Ethnische Unruhen in Pakistan - Hanns-Seidel

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Ethnische Unruhen in Pakistan - Hanns-Seidel
POLITISCHER SONDERBERICHT
Projektland:
Pakistan
Datum:
30.08.2011
Ethnische Unruhen in Pakistan
Karatschi, Hauptstadt der Provinz Sindh und größte Stadt Pakistans wird seit Anfang Juli
von einer erneuten ethno-politisch motivierten Gewaltwelle überzogen, schon im Mai und
Juni 2010 stand die Stadt für einige Tage in Flammen. In den letzten beiden Monaten sind
bei zielgerichteten Tötungen, Überfällen und wahllosen Schießereien über 500 Menschen
ums Leben gekommen. Die Zahl der Opfer in Karatschi für das Jahr 2011 ist auf 1.400
gestiegen. 2011 ist damit das blutigste Jahr seit 1995. Regierung und Polizei bekommen
die Situation nicht unter Kontrolle, es mangelt an entschlossenem politischem Handeln.
In der Folge hat Zulfikar Mirza am 28. August seinen Rücktritt als Innenminister der
Provinz Sindh verkündet. Mirza übt harsche Kritik an der Karatschi-Politik seiner eigenen
Partei, der Pakistan People’s Party (PPP), welche sowohl in der Provinz Sindh als auch
auf nationaler Ebene die stärkste Partei ist. Er beschuldigt seinen Parteikollegen,
Innenminister Rehman Malik der Lügen und der stillschweigenden Zusammenarbeit mit
denen, die für die Gewalt in Karatschi verantworlich sind. Des Weiteren bezeichnet Mirza
große Teile der Muttahida Qaumi Movement (MQM), eine der dominierenden Parteien in
Karatschi und die drittgrößte Partei Pakistans, als Terrororganisation und
Hauptverantwortliche für die Unruhen in der Metropole. Der Rücktritt Mirzas kommt nur
einen Tag vor der ersten Anhörung einer Ermittlungskommission, welche vom
Nationalparlament am 12. August ins Leben gerufen wurde. Sie soll nach
Verantwortlichen für die angespannte Situation in Karatschi suchen und Vorschläge zu
einer Lösung des Problems erarbeiten. Mirza gibt an, diesem Ausschuss Beweise für seine
Aussagen liefern zu wollen.
Die kontroversen Vorwürfe Mirzas werden in den nächsten Tagen Ausgangspunkt
zahlreicher Diskussionen sein. Es wird erwartet, dass die MQM der Koalition der
regierenden PPP in den kommenden Tagen wieder beitreten wird. Im Juni hatte die MQM
die Zusammenarbeit aufgrund von Differenzen abgebrochen. Um diese Koalitionsbildung
nicht zu gefährden, spielen Mitglieder der PPP Mirzas Aussagen jedoch sofort herunter
und betreiben Schadensbegrenzung in dem sie versichern, dass Zulfikar Mirza seine
eigene Meinung vertritt und diese die Parteilinie der PPP in keiner Weise reflektiert.
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Sonderbericht_Pakistan_30.08.2011
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Die Krise in Karatschi ist für Pakistan von so großer Bedeutung, weil die Hafenstadt das
industrielle, ökonomische und finanzielle Herz Pakistans ist, 25% des nationalen BIP
werden hier erwirtschaftet. Die Unruhen legen das öffentliche Leben fast vollständig
lahm: Firmen und Geschäfte machen kaum mehr Profit. Innerhalb von zwei Wochen ist es
zu zwei Generalstreiks gekommen, die Geschäftswelt kostet dies umgerechnet ca. 11,7
Mio. bis 39,3 Mio. Euro pro Tag. Das sind Verluste, die sich Pakistans ohnehin schon
schwache Wirtschaft nicht leisten kann.
Nach der Teilung Britisch-Indiens wurde Karatschi, als damalige Hauptstadt des neu
entstandenen Pakistans und ökonomisches Drehkreuz des Landes, zum Anlaufpunkt für
einen Großteil der Emigranten aus Indien, den sogenannten Muhajir. Diese bilden bis
heute eine starke und gut organisierte Interessengemeinschaft in der Stadt und
dominieren einen Großteil des politischen und öffentlichen Lebens. Dies geschieht oft
zum Missfallen der ethnischen Gruppe der Sindhis, die sich in ihrer eigenen Provinz
benachteiligt fühlen. Um die Interessen der Muhajir auf nationaler Ebene zu vertreten
wird in den 80ern die Muttahida Qaumi Movement (MQM) gegründet, die mittlerweile mit
dem Anspruch antritt, die Interessen aller ethnischen Gruppen zu vertreten, in Karatschi
aber weiterhin von Muhajir dominiert wird.
