem Umzug nach Heidelberg. Dort kommt es zu einem Rückfall mit Kokain,
von dem beide betroffen sind.
Sie erzählt von geringem Kontakt zu den beiden jüngeren Töchtern, die älteste
befindet sich in der Psychiatrie.
Nach ihrem Bemühen um Rückführung darf sie ihre jüngste Tochter Sonja im
Frühjahr wieder zu sich nehmen. Eine Rückführung der mittleren Tochter wird ihr
für Sommer in Aussicht gestellt. Sie erzählt von Optimismus sowie Resignation
bezüglich der Drogenproblematik und den Zukunftsplänen mit Daniel.
Nach kurzzeitiger Trennung, mehreren Ortswechseln und, bedingt durch die Drogenabhängigkeit, nicht leistbarer Verantwortungsübernahme für Sonja wird ihr die
36
jüngste Tochter erneut entzogen. Sie beschreibt diesen Tag als den schlimmsten
in ihrem Leben.
„Vorher hatte ich Hoffnungen, dass es doch alles klappt. An dem Tag hab ich
gewusst, ich hab verloren.“ (3, 2–3)
Sie rutscht, nach eigenen Angaben, völlig ab, entschließt sich dann doch gemeinsam mit Daniel zur Drogentherapie. Beide finden Aufnahme in einer bewusst
christlich gewählten Einrichtung, können dort aber keine längerfristige Perspektive
für sich aufbauen. Es kommt zum Abbruch der Therapie, eines erneuten Rückfalls
und der Aufnahme in eine katholische Entzugseinrichtung in Bayern. Diese endete
auch ohne Erfolg.
Sie hält Briefkontakt zu ihren Kindern, ist bei Hilfeplangesprächen anwesend und
weiterhin mit Daniel in Beziehung. Sie erzählt von ihren pflegebedürftigen Eltern,
einem damit begründeten Ortswechsel wieder zurück nach Hessen und der Verantwortungsübernahme in Form einer Betreuung für ihre Eltern. Auch diese
scheitert an der Drogenproblematik. Sie empfindet ihre Situation als Teufelskreis.
„(...) ich bin sowieso süchtig, deswegen ist mein Kind weg, und weil mein Kind
weg ist und ich deswegen traurig bin und Schuldgefühle hab und alles Mögliche hab, bin ich noch mehr süchtig, damit ich das bloß net alles fühlen muss
...“ (6, 11–14)
Sie bemüht sich wiederum beim Jugendamt um Rückführung, indem sie Drogenscreenings einreicht und Haarproben anbietet, um ihre momentane Abstinenz
zu dokumentieren, jedoch ohne Aussicht auf Erfolg. Sie erleidet einen erneuten
Rückfall.
An dieser Stelle verlässt sie in ihrer Erzählung die eigene Drogengeschichte und
geht inhaltlich auf die Fremdunterbringung der Kinder ein. Sie redet von Verzweiflung über das Zusammenbrechen eines Lebenskonzeptes und Versuchen, die
Situation anzunehmen. Sie berichtet über Probleme der mittleren Tochter Anette
bei den Pflegeeltern und ihrem Bemühen, die Situation vor Ort zu unterstützen.
Sie beschreibt auch für sie dramatische Erlebnisse mit sozialhelfenden Institutionen. Eine Mitarbeiterin eines Jugendamtes sagt ihr: „Es wäre doch besser für ihre
Kinder gewesen, sie hätten sie abgetrieben.“ Sie fühlt sich immer wieder im Kontakt mit Jugendämtern missachtend behandelt und als emotionslos deklariert.
37
Auch positive Erlebnisse mit Jugendamtsmitarbeiterinnen benennt sie. Dabei
empfindet sie es als besonders wohltuend, wenn ihr trotz allen Versagens Achtung
entgegengebracht wird.
Sie versetzt sich in die Lage ihrer jüngsten Tochter und äußert Verständnis dafür,
dass Sonja Zeit und Ruhe brauchte, um sich in der Pflegefamilie einzuleben, hat
jedoch kein Verständnis für den langen Zeitraum von drei Jahren, in denen sie
Sonja nicht sehen durfte.
Den jetzigen Kontakt zu Sonja beschreibt sie als für beide Seiten positiv. In einem
Gespräch mit allen Beteiligten des Hilfeprozesses sichert sie Sonja eine dauerhafte Lebensperspektive in der Pflegefamilie zu und wünscht sich parallel dazu
einen weiteren Ausbau des Besuchskontaktes. Sie empfindet die derzeitige
Kooperation mit den Pflegeeltern von Sonja als äußerst angenehm und für ihre
Tochter als entlastend. Sie äußert Sympathien für Sonjas Pflegeeltern und genießt
den offenen Umgang mit ihrer Person. Auch organisatorische Absprachen empfindet sie als unkompliziert. Sie scheint sehr glücklich über diesen Zustand zu sein
und konnte ein Vertrauensverhältnis für sich aufbauen, das ihr viele Sorgen
nimmt. Im Vergleich dazu empfindet sie bei den Pflegeeltern von Anette eher Ablehnung bezüglich ihrer Person und Rolle. Auch die Beziehung zu Anette ist von
Distanz und Unsicherheit geprägt.
Dann nimmt sie sich in größerem Umfang Zeit, um über die besonders dramatischen Ereignisse zu berichten, die seit der Fremdunterbringung der ältesten
Tochter Regina stattfanden. Sie berichtet von mehreren Psychiatrieaufenthalten,
starken psychischen Erkrankungen ihrer Tochter, u. a. einer stark ausgeprägten
Borderline-Störung und damit einhergehender Probleme. Momentan ist Regina in
einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung untergebracht, wo sie auf eine
Verhandlung wegen eines verübten Gewaltverbrechens wartet. Auch davon berichtet Frau Schulze ausführlich. Ihre Verzweiflung bezüglich der ältesten Tochter
stellt sie der Situation der beiden jüngeren Töchter gegenüber und äußert diesbezüglich Dankbarkeit und Optimismus.
„Dann, scheiß auf meinen ganzen Schmerz, dass die Kinder von mir getrennt
sind. Irgendwann sind sie vielleicht psychisch gesund und wir haben Kontakt,
und es ist alles besser, wie noch so ne psychisch behinderte Tochter, (...)“
(13, 27–29)
38
Frau Schulze spricht von Verlässlichkeit und Verantwortungsübernahme im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der gleichzeitigen Annahme der „Fremdunterbringungsarrangements“ der jüngeren Töchter und beendet damit den ersten
narrativen Erzählteil.
Auf meine Frage bezüglich der Annahme der Situation beschreibt sie nochmals
viele positive Aspekte bezüglich der Pflegefamilienunterbringung, besonders von
Sonja aber auch von Anette, äußert Wünsche und Zukunftsperspektiven für die
Beziehung zu den Kindern und stellt danach erneut Aspekte der Drogenproblematik in den Mittelpunkt ihrer Erzählung.
Retrospektiv empfindet sie den Beziehungsabbruch zur mittleren Tochter als sehr
unvorteilhaft für alle Beteiligten und wünscht sich mehr Kooperation und Beziehungspflege für sich und Anette. Die Hauptverantwortung hierfür liegt aus ihrer
Perspektive bei den Pflegeeltern. Das Jugendamt hat an dieser Stelle aus ihrer
Sicht nur wenig Einflussnahme, wenn die Pflegeeltern zur Kooperation nicht bereit
sind. Sie wirbt an dieser Stelle aber generell für eine Zusammenarbeit aller
Beteiligten, weist den Pflegeeltern und Herkunftseltern jedoch die wichtigste Rolle
im Hilfeprozess zu.
„Also, ich glaube fast, dass das sogar noch wichtiger is, die Zusammenarbeit
zwischen Pflegeeltern und abgebenden Eltern, wobei das Jugendamt natürlich
sehr, sehr hilfreich sein kann, das oder jenes zu unterstützen oder auch abzuwenden.“ (17, 40–43)
Gegen Ende des Interviews erzählt Frau Schulze von eigenen Entbehrungen der
leiblichen Mutter und der mühsamen Suche nach ihr und der Kontaktaufnahme.
Ihre Drogenproblematik taucht in Verbindung mit ihren Zukunftsplänen wiederholt
auf. Dies macht deutlich, wie langwierig und schwierig Wege aus der Sucht sein
können. Sie empfindet den Anteil an der Drogenproblematik im Interview groß,
versöhnt sich aber damit, dass dies zu ihrer Geschichte dazugehört.
39
6
Methode der Textanalyse
Bei der Auswertung meines Datenmaterials orientierte ich mich an der „Qualitativen Inhaltsanalyse“, deren Grundlagen und Techniken von Philipp Mayring in
bereits 8. Auflage 2003 erschienen sind. Ein Auswertungsverfahren innerhalb der
Qualitativen Sozialforschung zu finden, das meinem Datenmaterial gerecht wird
und meinen Forschungsinteressen entspricht, stellte sich als eine schwierige Aufgabe dar. Einerseits sozialwissenschaftlichen Methodenstandards zu genügen
und andererseits einen sehr individuellen Lebensabschnitt eines Menschen zu
analysieren und zu interpretieren, schien in der Vielfalt und dem Variantenreichtum an Interpretationsverfahren verwirrend.
„Vorgefertigte Theorien und Methoden sind demzufolge keine tauglichen Mittel,
die soziale Welt angemessen verstehen zu lernen. Hingegen lautet die zentrale
Forderung, daß sich empirische Untersuchungen an die Eigenschaften ihres
Untersuchungsgegenstandes anpassen müssen.“
(Froschauer und Lueger 2003, S.11 )
Ermutigt von dieser These gestaltete sich meine Herangehensweise offener und
freier bezüglich der Auswahl des Analyseverfahrens und deren individueller
Umsetzung. Im Rahmen meines Forschungsvorhabens galt es zu verstehen, was
Menschen in einem sozialen Kontext veranlasst, bestimmte Verhaltensweisen zu
praktizieren, um Situationen zu kompensieren, und welche Dynamik dieses Verhalten im sozialen Umfeld auslöst – hier insbesondere die Verarbeitung einer
Fremdunterbringung von Kindern seitens der Herkunftseltern. Die „soziale Logik“
von Handlungsstrategien ist deshalb Teil der Analyse.
Die Sinnhaftigkeit von individuellen Handlungsstrategien zu verstehen, ist eine
Herausforderung, der sich die geforderte „Neue Fachlichkeit“ innerhalb des Kinder- und Jugendhilfegesetzes stellen muss. Erst ein Verstehen von Sinnzusammenhängen der betroffenen Klienten macht es möglich, auch Ressourcen und
Fähigkeiten eines Menschen wahrzunehmen. Es geht also um ein Eintauchen in
Lebensgeschichten aus der Perspektive der Betroffenen. Um dieses Eintauchen
nachvollziehbar zu machen und demzufolge wissenschaftlichen Standards zu entsprechen, scheint mir die Qualitative Inhaltsanalyse ein geeignetes Instrumentarium, um diesen Versuch zu wagen.
40
„Ein verändertes Gegenstandsverständnis in den Sozialwissenschaften, welches das Subjekt mehr ’zur Sprache’ kommen lässt und dabei eher mit offenen
’weichen’ Methoden vorgeht, erfordert die verstärkte Entwicklung darauf bezogener Auswertungstechniken. Ein Überblick über bisherige inhaltsanalytische
Techniken und deren Einsatzmöglichkeiten zeigt, dass die Inhaltsanalyse ein
hierfür ausbaufähiges Instrument darstellt und gleichzeitig Standards methodisch kontrollierten Vorgehens genügen kann.“
(Mayring 2003, S. 116 )
6.1 Auswertungsschritte der qualitativen Inhaltsanalyse
Zunächst möchte ich die von mir gewählten Analyseschritte der Qualitativen
Inhaltsanalyse kurz darstellen und anhand meines Datenmaterials erläutern.
6.1.1 Bestimmung des Ausgangsmaterials
Um das Material einer Untersuchung transparent und nachvollziehbar anzubieten,
ist eine Analyse des Materials sowie der Entstehungssituation notwendig. Außerdem werden an dieser Stelle formale Charakteristika des Materials benannt.
Für mein Forschungsvorhaben wählte ich aus der Grundgesamtheit „Herkunftseltern von fremdbetreuten Kindern in Pflegefamilien“ eine Mutter aus, die über den
Forschungsgegenstand erzählte. Der Stichprobenumfang „Einzelfallstudie“ erhebt
keinen Anspruch auf Repräsentativität, möchte jedoch durch den besonderen Einzelfall auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten schließen. Wie bereits an anderer Stelle
erwähnt, konstruierte sich die Interviewsituation durch den Feldzugang „Jugendamt“ und dem entsprechenden Engagement einer Mitarbeiterin des Pflegekinderwesens. Sie stellte den Kontakt zur Interviewpartnerin her und ermöglichte somit
den Zugang und entsprechende Absprachemöglichkeiten. Die Interviewpartnerin
beteiligte sich feiwillig und ohne objektive Gegenleistung an der Untersuchung.
Das Datenmaterial steht in vollständig transkribierter Form zur Verfügung und
wurde als geschriebener Text mit im Anhang befindlichen Protokollierungsregeln
aus dem sprachlichen Tonbandmaterial transkribiert.
41
6.1.2 Fragestellung der Analyse
Nach der Veranschaulichung des Ausgangsmaterials stellt sich die Frage nach
dem spezifischen Forschungsinteresse. Dabei unterscheidet man zwei Kriterien
der Fragestellung, die zum einen nach der Richtung der Analyse fragen, zum anderen nach der theoriegeleiteten Differenzierung der Fragestellung. Durch die
Form des narrativen Interviews wurde die Interviewpartnerin dazu aufgefordert,
über biografische Erfahrungen mit der Fremdunterbringung ihrer Kinder zu berichten. Die erzählgenerierende Eingangsfrage sollte ermöglichen, dass sie zu
Fragestellungen wie „Was bedeutet eine Fremdunterbringung für die eigene Lebensgeschichte von Eltern?“ oder der Frage „Wie bewältigt man Emotionen, die
damit einhergehen?“ beziehungsweise „Was hilft in dieser Situation, den Prozess
der Fremdunterbringung annehmen zu können?“ erzählen konnte.
Die Bewältigung der Situation aus ihrer Perspektive steht darin im Vordergrund
und soll biografisches Fallverstehen ermöglichen.
Die bisherige Literatur und Forschung bezüglich der Fremdunterbringung von Kindern in Pflegefamilien beschreibt immer wieder die Rolle der Herkunftseltern als
einerseits bedeutsam aber auch problematisch in einem Pflegeverhältnis. Sie
berichtet davon, dass dieses Ereignis auch für die abgebenden Eltern mit traumatischen Erfahrungen verbunden ist. Dies geht wiederum einher mit Handlungsmustern und Bewältigungsstrategien, die das Pflegeverhältnis belasten können.
Besonders aus der Perspektive der Pflegeeltern ist diese Wahrnehmung zu beobachten. In diesem Zusammenhang ist eine Erforschung der Sinnstrukturen von
Bedeutung, ebenso Anregungen und Wünsche zur Gestaltung des Pflegeverhältnisses aus der Sicht der Betroffenen – hier speziell der abgebenden Eltern.
6.1.3 Bildung eines Kategoriensystems
Eine konkrete Analysetechnik, in der die einzelnen Interpretationsvorgänge für
andere nachvollziehbar werden, ist als nächster Schritt vorgesehen. Das Ablaufmodell der Analyse muss am Material und der Fragestellung angepasst werden.
Um anhand des vorliegenden Textmaterials systematisch den Fragen nachzugehen, wie Herkunftseltern eine Fremdunterbringung ihrer Kinder verarbeiten, und
was ihnen helfen könnte, für sich und ihre Kinder eine angemessene und realistische Perspektive aufzubauen, ist die Bildung eines Kategoriensystems notwendig.
42
Dieses steht im Zentrum der Analyse und muss im Wechselverhältnis zwischen
der Theorie, also der entsprechenden Fragestellung, und dem konkreten Material
entstehen. Ich habe mich für folgende Kategorien entschieden, um eine Strukturierung vorzunehmen:
1. Gründe für die Fremdunterbringung
Hier werden alle Aussagen zusammengetragen, die aus der Sicht der Betroffenen
zur Fremdunterbringung geführt haben.
„In meinem Fall ist es eigentlich letztendlich die Sucht gewesen, die das verursacht hat.“ (6, 9–10)
2. Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung
Alle Aussagen über Gefühle, die im Zusammenhang mit dem Verlust der Kinder
stehen, werden hier extrahiert. Sie können sich für oder gegen Personen wenden
oder auch auf der Sachebene benannt werden.
„Jetzt kommt’s Jugendamt und holt mein Kind wieder ab ... Das ... war einer
der schlimmsten Tage (Stimme wird schwächer, weint) in meinem Leben.“
(2, 44–46)
3. Verhältnis zum Kind
An dieser Stelle finden sich alle Aussagen, die etwas über die Gestaltung des
Beziehungsverhältnisses zwischen der betroffenen Mutter und ihren Kindern aussagen, sowie auch Wünsche und Hoffnungen bezüglich der Lebensgestaltung und
Zukunftsplanung der Kinder, auch im Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse.
„Bis dahin hatte ich wenig Kontakt, schon Kontakt, aber wenig zu meinen Kindern.“ (2, 20)
4. Verhältnis zu den Pflegeeltern
Hier finden sich Äußerungen, die ein vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges Verhältnis zu den Pflegeeltern beschreiben. Sie sind auf das Verhältnis Kind –
Pflegeeltern sowie auch auf die Erwachsenenebene bezogen.
„Ich hab gedacht: Oh, da hat se ja richtig nette Leute gefunden – klasse!“
(9, 36–37)
5. Enttäuschungen, Versagen von sozialstaatlichen Einrichtungen
43
Alle Erfahrungen, die im Kontext mit Jugendamtsmitarbeitern sowie weiteren Helfern oder Ansprechpartnern der sozialhelfenden Institutionen stehen, und aus der
Perspektive der Betroffenen als negativ empfunden werden, sind hier dokumentiert.
„Natürlich müssen so Ämter vorsichtig sein, was jeder erzählt. Es kann jeder
viel erzählen. Aber in dem Fall konnte ich das dann doch net mehr nachvollziehen ... Es ging soweit, dass meiner ältesten Tochter eingeredet wurde, ich
hätte sie misshandelt!“ (8, 31–34)
6. Positive Erfahrungen mit sozialstaatlichen Einrichtungen
In dieser letzten Kategorie sammeln sich alle Äußerungen der Betroffenen, die aus
ihrer Erfahrung hilfreich für die eigene biografische Geschichte waren. Auch positive Elemente im Hinblick auf die Lebensgeschichte der Kinder sind hier zu finden.
„Ja und, wirklich, die Frau vom Jugendamt hat sich super Mühe gemacht, dann
auch lange gesucht nach der geeigneten Pflegefamilie, und die hat sie effektiv
gefunden, bin ich sicher.“ (9, 37–39)
Eine Rücküberprüfung des Kategoriensystems anhand der Fragestellung und des
vorliegenden Materials ist danach nötig, um eventuelle Korrekturen vornehmen zu
können.
Es geht hier um eine Überprüfung dessen, ob die Kategorien dem Ziel der Analyse
nahe kommen und der Interviewtext mit seinen Aussagen entsprechende Berücksichtigung findet. In meinem Fall habe ich nach erneutem Lesen des Interviews im
Hinblick auf mein Kategoriensystem entschieden, die spezifischen Aspekte der
Drogenproblematik sowie die Zusammenhänge von Trennung, Scheidung und der
erneuten Eheschließung nicht explizit zu berücksichtigen, da sie den Rahmen
meiner Untersuchung zu stark ausweiten würden. Das vorhandene Kategoriensystem hat sich also nicht verändert.
Doppelbelegungen von Zitaten im Kategoriensystem waren teilweise erforderlich.
44
7
Interpretation
Anhand der Hauptfragestellung des Forschungsvorhabens kann nun eine Interpretation der zusammengetragenen Kategorien stattfinden. Die zentralen Prinzipien qualitativer Interpretation sind folgende:
•
Im Zentrum steht der zu interpretierende Text.
•
Der unterteilte Text wird schrittweise interpretiert.
•
Im Zuge der Textauslegung werden Thesen erstellt.
Die Logik eines Falles aufzurollen und sie von der subjektiven zur objektiven
Deutung zu transportieren, scheint in diesem Zusammenhang eine besondere
Herausforderung zu sein.
Da keine Interpretation absolut zutreffend und allgemeingültig sein kann, müssen
hier die Grenzen der Objektivität gewahrt werden. Über Textinterpretation kann
sich demnach Handlungs- und Systemlogik herauskristallisieren und dazu führen,
dass im Zuge der Textauslegung Thesen erstellt werden, die sozialpädagogisch
relevant sind und somit übertragbar werden können.
„Textinterpretationsverfahren basieren auf der verstehenden Erschließung des
Sinnes von Textmaterialien, die als fixierte sinnhaltige Strukturzusammenhänge begriffen werden.“ (Froschauer + Lueger 2003, S. 100)
Die Einbeziehung von Vorwissen ist in der Qualitativen Sozialforschung notwendig
und ermöglicht, Sinnzusammenhänge zu erkennen und Auffälligkeiten zu identifizieren. Vorurteile sind in diesem Zusammenhang also Bedingungen für Verstehen,
sie ermöglichen Daten mit Sinn zu unterlegen.
„Deutung kann niemals auf der Basis einer Tabula rasa erfolgen, sondern setzt
ein Wissen voraus, das es ermöglicht, irgendeinen Sinnzusammenhang erkennen zu können.“ (Froschauer + Lueger 2003, S. 84 f.)
In diesem Sinne gehe ich den Weg der Textinterpretation in folgenden Schritten,
denen ja bereits eine erste Interpretationsphase über das Erstellen des Portraits
von Frau Schulze und der Nacherzählung des Interviews vorausging.
In einem ersten Schritt werde ich die einzelnen Kategorien durch Paraphrasieren
und wörtliches Zitieren entsprechender Textstellen erläutern und veranschauli45
chen. Das wörtliche Zitieren erscheint mir hier unverzichtbar, da ein ausschließliches Paraphrasieren den Aussagen nicht gerecht werden könnte. Wo mir die
entsprechende Wortwahl von Frau Schulze bedeutsam erscheint, habe ich sie
entsprechend eingefügt.
In einem zweiten Schritt möchte ich anhand der Forschungsfragen versuchen,
Antworten in den entsprechenden Kategorien zu finden.
Ein dritter und letzter Schritt soll dazu dienen, dem Material und seiner Interpretationen Thesen zu entnehmen, die für die sozialpädagogische Praxis im sozialen
Kontext gewichtig erscheinen.
7.1 Die Kategorien und ihre Aussagen
An dieser Stelle möchte ich die extrahierten Textpassagen in den jeweiligen Kategorien paraphrasieren, aber neben der freien und sinngemäßen Übertragung des
Materials auch immer wieder wörtlich zitieren, wenn eine Paraphrase den eigentlichen sprachlichen Ausdruck zu stark einschränken würde. Die jeweils vollständig
zusammengetragenen Kategorien sind im Anhang nachzulesen.
7.1.1 Kategorie „Gründe für die Fremdunterbringung“
Frau Schulze benennt folgende Gründe, die aus ihrer Sicht zur Fremdunterbringung führten:
1, 6–38: Sie lebt gemeinsam mit den Kindern in einer zerrütteten Ehe. Gewaltausbrüche des Ehemannes und Vaters richten sich gegen sie und die Kinder. Sie
unternimmt etliche vergebliche Fluchtversuche. Frau Schulze spricht von einem
„extremen Hörigkeitsverhältnis aufgrund von Gewalt und Todesangst“. Die älteste
Tochter nimmt über die Schule Kontakt zum Jugendamt auf und wird daraufhin im
Heim untergebracht. Eine Drogenproblematik beider Elternteile liegt vor. Verzweiflung und Ausweglosigkeit veranlassen sie, die beiden jüngeren Töchter bei
einer Patenfamilie unterzubringen und das Jugendamt über die Situation zu informieren. Sie selbst geht dann zur Entgiftung.
6, 9–15: Frau Schulze sieht die Sucht als Verursacher der Situation und
beschreibt einen Teufelskreis: „Ich bin sowieso süchtig, deswegen ist mein Kind
weg, und weil mein Kind weg ist und ich deswegen traurig bin und Schuldgefühle
46
hab und alles Mögliche hab, bin ich noch mehr süchtig ... damit ich das bloß net
alles fühlen muss.“
8, 41–43: An dieser Stelle erzählt sie von entstandenem Misstrauen und dementsprechender Vorsicht auf Jugendamtsseite und ihrem Verständnis dafür.
7.1.2 Kategorie „Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung“
Diese Kategorie stellt gemeinsam mit der ebenso umfangreichen Kategorie „Verhältnis zum Kind“ den quantitativ größten und umfangreichsten Kategorienteil dar.
2, 11–15: Frau Schulze sieht die Rückkehroption ihrer Kinder derzeit als aussichtslos an: „Ich sitze hier in meiner 90 m2 - Wohnung ohne Kinder und hab auch
keine Chance, die wiederzukriegen (...)“ Sie möchte weg aus ihrer „Heimat“ und
weg von ihrem „schlechten Ruf“ und die Schwiegereltern und den Exehemann
hinter sich lassen.
2, 29–31: Sie spricht von Illusionen „wir kriegen das wieder unter die Füße“ und
der Ernüchterung im Hinblick auf die Drogenproblematik „und das war einfach
alles zuviel“.
2, 44–46: An dieser Stelle beschreibt sie eine erneute Herausnahme ihrer jüngsten Tochter und ihre Verzweiflung darüber. „Jetzt kommt’s Jugendamt und holt
mein Kind wieder ab ... Das ... war einer der schlimmsten Tage (Stimme wird
schwächer, weint) in meinem Leben.“
3, 2–4: „(...) vorher hatte ich Hoffnungen, dass es doch alles klappt. An dem Tag
hab ich gewusst, ich hab verloren.“ Aufgrund dieser zweiten Herausnahme ist sie
„total abgerutscht“, steigert ihren Drogenkonsum, „mir war dann auch alles egal“.
5, 15–19: Sie spricht von überwundener Angst vor ihrem Exmann und davon, dass
das Bedürfnis, ihre Tochter zu sehen, größer ist, als die Angst, ihm zu begegnen.
Dies erzählt sie im Zusammenhang mit einem Hilfeplantermin.
6, 9–16: Frau Schulze bringt die Drogenproblematik mit der Fremdunterbringung
ihrer Kinder in Verbindung und beschreibt den Teufelskreis ihrer Situation: „Ich bin
sowieso süchtig, deswegen ist mein Kind weg, und weil mein Kind weg ist und ich
deswegen traurig bin und Schuldgefühle hab und alles Mögliche hab, bin ich noch
mehr süchtig, nehme ich noch mehr Drogen, Tabletten, Alkohol oder irgendwas,
47
damit ich das bloß net alles fühlen muss – und schon hat sich der Kreis
geschlossen.“
6, 30–34: Ihr wird klar, dass das Zusammenleben mit ihren Kindern derzeit für sie
unerreichbar ist und sie kämpft gegen die Sucht und für einen erneuten Vertrauensvorschuss. „Ich hab ein halbes Jahr lang oder, ja, diese Zeit knüppelhart gekämpft gegen meine Sucht ... und hab, ja, ich hab alles angeboten. Ich geb ‘ne
Haarprobe ab, dass die ganze Zeit gar nix gewesen ist und alles, ne?“
6, 43–45: Resignation über den Teufelskreis mach sich „breit“.
7, 1–5: „(...) zieht’s einen so runter. Und ich hab die ersten Monate literweise mir
den Pulli voll geheult, weil meine Kinder weg sind (...)“ Sie spricht davon, dass es
ihr großer Wunsch war, drei Töchter zu haben. „(...) so hab ich mir mein Leben net
vorgestellt, dass ich mit 40 irgendwo sitze und keins mehr hab (...)“
7, 9–17: Frau Schulze spricht von Hoffen und Bangen im Hinblick auf ihre Kinder
und der Erkenntnis und dem Schmerz, mit ihnen keine Familienperspektive zu
haben. „(...) das tut immer noch weh (kurz vor’m Weinen). Aber, ehm, das ist jetzt
irgendwie auch o.k.“
7, 40–42: Wie schon an anderer Stelle erwähnt, geht es hier um ihre Einstellung
zur Abtreibung, ein sensibles Thema, das an mehreren Stellen auftaucht, und
einer Grenzüberschreitung ihrer Muttergefühle bezüglich einer Unterbringungsmöglichkeit. „Würde ich alles für tun, dass die mein Kind nicht kriegt, (...)
8, 28–30: Hier beschreibt sie Ohnmachtsgefühle, als es um ihre Glaubwürdigkeit
geht.
9, 17–22: Ambivalente Gefühle bezüglich der Fremdunterbringung kommen hier
zur Sprache. Auch die inhaltliche Gestaltung, wie beispielsweise der Besuchskontakt, wird von ihr aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. „Ich will das
Beste für meine Kinder. Und wenn das jetzt eben das Beste ist, dann muss ich
eben durch. Ich hab ja auch den Scheiß gebaut. Hauptsache denen geht’s gut.“
10, 34–42: Sorgen und Ängste vor Missbrauch oder sexueller Gewalt, die sie in
Bezug auf ihre Töchter hat, werden durch Besuche und positive Erfahrungen mit
der Pflegefamilie für sie relativiert. „Und das ist auch ganz wichtig, auch zu wissen,
die Pflegeeltern, wie sind die so drauf.“
48
13, 6–7: Schuldgefühle und Vorwürfe durchziehen ihre Gedanken.
13, 25–32: Im Vergleich zur Problematik mit der ältesten Tochter empfindet sie die
Unterbringung in Pflegefamilien bedeutend positiver und versucht sich damit zu
trösten. „Und damit hab ich mich so ein bisschen über die Jahre hinweg versucht
zu trösten – mit schlechtem Erfolg, aber immerhin sehe ich jetzt ja auch, dass es
den anderen beiden ganz gut geht.“
15, 5–9: Sie spricht von ihrem „Kampf“ im Alltag und gegen die Sucht.
15, 26–33: Schuldgefühle verbunden mit einer kritischen Selbstwahrnehmung und
der Sorge erneut zu enttäuschen sind aus ihrer Sicht „Hauptgründe, warum ich
eigentlich möchte, dass die Kinder auch da bleiben, wo sie sind (...).“ Sie wünscht
sich „zunehmenden Kontakt“ zu ihnen und eine langfristige Beziehungsperspektive.
17, 4–7: Sie empfindet ihre Lebensgestaltung als wenig verlässlich und äußert
Verständnis für die Haltung des Jugendamtes.
18, 2–4: Entscheidungen beinhalten auch Fehler. Dafür hat sie ebenfalls Verständnis.
18, 31–48: Sie geht an dieser Stelle auf ihre Gefühle gegenüber der Pflegefamilie
ein. „Ich traue mich kaum, mal bei den Pflegeeltern meiner mittleren Tochter
Anette anzurufen.“ Sie möchte Telefonkontakt zu Anette haben, ist sich aber über
dessen Gestaltung unsicher, möchte Anette nicht in schwierige Situationen bringen. „(...) ich will das ja gar net heimlich machen eigentlich, das is mir ja alles viel
zu blöd, da gibt’s ja gar kein Grund für!“
19, 4–11: Sie geht nochmals auf ihre Unsicherheit ein, die sie im Kontakt mit den
Pflegeeltern von Anette empfindet. Einen Informationsaustausch gestaltet sie für
sich momentan ausschließlich über die Jugendamtsmitarbeiterin. „(...) ich trau
mich da kaum anzurufen. Weil ich das Gefühl hab, das ist gar nicht erwünscht.
Und das find ich ziemlich doof. Da ist das Gefühl so, man wird so abgeschoben,
ja? Am besten meldest de dich erst gar net.“
19, 32–37: Im Vergleich zu einer Heimunterbringung empfindet sie grundsätzlich
„Dankbarkeit gegenüber den Pflegeeltern“, dieses positive Gefühl kann jedoch
auch gestört werden. „Aber wenn man’s dann nicht leicht gemacht bekommt, dann
49
schwindet die auch so leicht dahin. O.k., die haben zwar mein Kind aufgenommen,
aber die haben mich so auflaufen lassen die letzten Jahre, also, na ja.“
19, 38–48: Sie benennt das Vorhandensein eigener Gefühle, stellt das Wohl ihres
Kindes aber an erste Stelle. Sie erzählt hier auch von ihrer eigenen für sie nicht
existenten Mutter und den entsprechenden Gefühlen damit. Bezüglich des ersten
Kontaktes zu ihrer eigenen Mutter nach 40 Jahren sagt sie Folgendes: „(...) hat mir
therapeutisch sehr gut getan. War auch sehr nötig! Ich hoffe auch, dass es noch
irgendwann weiteren Kontakt gibt. (...) Aber sie hat mich einfach auch verdrängt.“
20, 9–10: Sie äußert „Achtung“ ihrer Mutter gegenüber „(...) dass sie net nach
Holland gefahren is und mich abtreiben hat lassen.“
20, 11–15: Im Vergleich zu ihrer eigenen nicht vorhandenen Mutter-Kind-Beziehung empfindet sie es als „einen richtigen Schritt!“ nach bereits gelebten gemeinsamen Familienzeiten „dann sein Leben noch mal neu zu sortieren.“
20, 16–21: Frau Schulze erzählt von dem enormen Energieaufwand, den sie benötigt, um ihren Alltag zu gestalten und darin auch die Fremdunterbringung ihrer
Kinder anzunehmen. „Das, ehm, kostet alles einen Haufen Kraft (...) Und wenn’s
den Kindern gut geht – soweit – dann ist das für mich noch alles irgendwie erträglich (kämpft mit den Tränen).“
21, 3–11: An dieser Stelle erzählt sie rückblickend von dem Kampf, die Kinder
zurückbekommen zu wollen, nicht einzusehen, „warum das net geht“, und
Befürchtungen von Ämtern nur bestätigt zu haben, dass eine Drogenproblematik
ein dauerhaftes und komplexes Problem darstellt.
21, 44–46: Sie hofft, zu den wenigen Menschen zu gehören, die ihre Sucht
bewältigen.
7.1.3 Kategorie „Verhältnis zum Kind“
Die Kategorie „Verhältnis zum Kind“ hat den größten Umfang an extrahierten
Textpassagen und gibt einen Einblick über den Verlauf der Mutter-Kind-Beziehungen sowie Wünsche und Vorstellungen zur Gestaltung der Beziehungsebene und
der Lebensplanung der Kinder. Überschneidungen zur Kategorie „Emotionen ...“
schwingen teilweise mit.
50
1, 40–42: Nachdem sie ihre beiden jüngeren Töchter für die Zeit der Entgiftung
abgegeben hat, möchte Frau Schulze nun durch eine neu geschaffene Wohnsituation wieder gemeinsam mit ihren Kindern leben „(...) weil ich meine Töchter so
schnell als möglich wieder zu mir holen wollte.“
1, 43–48: Die Wohnung befindet sich in unmittelbarer Nähe zu den Pflegeeltern.
Zu der Zeit hat sie aber bereits eine Kontaktsperre zu den Kindern. „Einmal war
meine ältere Tochter mal mit deren Tochter für wenige Minuten bei mir. Die standen vor der Tür, und ich würde keine von meinen Töchtern vor der Tür stehen lassen, wenn sie rein will. Und dann gab’s einen Riesen-Ärger hinterher. Also, die
durften dann überhaupt net mehr kommen.“
2, 20–27: Frau Schulze hat im ersten Jahr der Fremdunterbringung nur wenig
Kontakt zu ihren Töchtern, ist aber ständig bemüht darum. „(...) und ein Jahr später durfte ich dann die jüngste Tochter aus der Pflegefamilie, wo beide zusammen
waren, abholen.“ Die mittlere Tochter sollte nach Ablauf des Schuljahres ebenfalls
zu ihr zurückkehren.
2, 33–46: Dieser Abschnitt beschreibt den kurzen Versuch, Verantwortung für die
jüngste Tochter Sonja zu übernehmen, der jedoch aufgrund der Drogenproblematik scheitert. „Das ... war einer der schlimmsten Tage (Stimme wird schwächer,
weint) in meinem Leben!“
3, 38–39: Eine gemeinsame Therapie mit ihrem Lebenspartner Daniel ist nicht
möglich. Ein Therapieangebot gemeinsam mit Sonja wird ihr angeboten.
4, 17–23 Sie hätte sich eine gemeinsame Therapie mit Daniel und den Kindern
gewünscht. „Und dass es halt auch, ja, wichtig war für die gemeinsame Zukunft
mit meinen Kindern auch gemeinsam in der Therapie, das zu üben.“
4, 25: „(...) ich hab kein Problem, mit meinen Kindern umzugehen“, doch für Daniel
wünscht sie sich Hilfestellung bei der Erziehungsaufgabe.
5, 1–12: Frau Schulze erkennt, dass der Kampf gegen die Sucht „ja und die Kinder
zwischendrin“ nur schwer vereinbar sind. Sie erzählt einerseits von Briefkontakt,
andererseits Zurückhaltung ihrerseits bezüglich des Kontaktes zu den Kindern.
Anette hat dadurch „eine größere Hemmschwelle mir gegenüber wie die Kleine.
Bei der war, wir haben uns gesehen, nach zwei, drei Minuten war sofort jeder
Bann gebrochen.“
51
7, 18–24: Sie erzählt von Problemen der mittleren Tochter mit der Pflegemutter.
„Und da hab ich ihr zugeredet – ich weiß, sie is in ‘ner guten Pflegefamilie, wirklich
– alles bestens, voll integriert (...)“
8, 35–41: Im Zusammenhang mit Vorwürfen gegen ihre Person sagt sie „Wobei
ich niemals eines meiner Kinder misshandelt habe, ne!“ Sie erzählt von Gewalt
gegen Sachen und Missverständnissen, die sie nicht entkräften konnte.
8,44–48: Sie vollbringt einen Perspektivenwechsel und äußert Verständnis dafür,
dass Sonja in der Pflegefamilie „erstmal zur Ruhe kommen musste, sich einleben
musste (...)“
9, 1–16: Hier versetzt sie sich wieder in die Lage von Sonja, und deren unstetem
Lebenswandel und Bedürfnis nach Sicherheit, empfindet die lange Kontaktsperre
zwischen ihnen aber als unangemessen. „Drei Jahre hab ich die nicht gesehen,
ja? Und das, wie gesagt, dass das für ’ne gewisse Zeit notwendig war, nur in bestimmten Abständen Briefkontakt zu haben. Einfach, damit das Kind sieht, ich
kann mich bei dem bisschen aber auf meine Mama verlassen. Das hab ich alles
eingesehen, aber drei Jahre waren mir reichlich zu viel.“
Sie stellt sich vor, dass bei ausreichender Beziehungspflege eine intensive Bindung trotz Fremdunterbringung möglich ist. Sie bedauert, dass ihr diese Möglichkeit lange verschlossen blieb. Die Beziehung zu Sonja empfindet sie als „super
gut“.
9, 17–22: Ihre Gefühle einerseits und die Notwendigkeiten aufgrund der schwierigen Situation andererseits versucht sie zugunsten des Kinderwohles abzuwägen.
„Ich will das Beste für meine Kinder. Und wenn das jetzt eben das Beste ist, dann
muss ich eben durch. Ich hab ja auch den Scheiß gebaut. Hauptsache denen
geht’s gut. Und Sonja geht’s jetzt gut. Ja. Und .. (holt tief Luft).“
9, 23–31: Die persönlichen Treffen sind aus ihrer Sicht für Sonja hilfreich. „Und
seit nach dem ersten Treffen geht’s ihr besser, ja.“ Im Beisein von Pflegeeltern
und Jugendamt hat sie Sonja die Legitimation gegeben, eine dauerhafte Perspektive in der Pflegefamilie zu haben. „(...) dass es für mich in Ordnung ist, dass sie
da lebt, dass ich froh bin, dass sie so ne nette Pflegefamilie hat und dass sie da
bleiben darf, so lange wie sie möchte.“ Den Kontakt zu Sonja wünscht sie sich
parallel dazu intensiver.
52
10, 5–9: Auch der Kontakt zu den Großeltern ist legitimiert, allerdings wünscht sie
sich im Interesse des Kindes, dass nicht schlecht über sie geredet wird.
10, 15–17: Der Besuchskontakt soll den Bedürfnissen des Kindes angepasst sein.
„Und erstmal muss man von einem zum anderen Mal gucken, wie geht’s dem Kind
damit?“
10, 26–34: Sie erzählt euphorisch, dass Sonja über eine gemeinsame Wohnsituation glücklich wäre, die all’ ihre sozialen Bezüge vereint. Sie erklärt Sonja, dass
dieser Wunsch nicht umsetzbar ist, aber ihre Besuchskontakte ausbaufähig sind.
11, 19–24: Frau Schulze äußert Unverständnis darüber, dass im Beisein der
Töchter schlecht über sie geredet wird.
11, 28–34: Den daraus resultierenden Loyalitätskonflikt für ein Kind empfindet sie
als unverantwortlich. „Ich weiß, dass ein Kind immer die Eltern lieb hat und
sowieso schon zerrissen ist durch diese ganze Situation. Da muss man net von
außen noch drauf treten und das Leben noch schwerer machen.“
13, 33–42: Sie nimmt die Grenzen ihrer Verantwortung wahr, bietet im Rahmen
ihrer Möglichkeiten ihre Mutterrolle an, und ermutigt ihre Tochter Anette, sich mit
der Situation in der Pflegefamilie zu arrangieren. „Anette, ich muss dir eins sagen,
du kannst nicht bei mir leben. (...) bleib wo du bist, reiß dich zusammen mit deiner
Pflegemutter, seh zu, dass ihr irgendeine Ebene findet.“
13, 46–48: Im Hinblick auf Anettes spätere Selbständigkeit ermutigt sie ihre
Tochter, Beziehungspflege nach eigenem Bedarf zu gestalten. „kannst mich mal
besuchen oder kannst einfach bleiben wo de bist, wo de Bock hast.“
14, 33–37: Einen dauerhaften und verlässlichen Lebensmittelpunkt mit entsprechenden Sozialkontakten hält sie für die Kinder als sehr wichtig. „Und allein deshalb ... find ich das o . k ., dass Sonja da bleibt, wo sie ist und dort ihren Lebensmittelpunkt mit ihren ganzen Freunden findet.“
15, 3–5: Nach sechs Jahren Fremdunterbringung ist sie aus ihrer Sicht „raus aus
dem Alltag mit Kindern“.
15, 20–25: Die Vorstellung von einer erneuten Überforderung, von einem Rückfall
in ihre Suchtproblematik und den Folgen für die Kinder veranlasst sie, die
Fremdunterbringung als „für die Kinder auf jeden Fall das Beste“ anzusehen.
53
15, 40–46: Sie nimmt Bezug auf die Beziehung zu Anette. Sie weiß um eigene
Fehler in der Beziehungsgestaltung, sieht aber die dreijährige Kontaktsperre zu
Anette im Nachhinein als sehr ungünstig für die Beziehung an. „Ich glaube, es
wäre besser gewesen, zu sagen, net nach drei Jahren, sondern vielleicht nach
einem Jahr, (...)“
16, 4–11: Sie hadert nochmals mit der nicht gepflegten Beziehung zu Anette, hätte
sich Unterstützung diesbezüglich erhofft. „(...) aber diese blöde Hemmschwelle,
wo dann Beziehungen vielleicht besser hätten unterstützt werden können, das hätt
ich schon ganz gut gefunden – o. k., es hieß immer, sie will dich nicht sehen. Aber
warum? Weiß ich net, ob sie jemals gefragt wurde, warum eigentlich, ja?“
16, 12–19: Der ausschließliche Briefkontakt zu Anette und die negativen Äußerungen über ihre Person sind aus ihrer Sicht für das Kind sehr schwierig. „Das hat
sie mit Sicherheit ängstlich gemacht, was stimmt da überhaupt: Ist die Mama so
schlecht, wie die alle erzählen? Ist das wahr?“
16, 20–32: In diesem Abschnitt beschreibt sie eine erste erneute Begegnung mit
Anette beim gemeinsamen Hilfeplangespräch. Es schien für Anette schwer zu
sein, ihr zu begegnen, aber der persönliche Kontakt hat die Hemmschwelle
geschmälert. Sogar eine kurze Umarmung konnten beide zulassen.
16, 33–39: Aufgrund dieser Begegnung kann wieder eine Beziehung aufgebaut
werden, die in Form eines persönlichen und beiderseitigen Briefkontaktes beginnt.
„Und auch was sie schreibt ... ehm ... ja. Da ist dann ein Stück weit schon ’ne
Hemmschwelle gefallen. Ich glaube, die hätte so groß gar net werden müssen
(...)“
20, 33–40: Ihre Zukunftsprognosen im Hinblick auf Sonja und Anette sind recht
optimistisch. „(...) die kommen schon klar.“ Von ihrer Rolle als „abschreckendes
Beispiel“ erhofft sie sich, dass ihre Töchter „die Finger von den Drogen lassen“.
20, 47: „Und dann wäre das ganze Elend wenigsten zu etwas gut.“
7.1.4 Kategorie „Verhältnis zu den Pflegeeltern“
Diese
Kategorie
beschreibt
positive
wie
negative
Erfahrungen
im
Beziehungsdreieck Herkunftseltern – Pflegeeltern – Pflegekind sowie aufgrund der
Praxis entstandene Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich der Beziehungs54
gestaltung auf allen drei Ebenen. Frau Schulze bezieht sich dabei auf Erfahrungen
mit der Pflegefamilie von Sonja sowie auf Erfahrungen mit Anettes Pflegefamilie.
Beide Konstellationen bestehen seit mehreren Jahren.
9, 31–35: Frau Schulze plädiert für ein konstruktives Miteinander zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern. „Und was halt auch, was ich jetzt erst so erfahren
hab, was mir bewusst geworden ist, wie wichtig das ist für ein Pflegekind, dass
sich die Pflegeeltern und die leiblichen Eltern oder in dem Fall ich als Mutter, dass
man sich da versteht und an einem Strang zieht.“
9, 35–39: Sie beschreibt ein grundsätzliches Vertrauen den Pflegeeltern von Sonja
gegenüber. „also, mir waren die Pflegeeltern von ihr sofort super sympathisch. Ich
hab gedacht: Oh, da hat se ja richtig nette Leute gefunden – klasse!“
9, 39–44: Frau Schulze führt die auch für Sonja positive Begegnung zwischen den
Erwachsenen auf eine Offenheit der Pflegeeltern ihr gegenüber zurück. „Da merk
ich auch dieses Entgegenkommen der Pflegeeltern, wie wichtig das dann wieder
ist, das Kind net vor den leiblichen Eltern abzuschotten, sondern mit dieser Vergangenheit und den Personen, die vielleicht auch später noch dazugehören, einfach auch umzugehen sich lohnt (...)“
10, 1–3: Sie bemerkt auch positiv, dass die Pflegeeltern einen Kontakt zu den
Großeltern für Sonja ermöglichen.
10, 11–14: Frau Schulze durfte Sonja bei den Pflegeeltern besuchen, und regelmäßige monatliche Treffen sind angedacht. „(...) jetzt treffen wir uns jeden Monat
mal.“ Flexible Terminabsprachen zwischen ihnen sind möglich.
10, 18–25: Hier geht sie nochmals auf die Vorteile einer entgegenkommenden und
flexiblen Terminabsprache ein. Im Hinblick auf Sonja bemerkt sie: „Und da merkt
das Kind, da ist kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander.“
10, 43–48: Hier wechselt sie zu Erfahrungen mit Anettes Pflegeeltern: „Und das
vermiss ich bei Anette sehr, dass dort halt die Initiative der Pflegeeltern null war
(...)“ Sie beschreibt die Pflegefamilie von Anette als „christliche Familie, und ich
weiß, die Anette hat’s dort gut, da passiert nix, da is alles wunderbar und so.“ Die
Verurteilungen ihrer Person und ihres Lebensstils seitens der Pflegefamilie stören
sie hingegen sehr.
55
14, 38–48: Das positive Verhältnis zu Sonjas Pflegeeltern hilft ihr, die Situation der
Fremdunterbringung besser anzunehmen. „Es fällt mir leichter, das so auch für
mich mit meinen Gefühlen hin zu nehmen, seit ich die Pflegeeltern kenne, die mir
sehr sympathisch sind.“ Die Offenheit ihr gegenüber tut ihr gut und entspannt das
Verhältnis offensichtlich sehr. Im Hinblick auf Sonja sieht sie große Vorteile aufgrund der Kooperation. „Dass sie damit leben lernt, sie hat ‘ne Pflegefamilie, wo
sie Mama, Papa sagt, wo sie, aber da gibt’s eben noch mehr Bezugspersonen,
ohne dass man sich gegenseitig im Weg ist und bekämpft. Dass sie da wirklich
ganz locker merkt, alle gehen hiermit gut um, (...)“
16, 43–47: Aufgrund der konstanten und langjährigen Betreuung von Anette durch
deren Pflegeeltern hätte aus der Perspektive von Frau Schulze „alles sehr viel
einfacher laufen können“. Sie spricht von Enttäuschungen und mangelnder Unterstützung. „Von Anfang an wurde da abgeblockt. Und das fand ich richtig, also das
finde ich heute noch richtig schlecht.“
17, 30–48: Hier wirbt sie erneut für eine gute Zusammenarbeit unter allen Beteiligten des Pflegeverhältnisses, hebt jedoch die Bedeutung von Pflegefamilie und
Herkunftseltern bezüglich der Zusammenarbeit besonders hervor. „Also, ich
glaube fast, dass das sogar noch wichtiger ist, die Zusammenarbeit zwischen
Pflegeeltern und abgebenden Eltern, (...)“ Anhand der Planungen von Besuchskontakten macht sie deutlich, wenn „(...) es im Sinne des Kindes gut läuft“, ist die
Vorgabe des Jugendamtes weit weniger relevant, als die Absprachen von Pflegeeltern und Herkunftseltern untereinander.
18, 24–30 Angesprochen auf Wünsche ihrerseits an die Pflegeeltern benennt sie
den Wunsch nach regelmäßigem Austausch auf der Erwachsenenebene. „Einfach
mal anrufen, abends um neun, wenn die Kinder im Bett sind, mal sagen: Hallo, ich
wollt mal Bescheid sagen, bei uns ist soweit alles klar, oder da ist das und das
vorgefallen (...)
19, 14–23: Im Hinblick auf Anette wird ihr nochmals deutlich, wie hilfreich solch ein
Austausch auf der Erwachsenenebene wäre. „Hier, wir wollten uns mal melden,
haben gedacht, wir sagen dir mal Bescheid, was gerade bei uns so abgeht und
dass de dir keine Sorgen machen musst.“ Sie wünscht sich für beide Pflegeverhältnisse „dass das net alles übers Jugendamt oder über 125 Ecken laufen muss,
bis man mal irgendwas erfährt“.
56
19, 32–37: Grundsätzlich empfindet sie eine Unterbringung in einer Pflegefamilie
im Vergleich zur Heimunterbringung als weitaus bessere Alternative. „Wenn die
Pflegefamilien finden, noch dazu gute, da ist dann schon so was wie Dankbarkeit
gegenüber der Pflegeeltern – auf jeden Fall!“ Allerdings ist diese Dankbarkeit aus
ihrer Sicht nicht unantastbar. „Aber wenn man’s dann nicht leicht gemacht
bekommt, dann schwindet die auch so leicht dahin.“
7.1.5 Kategorie „Enttäuschungen, Versagen von sozialstaatlichen
Einrichtungen“
In dieser Kategorie finden sich Erfahrungen mit Jugendämtern, die den Prozess
der Fremdunterbringung begleitet haben. Erfahrungen mit weiteren sozialstaatlichen Einrichtungen, insbesondere bezüglich der Suchtproblematik, werden hier
ebenso dokumentiert.
1, 42–48: Hier schildert Frau Schulze ihre ersten Erfahrungen mit dem Jugendamt
als Behörde, die in ihr Familiensystem eingreift. Die Kinder sind von ihr in die Verantwortung des Jugendamtes übergeben worden, nach der Entgiftung möchte sie
wieder für die Kinder Sorge tragen, dies wird ihr aber verwehrt. „Die durften mich
nicht mal besuchen.“
3, 45–47: In der Drogentherapie, die Frau Schulze gemeinsam mit ihrem Freund
Daniel angeht, wurden ihr Paargespräche zugesagt, die dann aber nicht umgesetzt wurden.
4, 13–42: Auch hier wird deutlich, dass eine gemeinsame Lebensperspektive in
der Therapie nicht bearbeitet werden konnte, die insbesondere im Hinblick auf
eine gemeinsame Erziehungsverantwortung für die Kinder aus ihrer Sicht dringend
erforderlich war. „Und dann hieß es, nee, is net. Und dann war klar, das Ganze hat
für uns gar keinen Sinn.“
5, 29–32: Frau Schulze äußert Unverständnis darüber, dass sie einerseits trotz
ihrer Drogenproblematik eine gesetzliche Betreuung für ihre Mutter zugesprochen
bekommt, andererseits ihre Kinder nicht sehen darf. „Das Jugendamt lässt mich
net meine Kinder sehen oder bei mir haben. Ist auch gerechtfertigt mit ’ner drogenabhängigen Mutter – das schmäler ich jetzt net! Aber das gleiche Gericht peilt
das überhaupt net und gibt mir die Betreuung für meine Mutter, samt ihrer Konten
(...)“
57
6, 22–30: Hier beschreibt sie einen verzweifelten Versuch, beim Jugendamt um
Vertrauen zu werben. „Und da hatte ich Drogenscreenings beim Arzt, hab die
selbst bezahlt, hab die Kopien von diesen Clean-Scheinen immer schön dem
Jugendamt in W. hingeschickt.“ Diese Maßnahme stellt sich als aussichtslos
heraus. „Und da hab ich beim Gericht angerufen und hab gesagt: Bitte, bitte, bitte
bestellt mich doch zu Screenings, wann ihr das wollt. Nö, wollen wir nicht, wir
wollen jetzt sehen, dass Sie stabil sind und auch dann bla – über Jahre!“
6, 35–43: Sie erzählt von der Perspektivlosigkeit im Hinblick auf ihre Elternverantwortung, die ihr das Jugendamt offeriert und des aus ihrer Sicht dadurch „extrem
begünstigten“ Rückfalls in die Sucht. „Wenn ich da gewusst hätte, in drei Monaten
oder vielleicht auch nur in sechs Monaten kann ich meine Kinder wieder haben,
wenn ich weiter clean bin, wenn ich das weiter so nachweise. Oder sie sagen: Ein
Jahr ziehen Sie jetzt durch. Dann machen Se ‘ne Haarprobe – wenn die wirklich
total sauber ist, dann kriegen Sie Ihre Kinder zurück. Dann – nichts. So nach hinten offen Larifari – seh Du mal zu, reiß Dir mal den Arsch auf bis Deine Kinder
groß sind.“
7, 24–38: Sie erzählt von vielen Überschneidungen mit Jugendamtsmitarbeitern
und teilweise sehr belastenden Äußerungen. „Eine hat mal gesagt: Es wäre doch
besser für ihre Kinder gewesen, Sie hätten sie abgetrieben!“
7, 42–48: Sie fühlt sich in vielen Begegnungen als Person abgelehnt und missachtend behandelt. „Da war eine, ehm, oder zwei ... die sind sooo, die haben mich
sooo von oben herab, so missachtend behandelt – ah – egal, was ich da gesagt
habe – was bist’n Du, der letzte Dreck!“
8, 1–7: Bei einem erneuten Kooperationsversuch ihrerseits wird sie als emotionslos bezeichnet. „Dass ich bei ‘ner Frau vom Jugendamt, die ich schon vorher
kannte, und wir waren uns gewiss nie sympathisch, dass ich mich da hinsetz’ und
... was soll ich ‘n da für Emotionen zeigen, wenn ich mich da melde und sage so
und so, ich bin wieder hier, ich stell mich hier der Situation, (...)“
8, 10: „Dann muss ich mir so ’ne Abfuhr erteilen lassen!“
8, 23–27: Erfahrene Misshandlungen durch ihren Exehemann werden ihr nicht
geglaubt.
58
8, 31–34: Ihre eigene Glaubwürdigkeit verliert immer zu Gunsten der Aussagen
von anderen Menschen.
15, 43–48: Sie empfindet die angeordnete Kontaktsperre und Verselbständigung
dieser Situation für ihre Kinder als sehr negativ, besonders im Hinblick auf die Beziehung zueinander. Sie hätte sich vom Jugendamt eine „Brückenfunktion“
gewünscht.
16, 1: Die Distanz ist mit den Jahren immer größer geworden.
16, 8–16: Eine Unterstützung bei der Beziehungspflege zwischen ihr und den
Töchtern hätte sie sich von Jugendamtsseite erhofft. „ehm, aber diese blöde
Hemmschwelle, wo dann Beziehungen vielleicht besser hätten unterstützt werden
können, das hätt ich schon ganz gut gefunden –,“
16, 38–41: Besonders im Hinblick auf Anette und deren Fremdunterbringung hätte
aufgrund der Kontinuität aus ihrer Sicht keine Hemmschwelle entstehen müssen.
17, 7–19: Hier schildert Frau Schulze unter anderem Erfahrungen mit einem
Jugendamt vor der Fremdunterbringung der Kinder. Sie bittet um Hilfe bezüglich
der ältesten Tochter Regina. „Und wir haben das Jugendamt um Hilfe gebeten,
und da hat sich dann nix bewegt. Und als die Kinder dann weg waren und alles
offen dalag, da hat’s Jugendamt auf uns rumgehackt. Na klasse! Das fand ich
sooo – damals auch im Vorfeld, da hätte vielleicht was passieren können an Hilfe.“
Aus ihrer Sicht sind es die Eltern, „die es vermasselt haben, ganz klar, is kein
Thema. Aber dann am Ende nur drauf rum zu hacken, macht die Situation ja auch
net mehr besser.“
17, 22–27: Pflegeeltern haben aus ihrer Sicht „zu Recht eine ganz andere Glaubwürdigkeit“ bei Jugendämtern. Herkunftseltern, so ihre Erfahrung, „wird erst mal
grundsätzlich Unglaubwürdigkeit und Lügen zugetraut, Unfähigkeit und, na ja,
Wahrheitsverdrehung und alles Mögliche (...)“.
7.1.6
Kategorie „Positive Erfahrungen mit sozialstaatlichen
Einrichtungen“
Diese Kategorie fällt im Vergleich zur vorangehenden durch ein deutlich kleineres
Volumen auf. Hier finden sich positive Erfahrungen mit beteiligten Jugendämtern
59
aber auch weiteren sozialhelfenden Personen, wie beispielsweise Suchthelfern,
Therapeuten und einem gesetzlichen Betreuer.
5, 37–48 und 6, 1: Hier erzählt Frau Schulze von einer für sie positiven Begleitung
durch einen gesetzlichen Betreuer, der für sie zuständig ist. Sie spricht von ihm als
„vertrauensvollen Ansprechpartner in sonst wie jeder Situation.“ Er unterstützt sie
bei behördlichen Angelegenheiten, der Drogenproblematik und finanziellen Fragen. „Und wenn ich Probleme hab, kann ich mich auch an ihn wenden.“
8, 10–23: Sie berichtet an dieser Stelle von wohlwollenden Begegnungen mit
Jugendamtsmitarbeitern. „Gott sei Dank, endlich mal ein herzlicher, ein netter
Mensch, mit dem man umgehen kann – natürlich fürs Kind, net für mich, is ja es
Jugendamt! Aber, ehm, wo einfach net diese Ablehnung zu spüren war (...).“ Eine
weitere Mitarbeiterin beschreibt sie als „auch super nett, super sympathisch,
unkompliziert. Wo man so das Gefühl hat, o. k., man ist süchtig, man bleibt ja
immer süchtig, auch wenn man gerade mal clean is, man is süchtig und wird
deshalb net in die Kategorie Assi, Abschaum, unwert – da kann man drauf rumtrampeln, wie man gerade will, gesteckt oder, egal was man sagt, das wird ja
sowieso net geglaubt.“
9, 37–39: Die Unterbringung von Sonja in der jetzigen Pflegefamilie erlebt Frau
Schulze als gute und geeignete Form der Unterbringung für ihre Tochter. „Ja und,
wirklich, die Frau vom Jugendamt hat sich super Mühe gemacht, dann auch lange
gesucht nach der geeigneten Pflegefamilie, und die hat sie effektiv gefunden, bin
ich sicher.“
12, 1–8: Sie beschreibt hier eine Begegnung mit einem Therapeuten ihrer ältesten
Tochter, der ihr in einem Gespräch einen für sie wertvollen Hinweis gibt. „(...) also
der Mann war die Wucht! Die Wucht. Also selten so einen guten Therapeuten
erlebt, wo ich wirklich in der Lage war, das als Außenstehende mal für eine
gewisse Zeit zu sehen (...).“
12, 15–16: Als Auswirkung dieses Gespräches erlebt sie einen veränderten
Umgang mit ihrer Tochter. „Aber danach ist es mir sehr viel leichter geglückt, mich
da einfach komplett raus zu nehmen (...).“
22, 12–20: Frau Schulze berichtet an dieser Stelle von einer für sie hilfreichen
Suchtprophylaxe, die ihr auch außerhalb der stationären Therapie im Alltag Unter60
stützung bietet. „Um dann zu gucken, wie fängt das an und wo kann ich Anker
werfen, wo kann ich rechtzeitig mir Hilfe holen, bevor es wieder zu spät is.“
7.2 Die Forschungsfragen – eine Suche nach Antworten
Mein Forschungsinteresse in dieser Arbeit gilt der Kompetenz und dem Erfahrungswissen von Herkunftseltern. Anhand des besonderen Einzelfalles, hier der
Geschichte einer Mutter, die stellvertretend für abgebende Eltern einen Einblick in
ihr Expertenwissen gibt, sollen Bewältigungsstrategien in möglichst gegenstandsnaher Abbildung des Materials exploriert werden.
Aufgrund ihrer sehr differenzierten Betrachtungsweise und Fähigkeit zur Perspektivenübernahme erscheint mir Frau Schulze für dieses induktive Anliegen geeignet.
Aufgrund des biografischen Fallverstehens können sozialhelfende Instanzen Sinnzusammenhänge und entsprechende Handlungsmuster erkennen und gegebenenfalls dechiffrieren, um gemeinsame Ziele und Arbeitsgrundlagen zu schaffen.
Ein Eintauchen in die Lebensgeschichte von Betroffenen scheint also ein sinnvoller Schritt bei der Begleitung von Fallgeschichten zu sein. Dies soll hier anhand
der Forschungsfragen praktiziert werden. Die Frage: „Wie lebt man mit dieser
Situation?“ beziehungsweise „Was bedeutet eine Fremdunterbringung für die
eigene Lebensgeschichte?“ soll die Suche eröffnen.
In einem zweiten Exkurs steht die Frage „Was hilft in dieser Situation, den Prozess
der Fremdunterbringung annehmen zu können?“, also der Frage nach Bedürfnissen und Wünschen im Mittelpunkt des Erkenntnisgewinns.
7.2.1
„Was bedeutet eine Fremdunterbringung für die eigene
Lebensgeschichte von Herkunftseltern?“
Die Kategorien „Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung“ sowie „Verhältnis
zum Kind“ sind für diesen ersten Teil der Suche besonders relevant. Hier finden
sich viele Aussagen und Hinweise, die Einblicke in die sehr einschneidenden
Lebensveränderungen geben.
Frau Schulze erzählt davon, welchen Schnitt sie für ihr Leben empfindet, seit ihre
Kinder nicht mehr mit ihr gemeinsam leben. Plötzlich das eigene Leben völlig neu
61
auszurichten, ohne dass andere Perspektiven erkennbar sind, wird in vielerlei Hinsicht zur Überforderung.
„(...) von heut auf morgen ... hat man keine Kinder mehr in dem Sinn, im Alltag
vorhanden, mit allen Freuden und Leiden und allem Stress und allem, was
dazu gehört. ... Das ist ein richtiger Schnitt! Dann sein Leben noch mal neu zu
sortieren mit, was weiß ich, wie alt war ich denn? Anfang dreißig. Und net so
genau zu wissen wohin, womit (...)“ (20, 12–16)
Das bisherige Lebenskonzept ist hinfällig geworden und muss neu konstruiert
werden. Die damit einhergehenden Gefühle pendeln zwischen den beiden sehr
gegensätzlichen und doch sehr nah beieinander liegenden Gefühlen von Hoffnung
und Resignation. Resignation ist dabei verbunden mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, die zusätzlich die emotionale Verfassung belasten.
„Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Also, ich hab schwer gelitten all die Jahre,
ehm, und immer wieder gekämpft auch, die Kinder wieder zurückzubekommen
..., am Anfang überhaupt net eingesehen, warum das net geht.“ (21, 3–5)
Der seelische Schock und die damit verbundene tiefgehende Erschütterung der
eigenen Person und des eigenen Lebensmodells führen häufig zu einem Teufelskreis von Verzweiflung, den Frau Schulze ebenfalls in ihrer Erzählung beschreibt.
Sie erklärt darin, warum destruktives Verhalten, das bereits die Fremdunterbringung mit ausgelöst hat, weiter aufrechterhalten bleibt oder sogar verstärkt wird,
obwohl der Wunsch nach Beendigung der Krise sehr stark besteht.
Anhand dieser Aussagen wird deutlich, wie traumatisch die Fremdunterbringung
für abgebende Eltern unter Umständen sein kann, und das Leben außer Kontrolle
gerät, vergleichbar mit Reaktionen, die der Verlust eines bedeutsamen Menschen
durch Tod auslösen kann. Der Verlust eines Kindes gilt hierbei als kritischstes
Lebensereignis und problematischer Trauerprozess.
Die Fremdunterbringung eines Kindes, je nach Gestaltung und Ausgangslage,
kann durchaus ähnlich schwerwiegend verlaufen. Dass diese Trauerarbeit Handlung bestimmt und entsprechende Höhen und Tiefen erlebt, ist nachzuvollziehen.
Der Verlust von Elternverantwortung und Beziehungsintensität, der in der Regel
mit einer Fremdunterbringung einhergeht, verändert auch die gesellschaftliche
Rolle eines Menschen. Die Elternrolle ist ohne das Vorhandensein von Kindern im
62
täglichen Miteinander als „Vakuum-Zustand“ zu verstehen. Die Tatsache der
Elternschaft bleibt bestehen, ist aber in ihrer Handlung und in ihrem kulturellen
Verständnis nicht mehr wie gewohnt und gesellschaftlich erwartet durchführbar.
Andere gesellschaftliche Rollen können durch legitimierte und anerkannte Beendigungs- oder Auflösungsprozesse verlassen werden, beispielsweise die Rolle als
Ehepartner oder Berufstätiger. Die Rolle als Mutter oder Vater ist nicht auflösbar.
Sich im gesellschaftlichen Zustand als „Eltern ohne Kinder“ zu befinden, erfordert
demnach ein alternatives Rollenverständnis bezüglich der Elternverantwortung
und Beziehungspflege, um ein notwendiges emotionales Gleichgewicht wiederherzustellen. Frau Schulze beschreibt diesen Weg als langwierigen und schmerzhaften Prozess.