In den 1980ern wird Karatschi zur Drehscheibe für Waren, die für den Krieg in
Afghanistan bestimmt sind. Dadurch steigen Kriminalitäts- und Korruptionslevel.
Aufgrund des Konfliktes in Afghanistan emigrieren Paschtunen aus dem afghanischpakistanischen Grenzgebiet in die Hafenstadt. Die gleiche Situation wiederholt sich 2001,
als die internationale Intervention in Afghanistan beginnt. Der Wettbewerb um die
politische und ökonomische Vormachtstellung in der Stadt ist deshalb seit einigen Jahren
zu einem Wettstreit geworden, in dem die ethnische Zugehörigkeit als Deckmantel für
politische Ziele missbraucht wird.
Der Großteil der Opfer des Konflikts sind entweder Mitglieder der Awami National Party
(ANP), welche die Interessen der Paschtunen vertritt oder der MQM. Gewalt ist
mittlerweile zu einem stillschweigend geduldeten Werkzeug der politischen
Einschüchterung und Einflussnahme geworden. Überfalle und gezielte Tötungen werden
auch eingesetzt, um Mitglieder der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe unter Druck zu
setzen und zum Umzug in andere Gegenden zu bewegen. Eine ethnische Ghettoisierung
ist die Folge. Vor allem in Anbetracht der nahenden lokalen Wahlen und der für
September angesetzten Volkszählung ist dies von großer Bedeutung.
Ethnische Spannungen halten seit Jahren an, doch Anfang Juli gerät die Situation außer
Kontrolle, innerhalb von fünf Tagen sterben über 100 Menschen. Provinz- und
Nationalregierung reagieren nur mit leeren Stellungnahmen und Schuldzuweisungen an
andere Parteien. Die Polizeipräsenz wird zwar verstärkt und die Ranger, eine
paramilitärische Einsatzgruppe, erhalten neue Befugnisse, doch die Situation bleibt
kritisch. Erst als Handelskammern und Vertreter der Wirtschaftswelt aufgrund der
Unfähigkeit der Regierung den Eingriff des Militärs fordern, entschließt sich die
Regierung am 20. August zielgerichtete Operationen der Polizei und Ranger zu initiieren.
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Die Aktionen werden als Erfolg dargestellt, doch die große Anzahl der festgenommenen
Verdächtigen sind nur Fußsoldaten, das eigentliche Problem bleibt weiterhin bestehen.
Die regierende PPP scheut sich davor, den möglichen Koalitionspartner MQM durch
härtere Maßnahmen in Karatschi zu verprellen. Dies geht auf Kosten der Einwohner
Karatschis und der Wirtschaft Pakistans. Gleichzeitig weigern sich die Hauptakteure der
Unruhen, ANP und MQM, auf politischer Ebene konstruktiv zu diskutieren und gemeinsam
Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Damit offenbart sich das eigentliche Problem in
Karatschi: politische Akteure, die eigentlich Ruhe und Ordnung garantieren sollten, sind
selbst tief in dem Konflikt verwurzelt und weigern sich der Gewalt abzuschwören. Solange
keine politische Zusammenarbeit vorhanden ist und ethno-politische Gewalt nicht
ausreichend von allen beteiligten Gruppen verurteilt wird, kann es keinen langfristigen
Frieden in der Millionenstadt geben.
Frühere Gewaltwellen ebbten ab, wenn sie für die beteiligen Parteien ökonomisch nicht
mehr tragbar wurden. Es bleibt abzuwarten, ob die Anschuldigungen Zulfikar Mirzas eine
ernsthafte Diskussion über die Gründe und die Verantwortlichen für die Gewalt in
Karatschi in Gang setzten können.
Sarah Holz
Die Autorin ist Mitarbeiterin bei Dr. Martin Axmann im Büro der Hanns-SeidelStiftung in Islamabad, Pakistan.
IMPRESSUM
Erstellt: 30.08.2011
Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2011
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