„Und mich wirklich damit abzufinden, die Kinder nicht mehr als Kinder in die
Familie zu bekommen, nie wieder, das tut immer noch weh (kurz vor’m Weinen). Aber, ehm, dass ist jetzt irgendwie auch o. k. Aber das hat lang gedauert.
Aber jetzt weiß ich, das is um. Wobei, ja, ich denke, so is es um.“
(7, 14–17)
Da eine Fremdunterbringung in der Regel keine Zustimmung der Eltern findet und
als Sanktion und Eingriff von außen an das Familiensystem herangetragen wird,
ist die Kooperation mit allen am Unterbringungsprozess Beteiligten grundsätzlich
erschwert. Ohnmachtsgefühle schwächen dabei die eigene Position im sozialen
System und führen häufig zur Resignation und entsprechend destruktiver Verhaltensweisen.
„Jetzt kommt’s Jugendamt und holt mein Kind wieder ab (...).“ (2, 44–45)
„Und da hab ich mir irgendwann gedacht: Für was brauch ich ’n clean sein,
wenn ich meine Kinder net hab, ne? Dafür is ja Koksen viel zu schön. Also, ne,
is natürlich Quatsch! Aber irgendwie (...)“ (6, 43–45)
Wie schon eingangs erwähnt, sind auch Gefühle von Hoffnung für die eigene
Rolle, die Situation an sich oder die Zukunft der Kinder Bewältigungsstrategien,
um mit der Fremdunterbringung zu leben.
Neben aller Verzweiflung gibt es auch Momente der Zustimmung und Annahme
der Situation. Besonders in Zeiten der kritischen Selbstbetrachtung sowie der
Perspektivenübernahme wird diese Haltung möglich. Frau Schulze kann trotz per63
sönlicher Betroffenheit Maßnahmen im Zuge der Fremdunterbringung als notwendig und nachvollziehbar ansehen. Selbst die Fremdunterbringung an sich ist
retrospektiv betrachtet für sie verständlich.
Insbesondere das Wohl des Kindes veranlasst sie, Absprachen mit zu tragen und
Kooperation anzustreben. Offensichtlich verhilft ihr diese Perspektive in großem
Maße, die Situation trotz aller Trauer zu bewältigen.
„Ich hab auch versucht, gegen alle meine Gefühle in den Jahren zu denken,
hoffentlich haben die vom Jugendamt mit der oder der Maßnahme oder nicht
sehen, nicht treffen, kein Kontakt – wenn’s dem Kind ja wirklich nützt, wenn’s ja
wirklich gut ist, dann halt ich das auch aus. Ich will das Beste für meine Kinder.
Und wenn das jetzt eben das Beste ist, dann muss ich eben durch. Ich hab ja
auch den Scheiß gebaut. Hauptsache denen geht’s gut. Und Sonja geht’s jetzt
gut. Ja. Und .. (holt tief Luft).“ (9, 17–22)
Frau Schulze lebt mit der Fremdunterbringung ihrer Kinder. Sie erlebt dabei sehr
intensiv Gefühle, die ihr das Leben erschweren, die sie verzweifeln lassen und die
einem positiven Lebenskonzept erschwerend im Weg stehen. Sie erlebt aber auch
Gefühle, die die Beziehung zu ihren Töchtern konstruktiv begleiten, die ihr dabei
helfen, die Situation anzunehmen und als Neuanfang zu betrachten. Besonders im
Hinblick auf Sonja findet sie zunehmend einen Platz im sozialen System der
Tochter und kann für sich eine neue Rollenzuschreibung konstruieren.
„Es fällt mir leichter, das so auch für mich mit meinen Gefühlen hinzunehmen,
seit ich die Pflegeeltern kenne, die mir sehr sympathisch sind. Ich hab da vorher schon vertraut, dass das gute Leute sind, auch wenn man sich persönlich
net kennt. Und ich find das einfach so klasse, und dass sie auch als Pflegeeltern offen sind und sagen: Ja, wenn es der Sonja damit gut geht, dann kann
sie öfter mal am Wochenende kommen, dann kann sie in den Ferien kommen.“
(14, 37–43)
Frau Schulze möchte im Rahmen ihrer Möglichkeiten für ihre Kinder da sein,
nimmt aber auch Grenzen wahr, die diesen Wunsch einschränken.
So befindet sie sich auf einem Weg, ihre Rolle als Mutter zu überarbeiten, emotional und pragmatisch neu zu sortieren und an die Bedürfnisse des sozialen Systems mit allen Beteiligten anzupassen.
64
7.2.2
„Was hilft dabei, die Fremdunterbringung als abgebende Eltern
annehmen zu können?“
In diesem weiteren Teil der Suche nach Antworten kommen die einzelnen Akteure
der Hilfeleistung stärker in Betracht. Das Forschen nach Wünschen und Bedürfnissen steht häufig im direkten Zusammenhang mit einzelnen Personengruppen,
die für Frau Schulze und ihre Kinder Bedeutung haben. Ein besonderes Gewicht
legt die betroffene Mutter auf die Pflegeeltern und deren Haltung und Einstellungen. Somit sind in der Kategorie „Verhältnis zu Pflegeeltern“ auch entsprechend
viele Antworten zur Forschungsfrage aus Sicht der Betroffenen zu finden.
Weitere Hinweise auf Unterstützungsmöglichkeiten finden sich in den Kategorien,
die Aussagen über die Bedeutung der zuständigen Jugendämter machen.
Frau Schulze empfindet die Rolle der Pflegeeltern im Hilfeprozess als eminent,
wenn es um die konstruktive Gestaltung des Pflegeverhältnisses geht. Dabei hat
sie zum einen ihre eigenen Interessen als Mutter im Blick, legt aber auch größten
Wert auf die Bedürfnisse ihrer Kinder. Die Vermeidung eines Loyalitätskonfliktes
für das betroffene Kind ist für sie aus der Perspektive des Kindes überaus wichtig.
„(...) was mir bewusst geworden ist, wie wichtig das ist, für ein Pflegekind, dass
sich die Pflegeeltern und die leiblichen Eltern oder in dem Fall ich als Mutter,
dass man sich da versteht und an einem Strang zieht. Und ich sage nicht mehr
kompliziert, wie es sowieso schon ist, dass da für so ein Kind ne riesen Last
weg ist, das Gefühl hab ich jetzt bei Sonja (...) Da merk ich auch dieses Entgegenkommen der Pflegeltern, wie wichtig das dann wieder ist, das Kind net vor
den leiblichen Eltern abzuschotten, sondern mit dieser Vergangenheit und den
Personen, die vielleicht auch später noch dazugehören, einfach auch
umzugehen sich lohnt (...)“ (9, 31–35; 41–44)
An anderer Stelle formuliert sie den aussagekräftigen Satz:
„Ich weiß, dass ein Kind immer die Eltern lieb hat und sowieso schon zerrissen
ist durch diese ganze Situation. Da muss man net von außen noch drauf treten
und das Leben noch schwerer machen!“ (11, 32–34)
Diese Erkenntnis und ihre eigene Interessenlage als abgebende Mutter mit entsprechenden Emotionen veranlassen sie, ein Plädoyer für die Zusammenarbeit
von Pflegeeltern und Herkunftseltern zu halten und dieses als signifikanten Faktor
65
beim Gelingen eines Pflegeverhältnisses zu benennen. Die Bedeutung des
Jugendamtes liegt hierbei in der Unterstützung der Zusammenarbeit. Ihre Erfahrungen mit Sonjas Pflegeeltern bestätigen sie in dieser Annahme.
„Und die Zusammenarbeit ist glaube ich unter allen drei Beteiligten ganz
wichtig. Wobei ich fast meine (...). Also, ich glaube fast, dass das sogar noch
wichtiger is, die Zusammenarbeit zwischen Pflegeeltern und abgebenden
Eltern, wobei das Jugendamt natürlich sehr, sehr hilfreich sein kann, dass oder
jenes zu unterstützen oder auch abzuwenden.“ (17, 30–31; 40–43)
Der Rolle der Pflegeeltern scheint also eine beachtliche Verantwortung zuzukommen, wenn es um die positive Gestaltung des Hilfeprozesses geht, insbesondere
bei der Einbeziehung der Herkunftseltern.
Frau Schulze beschreibt sehr eindrücklich, wie wohltuend und hilfreich die
Zusammenarbeit mit Sonjas Pflegeeltern ist, und welche Möglichkeiten sich
daraus für ihre Mutterrolle und die Beziehungsarbeit zu Sonja ergeben. Auch
Sonjas Alltag wird durch die Kooperation der Erwachsenen günstig beeinflusst,
wie am Beispiel der Schulschwierigkeiten zu sehen ist.
Die unkomplizierten und auf entsprechende Bedürfnisse und Möglichkeiten abgestimmten Besuchsregelungen empfindet Frau Schulze ebenfalls als hilfreich und
wünschenswert. Im Vergleich zur Pflegesituation von Anette wird deutlich, welchen Einfluss das Verhältnis der Erwachsenen untereinander auf die Mutter-KindBeziehung nimmt.
„Und das vermiss ich bei Anette sehr, dass dort halt die Initiative der Pflegeeltern null war.“ (10, 43)
„Von Anfang an wurde da abgeblockt. Und das fand ich richtig, also das finde
ich heute noch richtig schlecht.“ (16, 46–47)
Neben der konstruktiven Zusammenarbeit in Verbindung mit den Interessen und
Wünschen des Pflegekindes und der diesbezüglichen Beziehungspflege, wirbt
Frau Schulze für eine eigenständige Beziehung auf der Erwachsenenebene zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern. Ziel dieser eigenständigen Beziehung ist
die Optimierung der Kooperation durch die kontinuierliche Kommunikation. Sie
wünscht sich im Einzelnen beispielsweise abendliche Telefonate in regelmäßigen
66
Abständen, um am Alltag und der Entwicklung des Kindes beteiligt zu sein und
gegebenenfalls Unterstützung anzubieten.
„(...) mmmh ... Wüsche: Ich würde mir wünschen, dass sich die Pflegeeltern,
vielleicht auch ohne das Wissen der Kinder, überhaupt ab und zu mal gemeldet hätten oder melden würden. Einfach mal anrufen, abends um neun, wenn
die Kinder im Bett sind, mal sagen: Hallo, ich wollt mal Bescheid sagen, bei
uns ist soweit alles klar, oder da ist das und das vorgefallen (...) das fände ich
z. B. mal ganz toll.“ (18, 24–29)
Sie glaubt, dass viele Herkunftseltern über eine Möglichkeit der Information und
Zusammenarbeit dankbar wären.
„Ja, und ich glaube auch, dass das für viele abgebenden Eltern zutreffen
würde.“ (19, 27)
Auch Ängste und Sorgen im Hinblick auf die Fremdunterbringung können durch
persönlichen Kontakt und dementsprechende Transparenz des Pflegeverhältnisses entkräftet werden und tragen dadurch zum Bewältigungsprozess bei.
„(...) und damit geht’s mir dann auch gut, wenn ich dann nach Hause fahre,
dann bin ich net tot traurig, ehm, sondern denk mir Mensch schön, es geht ihr
gut, sie ist glücklich ich muss mir keinen Kopf machen, passiert da jetzt was
Schlimmes. Hat man doch als abgebende Eltern, gerade bei Töchtern, aber
überhaupt, was man so alles hört, so viel Angst vor Missbrauch, oder sexuellem Missbrauch oder doch Gewalt. Und da ist es ganz wichtig, auch zu wissen,
die Pflegeeltern, wie sind die so drauf.“ (10, 34–39)
Das entstandene Vertrauensverhältnis ermöglicht dann wiederum, dem Pflegeverhältnis Legalität und Kontinuität zuzusprechen. Realitäten anzunehmen und entsprechend neue Rollen zu finden, sind Faktoren, die das Pflegeverhältnis stabilisieren und Krisen minimieren, also zu einem Gelingen der Jugendhilfemaßnahme
beitragen.
„Wobei ich ihr auch gesagt hab (...), dass es für mich in Ordnung ist, dass sie
da lebt, dass ich froh bin, dass sie so ne nette Pflegefamilie hat und dass sie
da bleiben darf, so lange wie sie möchte. Dass ich schon gerne mehr Kontakt
zu ihr haben möchte, aber das ihr überlasse und alle diese Freiräume gebe.“
(9, 26–30)
67
Hier wird deutlich, dass die positive Begleitung des Pflegeverhältnisses in direktem Zusammenhang mit der eigenen Zufriedenheit von abgebenden Eltern steht.
Frau Schulze kann das Pflegeverhältnis ihrer Tochter Sonja legalisieren und Kontinuität zusprechen, weil sie es grundsätzlich annehmen kann. Diese grundsätzliche Annahme der Fremdunterbringung ist ihr möglich, weil sie selbst Teil des
Hilfesystems sein kann, dadurch den Pflegeeltern ihr Vertrauen entgegenbringt
und eine neue, für sie tragbare Rolle einnimmt.
Von diesem neuen und erweiterten Elternsystem, konzeptionell in der Jugendhilfe
als Ergänzungsfamilienmodell angedacht, erhofft sie sich auch für Sonja eine positive Wirkung.
„Dass sie damit leben lernt, sie hat ‘ne Pflegefamilie, wo sie Mama, Papa sagt,
wo sie, aber da gibt’s eben noch mehr Bezugspersonen, ohne dass man sich
gegenseitig im Weg ist und bekämpft. Dass sie da wirklich ganz locker merkt,
alle gehen hiermit gut um, (...).“ (14, 46–48)
Diese erweiterte Elternschaft wünscht sie sich auch für das Pflegeverhältnis ihrer
Tochter Anette. Derzeit empfindet sie noch eine große Hemmschwelle zwischen
sich und Anette und führt diese auf den mangelnden Kontakt und die nicht vorhandene Kooperation mit den Pflegeeltern zurück.
Die Unterstützung der Beziehungspflege zwischen Kindern und Herkunftseltern
hält sie für überaus wichtig, betont dabei den Bedarf bei allen Beteiligten und wirbt
für notwendige Hilfestellung. Hauptadressat für dieses Anliegen sind die Pflegeeltern, die Aufgabe des Jugendamtes kann gleichsam die entsprechende Beratungstätigkeit sein.
Neben der konzeptionellen und unter Umständen mediativen Beratungsarbeit des
Jugendamtes ist eine von Achtung und Annahme geprägte Haltung den Herkunftseltern gegenüber äußerst hilfreich.
Ihre Erlebnisse mit Fachkräften der Jugendhilfe reichen von Verachtung und
Ablehnung „Es wäre doch besser für ihre Kinder gewesen, sie hätten sie abgetrieben!“ (7, 27–28) bis zu wohlwollender Beratung und Partizipation „Gott sei Dank,
endlich mal ein herzlicher, ein netter Mensch, mit dem man umgehen kann –
natürlich fürs Kind, net für mich, is ja es Jugendamt! Aber, ehm, wo einfach net
diese Ablehnung zu spüren war (...)“ (8, 12–14).
68
Eine Ablehnung ihrer Person und Elternrolle führte zu Rückzug und Resignation,
die konstruktive Zusammenarbeit und Achtung ihrer Elternrolle ermöglichte die
Akzeptanz der neuen Situation.
Zusammenfassend können folgende Faktoren als hilfreich und zur Bewältigung
der Situation für Herkunftseltern als geeignet angesehen werden:
Das Maß aller Dinge sollte das Wohl des Kindes sein. Zu dessen Wohl gehört eine
kontinuierliche und legalisierte Lebensform. Diese kann nur gewährleistet sein,
wenn sich alle Beteiligten um Zusammenarbeit bemühen. Herkunftseltern wünschen sich in diesem Zusammenhang die Achtung ihrer Elternrolle und bedeutsame Bindung zum Kind sowie entsprechende Beziehungspflege. Diese beinhaltet
verlässliche und an die Bedürfnisse angepasste Besuchskontakte sowie eine
wertschätzende Haltung ihnen gegenüber. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses scheint notwendig und hilfreich zu sein. Dazu ist Transparenz und
Offenheit wichtig, ebenso eine eigenständige Beziehung auf der Erwachsenenebene, um Loyalitätskonflikte zu vermeiden.
Der Großteil dieser Aufgaben kommt den Pflegeeltern zu, die den Alltag des Kindes gestalten. Eine entsprechende Beratungstätigkeit der zuständigen Fachkräfte
ist wünschenswert und notwendig. Die Erarbeitung neuer Rollen und Verantwortungen sind Voraussetzung für ein Gelingen der Jugendhilfemaßnahme.
7.3 Erstellung von Thesen
Die intensive Auseinandersetzung mit der Fallgeschichte von Frau Schulze veranlasste mich, unter Einbeziehung bereits vorhandener Erkenntnisse in Literatur
und Praxis, Thesen aufzustellen, die zum Gelingen einer Jugendhilfemaßnahme
beitragen können.
Diese in Theorie und Fallgeschichte manifestierten Forderungen sollen die konzeptionelle Praxis im Pflegekinderwesen anregen, ihre professionelle Begleitung
an den Bedürfnissen der entsprechenden Adressaten zu optimieren.
Die biografische Fallarbeit ermöglichte mir, eine Perspektivenübernahme im Rahmen meiner Möglichkeiten zu vollziehen und daraus folgende Thesen zu vertreten:
69
1. Pflegeeltern sind Hauptakteure bei der Gestaltung eines Pflegeverhältnisses.
Aus der Sicht der betroffenen Mutter wird immer wieder deutlich, wie eminent
wichtig die Rolle der Pflegeeltern in einem Hilfeprozess ist. Deren Haltung und
Auftrag prägt die alltägliche Ausgestaltung der Jugendhilfemaßnahme und im
Besonderen die Beziehungspflege zwischen Pflegekind und Herkunftseltern. Die
positiven Auswirkungen für Frau Schulze und deren Tochter Sonja sind im Interview vielfach deutlich geworden.
Durch die strukturelle Überlegenheit der Pflegeeltern im Hilfeprozess ist deren Initiative häufig notwendig, um Kommunikation und Kooperation überhaupt zu aktivieren. Jürgen Blandow hat im Hinblick auf Pflegeeltern und deren bedeutsame
Rolle im Hilfeprozess Kriterien aufgestellt, die erfolgreiches Handeln von Pflegepersonen ermöglichen. Unter anderem nennt er neben grundsätzlicher „Empathie“
und der „Wertschätzung des Kindes“ auch den „Respekt gegenüber bedeutsamen
Bezugspersonen des Kindes“ sowie „Teilungs- und Zusammenarbeitsbereitschaft“. (siehe Blandow 1999)
Frau Schulze fordert in ihren Aussagen genau diese Kriterien innerhalb des Pflegeverhältnisses und erläutert, wie positiv diese Haltung von Sonjas Pflegeeltern
dem Hilfeprozess zugute kommen. Ist die Betreuung offen und durchschaubar und
sind Absprachen und das Aushandeln von Regeln für den Umgang miteinander
möglich, können auch konstruktive Umstrukturierungen bezüglich der Rollen und
Verantwortungen ausgehandelt werden. Ihr Plädoyer für eine konstruktive Zusammenarbeit macht den großen Bedarf und die unterschiedlichen Aufgaben in
beeindruckender Weise deutlich. Gemeinsame Arbeitsgrundlage ist in jedem Fall
das Wohl des Kindes.
Um diesen komplexen und anspruchsvollen Auftrag zu erfüllen, sind Beratungsleistungen in Form von Gruppen- und Einzelangeboten notwendig, damit den
Hauptakteuren in einem Pflegeverhältnis angemessene Unterstützung zuteil wird.
Auch die Anerkennung ihres gesellschaftlichen Auftrages ist nötig, um ein hohes
fachliches Niveau für Pflegeverhältnisse anzubieten. Der Bedarf an flankierenden
Maßnahmen ist hoch und vielerorts nur sehr unbefriedigend gedeckt.
70
2. Herkunftseltern benötigen einen angemessenen Platz innerhalb einer
Jugendhilfemaßnahme.
Nicht nur für das betroffene Kind, sondern auch für dessen Eltern und dem daraus
resultierenden Wechselspiel sind Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie
zu berücksichtigen, die sich mit bedeutsamen Bindungen zwischen Menschen
beschäftigen. Häufige Beziehungs- und Bindungsabbrüche sind der schädlichste
Indikator für die psychische Entwicklung eines Menschen.
Aus der Bindungsforschung (u. a. Bowlby 1973) weiß man, dass der Mensch als
soziales Wesen in starker Abhängigkeit zu seinen bedeutsamen Bindungen steht.
Diese bedeutsamen Bindungen zu achten und sie in wertschätzender Weise im
Pflegeverhältnis zu berücksichtigen, ist eine Forderung, die klar aus dem vorliegenden Material zu entnehmen ist. Dass sich aus bedeutsamen Bindungen Rollenzuschreibungen ergeben, ist nahe liegend.
Frau Schulze wünscht sich Beziehungspflege und Verantwortungsübernahme im
Rahmen ihrer Möglichkeiten. Anhand des Hilfeverlaufes der jüngsten Tochter
Sonja wird deutlich, dass die Beachtung und Anerkennung der Mutter-Kind-Beziehung eine grundsätzliche Annahme der Situation ermöglicht. Über neue Verantwortlichkeit und Rollenzuschreibung ist eine Gefühlsbewältigung möglich, die dem
gesamten Pflegeverhältnis zugute kommt. Die Annahme und Legalisierung des
Pflegeverhältnisses wird durch vertrauensbildende Maßnahmen wie Transparenz
und Offenheit gefördert und minimiert durch Beteiligung und Angstabbau destruktives Verhalten. Durch neue Rollen und Aufgaben entsteht neue Lebensqualität,
und die Gefahr von Loyalitätskonflikten für das betroffene Kind ist deutlich geringer. Marianne Schumann (DJI, 1987) spricht von einer nötigen „Ambiguitäts-Toleranz“ bezüglich sozialer Realitäten. Eine Toleranz für Widersprüche ist notwendig,
wenn Herkunftseltern ihre Elternrolle als nach wie vor bedeutsam ansehen, das
Kind jedoch gleichzeitig über die Verlagerung seines Lebensmittelpunktes neue
bedeutsame Bindungen eingeht.
Das eigene Scheitern anzunehmen und sich neuen, veränderten Aufgaben zu
stellen, ist eine Herausforderung für abgebende Eltern, die nur unter entsprechenden strukturellen Bedingungen möglich ist. Einen bedeutsamen Platz
innerhalb der Jugendhilfemaßnahme einzunehmen, erfordert auch hier Beratung
und Unterstützung. Dass diese nur über einen respektvollen und wohlwollenden
71
Umgang seitens der Fachkräfte möglich ist, dokumentiert das vorliegende Interview evident.
Das durch das traumatische Ereignis einer Fremdunterbringung entstandene
Gefühl von Versagen führt häufig zu Rückzug und Resignation. Die von der
aufsuchenden Familientherapie geforderte Haltung „Wo keine Hoffnung ist, muss
man sie erfinden“ (Marie Luise Conen, 2002) stellt aus meiner Sicht einen
geeigneten Ansatz dar, Ressourcen zu finden und destruktives Verhalten in Kompetenzen umzukehren. Diese Haltung ist auch im Pflegekinderwesen umsetzbar.
Ein umfangreiches Beratungsangebot für abgebende Eltern ist deshalb auch nach
erfolgter Fremdunterbringung notwendig. Es erfordert niedrigschwellige Einzelangebote, kann sich aber auch der Methodik der Gruppenarbeit als zusätzliche Möglichkeit der Gefühlsbewältigung bedienen. In jedem Fall ist das überaus große
Defizit an Beratungsangeboten für Herkunftseltern zu modifizieren.
3. Das „Ergänzungsfamilien- Konzept“ dient als konstruktive Grundlage eines
Pflegeverhältnisses
Als logische Schlussfolgerung aus den beiden vorangegangenen Thesen ergibt
sich aus meiner Sicht die Forderung nach einem „inklusiven Verständnis“ von
Pflegeverhältnissen innerhalb der Jugendhilfe.
Der Aufbau eines erweiterten Elternsystems und somit die Akzeptanz unterschiedlicher Rollen und Verantwortungen findet im „Ergänzungsfamilienkonzept“ seine
Berücksichtigung. Ulrich Gudat (DJI, 1987) schlägt dabei eine Neuorientierung in
Richtung einer systemischen Sichtweise vor und wirbt für eine geteilte Verantwortung. Das Kind ist aus dieser Perspektive Bestandteil von zwei Systemen, die
sich entsprechend integrieren. Bisherige Bindungen werden geachtet und fehlende Funktionalität ergänzt. Das strukturelle Merkmal der „doppelten Elternschaft“
findet hier seine angemessene Bearbeitung und Umsetzung. Wenn zwei Familien
über das Eintreten eines Pflegeverhältnisses in Beziehung treten, sind
Einstellungen
und
Haltungen
vorhanden,
die
den
Verlauf
der
Jugendhilfemaßnahme beeinflussen. Eine entsprechende konzeptionelle Vorgabe
der Fachkräfte ist deshalb bereits bei der Auswahl und Vorbereitung von
Pflegeeltern nötig.
72
Die tragende Rolle der Pflegeeltern bei der Gestaltung eines Hilfeprozesses und
deren dementsprechend große Einflussnahme auf die Position der Herkunftseltern
macht deutlich, wie wichtig deren konzeptionelles Verständnis für den Verlauf ist.
Das Bedürfnis abgebender Eltern, einen angemessenen Platz im sozialen System
ihres Kindes einzunehmen, kann bei entsprechender Ignoranz zu schwerwiegenden Komplikationen führen.
Beratungsziele in der Arbeit mit Pflegeeltern beinhalten demnach, Aufgaben und
Verantwortungen festzulegen, die einer erweiterten Elternschaft gerecht werden.
Eine tragfähige Beziehung auf der Erwachsenenebene zwischen Pflegeeltern und
Herkunftseltern scheint unerlässlich, wenn Kooperation zum Wohl des Kindes
angestrebt wird. Die Gefahr eines pathogenen Beziehungsdreiecks und entsprechend negativer Auswirkungen auf das Pflegeverhältnis ist dadurch minimiert.
Frau Schulzes Wunsch nach abendlichen Telefonaten zwischen ihr und den
Pflegeeltern verdeutlichen den Bedarf nach eigenständiger Beziehung. Dieses
Bedürfnis kann nur innerhalb eines Rollenverständnisses befriedigt werden, das
durch eine grundsätzlich akzeptierende und einfühlende Haltung gegenüber den
Herkunftseltern geprägt ist. Dieser außerordentlich hohe Anspruch erfordert ein
Beratungsangebot, das sich den individuellen Bedürfnissen und Problemlagen
anpasst und flexibel auf das spannungsreiche Feld des Pflegeverhältnisses
eingeht. Das „Ergänzungsfamilien-Konzept“ ist aus meiner Perspektive für alle
Beteiligten entlastend, wenn es um die Gestaltung des von Grund auf
komplizierten und widersprüchlichen Beziehungsarrangements geht, welches
Pflegeverhältnisse auszeichnet. Es erkennt soziale Realitäten an, ohne sie zu
verzerren, und ermöglicht allen Beteiligten einen authentischen und somit auf
Dauer tragfähigen Umgang miteinander.
Somit grenzt sich mein konzeptionelles Verständnis von Pflegeverhältnissen stark
von Vorstellungen wie beispielsweise der des „Ersatzfamilienkonzeptes“ von
Nienstedt/Westermann ab. Die darin geforderte emotionale Ablösung des Kindes
von seinen leiblichen Eltern und damit einhergehende Ausgrenzung der bedeutsamen Bindungspersonen wird nicht nur durch das vorliegende empirische
Material kritisch in Frage gestellt, sondern auch durch vielfältige und langjährige
Erfahrungen meinerseits mit abgebenden Eltern und deren Kindern.
73
8
Schlussbemerkung
Das Ziel dieser Arbeit lag darin, die soziale Wirklichkeit von abgebenden Eltern zu
explorieren und damit dem Verstehen anzubieten.
Gegenstand der Untersuchung war die retrospektive Betrachtung einer Mutter,
deren Kinder fremdbetreut sind. Ob die Perspektivenübernahme und entsprechende Einsicht gelungen ist und die daraus entstandenen Forderungen den Bedarf realistisch ermittelt haben, lässt sich wohl nur von Herkunftseltern selbst
beantworten.
In der Hoffnung, die sehr persönlichen und bewegenden Erzählungen von Frau
Schulze in ihrem Sinne dargestellt zu haben, beende ich die Dokumentation meiner Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte.
Mein Respekt gilt ihrer beharrlichen Auseinandersetzung mit den sozialen Realitäten, die ihre Biografie begleiten, und ihrer Mutterrolle, die sie trotz aller Widerstände nicht verlassen hat.
Ich wünsche abgebenden Eltern den Mut, ihre Bedürfnisse und Wünsche trotz
widriger Lebensumstände für sich und ihre Kinder nicht aus dem Blick zu verlieren
und dafür einzutreten, dass ihre Rolle einzigartig ist und bleibt.
Die konzeptionellen Rahmenbedingungen in diesem Sinne zu gestalten, bleibt
Aufgabe der entsprechenden Fachkräfte im Pflegekinderwesen und lohnenswerte
Arbeit für die betroffenen Kinder, deren Eltern und Pflegeeltern.
74
9
Ø
Literaturverzeichnis
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Jugendhilfe; in: Dokumentation 3 des Sozialpädagogischen Instituts im SOSKinderdorf e. V., München
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Vermittlung, Beratung ; Lambertus Verlag, Freiburg im Breisgau
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WIEMANN, Irmela ( 1991 ): Pflege- und Adoptivkinder ; Rowohlt Taschenbuch
Verlag , Reinbek bei Hamburg
76
Anhang
Transkriptionsregel:
Nach Hans-Jürgen Glinka: Das narrative Interview, 2. überarbeitet Auflage 2003,
Weinheim, München: Juventus, S. 64 sowie
Ulrike Froschauer, Manfred Lueger: Das qualitative Interview. Wien: WUV/UTB, S.
223 f.
Blattvoraussetzungen:
-
Längsformat
-
Zeilennummern
Transkriptionsregeln:
-
Kodierung der Person
-
Pausen (pro Sekunde 1 Punkt) 0 ...
-
nichtverbale Äußerungen wie Lachen oder Husten in runden Klammern
= (H. G. lacht)
-
situationsspezifische Geräusche in spitzer Klammer angeben
= >Telefon läutet<
-
Hörersignal bzw. gesprächsgenerierende Beiträge als normalen Text
anführen = mhn, äh
-
auffällige Betonung unterstreichen = etwa so
-
Unverständliches (Komma in Klammer, wobei jedes Komma eine Sekunde
markiert) = (,,,)
-
vermuteter Wortlaut bei schlecht verständlichen Stellen in Klammern
schreiben = (etwa so)
-
sehr gedehnte Sprechweise mit Leerzeichen zwischen den Buchstaben
=etwa so
77
Liebe Eltern, deren Kinder in einer Pflegefamilie leben!
Ich bin Studentin an der Universität Siegen, Studiengang Sozialpädagogik, und
interessiere mich für die sicher schwierige Situation von Eltern, ein eigenes Kind in
eine Pflegefamilie abgegeben zu müssen!
Im Rahmen eines Interviews möchte ich Sie gerne zu Ihren Wünschen und
Bedürfnissen im Hinblick auf die neue Situation befragen.
Über Ihr Interesse an meinem Anliegen würde ich mich sehr freuen. Bitte melden
Sie sich telefonisch bei mir, um einen Termin zu vereinbaren.
Mit freundlichen Grüßen
Christina Herr
Tel.: 06441/382438
78
Sozialdatenblatt:
Name:
Christine Schulze
Alter:
40 Jahre
Beruf:
Händlerin
Familienstand:
verheiratet
Kinder:
Regina
18 Jahre
Anette
14 Jahre
Sonja
10 Jahre
Regina
z. Zt. JVA
Anette
Pflegefamilie
Sonja
Pflegefamilie
Unterbringungsform:
Unterbringungsdauer:
ca. 6 Jahre
Datum des Interviews:
November 2004
79
Ich versichere, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig verfasst
und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Wetzlar im März 2005
80
Gründe für die Fremdunterbringung
B: Ja, es kam zu der Unterbringung bei Pflegeeltern durch den Umstand, dass ich in einer sehr
zerrütteten Ehe gelebt hab mit den Kindern, dass ich jahrelang versucht hab, aus dieser Ehe
raus zu kommen, zu flüchten, teils mit und teils ohne Kinder und letztlich aber im extremen
Hörigkeitsverhältnis aufgrund von Gewalt und Todesangst war, dass ich immer wieder auch
zurück bin zu meinem Exmann. Je älter die Kinder wurden, besonders bei der Ältesten, hat er
dann seine Gewaltausbrüche nicht nur gegen mich, sondern auch gegen sie gerichtet –
eigentlich fast ausschließlich gegen die Älteste und gegen mich. Und das Mädchen war dann
irgendwann so fertig mit den Nerven, dass sie sagte. Ich will raus aus der Familie. Und ich
hab ihr gut zugeredet, dass sie sich in der Schule ihrer Vertrauenslehrerin anvertraut. Und
darauf hin wurde sie auch vom Jugendamt abgeholt und erst mal ins Heim gebracht.
Es gibt aber noch einen anderen Hintergrund in dieser zerrütteten Ehe. Und zwar waren wir
beide, mein Exmann und ich, jahrelang drogenfrei und clean. Irgendwann hielt ich diese
ganze psychische Situation mit Gewalt und Anschreien und Angst machen net mehr aus, hab
mir vom Arzt Psychopharmaka verordnen lassen und war letztlich tablettenabhängig mit
jeden Mengen auch an Blackouts. Er hat wieder angefangen mit Heroin, wo er früher schon
mal lange Jahre auch für im Gefängnis war, na ja, auf jeden Fall abhängig war. Das hat mir
wiederum nicht gepasst. Und irgendwann kam es dann dazu, dass er mir Kokain, dass ich das
dann auch konsumiert hab. Ich hatte das vorher nicht wirklich probiert. Ich wollt schon auch
mal – na ja – probier ich das halt mal. Aber ich habe früher auch mal, na ja, bis ich 18 war
mal kurzzeitig mit Heroin, mit Fixen zu tun gehabt. Und nach drei Tagen Kokainschnupfen
war ich wieder an der Nadel – päng! Also war ich März ’99 effektiv auf Kokain, und zwar
permanent, seit ungefähr drei Monaten, also länger war die Spanne dann auch nicht. Ich war
völlig fertig, völlig abgemagert auf 43 Kilo. Meine älteste Tochter war Mitte März schon vom
Jugendamt ins Heim gebracht worden. Die wussten aber nix über Drogengeschichten.
Und ... dann hab ich den nächsten Trennungsversuch gestartet von meinem Mann. Wusste
aber, mit Kindern, Frauenhäuser hatte ich alle schon durch in Hessen, und es funktioniert net.
Er stellt mir nach, er lässt mich net in Ruhe. Ich wollte erst mal drogenfrei selber werden,
wieder stabil werden und hab meine beiden jüngeren Töchter dann zu ner Patenfamilie
gebracht, bin selbst nach Hadamar gegangen zur Entgiftung und hab das Jugendamt selbst
informiert über die Tatsachen von Drogenabhängigkeit, von der Gewalt des Vaters und diese
ganze Geschichte. (,,,) So! Also, so kam das dazu. 1,6-38
Also, so Geschichten sind dann natürlich bei Jugendämtern angekommen. Und dass das dann
ein schlechtes Licht wirft, dass die dann hellhörig werden, vorsichtig werden, kann ich auch
verstehen. 8,41-43
In meinem Fall ist es eigentlich letztlich die Sucht gewesen, die das verursacht hat. 6,9-10
Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung I
ich sitz hier in meiner 90-m2-Wohnung ohne Kinder und hab auch keine Chance, die
wiederzukriegen, und eigentlich will ich auch hier weg, wo meine Heimatgegend ist, wo mein
schlechter Ruf mir vorauseilt, wo meine Ex-Schwiegereltern leben, wo mein Exmann nachts
mit laufendem Motor und lauter Musik vor der Tür steht, unten an die Tür klopft und klingelt,
mich tyrannisiert. Ich zieh jetzt weg. 2,11-15
Wir haben auch gedacht, damals, wir schaffen das, wir kriegen das wieder unter die Füße, und
wenn erst mal die Kinder da sind – man hat sich selbst was vorgemacht. Und es hat net
funktioniert. .. Dann gab es zwischen uns Stress, auch wegen Drogen, und das war einfach
alles zu viel. 2,28-31
Jetzt kommt’s Jugendamt und holt mein Kind wieder ab... Das ... war einer der schlimmsten
Tage (Stimme wird schwächer, weint) in meinem Leben. 2,44-46
B: .... Vorher hatte ich Hoffnungen, dass es doch alles klappt. An dem Tag hab ich gewusst,
ich hab verloren. Na ja. Gut. Wie auch immer. Die Wochen danach bin ich total abgerutscht.
Ich hab nur noch gekokst und, mir war dann auch alles egal. 3,1-4
Und dann stand ne schwere Entscheidung an, 3,40
So, und jetzt bin ich soweit über diese Ex-Ehe hinweg, dass ich jetzt sagen kann, net nur, mir
ist meine Tochter wichtiger, ich hab weniger Angst vor ihm oder das Bedürfnis, meine
Tochter jetzt die Gelegenheit zu nutzen, sehen zu können, das ist jetzt größer wie die Angst
vor ihm, ihm zu begegnen. 5,15-19
In meinem Fall ist es eigentlich letztlich die Sucht gewesen, die das verursacht hat. Da weiß
ich auch, wie sehr viele darunter leiden, dass es so ist, und aus diesem Teufelskreis: ich bin
sowieso süchtig, deswegen ist mein Kind weg, und weil mein Kind weg ist und ich deswegen
traurig bin und Schuldgefühle hab und alles Mögliche hab, bin ich noch mehr süchtig, nehme
ich noch mehr Drogen, Tabletten, Alkohol oder irgendwas, damit ich das bloß net alles fühlen
muss – und schon hat sich der Kreis geschlossen. Der ist sehr eng. Und das war eigentlich
auch das bei mir, ohne dass Sie mich falsch verstehen. 6,9-16
ich hab mich total selbst überschätzt 6,17
Und irgendwann war mir klar – ich seh meine Kinder die nächsten drei Jahre, zumindest
nicht, dass ich sie wieder zu mir bekomme ... und dann war’s halt auch ganz schnell um. Kein
.. gekämpft – ich hab ein halbes Jahr lang oder, ja, diese Zeit knüppelhart gekämpft gegen
mein Sucht ... und hab, ja, ich hab alles angeboten. Ich geb ‘ne Haarprobe ab, dass die ganze
Zeit gar nix gewesen ist und alles, ne? 6,30-34
Und da hab ich mir irgendwann gedacht: Für was brauch ich ’n clean sein, wenn ich meine
Kinder net hab, ne? Dafür is ja Koksen viel zu schön. Also, ne, is natürlich Quatsch! Aber
irgendwie ... 6,43-45
B: ... zieht’s einen so runter. Und ich hab die ersten Monate literweise mir den Pulli voll
geheult, weil meine Kinder weg sind. Ich hab mir immer drei Töchter gewünscht. Alle drei
waren absolut gewollt, gewünscht, zumindest von mir. Und, ja, so hab ich mir mein Leben net
vorgestellt, dass ich mit 40 irgendwo sitze und keins mehr hab, beziehungsweise eins in – na
ja – und zwei bei Pflegefamilien. 7,1-5
Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung II
B: Nach diesem Rückfall, nach diesem ersten, war mir schon .. danach war mir klar: Wenn
ich jetzt meine Kinder haben will, kann ich net sagen, mit ‘nem halben Jahr oder mit ‘nem
Jahr, das reicht jetzt aus – ich hatte eben mein Feuerzeug (holt ihr Feuerzeug) – dass das
dann länger dauern würde. Aber nichts desto trotz hab ich mich da sehr lang dran geklammert
und bis zum Abbruch der Therapie, diese christliche, eigentlich auch immer gehofft. Und
mich wirklich damit abzufinden, die Kinder nicht mehr als Kinder in die Familie zu
bekommen, nie wieder, das tut immer noch weh (kurz vor’m Weinen). Aber, ehm, dass ist
jetzt irgendwie auch o.k. Aber das hat lang gedauert. Aber jetzt weiß ich, das is um. Wobei,
ja, ich denke, so is es um. 7,9-17
Und da hab ich auf’m Jugendamt gesagt: Eine Kindermörderin kriegt mein Kind nur über
meine Leiche! Würde ich alles für tun, dass die mein Kind nicht kriegt, die hat ihr eigenes ..
7,40-42
Dann ... das ist eine ganz große Hilflosigkeit, die dann am Gefühl (,,,) Das ist die Wahrheit,
was soll ich jetzt noch sagen! Was soll ich noch sagen? Warum glaubt mir keiner? Ich hab
die Beweise. 8,28-30
Ich hab auch versucht, gegen alle meine Gefühle in den Jahren zu denken, hoffentlich haben
die vom Jugendamt mit der oder der Maßnahme oder nicht sehen, nicht treffen, kein Kontakt
– wenn’s dem Kind ja wirklich nützt, wenn’s ja wirklich gut is, dann halt ich das auch aus. Ich
will das Beste für meine Kinder. Und wenn das jetzt eben das Beste ist, dann muss ich eben
durch. Ich hab ja auch den Scheiß gebaut. Hauptsache denen geht’s gut. Und Sonja geht’s
jetzt gut. Ja. Und .. (holt tief Luft) 9,17-22
So in der Art und, ja, und damit geht’s mir dann auch gut, wenn ich dann nach Hause fahre,
dann bin ich net tot traurig, ehm, sondern denk mir Mensch schön, es geht ihr gut, sie ist
glücklich ich muss mir keinen Kopf machen, passiert da jetzt was Schlimmes. Hat man doch
als abgebende Eltern, gerade bei Töchtern, aber überhaupt, was man so alles hört, so viel
Angst vor Missbrauch, oder sexuellem Missbrauch oder doch Gewalt. Und da ist es ganz
wichtig, auch zu wissen, die Pflegeeltern, wie sind die so drauf. Ich meine, man kuckt jedem
nur vor’n Kopf, is klar! Aber irgendwo so ein Stück weit Menschenkenntnis hat man dann ja
auch, zu sagen: Nee, das is wirklich in Ordnung. Also man hat zumindest ‘n Frieden und
macht sich dann keinen Kopf, ne? 10,34-42
Ja. Und danach fragt man sich schon von alleine ... (holt tief Luft): Hat man was falsch
gemacht wieder mal, hätte man irgendwie im Vorfeld verhindern können. 13,6-7
zum anderen hab ich immer gedacht, alles ist besser , was bei den beiden Jüngeren jetzt dazu
beiträgt zu gesunden, psychisch gesunden Erwachsenen heranzuwachsen.
Dann, scheiß auf meinen ganzen Schmerz, dass die Kinder von mir getrennt sind. Irgendwann
sind sie vielleicht psychisch gesund und wir haben Kontakt, und es ist alles besser, wie noch
so ne psychisch behinderte Tochter, bloß weil ich se jetzt bei mir hab, die wieder Leid und
elend mitkriegt, in welcher Form auch immer. Und damit hab ich mich so ein bisschen über
die Jahre hinweg versucht zu trösten – mit schlechtem Erfolg, aber immerhin sehe ich jetzt ja
auch, dass es den anderen beiden ganz gut geht. 13,24-32
Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung III
und ich bin selber gerade mal froh, dass ich seit .. ehm, ja nach der Therapie, halbwegs Fuß
gefasst hab. Und ich hab selbst jeden Tag .. ehm auch zu kämpfen! Zu kämpfen mit meinem
Alltag, zu kämpfen mit meiner Zukunft, zu kämpfen gegen finanzielle Armut, für meinen Job,
für mein Geschäft und vor allen Dingen gegen die Sucht immer wieder. Das is ja net so, dass
das weg ist nach der Therapie. 15,5-9
diesem Wunschtraum: Das wird schon und das muss schon, Augen zu und los – die Gefahr
net sehen und einfach mal ins Rosarote hineinzulaufen bis man wieder auf der Schnauze liegt
– ne! Ich hab schon genug Schuldgefühle, weil ich mich überschätzt oder sonst wie falsch
eingeschätzt hab .. und F .. Fehler gemacht hab – also das ... das sind so die Hauptgründe,
warum ich eigentlich möchte, dass die Kinder auch da bleiben, wo sie sind, mit zunehmendem
Kontakt zu mir und in der Hoffnung, dass sie auch als Erwachsene gerne kommen und so –
dass der Kontakt einfach wirklich bestehen bleibt und sich zu was Gutem auswirkt und net ne
Mutter, die wieder enttäuscht hat. ... 15,26-33
B: Schwierig. Ich will da jetzt net mal dem Jugendamt irgendwie Schuld oder so was
zuweisen, weil mein Leben war ja in der Zeit auch net geradeaus und gleichmäßig, sondern
ich war ja sehr sprunghaft. Ich war hier und da, wieder mal rückfällig, wieder mal clean. Von
daher gesehen ..., 17,4-7
Kann ich auch verstehen, dass es nicht leicht ist, immer die richtige Entscheidung zu treffen,
dass da auch Fehler gemacht werden. Und hinterher kann man immer sagen: Ich glaube, das
wäre besser gewesen, so und so – ob’s das wirklich gewesen wäre? ... 18,2-4
Ich traue mich kaum, mal bei den Pflegeeltern meiner mittleren Tochter Anette anzurufen.
Die haben ein Geschäft, die haben nie Zeit, irgendjemand ist immer krank. Und wenn ich
anrufe, werde ich immer ganz kurz abgewürgt. Vom Pflegevater, und wenn die Pflegemutter
Zeit hat, labert sie mich ne Stunde zu. Deswegen kann ich die Anette gar net verstehen. Bei
mir wär’s umgekehrt, ich könnt mit dem Typ keine 24 Stunden im Raum aushalten, aber egal.
Anette kommt bestens mit dem klar, soll mir Recht sein. Aber das, ich hab halt ganz oft das
Gefühl, oder ich trau mich gar net anzurufen. Anette hat mir jetzt geschrieben: Du kannst mir
ja mal eine SMS schreiben, mit ihrer Handynummer ... wobei ich eigentlich nicht denke, dass
sie was dagegen hätte, wenn ich sie mal anrufe und sag: Hallo Anette, wie geht’s dir denn –
das ist bestimmt mehr als ein versteckter Hinweis, hier has´te meine Telefonnummer. Ich hab
ihr einmal eine SMS geschrieben aufgrund dieser Telefonangabe, ehm, aber ich hab das
Gefühl, ich glaube nicht, dass sie möchte, dass ihre Pflegeeltern mitkriegen, dass sie mit mir,
ich sach mal heimlich, telefoniert, jetzt auf einmal, ne? Ehm ... und dann überleg ich mir so
ungefähr zich mal die Woche: Wann könnte ich anrufen, so dass Anette nicht aus lauter
Angst, Angst in Anführungsstrichen, um Diskussionen zu vermeiden mit ihren Pflegeeltern,
dass ich sie mal erwische. Morgens geht sie in die Schule, Mittag ist sie zu Hause – ich will
das ja gar net heimlich machen eigentlich, das is mir ja alles viel zu blöd, da gibt’s ja gar kein
Grund für! Ich kann der ja auch schreiben! Aber wenn sie mir das schon schickt, da 18,31-48
Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung IV
Das ist nur ’ne Vermutung von mir! Aber das is so ’ne große Unsicherheit von mir, nicht zu
wissen, ist das überhaupt recht, wenn ich mich da jetzt melde. Da ruf ich bei der Frau
Feldmann an und frag die Frau Feldmann, wie geht’s denn jetzt in der Familie, hat sich das
ein bisschen gebessert. Die haben da jetzt Hilfe, Personen auch eingesetzt ... ehm ... da red ich
mit der Frau Feldmann und hab ihr ja auch gesagt, ich trau mich da kaum anzurufen. Weil ich
das Gefühl hab, das ist gar nicht erwünscht. Und das find ich ziemlich doof. Das ist das
Gefühl so, man wird so abgeschoben, ja? Am besten meldest de dich erst gar net. 19,4-11
Dann kann man ja froh sein, wenn die nicht ins Heim kommen. Wenn die Pflegefamilien
finden, noch dazu gute. Da ist dann schon so was wie Dankbarkeit gegenüber den Pflegeeltern
– auf jeden Fall! Aber wenn man’s dann nicht leicht gemacht bekommt, dann schwindet die
auch so leicht dahin. O. k., die haben zwar mein Kind aufgenommen, aber die haben mich so
auflaufen lassen die letzten Jahre, also, na ja.
Dann immer wieder der Gedanke, es geht ja hier nicht um mich, es geht um das Wohl meines
Kindes. Aber die eigenen Gefühle sind ja auch da! Eigene Wünsche und Bedürfnisse ... ich
weiß selber ein Stück weit, wie es ist! Ich kenne meine leibliche Mutter persönlich überhaupt
nicht, hab aber zwei Briefe von ihr bekommen im Laufe des letzten halben Jahres, weil ich es
endlich nach 40 Jahren geschafft hab, sie ausfindig zu machen – mit Hilfe eines
Jugendamtmitarbeiters aus Dollenberg. Der hat sich zwei Jahre richtig angestrengt, die Frau
zu finden. Und, ja! Hat mir therapeutisch sehr gut getan. War auch sehr nötig! Ich hoffe auch,
dass es noch irgendwann weiteren Kontakt gibt. Aber, die Alte hat mir geschrieben: Ich hatte
gehofft, nie etwas von dir zu hören, weil ich gehofft hatte, dass du in deiner Adoptivfamilie
verwurzelt bist . Gut, mit gutem Hintergrund. Aber sie hat mich einfach auch verdrängt.
19,32-48
Ehm – alle Achtung, dass sie net nach Holland gefahren is und mich abtreiben hat lassen mit
irgendwelchen, keine Ahnung, diffizilen Geschichten ... eh ... is wieder was anderes. Wenn
man die Kinder erst mal eine Zeit lang, ein paar Jahre, zehn Jahre, zwölf war die Älteste, bei
sich gehabt hat und, von heut auf morgen ... hat man keine Kinder mehr in dem Sinn, im
Alltag vorhanden, mit allen Freuden und Leiden und allem Stress und allem, was dazu gehört.
.. Das ist ein richtiger Schnitt!
Dann sein Leben noch mal neu zu sortieren mit, was weiß ich, wie alt war ich denn? Anfang
dreißig. Und net so genau zu wissen wohin, womit, ohne Schu... – nee, net ohne Schule, aber
ohne Ausbildungsabschluss ... Ehm, und die Kraft für clean Leben und noch Ausbildung
machen, die reicht ja mal gar net. Man kann ja froh sein, wenn es fürs Erste überhaupt reicht.
Selbst das ist immer fragwürdig bis zu Letzt. Das, ehm, kostet alles einen Haufen Kraft, einen
Haufen Energie. Und dann nix tun können. Und wenn’s den Kindern gut geht – soweit – dann
ist das für mich noch alles irgendwie erträglich. (kämpft mit den Tränen) 20,9-21
Emotionen bezüglich der Fremdunterbringung V
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Also, ich hab schwer gelitten all die Jahre, ehm, und immer
wieder gekämpft auch, die Kinder wieder zurückzubekommen .. , am Anfang überhaupt net
eingesehen, warum das net geht. Letztlich hab ich durch meine Rückfälle die Befürchtung von
Ämtern allgemein auch nur wieder bestätigt, hab ich also auch nix dafür beigetragen, da mal
ein anderes Bild zu schaffen. Es gibt auch kein anderes Bild. Ne Tatsache is es einfach, dass,
weiß ich net, über 90, 95 % aller Süchtigen immer wieder Rückfälle bauen, auch wenn sie
noch so oft Therapie machen. Und wenn man das irgendwann schafft, auf lange Sicht oder gar
für immer, ohne diese Suchtmittel zu leben, dann ist man eine der wenigen Ausnahmen. ......
21,3-11
Da kann man nur (lacht kurz auf) an dem dünnen Hoffnungsfaden sich festhalten, zu sagen,
vielleicht bin ich bei den, weiß ich net, vier, fünf Prozent, vielleicht kann ich, ich kann es
schaffen, das ist nicht unmöglich, ja! Es ist nicht unmöglich, und ich versuch das weiter und
21,44-46
Verhältnis zum Kind I
und hab von da aus mir dann ne eigene Wohnung gesucht, ne große Wohnung gesucht, mit
drei Kinderzimmern, weil ich meine Töchter so schnell als möglich wieder zu mir holen
wollte. Und dann hat das Jugendamt aber überhaupt nicht mitgespielt, kein Stück. Ich hab ne
Wohnung gesucht, zwei Fußminuten von meinen, von den Pflegeeltern, wo meine Kinder
lebten, die beiden Jüngeren. Die durften mich nicht mal besuchen. Einmal war meine ältere
Tochter mal mit deren Tochter für wenige Minuten bei mir. Die standen vor der Tür, und ich
würde keine von meinen Töchtern vor der Tür stehen lassen, wenn sie rein will. Und dann
gab’s einen Riesen-Ärger hinterher. Also, die durften dann überhaupt net mehr kommen.
1,41-48
Bis dahin hatte ich wenig Kontakt, schon Kontakt, aber wenig zu meinen Töchtern. 2,20
... Ich hab mich immer da drum bemüht, wieder mehr Kontakt zu meinen Töchtern zu haben,
und ein Jahr später durfte ich dann die jüngste Tochter aus der Pflegefamilie, wo beide
zusammen waren, abholen. Das war an meinem Geburtstag. Und die mittlere, die noch da
war, die sollte dann am Schluss des Schuljahres, in den Sommerferien, wechseln. 2,24-27
Ich bin ausgezogen mit Sack und Pack mit meinen ganzen Möbeln und meiner jüngsten
Tochter zu meinen Eltern, was ich eigentlich hätte dem Jugendamt melden müssen. Die war
im Ganztagskindergarten, und ich hab die sofort dort auch angemeldet, aber es ging alles
Knall auf Fall. Und dann hab ich nur zwei, drei Wochen bei meinen Eltern wieder gelebt mit
meiner Tochter, hab das aber auch da net gebacken gekriegt, aufzuhören zu koksen, bin also
zwischenzeitlich dann immer wieder nach Heidelberg, nach Mannheim gefahren, stundenlang
weg, das Kind meinen Eltern aufs Auge gedrückt. Die haben das dann spitz gekriegt. Dann,
als ich wusste, als sie mir gesacht haben, dass sie wussten, was da schon wieder los war, bin
ich geflüchtet, hab mein Kind genommen, und bin wieder zu ihm gefahren, in unsere
ehemalige, gemeinsame Wohnung. Da waren nur noch wenig Möbel drin, nur noch die
Hälfte. Und dann hab ich mit meinem Kind da campiert. Das hat drei Tage gedauert, und dann
wusste ich morgens, es klingelte sehr früh an der Tür, wusste ich: 2,33-44
Den wollten se grad in die Nachsorge stecken und mich noch eineinhalb Jahre da behalten mit
der Aussicht aber, meine kleinste Tochter zu mir zu holen. 3,38-39
Also, ganz wichtig ist es auch für uns, gemeinsam mit dem Kind auch Therapie zu machen,
weil das bei ihm auch teilweise auch die Sucht begünstigt hat, wenn er dann hilflos war und
gar net wusste, wie geht ich jetzt mit dem Kind um. Die Kinder haben ja auch einiges
mitgemacht im Vorfeld. Damals, grad die Jüngste war recht schwierig auch als Kleinkind.
Und dann hab ich das gemerkt, dass ihm das längst eigentlich schon an der Hutschnur stand.
Und dass es halt auch, ja, wichtig war für die gemeinsame Zukunft mit meinen Kindern auch
gemeinsam in der Therapie, das zu üben. 4,17-23
ich hab kein Problem, mit meinen Kindern umzugehen. 4,25
Verhältnis zum Kind II
Und da war’s wieder um. Und so geht das jetzt eigentlich schon die ganzen Jahre bis jetzt
dieses Jahr bzw. letztes Jahr, wo, wo, ja, wo’s halt auch ganz knallhart war zu sagen: Ja und
die Kinder zwischendrin! Ich hab die Kontakte bis auf eins, zwei vielleicht Ausnahmen, zu
der Zeit, wo ich so ganz völlig fertig war, regelmäßig, wie vereinbart mit dem Jugendamt
immer eingehalten. Ich hab regelmäßig Briefe geschrieben. Ich hab mich zurückgehalten. Ich
hab bis vor einem halben Jahr nicht gewusst, wo meine jüngste Tochter überhaupt lebt. Alles
übers Jugendamt die Briefe, alle zwei Monate einen. Meine mittlere Tochter hat ne viel
größere Hemmschwelle mir gegenüber wie die Kleine. Bei der war, wir haben uns gesehen,
nach zwei drei Minuten war sofort jeder Bann gebrochen. Alles war eigentlich wie immer, ein
sehr entspanntes Verhältnis.
Und die Mittlere, die hab ich jetzt .. seit .. na ja, einmal gesehen, seit zweieinhalb, ne, seit ich
die Sonja abgeholt hab 2000, seit drei Jahren. 5,1-12
Aber Regina hat ne große Hemmschwelle, und ich hab jetzt zweimal in drei Jahren von ihr
Post gekriegt. Obwohl sie in Hessen wohnt und ich zich mal, ich hab in Hessen gewohnt
5,22-23
Jetzt macht die Mittlere Probleme und hat Stress mit der Pflegemutter. Kann ich persönlich
gar net ... na ja gut. Sie muss mit ihr leben, und es gibt immer wieder heftigste Reibereien.
Und da kam vor kurzem das Jugendamt, ja, die will ins Heim, die will da raus. Und da hab ich
ihr zugeredet – ich weiß, sie is in ‘ner guten Pflegefamilie, wirklich – alles bestens, voll
integriert mit Freunden, mit Pflegegeschwistern, die verstehen sich gut die Kids – natürlich
gibt’s da mal was. Dann hab ich der so zugeredet und hab gesagt: Anette, bleib da. Du hast
nicht die Ahnung, was dich im Heim erwartet. 7,18-24
Wobei ich niemals eins meiner Kinder misshandelt habe, ne! Ich bin wohl ausgerastet und hab
mal einen Stuhl zerdeppert in der Wohnung, da steh ich auch zu! Ich hab auch mal ein
Spielzeugauto zertreten oder ich hab auch mal irgendwas an die Wand geworfen. Aber ich
habe nie meine Kinder misshandeln. Aber solche Sachen – ich wäre mit dem Messer auf die
Kinder losgegangen! Dass ich mit ’nem Messer ins Kinderzimmer gelaufen bin, weil ich vor
meinem Mann weggelaufen bin und mich da einschließen wollte, das glaubte mir ja keiner.
Ich geh auf meine Kinder los – also (lacht kurz auf), das ist absolut das Letzte. 8,34-41
Eh, ja ... und dadurch, dass die Kleine so lange, die war bei mir, also ursprünglich, dann bei
der Pflegefamilie, dann kurz ein paar Monate bei mir, dann hat’s Jugendamt die geholt, dann
is sie in die Übergangspflegefamilie, wo sie fast ein Jahr und neun Monate war. Und von da
kam sie dann in die Pflegefamilie, wo sie jetzt ist. Dass das Mädchen dort erst mal zur Ruhe
kommen musste, sich einleben musste – das hab ich eingesehen. Dass da net ständig wieder
8,44-48
Verhältnis zum Kind III
das Gefühl, die Mama will mich wieder abholen, und wie wird es dann werden? Oder darf ich
jetzt hier bleiben? Will ich überhaupt hier bleiben? – was in so ’nem Kind mit, wie alt is se
jetzt, jetzt is se zehn, da war se so acht, noch keine neun, als sie dahin kam. Dann hieß es, ich
soll sie erst mal ein halbes Jahr ganz in Ruhe lassen und nur, weiß gar net mehr, erst mal gar
net und dann nachher schreiben. Und nach ’nem halben Jahr könnten wir dann Kontakte
anknüpfen. Aus dem halben Jahr sind drei Jahre geworden. Ja. So. Drei Jahre hab ich die
nicht gesehen, ja? Und das, wie gesagt, dass das für ne gewisse Zeit notwendig war, nur in
bestimmten Abständen Briefkontakt zu haben. Einfach, damit das Kind sieht, ich kann mich
bei dem bisschen aber auf meine Mama verlassen. Das hab ich alles eingesehen, aber drei
Jahre waren mir reichlich zu viel. Eigentlich schon! Und das, meine Beziehung jetzt zur
Sonja, so, ich denke mal, die ne..., Beziehung .. werden jetzt häufiger, aber wenn sie erst mal
vielleicht irgendwann mal in den Ferien für ne Woche oder für zwei am Stück da sein darf –
ich glaub, dann wird es so sein, als wäre sie gar net weg gewesen, obwohl sie erst fünf war,
wo sie weggekommen ist, und jetzt schon zehn is. Das is einfach, wir verstehen uns einfach
super gut. Man merkt, da ist keine Hemmung zueinander. Und vielleicht wäre das auch etwas
früher gegangen. Aber .....
das Gefühl, die Mama will mich wieder abholen, und wie wird es dann werden? Oder darf ich
jetzt hier bleiben? Will ich überhaupt hier bleiben? – was in so ’nem Kind mit, wie alt is se
jetzt, jetzt is se zehn, da war se so acht, noch keine neun, als sie dahin kam. Dann hieß es, ich
soll sie erst mal ein halbes Jahr ganz in Ruhe lassen und nur, weiß gar net mehr, erst mal gar
net und dann nachher schreiben. Und nach ’nem halben Jahr könnten wir dann Kontakte
anknüpfen. Aus dem halben Jahr sind drei Jahre geworden. Ja. So. Drei Jahre hab ich die
nicht gesehen, ja? Und das, wie gesagt, dass das für ne gewisse Zeit notwendig war, nur in
bestimmten Abständen Briefkontakt zu haben. Einfach, damit das Kind sieht, ich kann mich
bei dem bisschen aber auf meine Mama verlassen. Das hab ich alles eingesehen, aber drei
Jahre waren mir reichlich zu viel. Eigentlich schon! Und das, meine Beziehung jetzt zur
Sonja, so, ich denke mal, die ne..., Beziehung .. werden jetzt häufiger, aber wenn sie erst mal
vielleicht irgendwann mal in den Ferien für ne Woche oder für zwei am Stück da sein darf –
ich glaub, dann wird es so sein, als wäre sie gar net weg gewesen, obwohl sie erst fünf war,
wo sie weggekommen ist, und jetzt schon zehn is. Das is einfach, wir verstehen uns einfach
super gut. Man merkt, da ist keine Hemmung zueinander. Und vielleicht wäre das auch etwas
früher gegangen. Aber .....
Ich hab auch versucht, gegen alle meine Gefühle in den Jahren zu denken, hoffentlich haben
die vom Jugendamt mit der oder der Maßnahme oder nicht sehen, nicht treffen, kein Kontakt
– wenn’s dem Kind ja wirklich nützt, wenn’s ja wirklich gut is, dann halt ich das auch aus. Ich
will das Beste für meine Kinder. Und wenn das jetzt eben das Beste ist, dann muss ich eben
durch. Ich hab ja auch den Scheiß gebaut. Hauptsache denen geht’s gut. Und Sonja geht’s
jetzt gut. Ja. Und .. (holt tief Luft)
Sie hat z. B. bis zu unserem ersten persönlichen Treffen ziemlich in der Schule
Schulschwierigkeiten gehabt, soziale Schwierigkeiten in der Schule gehabt mit anderen
Kindern und zu Hause bei den Pflegeeltern. Und seit nach dem ersten Treffen geht’s ihr
besser, ja. Wobei ich ihr auch gesagt hab vor Augen und Ohren des Jugendamts und der
Pflegefamilie, dass es für mich in Ordnung ist, dass sie da lebt, dass ich froh bin, dass sie so
ne nette Pflegefamilie hat und dass sie da bleiben darf, so lange wie sie möchte. Dass ich
schon gerne mehr Kontakt zu ihr haben möchte, aber das ihr überlasse und alle diese
Freiräume gebe. Ehm, zum einen denke ich, dass es für sie ganz wichtig ist zu wissen: Ich
kann jetzt hier bleiben. 9,1-31
Verhältnis zum Kind IV
Wenn die Sonja den Wunsch hat, ihre Großeltern ab und zu zu sehen und da Kontakt zu
haben, dann soll sie ihn doch haben. Ich möchte nur net, dass schlecht über mich geredet
wird, aber das, weil’s dem Kind wieder schadet. Ansonsten reden die das ganze Jahr über
mich schlecht, das ist mir egal, wenn’s meine Kinder net belangt. (Hustet) 10,5-9
Und erst mal muss man von einem zum anderen Mal kucken, wie geht’s dem Kind damit?
Wünscht es sich vielleicht ne Stunde länger oder ist es ihm vielleicht schon zu viel? 10,16-17
Beim Abschied sagte sie: Oh, mir wär am liebsten,... weil ich ihr erzählt hab, dass wir jetzt
eine eigene Wohnung auch suchen und so. Mir wär am liebsten, das wär doch schön, wenn
wir alle zusammen in einem Haus wohnen könnten- (redet voller Euphorie weiter) du und der
Daniel und die Pflegeeltern und meine Pflegebrüder und ich und all die Hunde, die haben
auch zwei so Hunde wie die Chipsy so was in der Art! Und (,,,) ja aber wenigstens in einem
Ort. Da sag ich: Nee das geht nicht, aber wir können uns jetzt erst mal regelmäßig sehen, und
wenn das alles gut klappt, und wenn es dir dabei gut geht, dann darfst du nächstes Jahr auch
irgendwann mal ein Wochenende bleiben. Und so, dann wird das schon mehr, wenn du das
möchtest. 10,26-34
Das sind Glaubensansichten, aber wenn man die da so sehr auf die Kinder projiziert und dann
uäh, der böse Daniel und Ehebrecher und Sünde und Tod und Teufel und so ein übertriebener
Kram, dann ist das für das Kind net so erträglich. Wenn die Großeltern väterlicherseits und
die Schwestern vom Vater alle in einem Ort wohnen und alle auf meine Tochter einreden, die
Mutter sei eine Hexe und weiß der Geier was net alles. Und dann wurde erzählt, wir hätten
einen Raubüberfall gemacht und, 11,19-24
Und damit muss dann ein Kind leben vor den anderen Schulkindern. Wie steht es denn da,
wenn man ... ah ... so’n – also, ich kann es net verstehen, wie man seinem Kind oder irgend
’nem Kind so was antun kann. So schlecht zu reden über die Eltern z. B., egal, was auch der
Vater oder die Mutter, was die getan haben. Ich weiß, dass ein Kind immer die Eltern lieb hat
und sowieso schon zerrissen ist durch diese ganze Situation. Da muss man net von außen rum
noch drauf treten und das Leben noch schwerer machen. 11,28-34
Natürlich gibt’s mal Problem hier, Probleme gibt’s ja immer, ne? Und damit müssen se auch
lernen im Leben umzugehen. Sie sollen wissen und das auch immer stärker, auch glauben
können, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten für sie da sein werde und will. Dass das
aber auch begrenzt ist, was ich auch zur Anette gesagt habe, wo sie sagte, ich will da weg aus
der Pflegefamilie, dann geh ich lieber ins Heim. Sage ich: Anette, ich muss dir eins sagen, du
kannst nicht bei mir leben. Ich würde ja gerne, am liebsten dich gerade mitnehmen, aber das
wäre für dich nicht gut, für mich vielleicht auch nicht. Und noch mal die Sache mit ´nem
Rückfall, vielleicht aus Überforderung oder vielleicht das, das willst du nicht, das will ich
nich, und bleib wo du bist, reiß dich zusammen mit deiner Pflegemutter, seh zu, dass ihr
irgendeine Ebene findet. 13,33-42
wenn du frei hast und Lust hast, dann kannst du zur Pflegefamilie fahren, kannst mich mal
besuchen oder kannst einfach bleiben wo de bist, wo de Bock hast. Aber bis dahin bleibst du
da. 13,46-48
Verhältnis zum Kind V
Und dass so was für Kinder sehr wichtig ist, das hab ich da dran einfach gemerkt, wie sehr es
ihr ermangelt. Und die Kinder immer wieder neu rausreißen und neu auch unter Freunde
bringen. Je älter sie werden, desto schwerer wird das. Je jünger die Kinder sind, desto mehr
ergibt sich das im Laufe der Zeit. Und allein deshalb .. find ich das o. k., dass Sonja da bleibt,
wo sie ist und dort ihren Lebensmittelpunkt mit ihren ganzen Freunden findet. 14,33-37
Es sind jetzt fast sechs Jahr, dass die Kinder weg sind und – mit kurzer Unterbrechung mit
Sonja, und ich hab, mir ist auch klar, dass ich raus bin, raus aus dem Alltag mit Kindern, ich
müsste mein ganzes Leben komplett umstellen, 15,3-5
Und was ich meinen Kindern auf keinen Fall zumuten will, ist ne Mutter, die wieder
rückfällig ist und die leben bei ihr, müssen vielleicht wieder weg oder wer weiß, was dann
alles .. ja? Ne rückfällige Mutter, die morgens tot mit ’ner Überdosis irgendwo liegt – nein!
Will ich net! ... Also von daher gesehen ist es für die Kinder auf jeden Fall das Beste, und ich
bin dann damit auch net überfordert. Ja? Letztlich wär’s für alle nur schädlich, wenn’s
schlecht laufen würde. 15,20-25
B: Ja. Auf jeden Fall. Also dass ... ich denke z. B. dass in Bezug auf Anette, wo der Kontakt
sehr sporadisch ist... Ich hab sie sehr enttäuscht mit dem Rückfall, wo schon alles geplant war
mit der Schulanmeldung und alles. Und da wollte sie erst mal nicht. Da hab ich sie sehr
enttäuscht, und letztlich denke ich aber nicht, dass es gut war für sie und schon gar nicht für
unsere Beziehung zueinander, dass da nach ’ner gewissen Zeit kein Kontakt hergestellt
wurde. Ich glaube, es wäre besser gewesen, zu sagen, net nach drei Jahren, sondern vielleicht
nach einem Jahr, ... 15,40-46
Letztes Jahr zu Weihnachten kam der erste Brief seit drei Jahren. Da war ich in Therapie und
vielleicht auch deshalb, aber auch, weil sie damals auch schon Stress hatte mit der
Pflegemutter. Da schreibt sie mir dann plötzlich Briefe. Ist ja auch o. k. soweit. Und ich
möchte auch net, dass die Kinder ’n ganzen Tag nur beschäftigt sind mit meine leibliche
Mama, was macht ’n die jetzt – die sollen ihr Leben leben – ehm, aber diese blöde
Hemmschwelle, wo dann Beziehungen vielleicht besser hätten unterstützt werden können, das
hätt ich schon ganz gut gefunden – o. k., es hieß immer, sie will dich nicht sehen. Aber
warum? Weiß ich net, ob sie jemals gefragt wurde, warum eigentlich, ja? Klar, die
Enttäuschung – klar. Und dann nach ’ner Zeit – da war aber schon die Hemmschwelle
aufgebaut ... Und ich glaub, dass es gut gewesen wäre für sie, das Ganze zu durchbrechen und
nicht immer nur von meinen zweimonatigen Briefen, da kann ich viel drin schreiben erzählen
und ansonsten nur Negatives über mich zu hören aus dem Ort, wo sie wohnt, weil da die
ganze Ex-Verwandtschaft so, ja? Das hat sie mit Sicherheit ängstlich gemacht, was stimmt da
überhaupt: Ist die Mama so schlecht, wie die alle erzählen? Ist das wahr, ist das wahr, ist das
wahr? Am liebsten will ich gar net an die denken. Am liebsten will ich gar nix von der wissen.
Ich will die aus meinem Leben streichen. ... Und als ich sie jetzt das erste Mal beim
Hilfeplangespräch auf’m Jugendamt getroffen hab, ehm, sie hat erst mal nur unter sich
gekuckt und in ihrer Tasche irgendwas rumgenestelt. Sie hat überhaupt net geschafft, mich
anzuschauen, später dann nachher ja, vor der Tür, vor dem Gespräch, sie war völlig aus dem
Häuschen. Und hinterher hatten wir Gelegenheit, zwei, drei Minuten alleine miteinander zu
reden. Da hab ich ihr noch mal gut zugeredet, dass sie doch da bleiben soll in der
Pflegefamilie und sich dort arrangieren soll.
Durch den persönlichen Kontakt, der da stattgefunden hat bei dem Hilfeplangespräch, dass da
’ne ganze Menge von dieser Hemmschwelle gefallen ist. Dass es für Anette richtig schwer
war, hab ich auch gemerkt. Und ... ehm ... während dem Gespräch beim Jugendamt fing sie
dann sogar auch an zu weinen, 16,4-29
Verhältnis zum Kind VI
wo hinterher die Frau Feldmann dann auch zu mir gesagt hat,
das hätte sie noch nie erlebt bei Anette. Sie war immer so ganz kalt, abgeklärt (,,,) und bloß
keine Gefühle! Und .. ehm ... hinterher wo wir kurz alleine waren, da hab ich dann gefragt, ob
ich sie zum Abschied mal umarmen darf. Ja , klar und ich hab ihr gut zugeredet.
Und jetzt krieg ich, gut ich hab ihr geschrieben, und sie soll mir mal ihre Weihnachtswünsche
mitteilen. Das hab ich jedes Jahr gemacht und nie Antwort gekriegt. Und dieses Jahr kam
dann diese Postkarte, wo drauf steht, wenn wir uns wieder sehen, als Gutschein, dann werden
wir uns erst mal richtig drücken und solche Sachen, tausend Neuigkeiten und Spaß und so
was. Und auch was sie schreibt ..ehm .. ja. Da ist dann ein Stück weit schon ’ne
Hemmschwelle gefallen. Ich glaube, die hätte so groß gar net werden müssen. ... Denk ich
mal, weil da gab es gar net so diese Gründe wie jetzt bei Sonja 16,29-39
Da kann ich sagen: Sonja und Anette, ach na ja! Das wird schon werden. Die sind
einigermaßen .. 20,33-34
Wenn da jetzt während der Pubertät nicht noch irgendwas ganz anderes dazwischen kommt
(hustet) ehm vielleicht .... denk ich mal, wenn man zu nix anderem gut ist, kann man immer
noch als abschreckendes Beispiel dienen. Und da hoffe ich doch für meine Kinder, dass die
die Finger von den Drogen lassen. Ja! 20,37-40
Vielleicht hat das so abschreckend gewirkt, dass sie wirklich die Finger von lassen. Und dann
wäre das ganze Elend wenigstens zu etwas gut. 20,46-47
Verhältnis zu Pflegeeltern I
Und was halt auch, was ich jetzt erst so erfahren hab, was mir bewusst geworden ist, wie
wichtig das ist, für ein Pflegekind, dass sich die Pflegeeltern und die leiblichen Eltern oder in
dem Fall ich als Mutter, dass man sich da versteht und an einem Strang zieht. Und ich sage
nicht mehr komplizierter, wie es sowieso schon ist, dass da für so ein Kind ne riesen Last weg
ist, das Gefühl hab ich jetzt bei Sonja – also, mir waren die Pflegeeltern von ihr sofort super
sympathisch. Ich hab gedacht: Oh, da hat se ja richtig nette Leute gefunden – klasse! Ja und,
wirklich, die Frau vom Jugendamt hat sich super Mühe gemacht, dann auch lange gesucht
nach der geeigneten Pflegefamilie, und die hat sie effektiv gefunden, bin ich sicher. Und
hinterher hat sie wohl zu ihrer Pflegemutter gesagt, dass sie das ganz toll findet. Sie hätte ja
den Eindruck gehabt, wir wären fast wie Freundinnen, wobei wir uns ja fast das erste Mal
gesehen haben, nur wenig miteinander .. aber ... Da merk ich auch dieses Entgegenkommen
der Pflegeltern, wie wichtig das dann wieder ist, das Kind net vor den leiblichen Eltern
abzuschotten, sondern mit dieser Vergangenheit und den Personen, die vielleicht auch später
noch dazugehören, einfach auch umzugehen sich lohnt oder (...) 9,31-44
B: (...) oder sich die Mühe machen mit umzugehen. Sie waren jetzt mit der Sonja bei den
Großeltern väterlicherseits. Und es hat erst ein bisschen gedauert, bis das bei mir dann so, bis
sie sich getraut haben, mir das zu sagen. Aber ich find das o. k.! 10,1-3
Und, ehm, da macht sich diese Pflegefamilie super viel Mühe, fährt bis nach Hessen, um die
Großeltern zu besuchen. Sie haben mich jetzt das erste Mal zu sich letzte Woche eingeladen
gehabt, und jetzt treffen wir uns jeden Monat mal. Dann haben wir gesagt, wir versuchen das
einmal im Monat das hinzukriegen. Wenn’s mal nach drei Wochen ist und einmal in fünf
Wochen, wir kucken halt, wie wir das organisiert kriegen. 10,10-14
? Dass man da individuell immer wieder neu kucken muss. Und zum andern auch, wie kann
man das auch praktisch organisieren – jeder hat sein eigenes Leben. Da ne Familie und da
was. Das muss ja auch zeitlich, da kann man sich schwer so festlegen: Ich will aber das Kind
jede zweite Woche von Freitagabend sechs bis Sonntagabend sechs haben – egal, was da
kommt! Und jetzt: Oh, wir kriegen das schon hin, wir sprechen uns dann ab, und dann treffen
wir uns dann hier und mal da, wir können ja mal auf’n Weihnachtsmarkt gehen oder wir
können mal hier zu Besuch gehen. Ach, das kriegen wir schon. Und da merkt das Kind, da ist
kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander. (,,,) 10,17-25
Und das vermiss ich bei Anette sehr, dass dort halt die Initiative der Pflegeeltern null war, die
Anette mal dazu aufzufordern, oder mal anzuhalten, ich will net sagen zureden oder irgendwie
belabern, das mein ich net, aber das ist auch eine christliche Familie, und ich weiß, die Anette
hat’s dort gut, da passiert nix, da is alles wunderbar und so. Aber, wenn dann vor Ohren so
eines damals zehnjährigen Kindes ständig darüber geredet wird, in welcher Sünde ich denn
lebe, weil ich noch verheiratet mit nem anderen Mann was hab. 10,43-48
. Es fällt mir leichter, das so auch für mich mit meinen Gefühlen hin zu nehmen, seit ich die
Pflegeeltern kenne, die mir sehr sympathisch sind. Ich hab da vorher schon vertraut, dass das
gute Leute sind, auch wenn man sich persönlich net kennt. Und ich find das einfach so klasse,
und dass sie auch als Pflegeeltern offen sind und sagen: Ja, wenn es der Sonja damit gut geht,
dann kann sie öfter mal am Wochenende kommen, dann kann sie in den Ferien kommen.
Dann wird sie immer älter, und irgendwann kann sie vielleicht sagen, weiß ich net, in zwei,
drei Jahren, wenn sie möchte: Ich fahr jedes zweite Wochenende zu meiner Mama nach
Speyer, und ich fahr in den Sommerferien vier Wochen mit der in Urlaub oder so irgend was.
Dass sie damit leben lernt, sie hat ‘ne Pflegefamilie, wo sie Mama, Papa sagt, wo sie, aber da
gibt’s eben noch mehr Bezugspersonen, ohne dass man sich gegenseitig im Weg ist und
bekämpft. Dass sie da wirklich ganz locker merkt, alle gehen hiermit gut um, 14,37-48
Verhältnis zu Pflegeeltern II
Und Anette ist seit der Trennung von meinem Mann bei der Pflegefamilie, wo sie heute
immer noch ist, und es hätte alles sehr viel einfacher laufen können. ... Ja. Und ich denke auch
die Pflegefamilie – da bin ich ein bisschen echt enttäuscht. Das waren gute, gute Freunde. Die
Pflegemutter von Anette ist die Patentante von der Sonja, und da hab ich mir eigentlich mehr
Unterstützung erhofft, in der Richtung von Kontakten zu den Kindern. Von Anfang an wurde
da abgeblockt. Und das fand ich richtig, also das finde ich heute noch richtig schlecht...
16,41-47
Und die Zusammenarbeit ist glaube ich unter allen drei Beteiligten ganz wichtig. Wobei ich
fast meine (holt tief Luft), wenn ich jetzt das Verhältnis seh zu den Pflegeeltern von Sonja
und zu mir und dann das Jugendamt, ob das jetzt, die Frau war, sehr sympathisch, sehr locker
– man hat auch gemerkt, wie locker das jetzt zwischen uns geht. Aber selbst wenn das jetzt
ein ganz anderer Typus Mensch wär, vielleicht noch eine vom alten Schlag, so ganz strait
oder irgendwas. Die sagt: Wir müssen aber das festlegen, an welchem Wochenende, an
welchem Samstag, Sonntag und von wann bis wann. Dann hätten wir bestimmt alle gesagt: Ja,
ja is gut. Und hätten uns da trotzdem abgesprochen, wie es uns dann passt. Und hätten dann
zum Jugendamt gesagt, es läuft alles prima, wie abgesprochen. Und wenn man dann ein
bisschen variiert, das interessiert das Jugendamt doch gar net. Das müsste es ja gar net
interessieren, wenn es im Sinne des Kindes ja gut läuft. Also, ich glaube fast, dass das sogar
noch wichtiger is, die Zusammenarbeit zwischen Pflegeeltern und abgebenden Eltern, wobei
das Jugendamt natürlich sehr, sehr hilfreich sein kann, dass oder jenes zu unterstützen oder
auch abzuwenden. Und das Jugendamt hat auch keine leichte Position. Sie müssen abwägen,
im Sinne des Kindes, was ist das Beste? ... Und dann steht da ein Kind, was net richtig weiß,
was es will, wie sich’s fühlt, was es sagen soll. Wenn dann auch noch Eltern gegen
Pflegeeltern an verschiedenen Strängen ziehen oder Vater und Mutter ziehen an verschiedenen Strängen, die Pflegeeltern noch mal an ’nem anderen, dann steht’s Jugendamt dazwischen
und muss auch überlegen: Was mach ich ’n jetzt, da lebt aber das Kind, 17,30-48
B: ... mmmh .. Wünsche: Ich würde mir wünschen, dass sich die Pflegeeltern, vielleicht auch
ohne das Wissen der Kinder, des Kindes überhaupt ab und zu mal gemeldet hätten oder
melden würden. Einfach mal anrufen, abends um neun, wenn die Kinder im Bett sind, mal
sagen: Hallo, ich wollt mal Bescheid sagen, bei uns ist soweit alles klar, oder da ist das und
das vorgefallen und das und das vorgefallen. Ohne jetzt da einen riesen Problemhaufen, die
Alltagsprobleme aufzutischen, so, das fände ich z. B. mal ganz toll. Ne? Da weiß ich, wie’s
bei mir ist. 18,24-30
Auf der anderen Seite dann aber sagen: Wenn das so weiter geht, können wir die Anette net
länger behalten, das ist zu viel Stress. Dann steht die Anette da und dann sagt die Mama: Du
kannst aber auch net bei mir leben, seh zu, dass de das da durchziehst jetzt. (Holt tief Luft)
Das ist dann auch ein total doofes Gefühl. Es wär viel einfacher, wenn da auch mal von
Pflegeelternseite mal ganz sporadisch, aber irgendwann mal ein Anruf käme, um zu sagen:
Hier, wir wollten uns mal melden, haben gedacht, wir sagen dir mal Bescheid, was gerade bei
uns so abgeht und dass de dir keine Sorgen machen musst. Da kommt ja rein gar nichts, ne!
Ich erwarte dann auch keine permanenten Geschichten, ne! Aber das könnt ich mir z. B.
vorstellen, dass das vielleicht mal mit den Pflegeeltern von Sonja, vielleicht mal so sein
könnte. Dass die irgendwann mal anrufen und sagen: Hier, pass mal auf, da is das und das
gewesen. Und falls Sonja sich meldet z. B. und das und das sagt oder mal anruft und hinterher
ging’s ihr net so gut. Dass das net alles übers Jugendamt oder über 125 Ecken laufen muss,
bis man mal irgendwas erfährt ... 19,12-23
Verhältnis zu Pflegeeltern III
B: Ja, und ich glaube auch, dass das für viele abgebenden Eltern zutreffen würde. Es gibt mal
vielleicht auch welche, die sagen: Aus den Augen, aus dem Sinn, die Kinder, ich versuch das
zu verdrängen und gar net dran zu denken! Und ich will gar keinen Anruf von irgendwelchen
Pflegeeltern haben. Wobei ich net verstehen kann, dass man was gegen die Pflegeeltern , was
dagegen hat. Man hat ja selbst, irgendwie hat man’s ja verbockt 19,27-31
Enttäuschungen ,Versagen von sozialstaatlichen Einrichtungen I
Und dann hat das Jugendamt aber überhaupt nicht mitgespielt, kein Stück. Ich hab ne
Wohnung gesucht, zwei Fußminuten von meinen, von den Pflegeeltern, wo meine Kinder
lebten, die beiden Jüngeren. Die durften mich nicht mal besuchen. Einmal war meine ältere
Tochter mal mit deren Tochter für wenige Minuten bei mir. Die standen vor der Tür, und ich
würde keine von meinen Töchtern vor der Tür stehen lassen, wenn sie rein will. Und dann
gab’s einen Riesen-Ärger hinterher. Also, die durften dann überhaupt net mehr kommen.
1,42-48
Aber es war besprochen, dass wir gesteigert auch Paargespräche haben sollten. Ist meiner
Meinung nach super wichtig! Hatten wir in der Therapie, hat uns so gut getan. Alles nichts!
Ja. Und dann kam das ... er hat dann zugegeben, dass er mehrmals nachts auch bei mir war,
dass wir schon lange überhaupt 3,45-48
Und dann stand nachher drin, ich hätte Daniel meiner Tochter vorgezogen. 4,13
Und dann hieß es, nee, is net. Und dann war klar, das Ganze hat für uns gar keinen Sinn,
4,24-25
Aber therapeutisch ist da nichts passiert. Nichts! 4,41-42
das ist lächerlich. Das Jugendamt lässt mich net meine Kinder sehen oder bei mir haben. Ist
auch gerechtfertigt mit ’ner drogenabhängigen Mutter – das schmäler ich jetzt net! Aber das
gleiche Gericht peilt das überhaupt net und gibt mir die Betreuung für meine Mutter, samt
ihrer Konten, und ich bin schon wieder, na ja, es war ja alles überhaupt net lustig. 5,29-32
Em, aber bei mir hat damals zu dieser Zeit, da hat’s Jugendamt gesagt: Ja, jetzt werden Sie
erst mal ein paar Monate stabil, beweisen Se mal, dass Se clean sind. Und da hatte ich
Drogenscreenings beim Arzt, hab die selbst bezahlt, hab die Kopien von diesen CleanScheinen immer schön dem Jugendamt in Waldheim hingeschickt. Und nach sechs Monaten
kriegst du gesagt: Das nützt uns gar nix, Sie können ja, wenn .. ja müssten Sie ja, müssten wir
Sie ja bestellen – Sie können ja hingehen, wann Sie wollen. Und da hab ich beim Gericht
angerufen und hab gesagt: Bitte, bitte, bitte bestellt mich doch zu Screanings, wann ihr das
wollt. Nö, wollen wir nicht, wir wollen jetzt sehen, dass Sie stabil sind und auch dann bla –
über Jahre! 6,22-30
Nein, nein, nein. Und Sie kriegen die jetzt trotzdem net wieder. Sie müssen jetzt mal mindesten
zwei, drei Jahre, und dann war’s um. Dann war ich wieder drauf. ... Ne? Also, das fand ich
damals am meisten scheiße und muss auch heute noch sagen: Das hat meinen Rückfall,
meinen ersten Rückfall nach dieser Trennung extrem begünstigt. Wenn ich da gewusst hätte,
in drei Monaten, oder vielleicht auch nur in sechs Monaten kann ich meine Kinder wieder
haben, wenn ich weiter clean bin, wenn ich das weiter so nachweise. Oder sie sagen: Ein Jahr
ziehen Sie jetzt durch. Dann machen Se ‘ne Haarprobe – wenn die wirklich total sauber ist,
dann kriegen Sie Ihre Kinder zurück. Dann – nichts. So nach hinten offen Larifari – seh Du
mal zu, reiß Dir mal den Arsch auf bis Deine Kinder groß sind. 6,34-43
Enttäuschungen ,Versagen von sozialstaatlichen Einrichtungen II
Und da muss ich sagen, was ich im Jugendamt – ich hab sehr viel Jugendamt-Mitarbeiter
kennen gelernt (zündet sich eine Zigarette an), sehr krasse Unterschiede. Manche sind, ja,
eigentlich alles in der Vergangenheit, manche sind mir so schräg gekommen. Eine hat mal
gesagt: Es wär doch besser für ihre Kinder gewesen, Sie hätten sie abgetrieben! Da ging es da
drum, dass irgendeine ... Schwester 7,24-28
und da ist diese andere Frau vom Jugendamt, die ist total ausgerastet und brüllt mich an: Und
ihre Kinder, es wäre besser, Sie hätten se abtreiben lassen – als hätt die mir das zu sagen!
Zum Beispiel – das war so einer der Sprüche. Oder andere teilweise, die Namen weiß ich teils
net, is auch egal, hier vom Jugendamt Hesselstadt. Da war eine, ehm, oder zwei ... die sooo,
die haben mich sooo von oben herab, so missachtend behandelt – ah – egal, was ich da gesagt
habe – was bist’n Du, der letzte Dreck! Und dann kam da mal so – da hab ich gesessen, nach
dem Therapieabbruch bin ich zum Jugendamt hin, hab gesagt, so 7,42-48
und so, hier bin ich, und ich hab die Therapie abgebrochen, und ich will jetzt das und das und
das versuchen ... Und da hat sie gesagt – ich wäre völlig emotionslos, ich wäre ein eiskalter
Mensch, ich hätte völlig emotionslos da gesessen. Dass ich bei ‘ner Frau vom Jugendamt, die
ich schon vorher kannte, und wir waren uns gewiss nie sympathisch, dass ich mich da hin
setze und .. was soll ich ‘n da für Emotionen zeigen, wenn ich mich da melde und sage so und
so, ich bin wieder hier, ich stell mich hier der Situation, (...) 8,1-7
B: (...) dann muss ich mir noch so ‘ne Abfuhr erteilen lassen! 8,10
Ich hab gesagt: Mein Mann hat mich geschlagen – ich hab was weiß ich wie viele ärztliche
Atteste gehabt. Meine Eltern haben dafür, wie heißt das? – eine eidesstattliche Erklärung
abgegeben, dass die das gesehen, gehört, miterlebt haben, wie mein Mann mich auf schwerste
Art misshandelt hat. Und man wird immer noch hingestellt als Lügnerin – das kann doch
eigentlich alles gar net so schlimm gewesen sein! ... 8,23-27
Natürlich müssen so Ämter vorsichtig sein, was jeder erzählt. Es kann jeder viel erzählen.
Aber in dem Fall konnte ich das dann doch net mehr nachvollziehen ... Es ging soweit, dass
meiner ältesten Tochter eingeredet wurde, ich hätte sie misshandelt! 8,31-34
und letztlich denke ich aber nicht, dass es gut war für sie und schon gar nicht für unsere
Beziehung zueinander, dass da nach ’ner gewissen Zeit kein Kontakt hergestellt wurde. Ich
glaube, es wäre besser gewesen, zu sagen, net nach drei Jahren, sondern vielleicht nach einem
Jahr, ... vom Jugendamt vielleicht zu sagen: Wir sind der Meinung, es wäre jetzt gut, du
würdest mal bei uns hier in geschütztem Rahmen deine Mutter mal treffen, dich mal mit ihr
besprechen, vielleicht auch aussprechen. Weil diese Distanz, diese Hemmschwelle,
die da mit den Jahren immer größer geworden ist von ihr, die fängt jetzt an zu bröckeln,
nachdem wir uns das erste Mal gesehen haben. Jetzt auf einmal kommt eine sehr persönliche
Postkarte. 15,43-48 u. 16,1-3
Enttäuschungen ,Versagen von sozialstaatlichen Einrichtungen III
ehm, aber diese blöde Hemmschwelle, wo dann Beziehungen vielleicht besser hätten
unterstützt werden können, das hätt ich schon ganz gut gefunden – o. k., es hieß immer, sie
will dich nicht sehen. Aber warum? Weiß ich net, ob sie jemals gefragt wurde, warum
eigentlich, ja? Klar, die Enttäuschung – klar. Und dann nach ’ner Zeit – da war aber schon die
Hemmschwelle aufgebaut ... Und ich glaub, dass es gut gewesen wäre für sie, das Ganze zu
durchbrechen und nicht immer nur von meinen zweimonatigen Briefen, da kann ich viel drin
schreiben erzählen und ansonsten nur Negatives über mich zu hören aus dem Ort, wo sie
wohnt, weil da die ganze Ex-Verwandtschaft so, ja? Das hat sie mit Sicherheit ängstlich
gemacht 16,8-16
Ich glaube, die hätte so groß gar net werden müssen. ... Denk ich mal, weil da gab es gar net
so diese Gründe wie jetzt bei Sonja – zur Mutter, in die Übergangspflegefamilie, wieder ’ne
neue – jo, und das Mädchen war erst sechs oder sieben und schon (,,,) 16,38-41
..., anfangs war das noch in der Hand vom Jugendamt Waldheim. Und die haben auch immer
noch irgendwie mit meiner ältesten Tochter mit Jugendhilfe, obwohl die 18 ist zu tun. Und
Gott sei Dank meldet sich keiner da bei mir, Gott sei Dank. Also, dieses – da hab ich nur
schlechte Erfahrungen gemacht. Schon vor Abgabe der Kinder bin ich zusammen mit meinem
Ex-Mann zum Jugendamt, und wir haben von Reginas Problemen auch erzählt, wir haben nix
erzählt von unserer Drogengeschichte, klar. Solange das alles noch son ’schönes Mäntelchen
drüber is ... ehm ... also nur über Reginas Probleme. Und wir haben das Jugendamt um Hilfe
gebeten, und da hat sich dann nix bewegt. Und als die Kinder dann weg waren und alles offen
da lag, da hat’s Jugendamt auf uns rum gehackt. Na klasse! Das fand ich sooo – damals auch
im Vorfeld, da hätte vielleicht was passieren könne an Hilfe, net warten bis ’s Kind in den
Brunnen gefallen is und, o. k., die Eltern sind in dem Fall die, die es vermasselt haben, ganz
klar, is kein Thema. Aber dann am Ende nur drauf rum zu hacken macht die Situation ja auch
net mehr besser. Und vom Jugendamt Wetzlar, da kann ich, nee, es is für die Zuständigen dort
auch schwierig! Was will es Jugendamt machen, wenn die Pflegeeltern sagen: Das Kind will
nicht! Da kann’s Jugendamt auch net mit’m Brecheisen hingehen und sagen, es muss jetzt
aber! Und dann ist so ne Pflegefamilie, eh Pflegeeltern, die haben bestimmt auch zu Recht
eine ganz andere Glaubwürdigkeit. Da kann so ne abgestürzte Mutter oder Vater, die die
Kinder abgegeben oder weggenommen haben kriegt, die haben ja lang net diese
Glaubwürdigkeit. Denen wird erst mal grundsätzlich Unglaubwürdigkeit und Lügen
zugetraut, Unfähigkeit und, na ja, Wahrheitsverdrehung und alles Mögliche ... Und, ja, ... is
aber net gut, und da gibt’s nur noch mehr Probleme hier in der Familie. Das können wir auch
net gebrauchen. Da kann’s Jugendamt dann auch net viel machen. 17,7-29
Positive Erfahrungen mit sozialstaatlichen Einrichtungen I
Und der ist heut mein Betreuer, den hab ich mir freiwillig dann zum Betreuer machen lassen,
um mich ein bisschen vor mir selbst zu schützen, um meine Finanzen mit dem geerbten Haus
meinen Kindern zu regeln und auch als vertrauensvoller Ansprechpartner in sonst wie jeder
Situation. Also, da ist ein Vertrauensverhältnis da. Dadurch, dass der für meine Mutter
zwangsweise zuständig geworden ist, und er hat uns in der ersten Zeit – ich weiß net, ohne ihn
hätten wir das so leicht net gebacken kriegt. Der hat mich nach Hasselborn gefahren – in die
Übergangseinrichtung, der hat uns in der Therapie in (,,) abgeholt und hier nach Speyer
gefahren und uns hier jetzt schon zweimal danach besucht. Er is weit weg, in Hessen, aber ich
brauche niemand, der jeden Tag kuckt, ob ich auch meine Zähne geputzt hab oder so, ja! Er
hat die ganzen Finanzgeschichten mit dem Haus in Hessen, mit den Jugendämtern, dann die
ganzen unangenehmen Finanzsachen, die mich nur runterziehen, die hält er mir schön vom
Hals. 5,37-48
Und wenn ich Probleme hab, kann ich mich auch an ihn wenden. 6,1
Wetzlar z. B. jetzt mit der Frau Feldmann, die hab ich gesehen, zwei drei Sätze gewechselt
hab und hab gedacht: Gott sei Dank, endlich mal ein herzlicher, ein netter Mensch, mit dem
man umgehen kann – natürlich für’s Kind, net für mich, is ja es Jugendamt! Aber, ehm, wo
einfach net diese Ablehnung zu spüren war, und die ist wahrscheinlich auch net da bei der
Frau Feldmann, denke ich. Und so hab ich dann jetzt hier im Jugendamt Heidelberg auch ne
sehr nette Frau jetzt gehabt, und das ist jetzt halb rum am Jugendamt mit der kleinsten
Tochter, weil die dort in der Gegend wohnt. Und die zuständige Frau hab ich jetzt einmal
kennen gelernt beim Gespräch vor zwei Wochen, heute vor ’ner Woche war ich da das erste
Mal. Und die is auch super nett, super sympathisch, unkompliziert. Wo man so das Gefühl
hat, o.k., man ist süchtig, man bleibt ja immer süchtig, auch wenn man gerade mal clean is,
man is süchtig und wird deshalb net in die Kategorie Assi, Abschaum, unwert – da kann man
drauf rumtrampeln, wie man gerade will gesteckt oder, egal was man sagt, das wird ja
sowieso net geglaubt. 8,10-23
Die Große hat alles mitgekriegt .. und, ehm, da is einer ihrer Therapeuten, den sie in der
Jugendeinrichtung hatte, der hat es mal geschafft, im Einzelgespräch mit mir, beim Besuch,
mich wirklich zu nehmen und neben mich zu stellen, dass ich die Situation, in der ich bin und
in der Regina is und was dann ihren Vater auch betrifft auch in Bezug auf ihren Vater sich
belangt – da konnt ich wirklich mal aus Sicht von einem Außenstehenden, also der Mann war
die Wucht! Die Wucht. Also selten so einen guten Therapeuten erlebt, wo ich wirklich in der
Lage war, das als Außenstehende mal für eine gewisse Zeit zu sehen und dadurch begriffen
hab, ganz egal, was zwischen mir und meinem Exmann gelaufen is oder was zwischen Regina
und ihrem Vater gelaufen is! Nicht das als Tabuthema zu erklären, sondern mich aber aus
diesem, aus diesem .... Kampf, ich zieh dich auf meine Seite oder red schlecht über deinen
Vater und er versucht, dich auf seine Seite zu ziehen, indem er schlecht über mich redet – ich
hab’s immer versucht, aber manchmal ist mir einfach auch – die Regina ist dann auch ... sie
hat schwerste Borderline-Störungen mit – in Richtung Schizophrenie mit ..... alles Mögliche –
schwerste Borderline-Diagnose. Mit Wahnvorstellungen teilweise, mit Gewaltausbrüchen ...
Aber danach ist es mir sehr viel leichter geglückt, mich da einfach komplett raus zu nehmen,
zu sagen. Ich ... manchmal habe ich zu ihr einfach gesagt: Du, ich möchte net über das Thema
reden, weil, wenn ich daran denke, geht es mir gar net gut. Und da hab ich halt auch viel dazu
gelernt und ihr einfach auch zu sagen: Nein! Will ich nix von hören. Will ich net drüber reden.
Aber net, weil du mir auf’n Wecker gehst, sondern weil es mir damit net gut geht. Und
deswegen is es net tabu, sie hat mal das und das erzählt, und sobald ich aber gemerkt hab, bei
mir gehen innen alle Gefühle kochen dann wieder hoch, dann kann ich das auch abbrechen,
um es ihr net noch schwerer zu machen. 12,1-23
Positive Erfahrungen mit sozialstaatlichen Einrichtungen II
Dann is es ganz wichtig zu wissen, was kann ich denn dagegen tun? Auch praktisch, ne? Das
haben wir in dem letzten Jahr Therapie dann gehabt, ehm, Suchtprophylaxe – zu kucken, wo
dran, wie merke ich, dass sich das vielleicht langsam wieder anbahnt, tief im Inneren,
gefühlsmäßig, ja! Wenn ich stabil bin, kann einer kommen, mir auf der Straße oder sonst wie
was anbieten. Dann sag ich: Du, will ich net, un tschüss! Aber wenn ich schwach bin, dann
fahr ich auch nach Düsseldorf, nach Bayern, ja? Das is aber mal gar kein Problem! Um dann
zu kucken, wie fängt das an und wo kann ich Anker werfen, wo kann ich rechtzeitig mir Hilfe
holen, bevor es wieder zu spät is. 22,12-20
siehe auch Verhältnis zu Pflegeeltern 1 / 9,37-39
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I: Frau Schultze, Ihre drei Kinder leben in einer Pflegefamilie bzw. so, wie ich es jetzt
verstanden habe, zwei in der Pflegefamilie, die andere, älteste Tochter ist ja in anderen
Jugendhilfemaßnahmen untergebracht. Können Sie mir erzählen, wie es zu der
Fremdunterbringung kam und vor allem auch wie Sie mit der Situation leben können?
B: Ja, es kam zu der Unterbringung bei Pflegeeltern durch den Umstand, dass ich in einer
sehr zerrütteten Ehe gelebt hab mit den Kindern, dass ich jahrelang versucht hab, aus dieser
Ehe raus zu kommen, zu flüchten, teils mit und teils ohne Kinder und letztlich aber im
extremen Hörigkeitsverhältnis aufgrund von Gewalt und Todesangst war, dass ich immer
wieder auch zurück bin zu meinem Exmann. Je älter die Kinder wurden, besonders bei der
Ältesten, hat er dann seine Gewaltausbrüche nicht nur gegen mich, sondern auch gegen sie
gerichtet – eigentlich fast ausschließlich gegen die Älteste und gegen mich. Und das
Mädchen war dann irgendwann so fertig mit den Nerven, dass sie sagte. Ich will raus aus der
Familie. Und ich hab ihr gut zugeredet, dass sie sich in der Schule ihrer Vertrauenslehrerin
anvertraut. Und darauf hin wurde sie auch vom Jugendamt abgeholt und erst mal ins Heim
gebracht.
Es gibt aber noch einen anderen Hintergrund in dieser zerrütteten Ehe. Und zwar waren wir
beide, mein Exmann und ich, jahrelang drogenfrei und clean. Irgendwann hielt ich diese
ganze psychische Situation mit Gewalt und Anschreien und Angst machen net mehr aus, hab
mir vom Arzt Psychopharmaka verordnen lassen und war letztlich tablettenabhängig mit
jeder Menge auch an Blackouts. Er hat wieder angefangen mit Heroin, wo er früher schon
mal lange Jahre auch für im Gefängnis war, na ja, auf jeden Fall abhängig war. Das hat mir
wiederum nicht gepasst. Und irgendwann kam es dann dazu, dass er mir Kokain, dass ich
das dann auch konsumiert hab. Ich hatte das vorher nicht wirklich probiert. Ich wollt schon
auch mal – na ja – probier ich das halt mal. Aber ich habe früher auch mal, na ja, bis ich 18
war mal kurzzeitig mit Heroin, mit Fixen zu tun gehabt. Und nach drei Tagen
Kokainschnupfen war ich wieder an der Nadel – päng! Also war ich März ’99 effektiv auf
Kokain, und zwar permanent, seit ungefähr drei Monaten, also länger war die Spanne dann
auch nicht. Ich war völlig fertig, völlig abgemagert auf 43 Kilo. Meine älteste Tochter war
Mitte März schon vom Jugendamt ins Heim gebracht worden. Die wussten aber nix über
Drogengeschichten.
Und ... dann hab ich den nächsten Trennungsversuch gestartet von meinem Mann. Wusste
aber, mit Kindern, Frauenhäuser hatte ich alle schon durch in Hessen, und es funktioniert
net. Er stellt mir nach, er lässt mich net in Ruhe. Ich wollte erst mal drogenfrei selber
werden, wieder stabil werden und hab meine beiden jüngeren Töchter dann zu ner
Patenfamilie gebracht, bin selbst nach Hadamar gegangen zur Entgiftung und hab das
Jugendamt selbst informiert über die Tatsachen von Drogenabhängigkeit, von der Gewalt
des Vaters und diese ganze Geschichte. (,,,) So! Also, so kam das dazu.
Dann hab ich ‘ne kurzzeitige Entgiftung gemacht, hab anschließend, bin dann anschließend
von der Entgiftung direkt zu meinen Eltern und hab von da aus mir dann ne eigene Wohnung
gesucht, ne große Wohnung gesucht, mit drei Kinderzimmern, weil ich meine Töchter so
schnell als möglich wieder zu mir holen wollte. Und dann hat das Jugendamt aber überhaupt
nicht mitgespielt, kein Stück. Ich hab ne Wohnung gesucht, zwei Fußminuten von meinen,
von den Pflegeeltern, wo meine Kinder lebten, die beiden Jüngeren. Die durften mich nicht
mal besuchen. Einmal war meine ältere Tochter mal mit deren Tochter für wenige Minuten
bei mir. Die standen vor der Tür, und ich würde keine von meinen Töchtern vor der Tür
stehen lassen, wenn sie rein will. Und dann gab’s einen Riesen-Ärger hinterher. Also, die
durften dann überhaupt net mehr kommen.
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Dann hab ich meinen .., Daniel, wieder getroffen, wir hatten uns jahrelang nicht gesehen.
Wir hatten während meiner Ehezeit für drei Wochen mal ein kurzes Verhältnis, haben uns
aber dann wieder getrennt, auch weil er damals wieder rückfällig war und hatten uns
jahrelang nicht gesehen, sind uns dann unerwartet und ungeplant wieder begegnet. Und da
war sofort klar, wir bleiben jetzt zusammen. Das wäre mir damals schon am liebsten
gewesen. Gut, damals ging das nicht. Dann wussten wir, jetzt bleiben wir zusammen. Dann
hatten wir, er hat in Heidelberg gewohnt, so ein paar Monate so ne Hin-und-HerWochenend-Beziehung geführt, und haben gesagt, wir gehen das jetzt langsam an. Ich
komme frisch aus der Trennung, und ich hab wirklich ein Päckchen auch mitgebracht und
dann die Kinder. Und nachdem ich dann aber auch gemerkt hab: ich sitz hier in meiner 90m2-Wohnung ohne Kinder und hab auch keine Chance, die wiederzukriegen, und eigentlich
will ich auch hier weg, wo meine Heimatgegend ist, wo mein schlechter Ruf mir vorauseilt,
wo meine Ex-Schwiegereltern leben, wo mein Exmann nachts mit laufendem Motor und
lauter Musik vor der Tür steht, unten an die Tür klopft und klingelt, mich tyrannisiert. Ich
zieh jetzt weg. Dann hab ich die Wohnung aufgegeben und bin kurzerhand nach Heidelberg
gezogen, zu Daniel. Erst noch in eine WG für drei Wochen, dann zu Daniel, und dann haben
wir uns ne gemeinsame Wohnung gesucht. Und er war damals auch schon drei Jahre clean,
und ich war ja dann auch schon, na ja, ein paar Wochen. Und das ganze ging neun Monate
gut, und da haben wir gemeinsam en Rückfall gebaut mit Kokain.
Bis dahin hatte ich wenig Kontakt, schon Kontakt, aber wenig zu meinen Töchtern. Die
Älteste war zu der Zeit schon in der Psychiatrie eingeliefert worden, das war im Spätherbst
’99, so oder noch später, ist ja auch egal, neun Monate, das muss noch später, nee, dann
war’s Frühjahr 2000, so war’s. Und, jetzt hab ich den Faden verloren, auch gut.
... Ich hab mich immer da drum bemüht, wieder mehr Kontakt zu meinen Töchtern zu haben,
und ein Jahr später durfte ich dann die jüngste Tochter aus der Pflegefamilie, wo beide
zusammen waren, abholen. Das war an meinem Geburtstag. Und die mittlere, die noch da
war, die sollte dann am Schluss des Schuljahres, in den Sommerferien, wechseln. Was aber
keiner wusste war, dass wir schon wieder rückfällig waren. Wir haben auch gedacht, damals,
wir schaffen das, wir kriegen das wieder unter die Füße, und wenn erst mal die Kinder da
sind – man hat sich selbst was vorgemacht. Und es hat net funktioniert. .. Dann gab es
zwischen uns Stress, auch wegen Drogen, und das war einfach alles zu viel. Dann hab ich
mich von Daniel wieder getrennt, das hat aber nur sehr kurz gehalten.
Ich bin ausgezogen mit Sack und Pack mit meinen ganzen Möbeln und meiner jüngsten
Tochter zu meinen Eltern, was ich eigentlich hätte dem Jugendamt melden müssen. Die war
im Ganztagskindergarten, und ich hab die sofort dort auch angemeldet, aber es ging alles
Knall auf Fall. Und dann hab ich nur zwei, drei Wochen bei meinen Eltern wieder gelebt mit
meiner Tochter, hab das aber auch da net gebacken gekriegt, aufzuhören zu koksen, bin also
zwischenzeitlich dann immer wieder nach Heidelberg, nach Mannheim gefahren,
stundenlang weg, das Kind meinen Eltern aufs Auge gedrückt. Die haben das dann spitz
gekriegt. Dann, als ich wusste, als sie mir gesacht haben, dass sie wussten, was da schon
wieder los war, bin ich geflüchtet, hab mein Kind genommen, und bin wieder zu ihm
gefahren, in unsere ehemalige, gemeinsame Wohnung. Da waren nur noch wenig Möbel
drin, nur noch die Hälfte. Und dann hab ich mit meinem Kind da campiert. Das hat drei Tage
gedauert, und dann wusste ich morgens, es klingelte sehr früh an der Tür, wusste ich: Jetzt
kommt’s Jugendamt und holt mein Kind wieder ab... Das ... war einer der schlimmsten Tage
(Stimme wird schwächer, weint) in meinem Leben.
I: Das kann ich mir vorstellen.
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B: .... Vorher hatte ich Hoffnungen, dass es doch alles klappt. An dem Tag hab ich gewusst,
ich hab verloren. Na ja. Gut. Wie auch immer. Die Wochen danach bin ich total abgerutscht.
Ich hab nur noch gekokst und, mir war dann auch alles egal. Ob ich erwischt werde, ob ich
verhaftet werde, ob ich ins Gefängnis komm oder – der Daniel hat mich dann mal von der
Straßenbahn weggezogen. Oder auf der Drogenszene war Razzia, alle sind weggelaufen, ich
bin sitzen geblieben. Es war mir wirklich egal. Na ja gut. Das ging aber dann auch nur
wieder, ich weiß net, zwei Monate .... Und dann haben wir gesagt: Mensch, wir waren so
glücklich ohne Drogen, wir verstehen uns so super gut. Das ist ne Schande, wie wir unsere
Beziehung hier kaputt machen. Da is ja dann auch, da kommt ja auch viel dazu, was
zusätzlich ne Beziehung belastet, wenn net kaputt macht. So Geldbeschaffungsgeschichten,
von kriminellen Sachen und was da eben noch so alles auf dem Geldbeschaffungsplan von
Drogenabhängigen is, ne? Und das is mit Kokain noch viel, viel härter wie mit Heroin. Man
kann zwar eins zwei Tage locker aussitzen und bekommt ja keine Entzugserscheinungen
körperlich, aber der psychische Suchtdruck, der is mit Heroin überhaupt net zu vergleichen.
Auf jeden Fall habe ich auch alles dafür getan. Ich hätte meine tote Großmutter dreimal
gleichzeitig verkauft, das war mir egal, um nur wieder an Geld zu kommen.
Und nach drei Monaten war Schluss. Dann haben wir uns um Therapie gemüht, sind aber
auch, sagen wir mal, beide mit christlicher Einstellung, trotz unserer ganzen Sucht und
unserem ganzen Mist, den wir gemacht haben, im Prinzip gläubige Menschen. Wir wollten
gerne in eine christliche Einrichtung. Es war uns klar, ich war noch nicht geschieden,
geschweige denn, dass wir verheiratet waren. Es war uns klar, dass keine christliche
Einrichtung uns zusammen ein Zimmer geben würde. Dann haben wir gesagt: Okay, das ist
jetzt alles net so wichtig. Wir sind zu allem bereit, aber wir wollen da raus. Dann sind wir in
eine christliche Therapie, nachdem wir sechs Wochen in der Entgiftung in Wiesloch
gesessen haben, die war sehr gut. Sind wir hin. Er ins Haus der Männer, ich ins Haus der
Frauen, zehn, zwölf Kilometer voneinander entfernt. Erst mal sechs Wochen lang gar keinen
Kontakt, und dann woll’n wir mal sehen, dann könnt ihr euch mal schreiben. Und dann,
nach ner Zeit, könnt ihr mal telefonieren. Aus den sechs Wochen wurden zwölf Wochen
ohne, offiziell, ohne Kontakt. Nach sechs Wochen hatten wir schon die Schnauze voll, haben
Mittel und Wege gefunden, uns Briefchen heimlich zuzuschreiben. Und was am Ende dann
war, dass Daniel dann nachts 12 km mit dem Fahrrad gekommen is und einfach zu mir rein,
bei mir ins Zimmer. Na ja gut, das kam dann hinterher alles raus, dass dann irgendwann auch
das durch war. Auf jeden Fall nach 13 Wochen haben die uns endgültig eröffnet, sie könnten
das für uns überhaupt nicht so sehen, jeder müsste für sich Therapie machen. Und bei Daniel
wüssten sie eigentlich gar nicht, warum der überhaupt Therapie machen sollte, da gäbs doch
gar nix zu therapieren – er war hochgradig süchtig – klasse! Also, ja! Und ich bräuchte
mindestens eineinhalb Jahre. Den wollten se grad in die Nachsorge stecken und mich noch
eineinhalb Jahre da behalten mit der Aussicht aber, meine kleinste Tochter zu mir zu holen.
Und dann stand ne schwere Entscheidung an, wo das Jugendamt dann auch sich mit
Sicherheit bei jedem die Nackenhaare gesträubt haben oder was die Therapeutin, die hat
doch einen Abschlussbericht über mich geschrieben – unter aller Sau. An dem Tag, wo die
uns das offenbart haben, Daniel dort, mir da, hat Daniel gesagt: Hier, ich hab die Schnauze
voll. Wir lieben uns, wir verstehen uns gut, wir haben keine Paarprobleme, überhaupt nix,
und wir verzichten auf Sex, ich bleib hier und sie bleibt da ... Aber es war besprochen, dass
wir gesteigert auch Paargespräche haben sollten. Ist meiner Meinung nach super wichtig!
Hatten wir in der Therapie, hat uns so gut getan. Alles nichts! Ja. Und dann kam das ... er hat
dann zugegeben, dass er mehrmals nachts auch bei mir war, dass wir schon lange überhaupt
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Kontakt haben. Und dann haben sie mir das gesagt und das hab ich auch .. nö, nö! Ich hab
gedacht, die ziehen sich das aus’m Ärmel und wollen uns nur ... die wissen’s nicht wirklich,
sie vermuten es nur. Dass er also wirklich gesagt hat, also ich hab dann bis zuletzt gelogen,
Stein und Bein, das ist nicht wahr. Aber er hatte das wirklich längst zugegeben. Und dann
haben sie mir gesagt, ich hab jetzt eine Stunde Zeit, mir das zu überlegen: entweder ganz
kleine Brötchen backen und da bleiben und Daniel kommt ganz in eine andere – ach, und
dann haben sie mir erzählt, er wollte Therapie für sich alleine machen, in ne ganz andere
Einrichtung, er wolle gar net, dass ich wüsste wohin. Dann hab ich gesagt: Bitte, lasst mich
jetzt mit ihm telefonieren – das will ich aus seinem Mund hören! Das glaub ich net. Das war
voll gelogen. Und das aus dem Mund vom Leiter einer christlichen Einrichtung. Soviel dazu.
Ich bin dann etwas rumrotiert eine Stunde lang, und da stand der Daniel mit dem Taxi vor
der Tür. Da hab ich meine Koffer gepackt, und dann sind wir gegangen.
Und dann stand nachher drin, ich hätte Daniel meiner Tochter vorgezogen. Was wir wollten
und was ganz wichtig gewesen wäre: Daniel hat keine eigenen Kinder und Daniel wollte
eigentlich auch nie welche. Und ich hab ihm von Anfang an gesagt, er kannte, er ist
Patenonkel von der Kleinsten. Also wir kennen uns schon seit die Sonja noch in meinem
Bauch war. Also, ganz wichtig ist es auch für uns, gemeinsam mit dem Kind auch Therapie
zu machen, weil das bei ihm auch teilweise auch die Sucht begünstigt hat, wenn er dann
hilflos war und gar net wusste, wie geht ich jetzt mit dem Kind um. Die Kinder haben ja
auch einiges mitgemacht im Vorfeld. Damals, grad die Jüngste war recht schwierig auch als
Kleinkind. Und dann hab ich das gemerkt, dass ihm das längst eigentlich schon an der
Hutschnur stand. Und dass es halt auch, ja, wichtig war für die gemeinsame Zukunft mit
meinen Kindern auch gemeinsam in der Therapie, das zu üben. Langsam steigernde
Tendenz. Und dann hieß es, nee, is net. Und dann war klar, das Ganze hat für uns gar keinen
Sinn, ich hab kein Problem, mit meinen Kindern umzugehen. Na ja gut. Das war dann der
Therapieabbruch.
Dann sind wir zurück nach Heidelberg, ... Haben einige Wochen im Obdachlosenheim
verbracht, weil wir keine Wohnung hatten, von jetzt auf gleich, dann haben wir uns, na ja, ne
Miniwohnung gesucht, und haben gesagt, gut, wir versuchen das hier. Haben versucht, eine
ambulante Therapie anzuleiern, wollten das weitermachen. Ging aber net, weil wir keine
Arbeit hatten, hängt dann da dran. Also, ging dann auch net.
Dann haben wir gesagt, wir versuchen das, und sobald wir rückfällig werden, gehen wir nach
Bayern in eine Einrichtung, wo wir (,,) kannten, wo er schon mal war. Die nehmen ohne
Kostenzusage. Es ist eine katholisch-christliche, und da kann man einfach im Prinzip vor der
Tür stehen, die nehmen einen. Das hat drei Wochen gedauert, da sind wir nach Bayern
gefahren. Ah. Da waren wir dann ein halbes Jahr. Auch christlich – er im Männerhaus, ich
im Frauenhaus, aber die haben das dann letztlich net so ganz eng gesehen. Also, wir konnten
dann allein Fahrradtouren machen, spazieren gehen; wir haben uns gesehen jeden Tag, haben
miteinander geredet. Wenn wir eins, zweimal die Möglichkeit hatten, irgendwie allein
unterwegs zu sein, dann haben wir das genutzt, wenn net, dann war’s auch net so schlimm.
Wir waren zusammen. Das war das, was wir wollten. Aber therapeutisch ist da nichts
passiert. Nichts! Ja, also irgendwelche, in die Richtung von Sektiererei, schon auf
christlicher Basis, aber reichlich abgedreht, aber uns war das ja in dem Moment egal. Wir
waren clean, wir waren zusammen, und erst mal Abstand kriegen. Das war auch soweit ganz
gut. Das war die Therapie. Nach ’nem halben Jahr haben wir gesagt, es reicht uns hier, wir
suchen uns hier im Ort ne Wohnung. Und nach drei Wochen sind wir wieder rückfällig
geworden. Da sind wir von Bayern bis nach Düsseldorf gefahren, weil da wussten wir sofort,
da gibt’s ohne viel Sprechen, ohne viel Fragen, da gibt’s Kokain. ...
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Und da war’s wieder um. Und so geht das jetzt eigentlich schon die ganzen Jahre bis jetzt
dieses Jahr bzw. letztes Jahr, wo, wo, ja, wo’s halt auch ganz knallhart war zu sagen: Ja und
die Kinder zwischendrin! Ich hab die Kontakte bis auf eins, zwei vielleicht Ausnahmen, zu
der Zeit, wo ich so ganz völlig fertig war, regelmäßig, wie vereinbart mit dem Jugendamt
immer eingehalten. Ich hab regelmäßig Briefe geschrieben. Ich hab mich zurückgehalten. Ich
hab bis vor einem halben Jahr nicht gewusst, wo meine jüngste Tochter überhaupt lebt. Alles
übers Jugendamt die Briefe, alle zwei Monate einen. Meine mittlere Tochter hat ne viel
größere Hemmschwelle mir gegenüber wie die Kleine. Bei der war, wir haben uns gesehen,
nach zwei drei Minuten war sofort jeder Bann gebrochen. Alles war eigentlich wie immer,
ein sehr entspanntes Verhältnis.
Und die Mittlere, die hab ich jetzt .. seit .. na ja, einmal gesehen, seit zweieinhalb, ne, seit ich
die Sonja abgeholt hab 2000, seit drei Jahren. Beim letzten Hilfeplangespräch durfte ich
dann, beim vorletzten hätte ich kommen dürfen. Da war ich aber gerade von der
Drogentherapie hierher gefahren, am ersten oder zweiten Tag. Und da war ich nicht, da war
dann ihr Vater da. Da war ich froh, dass ich nicht da war. Letztes mal hab ich gesagt: So, und
jetzt bin ich soweit über diese Ex-Ehe hinweg, dass ich jetzt sagen kann, net nur, mir ist
meine Tochter wichtiger, ich hab weniger Angst vor ihm oder das Bedürfnis, meine Tochter
jetzt die Gelegenheit zu nutzen, sehen zu können, das ist jetzt größer wie die Angst vor ihm,
ihm zu begegnen. Trotzdem hab ich Daniel mitgenommen, bis vors Jugendamt, und der hat
auch davor gewartet bis ich wieder raus komm, obwohl der gar net da war der Ex, Gott sei
Dank!
Aber Regina hat ne große Hemmschwelle, und ich hab jetzt zweimal in drei Jahren von ihr
Post gekriegt. Obwohl sie in Hessen wohnt und ich zich mal, ich hab in Hessen gewohnt, ich
hab meine Eltern, meine Mutter gepflegt, meinen Vater gepflegt bis sie gestorben sind. Wir
sind ja von Heidelberg, nee von Bayern sind wir wieder nach Hessen gezogen, weil mein
Vater pflegebedürftig war. Na ja, natürlich waren wir wieder drauf. Aber es hat wieder mal
keiner gewusst. Ja, dann hab ich, dann wurde meine Mutter pflegebedürftig nach dem Tod
meines Vaters. Dann hab ich für sie, wie heißt das? .. die Betreuung gekriegt. Ich hab gesagt,
das ist lächerlich. Das Jugendamt lässt mich net meine Kinder sehen oder bei mir haben. Ist
auch gerechtfertigt mit ’ner drogenabhängigen Mutter – das schmäler ich jetzt net! Aber das
gleiche Gericht peilt das überhaupt net und gibt mir die Betreuung für meine Mutter, samt
ihrer Konten, und ich bin schon wieder, na ja, es war ja alles überhaupt net lustig. Nichts
desto trotz, ja gut, dann ist es passiert, dann hab ich mir ne Überdosis gesetzt und bin in der
Intensivstation gelegen. Und dann war auch Daniel nicht da, meine Mutter war ohne Hilfe zu
Hause, hat aber noch ne Mitbewohnerin unten im Haus. Die hat dann da was gepeilt. Auf
jeden Fall haben die ‘n Arzt gerufen, der Arzt hat die Welle gemacht, und da hat meine
Mutter einen gesetzlichen Betreuer gekriegt. Und der ist heut mein Betreuer, den hab ich mir
freiwillig dann zum Betreuer machen lassen, um mich ein bisschen vor mir selbst zu
schützen, um meine Finanzen mit dem geerbten Haus meinen Kindern zu regeln und auch
als vertrauensvoller Ansprechpartner in sonst wie jeder Situation. Also, da ist ein
Vertrauensverhältnis da. Dadurch, dass der für meine Mutter zwangsweise zuständig
geworden ist, und er hat uns in der ersten Zeit – ich weiß net, ohne ihn hätten wir das so
leicht net gebacken kriegt. Der hat mich nach Hasselborn gefahren – in die Übergangseinrichtung, der hat uns in der Therapie in (,,) abgeholt und hier nach S. gefahren und uns
hier jetzt schon zweimal danach besucht. Er is weit weg, in Hessen, aber ich brauche
niemand, der jeden Tag kuckt, ob ich auch meine Zähne geputzt hab oder so, ja! Er hat die
ganzen Finanzgeschichten mit dem Haus in Hessen, mit den Jugendämtern, dann die ganzen
unangenehmen Finanzsachen, die mich nur runterziehen, die hält er mir schön vom Hals.
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Und wenn ich Probleme hab, kann ich mich auch an ihn wenden. So is jetzt der Ablauf in der
Richtung. (holt tief Luft) Ja, da war ein Teil. ... Und jetzt?
Eh, wenn man mit Drogen zu tun hat, von hier nach da, von da nach dort, also, wir sind
glaube ich, es könnte jetzt das 14. oder 15. Mal sein, dass wir umziehen, seit wir beide
zusammen sind, seit ... noch keine sechs Jahre. Ich sach mal umziehen in dem Sinn von
andere Meldeadresse. Nicht bei jeder Therapie haben wir unsere Klamotten net alle
mitgenommen. Aber Meldeadressen haben wir mindestens 15 gehabt, jetzt in sechs Jahren.
Wie man dann so ein bisschen in der Gegend rumkommt viele auch andere Eltern, wo die
Kinder weg sind, mitkriegt . In meinem Fall ist es eigentlich letztlich die Sucht gewesen, die
das verursacht hat. Da weiß ich auch, wie sehr viele darunter leiden, dass es so ist, und aus
diesem Teufelskreis: ich bin sowieso süchtig, deswegen ist mein Kind weg, und weil mein
Kind weg ist und ich deswegen traurig bin und Schuldgefühle hab und alles Mögliche hab,
bin ich noch mehr süchtig, nehme ich noch mehr Drogen, Tabletten, Alkohol oder
irgendwas, damit ich das bloß net alles fühlen muss – und schon hat sich der Kreis
geschlossen. Der ist sehr eng. Und das war eigentlich auch das bei mir, ohne dass Sie mich
falsch verstehen. Als ich das erste Mal nach der Trennung von meinem Exmann zusammen
mit Daniel rückfällig geworden bin, ich hab mich total selbst überschätzt. Ich hab gedacht,
boah er ist schon sooo lange clean und ich jetzt neun Monate oder achteinhalb oder egal –
sooo lange. Und einmal können wir doch mal. Das ist ein riesen Irrtum, auf den jeder
Drogenabhängige zich mal reinfällt, bevor er dann immer wieder in das selbe Loch, bevor er
dann immer wieder merkt, dass es eben net geht.
Em, aber bei mir hat damals zu dieser Zeit, da hat’s Jugendamt gesagt: Ja, jetzt werden Sie
erst mal ein paar Monate stabil, beweisen Se mal, dass Se clean sind. Und da hatte ich
Drogenscreenings beim Arzt, hab die selbst bezahlt, hab die Kopien von diesen CleanScheinen immer schön dem Jugendamt in Waldheim hingeschickt. Und nach sechs Monaten
kriegst du gesagt: Das nützt uns gar nix, Sie können ja, wenn .. ja müssten Sie ja, müssten
wir Sie ja bestellen – Sie können ja hingehen, wann Sie wollen. Und da hab ich beim Gericht
angerufen und hab gesagt: Bitte, bitte, bitte bestellt mich doch zu Screanings, wann ihr das
wollt. Nö, wollen wir nicht, wir wollen jetzt sehen, dass Sie stabil sind und auch dann bla –
über Jahre! Und irgendwann war mir klar – ich seh meine Kinder die nächsten drei Jahre,
zumindest nicht, dass ich sie wieder zu mir bekomme ... und dann war’s halt auch ganz
schnell um. Kein .. gekämpft – ich hab ein halbes Jahr lang oder, ja, diese Zeit knüppelhart
gekämpft gegen mein Sucht ... und hab, ja, ich hab alles angeboten. Ich geb ‘ne Haarprobe
ab, dass die ganze Zeit gar nix gewesen ist und alles, ne? Nein, nein, nein. Und Sie kriegen
die jetzt trotzdem net wieder. Sie müssen jetzt mal mindesten zwei, drei Jahre, und dann
war’s um. Dann war ich wieder drauf. ... Ne? Also, das fand ich damals am meisten scheiße
und muss auch heute noch sagen: Das hat meinen Rückfall, meinen ersten Rückfall nach
dieser Trennung extrem begünstigt. Wenn ich da gewusst hätte, in drei Monaten, oder
vielleicht auch nur in sechs Monaten kann ich meine Kinder wieder haben, wenn ich weiter
clean bin, wenn ich das weiter so nachweise. Oder sie sagen: Ein Jahr ziehen Sie jetzt durch.
Dann machen Se ‘ne Haarprobe – wenn die wirklich total sauber ist, dann kriegen Sie Ihre
Kinder zurück. Dann – nichts. So nach hinten offen Larifari – seh Du mal zu, reiß Dir mal
den Arsch auf bis Deine Kinder groß sind. Und da hab ich mir irgendwann gedacht: Für was
brauch ich ’n clean sein, wenn ich meine Kinder net hab, ne? Dafür is ja Koksen viel zu
schön. Also, ne, is natürlich Quatsch! Aber irgendwie ...
I: Klar!
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B: ... zieht’s einen so runter. Und ich hab die ersten Monate literweise mir den Pulli voll
geheult, weil meine Kinder weg sind. Ich hab mir immer drei Töchter gewünscht. Alle drei
waren absolut gewollt, gewünscht, zumindest von mir. Und, ja, so hab ich mir mein Leben
net vorgestellt, dass ich mit 40 irgendwo sitze und keins mehr hab, beziehungsweise eins in
– na ja – und zwei bei Pflegefamilien.
I: Klar.
B: Nach diesem Rückfall, nach diesem ersten, war mir schon .. danach war mir klar: Wenn
ich jetzt meine Kinder haben will, kann ich net sagen, mit ‘nem halben Jahr oder mit ‘nem
Jahr, das reicht jetzt aus – ich hatte eben mein Feuerzeug (holt ihr Feuerzeug) – dass das
dann länger dauern würde. Aber nichts desto trotz hab ich mich da sehr lang dran
geklammert und bis zum Abbruch der Therapie, diese christliche, eigentlich auch immer
gehofft. Und mich wirklich damit abzufinden, die Kinder nicht mehr als Kinder in die
Familie zu bekommen, nie wieder, das tut immer noch weh (kurz vor’m Weinen). Aber,
ehm, dass ist jetzt irgendwie auch o.k. Aber das hat lang gedauert. Aber jetzt weiß ich, das is
um. Wobei, ja, ich denke, so is es um.
Jetzt macht die Mittlere Probleme und hat Stress mit der Pflegemutter. Kann ich persönlich
gar net ... na ja gut. Sie muss mit ihr leben, und es gibt immer wieder heftigste Reibereien.
Und da kam vor kurzem das Jugendamt, ja, die will ins Heim, die will da raus. Und da hab
ich ihr zugeredet – ich weiß, sie is in ‘ner guten Pflegefamilie, wirklich – alles bestens, voll
integriert mit Freunden, mit Pflegegeschwistern, die verstehen sich gut die Kids – natürlich
gibt’s da mal was. Dann hab ich der so zugeredet und hab gesagt: Anette, bleib da. Du hast
nicht die Ahnung, was dich im Heim erwartet. Und da muss ich sagen, was ich im Jugendamt
– ich hab sehr viel Jugendamt-Mitarbeiter kennen gelernt (zündet sich eine Zigarette an),
sehr krasse Unterschiede. Manche sind, ja, eigentlich alles in der Vergangenheit, manche
sind mir so schräg gekommen. Eine hat mal gesagt: Es wär doch besser für ihre Kinder
gewesen, Sie hätten sie abgetrieben! Da ging es da drum, dass irgendeine ... Schwester
meines Exmannes, die wollte eine meiner Töchter zu sich holen, aus er Pflegefamilie, wo die
heut noch ist, genau die. Und die Frau hat damals aus rein materiellen Gründen ‘ne
Abtreibung machen lassen. Der eine Sohn war damals zehn, und sie war ungewollt
schwanger von ihrem Mann, aber alles so weit Friede, Freude, Eierkuchen, Eltern, Kind,
alles, tolles Haus, die waren am Umbauen, und dann hätten sie sich die Mahagonitüren und
Decken net leisten können. Dann hätt sie aufhören müssen zu arbeiten, wenn sie noch mal
ein Baby kriegt. Und deswegen hat die Frau abtreiben lassen. Und es gibt für mich, wenn
überhaupt, für mich persönlich, nur einen Grund zu sagen, o.k, aus strengster medizinischer
Indikation. Vielleicht, gut, das kann ich, ja! Hätte ich akzeptiert, aber net für ne, für ne
scheiß Mahagonidecke. Da (Stimme stockt), ja! Und die wollte meine Tochter nehmen! Die
war noch jünger als ihre eigene. Die wäre jetzt so alt wie meine Älteste und noch vier Jahre
jünger. Und da hab ich auf’m Jugendamt gesagt: Eine Kindermörderin kriegt mein Kind nur
über meine Leiche! Würde ich alles für tun, dass die mein Kind nicht kriegt, die hat ihr
eigenes .. und da ist diese andere Frau vom Jugendamt, die ist total ausgerastet und brüllt
mich an: Und ihre Kinder, es wäre besser, Sie hätten se abtreiben lassen – als hätt die mir
das zu sagen! Zum Beispiel – das war so einer der Sprüche. Oder andere teilweise, die
Namen weiß ich teils net, is auch egal, hier vom Jugendamt Hesselstadt . Da war eine, ehm,
oder zwei ... die sooo, die haben mich sooo von oben herab, so missachtend behandelt – ah
– egal, was ich da gesagt habe – was bist’n Du, der letzte Dreck! Und dann kam da mal so –
da hab ich gesessen, nach dem Therapieabbruch bin ich zum Jugendamt hin, hab gesagt, so
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und so, hier bin ich, und ich hab die Therapie abgebrochen, und ich will jetzt das und das
und das versuchen ... Und da hat sie gesagt – ich wäre völlig emotionslos, ich wäre ein
eiskalter Mensch, ich hätte völlig emotionslos da gesessen. Dass ich bei ‘ner Frau vom
Jugendamt, die ich schon vorher kannte, und wir waren uns gewiss nie sympathisch, dass ich
mich da hin setze und .. was soll ich ‘n da für Emotionen zeigen, wenn ich mich da melde
und sage so und so, ich bin wieder hier, ich stell mich hier der Situation, (...)
I: Ja.
B: (...) dann muss ich mir noch so ‘ne Abfuhr erteilen lassen! Wobei ich im Jugendamt
Wittel . z. B. jetzt mit der Frau Feldmann, die hab ich gesehen, zwei drei Sätze gewechselt
hab und hab gedacht: Gott sei Dank, endlich mal ein herzlicher, ein netter Mensch, mit dem
man umgehen kann – natürlich für’s Kind, net für mich, is ja es Jugendamt! Aber, ehm, wo
einfach net diese Ablehnung zu spüren war, und die ist wahrscheinlich auch net da bei der
Frau Feldmann, denke ich. Und so hab ich dann jetzt hier im Jugendamt Hesselstadt auch ne
sehr nette Frau jetzt gehabt, und das ist jetzt halb rum am Jugendamt mit der kleinsten
Tochter, weil die dort in der Gegend wohnt. Und die zuständige Frau hab ich jetzt einmal
kennen gelernt beim Gespräch vor zwei Wochen, heute vor ’ner Woche war ich da das erste
Mal. Und die is auch super nett, super sympathisch, unkompliziert. Wo man so das Gefühl
hat, o.k., man ist süchtig, man bleibt ja immer süchtig, auch wenn man gerade mal clean is,
man is süchtig und wird deshalb net in die Kategorie Assi, Abschaum, unwert – da kann man
drauf rumtrampeln, wie man gerade will gesteckt oder, egal was man sagt, das wird ja
sowieso net geglaubt. Ich hab gesagt: Mein Mann hat mich geschlagen – ich hab was weiß
ich wie viele ärztliche Atteste gehabt. Meine Eltern haben dafür, wie heißt das? – eine
eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass die das gesehen, gehört, miterlebt haben, wie mein
Mann mich auf schwerste Art misshandelt hat. Und man wird immer noch hingestellt als
Lügnerin – das kann doch eigentlich alles gar net so schlimm gewesen sein! ...
Dann ... das ist eine ganz große Hilflosigkeit, die dann am Gefühl (,,,) Das ist die Wahrheit,
was soll ich jetzt noch sagen! Was soll ich noch sagen? Warum glaubt mir keiner? Ich hab
die Beweise. Die Gegenseite erzählt was anderes und dann das Gehändel hin und her und
was dann da alles an Gerüchten kam. Natürlich müssen so Ämter vorsichtig sein, was jeder
erzählt. Es kann jeder viel erzählen. Aber in dem Fall konnte ich das dann doch net mehr
nachvollziehen ... Es ging soweit, dass meiner ältesten Tochter eingeredet wurde, ich hätte
sie misshandelt! Wobei ich niemals eins meiner Kinder misshandelt habe, ne! Ich bin wohl
ausgerastet und hab mal einen Stuhl zerdeppert in der Wohnung, da steh ich auch zu! Ich hab
auch mal ein Spielzeugauto zertreten oder ich hab auch mal irgendwas an die Wand
geworfen. Aber ich habe nie meine Kinder misshandeln. Aber solche Sachen – ich wäre mit
dem Messer auf die Kinder losgegangen! Dass ich mit ’nem Messer ins Kinderzimmer
gelaufen bin, weil ich vor meinem Mann weggelaufen bin und mich da einschließen wollte,
das glaubte mir ja keiner. Ich geh auf meine Kinder los – also (lacht kurz auf), das ist absolut
das Letzte. Also, so Geschichten sind dann natürlich bei Jugendämtern angekommen. Und
dass das dann ein schlechtes Licht wirft, dass die dann hellhörig werden, vorsichtig werden,
kann ich auch verstehen.
Eh, ja ... und dadurch, dass die Kleine so lange, die war bei mir, also ursprünglich, dann bei
der Pflegefamilie, dann kurz ein paar Monate bei mir, dann hat’s Jugendamt die geholt, dann
is sie in die Übergangspflegefamilie, wo sie fast ein Jahr und neun Monate war. Und von da
kam sie dann in die Pflegefamilie, wo sie jetzt ist. Dass das Mädchen dort erst mal zur Ruhe
kommen musste, sich einleben musste – das hab ich eingesehen. Dass da net ständig wieder
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das Gefühl, die Mama will mich wieder abholen, und wie wird es dann werden? Oder darf
ich jetzt hier bleiben? Will ich überhaupt hier bleiben? – was in so ’nem Kind mit, wie alt is
se jetzt, jetzt is se zehn, da war se so acht, noch keine neun, als sie dahin kam. Dann hieß es,
ich soll sie erst mal ein halbes Jahr ganz in Ruhe lassen und nur, weiß gar net mehr, erst mal
gar net und dann nachher schreiben. Und nach ’nem halben Jahr könnten wir dann Kontakte
anknüpfen. Aus dem halben Jahr sind drei Jahre geworden. Ja. So. Drei Jahre hab ich die
nicht gesehen, ja? Und das, wie gesagt, dass das für ne gewisse Zeit notwendig war, nur in
bestimmten Abständen Briefkontakt zu haben. Einfach, damit das Kind sieht, ich kann mich
bei dem bisschen aber auf meine Mama verlassen. Das hab ich alles eingesehen, aber drei
Jahre waren mir reichlich zu viel. Eigentlich schon! Und das, meine Beziehung jetzt zur
Sonja, so, ich denke mal, die ne..., Beziehung .. werden jetzt häufiger, aber wenn sie erst mal
vielleicht irgendwann mal in den Ferien für ne Woche oder für zwei am Stück da sein darf –
ich glaub, dann wird es so sein, als wäre sie gar net weg gewesen, obwohl sie erst fünf war,
wo sie weggekommen ist, und jetzt schon zehn is. Das is einfach, wir verstehen uns einfach
super gut. Man merkt, da ist keine Hemmung zueinander. Und vielleicht wäre das auch
etwas früher gegangen. Aber .....
Ich hab auch versucht, gegen alle meine Gefühle in den Jahren zu denken, hoffentlich haben
die vom Jugendamt mit der oder der Maßnahme oder nicht sehen, nicht treffen, kein Kontakt
– wenn’s dem Kind ja wirklich nützt, wenn’s ja wirklich gut is, dann halt ich das auch aus.
Ich will das Beste für meine Kinder. Und wenn das jetzt eben das Beste ist, dann muss ich
eben durch. Ich hab ja auch den Scheiß gebaut. Hauptsache denen geht’s gut. Und Sonja
geht’s jetzt gut. Ja. Und .. (holt tief Luft)
Sie hat z. B. bis zu unserem ersten persönlichen Treffen ziemlich in der Schule
Schulschwierigkeiten gehabt, soziale Schwierigkeiten in der Schule gehabt mit anderen
Kindern und zu Hause bei den Pflegeeltern. Und seit nach dem ersten Treffen geht’s ihr
besser, ja. Wobei ich ihr auch gesagt hab vor Augen und Ohren des Jugendamts und der
Pflegefamilie, dass es für mich in Ordnung ist, dass sie da lebt, dass ich froh bin, dass sie so
ne nette Pflegefamilie hat und dass sie da bleiben darf, so lange wie sie möchte. Dass ich
schon gerne mehr Kontakt zu ihr haben möchte, aber das ihr überlasse und alle diese
Freiräume gebe. Ehm, zum einen denke ich, dass es für sie ganz wichtig ist zu wissen: Ich
kann jetzt hier bleiben. Und was halt auch, was ich jetzt erst so erfahren hab, was mir
bewusst geworden ist, wie wichtig das ist, für ein Pflegekind, dass sich die Pflegeeltern und
die leiblichen Eltern oder in dem Fall ich als Mutter, dass man sich da versteht und an einem
Strang zieht. Und ich sage nicht mehr komplizierter, wie es sowieso schon ist, dass da für so
ein Kind ne riesen Last weg ist, das Gefühl hab ich jetzt bei Sonja – also, mir waren die
Pflegeeltern von ihr sofort super sympathisch. Ich hab gedacht: Oh, da hat se ja richtig nette
Leute gefunden – klasse! Ja und, wirklich, die Frau vom Jugendamt hat sich super Mühe
gemacht, dann auch lange gesucht nach der geeigneten Pflegefamilie, und die hat sie effektiv
gefunden, bin ich sicher. Und hinterher hat sie wohl zu ihrer Pflegemutter gesagt, dass sie
das ganz toll findet. Sie hätte ja den Eindruck gehabt, wir wären fast wie Freundinnen, wobei
wir uns ja fast das erste Mal gesehen haben, nur wenig miteinander .. aber ... Da merk ich
auch dieses Entgegenkommen der Pflegeltern, wie wichtig das dann wieder ist, das Kind net
vor den leiblichen Eltern abzuschotten, sondern mit dieser Vergangenheit und den Personen,
die vielleicht auch später noch dazugehören, einfach auch umzugehen sich lohnt oder (...)
I: Ja.
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B: (...) oder sich die Mühe machen mit umzugehen. Sie waren jetzt mit der Sonja bei den
Großeltern väterlicherseits. Und es hat erst ein bisschen gedauert, bis das bei mir dann so, bis
sie sich getraut haben, mir das zu sagen. Aber ich find das o. k.! Die Schwiegereltern, die
haben mir nie was getan, die haben der Sonja nie was getan, die haben die Sonja lieb, es ist
ihr jüngstes Enkelchen, wenn es das älteste wär, wärs auch egal. Wenn die Sonja den
Wunsch hat, ihre Großeltern ab und zu zu sehen und da Kontakt zu haben, dann soll sie ihn
doch haben. Ich möchte nur net, dass schlecht über mich geredet wird, aber das, weil’s dem
Kind wieder schadet. Ansonsten reden die das ganze Jahr über mich schlecht, das ist mir
egal, wenn’s meine Kinder net belangt. (Hustet) Und, ehm, da macht sich diese
Pflegefamilie super viel Mühe, fährt bis nach Hessen, um die Großeltern zu besuchen. Sie
haben mich jetzt das erste Mal zu sich letzte Woche eingeladen gehabt, und jetzt treffen wir
uns jeden Monat mal. Dann haben wir gesagt, wir versuchen das einmal im Monat das
hinzukriegen. Wenn’s mal nach drei Wochen ist und einmal in fünf Wochen, wir kucken
halt, wie wir das organisiert kriegen. Und die Frau vom Jugendamt sagte dann, ei ja, an
welchem Tag, zu welcher Zeit bis zu welcher Zeit? Und keiner wusste was zu sagen. Und
erst mal muss man von einem zum anderen Mal kucken, wie geht’s dem Kind damit?
Wünscht es sich vielleicht ne Stunde länger oder ist es ihm vielleicht schon zu viel? Dass
man da individuell immer wieder neu kucken muss. Und zum andern auch, wie kann man
das auch praktisch organisieren – jeder hat sein eigenes Leben. Da ne Familie und da was.
Das muss ja auch zeitlich, da kann man sich schwer so festlegen: Ich will aber das Kind jede
zweite Woche von Freitagabend sechs bis Sonntagabend sechs haben – egal, was da kommt!
Und jetzt: Oh, wir kriegen das schon hin, wir sprechen uns dann ab, und dann treffen wir
uns dann hier und mal da, wir können ja mal auf’n Weihnachtsmarkt gehen oder wir können
mal hier zu Besuch gehen. Ach, das kriegen wir schon. Und da merkt das Kind, da ist kein
Gegeneinander, sondern ein Miteinander. (,,,)
Beim Abschied sagte sie: Oh, mir wär am liebsten,... weil ich ihr erzählt hab, dass wir jetzt
eine eigene Wohnung auch suchen und so. Mir wär am liebsten, das wär doch schön, wenn
wir alle zusammen in einem Haus wohnen könnten- (redet voller Euphorie weiter) du und
der Daniel und die Pflegeeltern und meine Pflegebrüder und ich und all die Hunde, die
haben auch zwei so Hunde wie die Chipsy so was in der Art! Und (,,,) ja aber wenigstens in
einem Ort. Da sag ich: Nee das geht nicht, aber wir können uns jetzt erst mal regelmäßig
sehen, und wenn das alles gut klappt, und wenn es dir dabei gut geht, dann darfst du
nächstes Jahr auch irgendwann mal ein Wochenende bleiben. Und so, dann wird das schon
mehr, wenn du das möchtest. So in der Art und, ja, und damit geht’s mir dann auch gut,
wenn ich dann nach Hause fahre, dann bin ich net tot traurig, ehm, sondern denk mir Mensch
schön, es geht ihr gut, sie ist glücklich ich muss mir keinen Kopf machen, passiert da jetzt
was Schlimmes. Hat man doch als abgebende Eltern, gerade bei Töchtern, aber überhaupt,
was man so alles hört, so viel Angst vor Missbrauch, oder sexuellem Missbrauch oder doch
Gewalt. Und da ist es ganz wichtig, auch zu wissen, die Pflegeeltern, wie sind die so drauf.
Ich meine, man kuckt jedem nur vor’n Kopf, is klar! Aber irgendwo so ein Stück weit
Menschenkenntnis hat man dann ja auch, zu sagen: Nee, das is wirklich in Ordnung. Also
man hat zumindest ‘n Frieden und macht sich dann keinen Kopf, ne?
Und das vermiss ich bei Anette sehr, dass dort halt die Initiative der Pflegeeltern null war,
die Anette mal dazu aufzufordern, oder mal anzuhalten, ich will net sagen zureden oder
irgendwie belabern, das mein ich net, aber das ist auch eine christliche Familie, und ich
weiß, die Anette hat’s dort gut, da passiert nix, da is alles wunderbar und so. Aber, wenn
dann vor Ohren so eines damals zehnjährigen Kindes ständig darüber geredet wird, in
welcher Sünde ich denn lebe, weil ich noch verheiratet mit nem anderen Mann was hab.
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Dann kann das jedem seine Einstellung sein, wie er will, aber muss doch mich, also Daniel
wird da sehr gemobbt, wird bis heut net akzeptiert, dass wir dann mittlerweile auch jetzt
schon seit zwei Jahren verheiratet sind, zwei Jahr? Ja. Nee, drei! Ui, jui, jui – ich weiß das
immer net!
I: (lacht)
B: Na ja, auf jeden Fall, ich hätte mich ja nicht scheiden lassen dürfen, egal wie der Mann so
is. Ich muss das als Frau ja aushalten, und ihn lieben und ehren, und das wird mir dann .. eh
.. scheiße, ja? Nein! Muss ich net, will ich net und seh ich gar net ein. Ich denk, aus
christlicher Sicht, wer mich nicht liebt und ehrt, der ist auch von meinem Glaubensdings her,
der hat auch kein Recht, mich als seine Frau zu bezeichnen.
I: Ja.
B: Punkt um. Und damit war für mich die Scheidung schon längst vollzogen, bevor das auf
irgendeinem (,,) Papier dann endlich in meinem Briefkasten gelandet ist. Und da hab ich
mich überhaupt net moralisch aus dieser Sicht an diese Ehe gebunden gefühlt. Überhaupt
net. Und das war von daher gesehen – na ja, gut. Das sind Glaubensansichten, aber wenn
man die da so sehr auf die Kinder projiziert und dann uäh, der böse Daniel und Ehebrecher
und Sünde und Tod und Teufel und so ein übertriebener Kram, dann ist das für das Kind net
so erträglich. Wenn die Großeltern väterlicherseits und die Schwestern vom Vater alle in
einem Ort wohnen und alle auf meine Tochter einreden, die Mutter sei eine Hexe und weiß
der Geier was net alles. Und dann wurde erzählt, wir hätten einen Raubüberfall gemacht und,
ach, da war Daniel gerade weg in der Übergangseinrichtung. Das hab ich natürlich in dem
Dorf net breit getreten, wo der hin is. Dann hieß es, der wär im Gefängnis, weil wir hätten
einen Raubüberfall gemacht, aber ich war da noch da. Ich war dann auch weg, dann hatte ich
natürlich auch ‘n Raubüberfall gemacht. Natürlich alles Quatsch (,,). Und damit muss dann
ein Kind leben vor den anderen Schulkindern. Wie steht es denn da, wenn man ... ah ... so’n
– also, ich kann es net verstehen, wie man seinem Kind oder irgend ’nem Kind so was antun
kann. So schlecht zu reden über die Eltern z. B., egal, was auch der Vater oder die Mutter,
was die getan haben. Ich weiß, dass ein Kind immer die Eltern lieb hat und sowieso schon
zerrissen ist durch diese ganze Situation. Da muss man net von außen rum noch drauf treten
und das Leben noch schwerer machen.
I: Ja. Das ist wohl wahr!
B: Und von daher gesehen – ich hab ja die heftigsten Erfahrungen mit der großen Tochter,
die jetzt nicht mehr oder nur kurze Zeit in der Pflegefamilie war. Wie weit das psychisch
auch führen kann. Also wenn es dann noch durch die erlebte Gewalt und die Angst auch
noch von außen weiter angefeuert wird, da ständig Schlechtes zu reden. Und irgendwann
(Hund kratzt, B. schreit) Chipsy, hör auf! ... Ehm, es is mir auch schwer gefallen, bei den
anderen beiden jetzt überhaupt net, weil das war nie Thema, weil die hab ich erst mal gar net
gesehen, wenn ich was geschrieben hab, hab ich nix über den Vater geschrieben. Aber mit
der Großen hatte ich während der Psychiatrie absolute Kontaktsperre lange Zeit. Aber wenn
wir Kontakt hatten, und sie hat alles mitgekriegt, bewusst mitgekriegt, weil sie alt genug
war, im Gegensatz zu den Kleinen. Die Anette, die hat sich die Ohren zugesperrt und die
Augen, die wollt nix wissen, die wollt nix hören, nix sehen, die hat das einfach ignoriert und
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die Kleine war zu klein – Gott sei Dank! Die Große hat alles mitgekriegt .. und, ehm, da is
einer ihrer Therapeuten, den sie in der Jugendeinrichtung hatte, der hat es mal geschafft, im
Einzelgespräch mit mir, beim Besuch, mich wirklich zu nehmen und neben mich zu stellen,
dass ich die Situation, in der ich bin und in der Regina is und was dann ihren Vater auch
betrifft auch in Bezug auf ihren Vater sich belangt – da konnt ich wirklich mal aus Sicht von
einem Außenstehenden, also der Mann war die Wucht! Die Wucht. Also selten so einen
guten Therapeuten erlebt, wo ich wirklich in der Lage war, das als Außenstehende mal für
eine gewisse Zeit zu sehen und dadurch begriffen hab, ganz egal, was zwischen mir und
meinem Exmann gelaufen is oder was zwischen Regina und ihrem Vater gelaufen is! Nicht
das als Tabuthema zu erklären, sondern mich aber aus diesem, aus diesem .... Kampf, ich
zieh dich auf meine Seite oder red schlecht über deinen Vater und er versucht, dich auf seine
Seite zu ziehen, indem er schlecht über mich redet – ich hab’s immer versucht, aber
manchmal ist mir einfach auch – die Regina ist dann auch ... sie hat schwerste BorderlineStörungen mit – in Richtung Schizophrenie mit ..... alles Mögliche – schwerste BorderlineDiagnose. Mit Wahnvorstellungen teilweise, mit Gewaltausbrüchen ... Aber danach ist es
mir sehr viel leichter geglückt, mich da einfach komplett raus zu nehmen, zu sagen. Ich ...
manchmal habe ich zu ihr einfach gesagt: Du, ich möchte net über das Thema reden, weil,
wenn ich daran denke, geht es mir gar net gut. Und da hab ich halt auch viel dazu gelernt
und ihr einfach auch zu sagen: Nein! Will ich nix von hören. Will ich net drüber reden. Aber
net, weil du mir auf’n Wecker gehst, sondern weil es mir damit net gut geht. Und deswegen
is es net tabu, sie hat mal das und das erzählt, und sobald ich aber gemerkt hab, bei mir
gehen innen alle Gefühle kochen dann wieder hoch, dann kann ich das auch abbrechen, um
es ihr net noch schwerer zu machen.
Ja, und dann, ja ... Das im Sommer ... ja, und da bin ja jetzt wieder dran schuld, laut Aussage
.. ihrer Großeltern, weil sie vier Wochen hier war. Und sie wär am liebsten gleich hier
geblieben. Ich hab ihr gesagt: Du machst noch deinen Schulabschluss. Den hätte sie jetzt im
Januar nachmachen können. Du gehst zurück, du machst deine Jugendhilfe da fertig, du
machst deinen Schulabschluss. Wenn du deinen Schulabschluss hast, können wir drüber
reden, ob du da raus willst, ob du hier in die Gegend willst, wie es dann weitergeht, vorher
brauchst du mir gar net her zu kommen. Das war mit der Einrichtung, mit der Psychologin
abgesprochen, wie wir da vorgehen, um sie anzuschieben. Sie hatte schon ne eigene
Wohnung – Probewohnen. Das hat drei vier Monate – na ja – ganz gut geklappt, für ihre
Voraussetzungen ganz gut geklappt. Und dann ist sie zurückgekommen, und ihre
Therapeutin meint wohl, dadurch, dass sie nicht gekriegt hat, was sie wollte. Sie wär am
liebsten gar net mehr zurückgefahren, hat sich mit Händen und Füßen gewehrt die letzten
drei Tage, dass sie wieder hin fährt. Und .. du, ich setz dich in den Zug, das is mir egal,
notfalls im Nachthemd. Wir fahren dich zum Bahnhof und setzen dich im Nachthemd in den
Zug mit deiner Fahrkarte und fährst dahin. Du kannst nicht hier bleiben.
Dann ist sie gefahren und paar Wochen später hat sie gegenüber in der Wohnung eines alten
pflegebedürftigen Mannes eingebrochen. Da stand wohl irgendein Knüppel rum, den hat se
genommen und hat dem, während der im Bett lag und schlief, übergezogen. Und dann is se
raus, hat die Tür von außen abgeschlossen und is ma weg. Dann is se wohl später wieder hin,
und dann hat sie den Mann blutend im Bad dann gesehen, hat gekuckt, is raus, hat wieder
zugeschlossen, hat die Panik gekriegt, is weggelaufen, hat den Schlüssel weggeworfen, und
dann hat die mich angerufen – hier, und sitzt da oben in Sachsen an der polnischen Grenze.
Dann hab ich von hier aus alles wild gemacht. Polizei, ba, ba, ba, hier der muss Hilfe haben.
Sie hat auch noch da oben ihre Betreuer angerufen. Ja. Und an dem Abend ist sie dann
effektiv, nicht mal nur für ein paar Tage, wieder Notfallintervention, Krisenintervention in
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die Psychiatrie gekommen. Und jetzt sitzt sie da und wartet auf ihre Verhandlung. Der alte
Mann ist wohl wieder zu Hause, aber Krankenhausaufenthalt, dann hat sie, was weiß ich,
fünf Anzeigen: Sachbeschädigung, Brandstiftung, zweimal Brandstiftung, zichmal
Sachbeschädigung, Körperverletzung mit Freiheitsberaubung, weil se die Tür zugesperrt hat.
Die Feuerwehr hat da die Tür aufbrechen müssen. Das war wohl dann die Krönung. (holt tief
Luft) Ja. Und danach fragt man sich schon von alleine ... (holt tief Luft): Hat man was falsch
gemacht wieder mal, hätte man irgendwie im Vorfeld verhindern können. Alle haben gesagt:
Vier Wochen Ferien bei der Mama ist zu lang, zwei, drei Wochen reichen aus! Die Regina
hat gesagt: nein, nein, nein vier! Ich glaube ehrlich gesagt net, dass ein oder zwei Wochen
mehr da einen Unterschied gemacht hätten, glaub ich eigentlich nicht, ja! ... Das is begründet
in ihrer Krankheit, und wenn se net lernt, damit umzugehen, dann geht das ’nem bösen Ende
zu. Jo! Und wahrscheinlich, nehm ich an, dass sie jetzt erst mal – wie heißt das?
Maßregelvollzug – bekommt. Hoffe ich auch stark für sie, dass sie noch mal ne
therapeutische Chance auch hat und net völlig ins Leere fällt, ins Loch danach. Und sie
hängt an mir noch und nöcher – ich will zu meiner Mama, und was anderes geht in ihren
Kopf net rein. Ich kann ihr nur zureden, hab aber das Gefühl, es geht nur bis da. Du kannst
nicht bei mir leben. Du kannst gerne in meiner Nähe leben, aber du musst alleine Leben,
selbstständig sein, ich unterstütze dich, aber tun musst du – nach diesem Schema. Ne? Hier
hab ich erlebt, dass es nicht funktioniert: Ganzen Tag mit dem Nachthemd auf’m Sofa mit
über zwei Zentner. Sie ist kleiner als ich. Sie frisst und bewegt sich net. Ich sach’s jetzt
knallhart, es ist wirklich net bös gemeint. Aus, gut, Medikamente voll gestopft bis zum
Anschlag mit härtesten Psychopharmaka, und nur dummes Zeug im Kopf. Sie ist sehr, sehr
stark psychisch krank, und unter dem ganzen Leid, was ich mit ihr in den ganzen letzten
Jahren hatte – nee, es hat mich sehr beschäftigt zum einen und zum anderen hab ich immer
gedacht, alles ist besser , was bei den beiden Jüngeren jetzt dazu beiträgt zu gesunden,
psychisch gesunden Erwachsenen heranzuwachsen.
Dann, scheiß auf meinen ganzen Schmerz, dass die Kinder von mir getrennt sind.
Irgendwann sind sie vielleicht psychisch gesund und wir haben Kontakt, und es ist alles
besser, wie noch so ne psychisch behinderte Tochter, bloß weil ich se jetzt bei mir hab, die
wieder Leid und elend mitkriegt, in welcher Form auch immer. Und damit hab ich mich so
ein bisschen über die Jahre hinweg versucht zu trösten – mit schlechtem Erfolg, aber
immerhin sehe ich jetzt ja auch, dass es den anderen beiden ganz gut geht.
Natürlich gibt’s mal Problem hier, Probleme gibt’s ja immer, ne? Und damit müssen se auch
lernen im Leben umzugehen. Sie sollen wissen und das auch immer stärker, auch glauben
können, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten für sie da sein werde und will. Dass das
aber auch begrenzt ist, was ich auch zur Anette gesagt habe, wo sie sagte, ich will da weg
aus der Pflegefamilie, dann geh ich lieber ins Heim. Sage ich: Anette, ich muss dir eins
sagen, du kannst nicht bei mir leben. Ich würde ja gerne, am liebsten dich gerade
mitnehmen, aber das wäre für dich nicht gut, für mich vielleicht auch nicht. Und noch mal
die Sache mit ´nem Rückfall, vielleicht aus Überforderung oder vielleicht das, das willst du
nicht, das will ich nich, und bleib wo du bist, reiß dich zusammen mit deiner Pflegemutter,
seh zu, dass ihr irgendeine Ebene findet.
Die eigene Tochter kann auch net einfach sagen, ich geh jetzt ins Heim, ich hab kein Bock
mehr oder ich hab gerade Stress mit dir, weil ich das und das net darf vielleicht. Sieh das zu
und wenn du 16 bist, und willst ne Krankenschwester-Ausbildung machen, dann kannst du
ins Schwesternwohnheim ziehen, und dann kannst du, wenn du frei hast und Lust hast, dann
kannst du zur Pflegefamilie fahren, kannst mich mal besuchen oder kannst einfach bleiben
wo de bist, wo de Bock hast. Aber bis dahin bleibst du da. Na ja gut, da kann ich sagen, was
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ich will, wenn die morgen beim Jugendamt in Wittel vor der Tür steht und sacht (,,) mit
ihrem Koffer, „ ich geh jetzt hier ins Heim“, dann geht se aber auch für ein paar Wochen.
Aber das wär mit 15, fast 15 gar nicht gut, gar nicht gut. Ja, jetzt hab ich wieder so’n, keine
Ahnung wie’s .. machen wir mal Pause.
I: O. k.! Kaffee is kalt .
B: Mein Kaffee wird auch immer kalt!
I: Sie haben erzählt, dass die Unterbringung von Sonja in der Pflegefamilie mittlerweile für
Sie so in Ordnung ist und dass Sie sich auch vorstellen können, dass Sonja dort auf Dauer
ihren Lebensmittelpunkt hat. Hab ich das richtig verstanden?
B: Ja, ja.
I: Können Sie mir erzählen, weshalb Sie in der Frage für sich diese Position finden konnten,
weshalb Sie darüber Ruhe bekommen haben, dass Sonja in dieser Pflegefamilie auf Dauer
bleibt? Und was ist der Unterschied zu Anette im Bezug auf eine dauerhafte Perspektive?
B: Mmmh, letzte Frage vielleicht die Antwort zuerst. Anette wird bald 15, will gerne
Kinderkrankenschwester werden, ist ihr Wunschberuf, wenn sie die Schule schafft – würd
ich ihr wünschen, dass es klappt – und könnte vielleicht schon nach ihrem Realschulabschluss vielleicht im Schwesternwohnheim oder sonst wie in irgend so einem
Ausbildungszentrum mit angeschlossenem Wohnheim ziehen, und selbst wenn nicht, wird
sie in drei Jahren 18. Die Zeit is gar net mehr so furchtbar lang. Sonja is 10 und hat die dritte
Pflegefamilie jetzt schon gehabt, mit der Übergangspflegefamilie. Und ich hab auch
gesehen, besonders bei meiner ältesten Tochter, wir sind immer viel umgezogen, sie hat nie
so richtig Fuß gefasst. Entweder, weil wir als Eltern schon diskriminiert wurden im
Heimatort oder später, weil wir aus irgendwelchen Gründen Außenseiter waren oder eben
einfach auch, weil wir in eins, zwei Jahren wieder weggezogen sind und Kinderfreundschaften gar net so tief möglich wurden dadurch. So dass es ihr heute kaum möglich ist,
Beziehungen überhaupt aufzubauen oder ne Freundschaft, gar net weiß, was das wirklich ist.
Und dass so was für Kinder sehr wichtig ist, das hab ich da dran einfach gemerkt, wie sehr es
ihr ermangelt. Und die Kinder immer wieder neu rausreißen und neu auch unter Freunde
bringen. Je älter sie werden, desto schwerer wird das. Je jünger die Kinder sind, desto mehr
ergibt sich das im Laufe der Zeit. Und allein deshalb .. find ich das o. k., dass Sonja da
bleibt, wo sie ist und dort ihren Lebensmittelpunkt mit ihren ganzen Freunden findet. Es fällt
mir leichter, das so auch für mich mit meinen Gefühlen hin zu nehmen, seit ich die
Pflegeeltern kenne, die mir sehr sympathisch sind. Ich hab da vorher schon vertraut, dass das
gute Leute sind, auch wenn man sich persönlich net kennt. Und ich find das einfach so
klasse, und dass sie auch als Pflegeeltern offen sind und sagen: Ja, wenn es der Sonja damit
gut geht, dann kann sie öfter mal am Wochenende kommen, dann kann sie in den Ferien
kommen. Dann wird sie immer älter, und irgendwann kann sie vielleicht sagen, weiß ich net,
in zwei, drei Jahren, wenn sie möchte: Ich fahr jedes zweite Wochenende zu meiner Mama
nach Speyer, und ich fahr in den Sommerferien vier Wochen mit der in Urlaub oder so
irgend was. Dass sie damit leben lernt, sie hat ‘ne Pflegefamilie, wo sie Mama, Papa sagt,
wo sie, aber da gibt’s eben noch mehr Bezugspersonen, ohne dass man sich gegenseitig im
Weg ist und bekämpft. Dass sie da wirklich ganz locker merkt, alle gehen hiermit gut um,
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und ich kann mich entscheiden – na ja, gut! Net immer nur die guten Brocken raussuchen,
aber .. ja, da möchte ich hin.
Es sind jetzt fast sechs Jahr, dass die Kinder weg sind und – mit kurzer Unterbrechung mit
Sonja, und ich hab, mir ist auch klar, dass ich raus bin, raus aus dem Alltag mit Kindern, ich
müsste mein ganzes Leben komplett umstellen, und ich bin selber gerade mal froh, dass ich
seit .. ehm, ja nach der Therapie, halbwegs Fuß gefasst hab. Und ich hab selbst jeden Tag ..
ehm auch zu kämpfen! Zu kämpfen mit meinem Alltag, zu kämpfen mit meiner Zukunft, zu
kämpfen gegen finanzielle Armut, für meinen Job, für mein Geschäft und vor allen Dingen
gegen die Sucht immer wieder. Das is ja net so, dass das weg ist nach der Therapie. Da kann
man ja froh sein, dass man es gebacken kriegt. Und jetzt bin ich mal seit nach der Therapie,
seit Februar da raus. Und jetzt ist November. Jetzt bin ich mal acht Monate am Stück clean
gewesen. ... Ich hoffe, dass ich es weiter schaffe, eh ... aber ich werde die Hand nicht mehr
für mich ins Feuer legen.
Ich hab einmal gesagt: Ich? Drogen? Nie wieder! Ich hab das geglaubt, ich hab das wirklich
geglaubt! Wirklich, das glaubt jeder, der das sagt, er glaubt das absolut! Ich hab das auch
gesagt, aber da drauf fall ich net mehr rein. Ja? Keine Ahnung, wenn ich jetzt vielleicht mal
zwei oder drei Jahre am Stück durchgehalten hab. Ich glaube, dass dann eine gewisse
Selbstsicherheit mir mehr kommt zu sagen, doch, zwei, drei Jahre, das ist schon ganz schön
– ich glaub ich hab’s geschafft. Aber dieses Ich? Nie wieder! Die Hand für ins Feuer legen,
das is um! Nach zehn, zwanzig Jahren kann ich rückfällig werden. Und was ich meinen
Kindern auf keinen Fall zumuten will, ist ne Mutter, die wieder rückfällig ist und die leben
bei ihr, müssen vielleicht wieder weg oder wer weiß, was dann alles .. ja? Ne rückfällige
Mutter, die morgens tot mit ’ner Überdosis irgendwo liegt – nein! Will ich net! ... Also von
daher gesehen ist es für die Kinder auf jeden Fall das Beste, und ich bin dann damit auch net
überfordert. Ja? Letztlich wär’s für alle nur schädlich, wenn’s schlecht laufen würde. Und
diesem Wunschtraum: Das wird schon und das muss schon, Augen zu und los – die Gefahr
net sehen und einfach mal ins Rosarote hineinzulaufen bis man wieder auf der Schnauze
liegt – ne! Ich hab schon genug Schuldgefühle, weil ich mich überschätzt oder sonst wie
falsch eingeschätzt hab .. und F .. Fehler gemacht hab – also das ... das sind so die
Hauptgründe, warum ich eigentlich möchte, dass die Kinder auch da bleiben, wo sie sind,
mit zunehmendem Kontakt zu mir und in der Hoffnung, dass sie auch als Erwachsene gerne
kommen und so – dass der Kontakt einfach wirklich bestehen bleibt und sich zu was Gutem
auswirkt und net ne Mutter, die wieder enttäuscht hat. ...
I: Wenn ich’s richtig verstanden habe, (B zündet sich eine Zigarette an) hat die Annahme der
Situation, dass die Kinder in einer Pflegefamilie leben, ja auch ganz viel damit zu tun,
einfach auch wieder eine neue Rolle zu finden für die Kinder, Kontakt zu haben und in
irgendeiner Weise auch die Beziehung pflegen zu können. Oder?
B: Ja. Auf jeden Fall. Also dass ... ich denke z. B. dass in Bezug auf Anette, wo der Kontakt
sehr sporadisch ist... Ich hab sie sehr enttäuscht mit dem Rückfall, wo schon alles geplant
war mit der Schulanmeldung und alles. Und da wollte sie erst mal nicht. Da hab ich sie sehr
enttäuscht, und letztlich denke ich aber nicht, dass es gut war für sie und schon gar nicht für
unsere Beziehung zueinander, dass da nach ’ner gewissen Zeit kein Kontakt hergestellt
wurde. Ich glaube, es wäre besser gewesen, zu sagen, net nach drei Jahren, sondern vielleicht
nach einem Jahr, ... vom Jugendamt vielleicht zu sagen: Wir sind der Meinung, es wäre jetzt
gut, du würdest mal bei uns hier in geschütztem Rahmen deine Mutter mal treffen, dich mal
mit ihr besprechen, vielleicht auch aussprechen. Weil diese Distanz, diese Hemmschwelle,
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die da mit den Jahren immer größer geworden ist von ihr, die fängt jetzt an zu bröckeln,
nachdem wir uns das erste Mal gesehen haben. Jetzt auf einmal kommt eine sehr persönliche
Postkarte.
Letztes Jahr zu Weihnachten kam der erste Brief seit drei Jahren. Da war ich in Therapie und
vielleicht auch deshalb, aber auch, weil sie damals auch schon Stress hatte mit der
Pflegemutter. Da schreibt sie mir dann plötzlich Briefe. Ist ja auch o. k. soweit. Und ich
möchte auch net, dass die Kinder ’n ganzen Tag nur beschäftigt sind mit meine leibliche
Mama, was macht ’n die jetzt – die sollen ihr Leben leben – ehm, aber diese blöde
Hemmschwelle, wo dann Beziehungen vielleicht besser hätten unterstützt werden können,
das hätt ich schon ganz gut gefunden – o. k., es hieß immer, sie will dich nicht sehen. Aber
warum? Weiß ich net, ob sie jemals gefragt wurde, warum eigentlich, ja? Klar, die
Enttäuschung – klar. Und dann nach ’ner Zeit – da war aber schon die Hemmschwelle
aufgebaut ... Und ich glaub, dass es gut gewesen wäre für sie, das Ganze zu durchbrechen
und nicht immer nur von meinen zweimonatigen Briefen, da kann ich viel drin schreiben
erzählen und ansonsten nur Negatives über mich zu hören aus dem Ort, wo sie wohnt, weil
da die ganze Ex-Verwandtschaft so, ja? Das hat sie mit Sicherheit ängstlich gemacht, was
stimmt da überhaupt: Ist die Mama so schlecht, wie die alle erzählen? Ist das wahr, ist das
wahr, ist das wahr? Am liebsten will ich gar net an die denken. Am liebsten will ich gar nix
von der wissen. Ich will die aus meinem Leben streichen. ... Und als ich sie jetzt das erste
Mal beim Hilfeplangespräch auf’m Jugendamt getroffen hab, ehm, sie hat erst mal nur unter
sich gekuckt und in ihrer Tasche irgendwas rumgenestelt. Sie hat überhaupt net geschafft,
mich anzuschauen, später dann nachher ja, vor der Tür, vor dem Gespräch, sie war völlig aus
dem Häuschen. Und hinterher hatten wir Gelegenheit, zwei, drei Minuten alleine
miteinander zu reden. Da hab ich ihr noch mal gut zugeredet, dass sie doch da bleiben soll in
der Pflegefamilie und sich dort arrangieren soll.
Durch den persönlichen Kontakt, der da stattgefunden hat bei dem Hilfeplangespräch, dass
da ’ne ganze Menge von dieser Hemmschwelle gefallen ist. Dass es für Anette richtig
schwer war, hab ich auch gemerkt. Und ... ehm ... während dem Gespräch beim Jugendamt
fing sie dann sogar auch an zu weinen, wo hinterher die Frau Feldmann dann auch zu mir
gesagt hat, das hätte sie noch nie erlebt bei Anette. Sie war immer so ganz kalt, abgeklärt (,,,)
und bloß keine Gefühle! Und .. ehm ... hinterher wo wir kurz alleine waren, da hab ich dann
gefragt, ob ich sie zum Abschied mal umarmen darf. Ja , klar und ich hab ihr gut zugeredet.
Und jetzt krieg ich, gut ich hab ihr geschrieben, und sie soll mir mal ihre
Weihnachtswünsche mitteilen. Das hab ich jedes Jahr gemacht und nie Antwort gekriegt.
Und dieses Jahr kam dann diese Postkarte, wo drauf steht, wenn wir uns wieder sehen, als
Gutschein, dann werden wir uns erst mal richtig drücken und solche Sachen, tausend
Neuigkeiten und Spaß und so was. Und auch was sie schreibt ..ehm .. ja. Da ist dann ein
Stück weit schon ’ne Hemmschwelle gefallen. Ich glaube, die hätte so groß gar net werden
müssen. ... Denk ich mal, weil da gab es gar net so diese Gründe wie jetzt bei Sonja – zur
Mutter, in die Übergangspflegefamilie, wieder ’ne neue – jo, und das Mädchen war erst
sechs oder sieben und schon (,,,) Und Anette ist seit der Trennung von meinem Mann bei der
Pflegefamilie, wo sie heute immer noch ist, und es hätte alles sehr viel einfacher laufen
können. ... Ja. Und ich denke auch die Pflegefamilie – da bin ich ein bisschen echt
enttäuscht. Das waren gute, gute Freunde. Die Pflegemutter von Anette ist die Patentante
von der Sonja, und da hab ich mir eigentlich mehr Unterstützung erhofft, in der Richtung
von Kontakten zu den Kindern. Von Anfang an wurde da abgeblockt. Und das fand ich
richtig, also das finde ich heute noch richtig schlecht. ...
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I: Was hätte da von Jugendamtsseite anders laufen können? Wie hätte die Unterstützung
aussehen können im Bezug auf Kontakte und Beziehungspflege?
B: Schwierig. Ich will da jetzt net mal dem Jugendamt irgendwie Schuld oder so was
zuweisen, weil mein Leben war ja in der Zeit auch net geradeaus und gleichmäßig, sondern
ich war ja sehr sprunghaft. Ich war hier und da, wieder mal rückfällig, wieder mal clean. Von
daher gesehen ..., anfangs war das noch in der Hand vom Jugendamt Waldheim. Und die
haben auch immer noch irgendwie mit meiner ältesten Tochter mit Jugendhilfe, obwohl die
18 ist zu tun. Und Gott sei Dank meldet sich keiner da bei mir, Gott sei Dank. Also, dieses –
da hab ich nur schlechte Erfahrungen gemacht. Schon vor Abgabe der Kinder bin ich
zusammen mit meinem Ex-Mann zum Jugendamt, und wir haben von Reginas Problemen
auch erzählt, wir haben nix erzählt von unserer Drogengeschichte, klar. Solange das alles
noch son ’schönes Mäntelchen drüber is ... ehm ... also nur über Reginas Probleme. Und wir
haben das Jugendamt um Hilfe gebeten, und da hat sich dann nix bewegt. Und als die Kinder
dann weg waren und alles offen da lag, da hat’s Jugendamt auf uns rum gehackt. Na klasse!
Das fand ich sooo – damals auch im Vorfeld, da hätte vielleicht was passieren könne an
Hilfe, net warten bis ’s Kind in den Brunnen gefallen is und, o. k., die Eltern sind in dem
Fall die, die es vermasselt haben, ganz klar, is kein Thema. Aber dann am Ende nur drauf
rum zu hacken macht die Situation ja auch net mehr besser. Und vom Jugendamt Wittel, da
kann ich, nee, es is für die Zuständigen dort auch schwierig! Was will es Jugendamt machen,
wenn die Pflegeeltern sagen: Das Kind will nicht! Da kann’s Jugendamt auch net mit’m
Brecheisen hingehen und sagen, es muss jetzt aber! Und dann ist so ne Pflegefamilie, eh
Pflegeeltern, die haben bestimmt auch zu Recht eine ganz andere Glaubwürdigkeit. Da kann
so ne abgestürzte Mutter oder Vater, die die Kinder abgegeben oder weggenommen haben
kriegt, die haben ja lang net diese Glaubwürdigkeit. Denen wird erst mal grundsätzlich
Unglaubwürdigkeit und Lügen zugetraut, Unfähigkeit und, na ja, Wahrheitsverdrehung und
alles Mögliche ... Und, ja, ... is aber net gut, und da gibt’s nur noch mehr Probleme hier in
der Familie. Das können wir auch net gebrauchen. Da kann’s Jugendamt dann auch net viel
machen.
Und die Zusammenarbeit ist glaube ich unter allen drei Beteiligten ganz wichtig. Wobei ich
fast meine (holt tief Luft), wenn ich jetzt das Verhältnis seh zu den Pflegeeltern von Sonja
und zu mir und dann das Jugendamt, ob das jetzt, die Frau war, sehr sympathisch, sehr
locker – man hat auch gemerkt, wie locker das jetzt zwischen uns geht. Aber selbst wenn das
jetzt ein ganz anderer Typus Mensch wär, vielleicht noch eine vom alten Schlag, so ganz
strait oder irgendwas. Die sagt: Wir müssen aber das festlegen, an welchem Wochenende, an
welchem Samstag, Sonntag und von wann bis wann. Dann hätten wir bestimmt alle gesagt:
Ja, ja is gut. Und hätten uns da trotzdem abgesprochen, wie es uns dann passt. Und hätten
dann zum Jugendamt gesagt, es läuft alles prima, wie abgesprochen. Und wenn man dann
ein bisschen variiert, das interessiert das Jugendamt doch gar net. Das müsste es ja gar net
interessieren, wenn es im Sinne des Kindes ja gut läuft. Also, ich glaube fast, dass das sogar
noch wichtiger is, die Zusammenarbeit zwischen Pflegeeltern und abgebenden Eltern, wobei
das Jugendamt natürlich sehr, sehr hilfreich sein kann, dass oder jenes zu unterstützen oder
auch abzuwenden. Und das Jugendamt hat auch keine leichte Position. Sie müssen abwägen,
im Sinne des Kindes, was ist das Beste? ... Und dann steht da ein Kind, was net richtig weiß,
was es will, wie sich’s fühlt, was es sagen soll. Wenn dann auch noch Eltern gegen
Pflegeeltern an verschiedenen Strängen ziehen oder Vater und Mutter ziehen an verschiedenen Strängen, die Pflegeeltern noch mal an ’nem anderen, dann steht’s Jugendamt dazwischen und muss auch überlegen: Was mach ich ’n jetzt, da lebt aber das Kind, da muss es
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aber klar kommen. Wir wollen auch net, dass es in der Familie noch mehr Problem gibt.
Kann ich auch verstehen, dass es nicht leicht ist, immer die richtige Entscheidung zu treffen,
dass da auch Fehler gemacht werden. Und hinterher kann man immer sagen: Ich glaube, das
wäre besser gewesen, so und so – ob’s das wirklich gewesen wäre? ...
I: Ich denke, es kann unter Umständen die Quadratur des Kreises sein, alle Beteiligten so
miteinander kooperieren zu lassen, dass ne gute Sache daraus wird.
B: Oh ja, aber wenn da nur einer quer schießt, dann ist das schon vorbei. ..........
I: Wie könnte denn aus Ihrer Sicht eine Fremdunterbringung für alle Beteiligten gut
funktionieren? Also jetzt am besten aus der Erfahrung der eigenen Geschichte? Was würden
Sie so als Rat auch mir mit auf den Weg geben? Was wären Wünsche von Herkunftseltern,
ja, die Situation auch annehmen zu können?
B: .... mmmh! ...
I: Wie kann so was funktionieren?
B: Praktisch!
I: Ja, ganz praktisch.
B: ... mmmh .. Wünsche: Ich würde mir wünschen, dass sich die Pflegeeltern, vielleicht auch
ohne das Wissen der Kinder, des Kindes überhaupt ab und zu mal gemeldet hätten oder
melden würden. Einfach mal anrufen, abends um neun, wenn die Kinder im Bett sind, mal
sagen: Hallo, ich wollt mal Bescheid sagen, bei uns ist soweit alles klar, oder da ist das und
das vorgefallen und das und das vorgefallen. Ohne jetzt da einen riesen Problemhaufen, die
Alltagsprobleme aufzutischen, so, das fände ich z. B. mal ganz toll. Ne? Da weiß ich, wie’s
bei mir ist.
Ich traue mich kaum, mal bei den Pflegeeltern meiner mittleren Tochter Anette anzurufen.
Die haben ein Geschäft, die haben nie Zeit, irgendjemand ist immer krank. Und wenn ich
anrufe, werde ich immer ganz kurz abgewürgt. Vom Pflegevater, und wenn die Pflegemutter
Zeit hat, labert sie mich ne Stunde zu. Deswegen kann ich die Anette gar net verstehen. Bei
mir wär’s umgekehrt, ich könnt mit dem Typ keine 24 Stunden im Raum aushalten, aber
egal. Anette kommt bestens mit dem klar, soll mir Recht sein. Aber das, ich hab halt ganz oft
das Gefühl, oder ich trau mich gar net anzurufen. Anette hat mir jetzt geschrieben: Du kannst
mir ja mal eine SMS schreiben, mit ihrer Handynummer ... wobei ich eigentlich nicht denke,
dass sie was dagegen hätte, wenn ich sie mal anrufe und sag: Hallo Anette, wie geht’s dir
denn – das ist bestimmt mehr als ein versteckter Hinweis, hier has´te meine Telefonnummer.
Ich hab ihr einmal eine SMS geschrieben aufgrund dieser Telefonangabe, ehm, aber ich hab
das Gefühl, ich glaube nicht, dass sie möchte, dass ihre Pflegeeltern mitkriegen, dass sie mit
mir, ich sach mal heimlich, telefoniert, jetzt auf einmal, ne? Ehm ... und dann überleg ich mir
so ungefähr zich mal die Woche: Wann könnte ich anrufen, so dass Anette nicht aus lauter
Angst, Angst in Anführungsstrichen, um Diskussionen zu vermeiden mit ihren Pflegeeltern,
dass ich sie mal erwische. Morgens geht sie in die Schule, Mittag ist sie zu Hause – ich will
das ja gar net heimlich machen eigentlich, das is mir ja alles viel zu blöd, da gibt’s ja gar
kein Grund für! Ich kann der ja auch schreiben! Aber wenn sie mir das schon schickt, da
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schreibt sie, kannst mir ja mal ’ne SMS schreiben, die kann se natürlich, da piept das mal,
dann drückt se das weg und später liest se, was is ’n da gekommen. Und dann muss sie sich
net am Telefon vielleicht net auch noch outen. Das war meine Freundin, bla, ich weiß net, ob
sie lügen würde vielleicht: Das ist nur ’ne Vermutung von mir! Aber das is so ’ne große
Unsicherheit von mir, nicht zu wissen, ist das überhaupt recht, wenn ich mich da jetzt melde.
Da ruf ich bei der Frau Feldmann an und frag die Frau Feldmann, wie geht’s denn jetzt in
der Familie, hat sich das ein bisschen gebessert. Die haben da jetzt Hilfe, Personen auch
eingesetzt ... ehm ... da red ich mit der Frau Feldmann und hab ihr ja auch gesagt, ich trau
mich da kaum anzurufen. Weil ich das Gefühl hab, das ist gar nicht erwünscht. Und das find
ich ziemlich doof. Das ist das Gefühl so, man wird so abgeschoben, ja? Am besten meldest
de dich erst gar net. Auf der anderen Seite dann aber sagen: Wenn das so weiter geht,
können wir die Anette net länger behalten, das ist zu viel Stress. Dann steht die Anette da
und dann sagt die Mama: Du kannst aber auch net bei mir leben, seh zu, dass de das da
durchziehst jetzt. (Holt tief Luft) Das ist dann auch ein total doofes Gefühl. Es wär viel
einfacher, wenn da auch mal von Pflegeelternseite mal ganz sporadisch, aber irgendwann
mal ein Anruf käme, um zu sagen: Hier, wir wollten uns mal melden, haben gedacht, wir
sagen dir mal Bescheid, was gerade bei uns so abgeht und dass de dir keine Sorgen machen
musst. Da kommt ja rein gar nichts, ne! Ich erwarte dann auch keine permanenten
Geschichten, ne! Aber das könnt ich mir z. B. vorstellen, dass das vielleicht mal mit den
Pflegeeltern von Sonja, vielleicht mal so sein könnte. Dass die irgendwann mal anrufen und
sagen: Hier, pass mal auf, da is das und das gewesen. Und falls Sonja sich meldet z. B. und
das und das sagt oder mal anruft und hinterher ging’s ihr net so gut. Dass das net alles übers
Jugendamt oder über 125 Ecken laufen muss, bis man mal irgendwas erfährt ...
I: Das heißt, das wäre der Wunsch für die Situation mit Anette und auch mit Sonja?
B: Ja, und ich glaube auch, dass das für viele abgebenden Eltern zutreffen würde. Es gibt
mal vielleicht auch welche, die sagen: Aus den Augen, aus dem Sinn, die Kinder, ich versuch
das zu verdrängen und gar net dran zu denken! Und ich will gar keinen Anruf von
irgendwelchen Pflegeeltern haben. Wobei ich net verstehen kann, dass man was gegen die
Pflegeeltern , was dagegen hat. Man hat ja selbst, irgendwie hat man’s ja verbockt oder
Krankheit, is ja dann ’ne andere Sache, dass Kinder weg sind. Dann kann man ja froh sein,
wenn die nicht ins Heim kommen. Wenn die Pflegefamilien finden, noch dazu gute. Da ist
dann schon so was wie Dankbarkeit gegenüber den Pflegeeltern – auf jeden Fall! Aber wenn
man’s dann nicht leicht gemacht bekommt, dann schwindet die auch so leicht dahin. O. k.,
die haben zwar mein Kind aufgenommen, aber die haben mich so auflaufen lassen die
letzten Jahre, also, na ja.
Dann immer wieder der Gedanke, es geht ja hier nicht um mich, es geht um das Wohl
meines Kindes. Aber die eigenen Gefühle sind ja auch da! Eigene Wünsche und Bedürfnisse
... ich weiß selber ein Stück weit, wie es ist! Ich kenne meine leibliche Mutter persönlich
überhaupt nicht, hab aber zwei Briefe von ihr bekommen im Laufe des letzten halben Jahres,
weil ich es endlich nach 40 Jahren geschafft hab, sie ausfindig zu machen – mit Hilfe eines
Jugendamtmitarbeiters aus Dollenberg. Der hat sich zwei Jahre richtig angestrengt, die Frau
zu finden. Und, ja! Hat mir therapeutisch sehr gut getan. War auch sehr nötig! Ich hoffe
auch, dass es noch irgendwann weiteren Kontakt gibt. Aber, die Alte hat mir geschrieben:
Ich hatte gehofft, nie etwas von dir zu hören, weil ich gehofft hatte, dass du in deiner
Adoptivfamilie verwurzelt bist . Gut, mit gutem Hintergrund. Aber sie hat mich einfach auch
verdrängt. Sie hat nach mir noch vier andere Kinder gekriegt, und kein Mensch weiß, dass es
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mich gibt. Weder die vier Kinder, noch ihr Exmann. Und ich will auch net, dass es heut nach
40 Jahren noch einer erfährt und alles wieder aufmischt. Da hab ich ihr geschrieben, sie
muss gar keine Angst haben, und ich will mich da net einmischen in die Familie, ich bin nur
ein bisschen neugierig. Aber sie gibt auch ihre Identität eigentlich nicht wirklich preis. Ich
meine, was ich weiß, das weiß ich eh, na ja gut.
Aber .. mmh .. is aber wieder was anderes, wenn eine Frau von dem Kreissaal aus schon
vorher im Prinzip schon abgegeben hat, als, weiß ich net, 18-Jährige oder 19-Jährige oder so.
Damals in der Art, ich kann kein Baby gebrauchen, ich will kein Baby, und das wird geboren
und es kommt weg. Ehm – alle Achtung, dass sie net nach Holland gefahren is und mich
abtreiben hat lassen mit irgendwelchen, keine Ahnung, diffizilen Geschichten ... eh ... is
wieder was anderes. Wenn man die Kinder erst mal eine Zeit lang, ein paar Jahre, zehn
Jahre, zwölf war die Älteste, bei sich gehabt hat und, von heut auf morgen ... hat man keine
Kinder mehr in dem Sinn, im Alltag vorhanden, mit allen Freuden und Leiden und allem
Stress und allem, was dazu gehört. .. Das ist ein richtiger Schnitt!
Dann sein Leben noch mal neu zu sortieren mit, was weiß ich, wie alt war ich denn? Anfang
dreißig. Und net so genau zu wissen wohin, womit, ohne Schu... – nee, net ohne Schule, aber
ohne Ausbildungsabschluss ... Ehm, und die Kraft für clean Leben und noch Ausbildung
machen, die reicht ja mal gar net. Man kann ja froh sein, wenn es fürs Erste überhaupt reicht.
Selbst das ist immer fragwürdig bis zu Letzt. Das, ehm, kostet alles einen Haufen Kraft,
einen Haufen Energie. Und dann nix tun können. Und wenn’s den Kindern gut geht – soweit
– dann ist das für mich noch alles irgendwie erträglich. (kämpft mit den Tränen)
Was für mich ganz schwer ist, ist Regina – da is keine Pflegefamilie, da war die Psychiatrie
ewig, die gesagt hat, es ist für Regina nicht gut, Kontakt zu ihrer Familie zu haben –
Kontaktsperre, ich weiß net, zwei Jahre am Stück, zu allem, zu jedem, zu überhaupt. Und
dann hat die angefangen, immer noch mehr, immer mehr zu spinnen. Is nur voll gestopft
worden, wirklich. Dann durfte sie Weihnachten kommen und ist ferngesteuert unter sooo
starkem Tabletteneinfluss, bis sie dann auf’m Sofa im Sitzen eingeschlafen is, ferngesteuert
rum gelaufen. Mit ... zich Aufenthalten fixiert, stundenlang fixiert. Was mir Regina alles
erzählt hat aus dieser Zeit der Psychiatrie! (schluckt) Natürlich weiß ich, sie übertreibt auch
Vieles, aber wie peinlich es ihr war, fixiert zu werden und dann während der Periode sich
auch noch in die Hose zu machen und dann sich net rühren zu können und dann von der
Schwester geschimpft zu kriegen – solche Sachen ...!
Da kann ich sagen: Sonja und Anette, ach na ja! Das wird schon werden. Die sind
einigermaßen .. die Anette, na ja, is ja net psychisch krank. Sie hat wohl auch gelitten unter
dem ganzen Kram, is ganz klar! Aber die is noch glimpflich dabei raus gekommen. Und die
Sonja, die is trotz der drei Pflegefamilien und einiger Probleme ... die kommen schon klar.
Wenn da jetzt während der Pubertät nicht noch irgendwas ganz anderes dazwischen kommt
(hustet) ehm vielleicht .... denk ich mal, wenn man zu nix anderem gut ist, kann man immer
noch als abschreckendes Beispiel dienen. Und da hoffe ich doch für meine Kinder, dass die
die Finger von den Drogen lassen. Ja!
Wenn ich das geglaubt hätte, was die anderen damals erzählt haben, vor 25 Jahren, dann hätt
ich die Finger auch davon gelassen. Aber wer ein Stück weit das Leid, das hinten dran hängt,
selbst miterlebt hat, wie die Kinder ..., zu sehen wie Familie kaputt geht , Kinder weg,
Mutter Überdosis, die haben’s auch einmal miterlebt, so annähernd, so Sachen, Mutter im
Tablettenrausch, Vater auf Heroin, die Spritze in irgend ’ner Vene ... weggetreten, nur
körperlich anwesend. Vielleicht hat das so abschreckend gewirkt, dass sie wirklich die
Finger von lassen. Und dann wäre das ganze Elend wenigstens zu etwas gut. Aber selbst das
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weiß man ja net. Gerade viele Kinder von Süchtigen werden dann auch süchtig, obwohl se
das Elend mitgekriegt haben – Alkoholismus oder was auch immer da ist.
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Also, ich hab schwer gelitten all die Jahre, ehm, und immer
wieder gekämpft auch, die Kinder wieder zurückzubekommen .. , am Anfang überhaupt net
eingesehen, warum das net geht. Letztlich hab ich durch meine Rückfälle die Befürchtung
von Ämtern allgemein auch nur wieder bestätigt, hab ich also auch nix dafür beigetragen, da
mal ein anderes Bild zu schaffen. Es gibt auch kein anderes Bild. Ne Tatsache is es einfach,
dass, weiß ich net, über 90, 95 % aller Süchtigen immer wieder Rückfälle bauen, auch wenn
sie noch so oft Therapie machen. Und wenn man das irgendwann schafft, auf lange Sicht
oder gar für immer, ohne diese Suchtmittel zu leben, dann ist man eine der wenigen
Ausnahmen. ...... Und dann hat man viel, viel Energie ohne Ende und Kraft ohne Ende in die
Bekämpfung der Sucht gesteckt, net nur in einer gewissen Zeit von der Therapie, sondern im
Alltag, später Monate, vielleicht Jahre später, immer wieder, Na klar, es ist ein Stück
leichter, je größer der Abstand is, es wird schon leichter. Aber diesen Abstand von heut auf
morgen in Null zu verwandeln. Dafür recht ein kleiner Rückfall aus, und dann is es wie
gehabt, wie gehabt – ohne ... ehm .. ja, ohne Abstand zur Droge. Dann fängt man vielleicht
wieder an, ich hab’s ja zich mal erlebt, zu sagen: Ach komm! Das is jetzt ein Mal. Is jetzt erst
mal wieder Schluss. So wenn ich mal alle paar Monate einmal was mache! Fängt man genau
wieder an, sich was vorzumachen. Und so geht es allen und jedem. Ich hab hunderte,
hunderte, tausende vielleicht von Süchtigen kennen gelernt – mit Kinder, ohne Kinder – mit
18 in der ersten Therapie oder mit 48 in der 20. Therapie. Und ich kenn zwei Leute, die seit
mehr als zehn Jahren konsequent clean sind und von denen ich auch denke, dass sie ’ne
große Chance haben, dass das für immer so bleibt.
Das is eine Frau, ist mittlerweile allein erziehend, geschieden, mit Kind, der Mann is auch
wieder rückfällig geworden. Sie hat’s geschafft, sich dann von ihm zu trennen.
Und das andere is ein Mann. Der ist jetzt ungefähr Mitte 30 und hat mit 20 schon aufgehört,
Therapie gemacht. Er ist verheiratet und hat jetzt ein Kind, hat eine Frau, die damals schon
während der Therapie den ganzen Terz mit ihm mitgemacht hat. Sie hat nie was mit Drogen
zu tun gehabt, die wird nie was mit Drogen zu tun haben – einer der wenigen Menschen, wo
ich sagen kann: (kurz vorm Lachen) Die? Niemals! Und die hat absolut die Hose an. Und der
weiß: ein Rückfall und seine Koffer stehen für immer vor der Haustür, und sein Kind und
seine Frau kann er vergessen. Der hat ’ne Arbeit, die haben ein Haus, die haben ein Kind,
und der is so glücklich, dass er das so hat. Der hat viel zu viel Angst davor, weil er weiß,
seine Frau würde das so strait durchziehen. Knallhart! Ohne Rücksicht auf irgendwelche
Gefühle, Verluste oder irgendwas. Ja. Und ihre Stärke in der Beziehung, die hält ihn oder hat
ihn die ersten Jahre, da weiß ich, dass er gekämpft hat und manchmal heimlich kiffen
gegangen is. Da hab ich immer gesagt: Mensch, mach bloß kein Scheiß, ja! Jaaa, ab und zu
mal, das darf die aber net wissen! Und, ehm, da hab ich auch heute noch telefonischen
Kontakt, die wohnen auch in der Nähe von Wetzlar. Ab und zu rufen wir uns mal an, und ich
weiß, solange er mit der Uli zusammen ist, macht der gar nix. Und wenn er was macht, is er
net mehr mit der Uli zusammen. Spätesten am nächsten Tag nicht mehr. Und bei denen
beiden, das sind die Einzigen! Alle anderen, die ich kenne – (schnipst mit den Fingern)
früher oder später ... is so.
Da kann man nur (lacht kurz auf) an dem dünnen Hoffnungsfaden sich festhalten, zu sagen,
vielleicht bin ich bei den, weiß ich net, vier, fünf Prozent, vielleicht kann ich, ich kann es
schaffen, das ist nicht unmöglich, ja! Es ist nicht unmöglich, und ich versuch das weiter und
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Letztes Jahr hab ich gesagt, vor der Übergangseinrichtung, das ist jetzt mein letzter Versuch
aufzuhören. Wenn ich das net gebacken krieg, dann leb ich so dahin. Aber noch mal werd
ich diese ganze Welle net machen, eher bring ich mich um, also eher setz ich dem Elend
dann ein Ende, bevor ich noch mal mir dieses ganze Therapieprogramm gebe. Es is net
schlecht un es ist net falsch, aber ... wenn man eine gute Therapie erwischt, davon gibt’s net
viel. Dann wird man zerlegt, es wird die ganze Kindheit bis hin zu, was weiß ich,
vorgeburtlichen Erlebnissen auseinander gepflückt. Das kostet einen furchtbar viel an Kraft
und löst viele unangenehme Gefühle aus. Und wenn man Glück hat, wird das nachher auch
wieder zusammengesetzt, was da auseinander genommen wird. Aber meistens steht man
hinterher da, ist zerlegt, weiß jetzt auch ganz genau, waaarum bin ich süchtig. Und man kann
trotzdem nix dagegen machen. Was ein Elend! Dann muss ich das auch net wissen, wenn ich
eh nix dagegen machen kann – eigentlich. Das is ja dann auch Quatsch, ne? Dann is es ganz
wichtig zu wissen, was kann ich denn dagegen tun? Auch praktisch, ne? Das haben wir in
dem letzten Jahr Therapie dann gehabt, ehm, Suchtprophylaxe – zu kucken, wo dran, wie
merke ich, dass sich das vielleicht langsam wieder anbahnt, tief im Inneren, gefühlsmäßig,
ja! Wenn ich stabil bin, kann einer kommen, mir auf der Straße oder sonst wie was anbieten.
Dann sag ich: Du, will ich net, un tschüss! Aber wenn ich schwach bin, dann fahr ich auch
nach Düsseldorf, nach Bayern, ja? Das is aber mal gar kein Problem! Um dann zu kucken,
wie fängt das an und wo kann ich Anker werfen, wo kann ich rechtzeitig mir Hilfe holen,
bevor es wieder zu spät is. Weil dann fällt man erst mal in ein ganz tiefes Loch. Und bis man
da dann wieder raus kommt, ist der Weg weit, und bis dahin ist der Weg auch gefährlich, ne!
Es kann jeder Schuss der Letzte sein. Man weiß ja nie so genau, was kommt. ...
Weiß net, es war jetzt ’ne Menge Drogentherapie Thema ..
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Jetzt essen ’se doch mal ein Stück von dem Stollen, hab ich extra wegen ihnen heut gekauft!
I: Aber gehört dazu!
B: Gehört jetzt in meinem Fall dazu, ganz klar, ja. Wobei, es gibt auch Leute, die aus
anderen Gründen ihre Kinder abgeben. Aber ich glaube, es sind schon viele, oder
abgenommen bekommen, die durch Sucht zerrüttete Familien. Gewalt ist mit Sicherheit
noch ein wichtiges, wesentliches Thema ..... Aber da muss ich meine Meinung net zu äußern
... das is ganz was anderes (schluckt) ..... Ganz ’n anderes ...
I: Lacht.
B: Ja, ehrlich (lacht)
I: Gut , dann nehm’ ich eins.
B: Ja bitte, es gibt auch extra Tellerchen ...
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