Interview mit Sieglinde Geisel

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Interview mit Sieglinde Geisel
Übers Übersetzen: Reflektionen im Netz
Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel, Gründerin von „tell – Magazin für Literatur und
Zeitgenossenschaft“
Kürzlich ist Ihr Projekt „tell“ an den Start gegangen, ein Online-Magazin für „Literatur und
Zeitgenossenschaft“. Nun gibt es ja im Netz sehr viele Rezensionsportale, Buchblogs und
Literaturseiten. Was möchten Sie anders machen, wen möchten Sie erreichen?
Wir möchten alle Menschen erreichen, die sich über die Literatur (aber auch Sachbücher) einen
Zugang zur Welt verschaffen und ein Bedürfnis haben, sich darüber auszutauschen. Wir machen
keinen Unterschied zwischen Kritikern und Lesern, denn mit interessanten Lesern muss man überall
rechnen. Das heißt aber nicht, dass wir alles einfach so bringen, was uns angeboten wird. Wir
redigieren (auch unsere eigenen Texte), denn tell soll sich als Marke für Qualität etablieren. Unser
einziges Kriterium stammt von Billy Wilder: „Du sollst nicht langweilen!“ Wir probieren neue Formen
netzaffinen Schreibens aus, d. h. wir praktizieren kein Copy/Paste von Print zu Online, sondern geben
uns Mühe beim Aufbereiten der Beiträge für die Bildschirmmedien. Inhaltlich wollen wir eine
Auseinandersetzung um Ästhetik anregen, die ich persönlich im Literaturbetrieb oft vermisse. In der
Reihe „Satz für Satz“ denken wir über Kriterien nach: Wie merke ich, ob ein Buch etwas taugt? Was
für Gedanken findet man dazu bei den Experten, nämlich den Schriftstellern? Warum sind zukünftige
Klassiker in ihrer eigenen Epoche so schwer zu erkennen? Im Ressort „Unter der Lupe“ geht es dann
um konkrete ästhetische Phänomene, auch jenseits der Literatur. Übersetzer berichten von den
Schwierigkeiten bestimmter Begriffe, ein Pianist untersucht Ereignisse des Hörens. Wir sind offen für
alle Experimente – immer unter der Voraussetzung, dass dabei ein spannender, anregender Text
entsteht.
In der Rubrik „Kunst der Kritik“ reflektieren Sie das „intellektuelle Abenteuer des Lesens“, wie es an
einer Stelle heißt. Soll tell auch eine Lücke schließen im Austausch professioneller Literaturkritiker
untereinander?
Uns geht es nicht so sehr um das Selbstgespräch unter Kritikern. Alle Beiträge sollen auch für den
„gewöhnlichen Leser“ (Virginia Woolf) von Belang sein. Wir wollen den Prozess des Lesens sichtbar
machen. Wenn professionelle Kritiker sich an diesem Gespräch beteiligen, umso besser – aber wir
sondern sie nicht als Zielgruppe aus. Wir betreiben zwar bisweilen Orchideenzucht (z. B. mit dem
Beitrag über das Übersetzen von Max & Moritz ins Englische), aber wir streben mit tell kein
Nischenprodukt an.
Unser Kollege Frank Heibert schreibt in der Rubrik „Unter der Lupe“ über seine Auseinandersetzung
mit dem englischen Wort spooks bei der Übersetzung von Richard Fords „Frank“. So viel Raum für
ausführliche übersetzerische Überlegungen ist selten. Werden Übersetzer auf tell häufiger zu Wort
kommen? Welche Aspekte interessieren Sie dabei besonders?
Jeder Übersetzer ist eingeladen, sich bei tell einzubringen. Wir richten uns an interessierte Leser
(auch als Autoren von Beiträgen), und Übersetzer sind die genausten Leser. Sie haben eine
Perspektive auf den Text, die niemand anders hat. Abgesehen von dieser erweiterten Lesekompetenz
finden wir es wichtig, das Übersetzen selbst zu reflektieren. Wenn man internationale Literatur liest,
ist man den Übersetzern ja ausgeliefert, da ist es hoch interessant zu verstehen, was für
Entscheidungen auf dem Weg von der einen in die andere Sprache gefallen sind – zum einen um zu
verstehen, was man eventuell nicht versteht, zum anderen auch um die Arbeit des Übersetzers
sichtbar zu machen und damit zu würdigen.
Frank Heibert erwähnt, dass ihn die Bemerkung eines Literaturkritikers dazu inspiriert hat, noch
einmal über dieses Übersetzungsproblem nachzugrübeln. Wie könnte ein fruchtbarer Austausch
zwischen Kritikern und Übersetzern aussehen? Wie können wir voneinander profitieren und lernen?
Dieser Austausch setzt voraus, dass der Kritiker auch die Herkunftssprache eines Buchs versteht. Es
ist kein Zufall, dass Frank Heibert diesen Tipp bei einer Übersetzung aus dem Englischen erhalten hat,
denn in dieser Sprache kann fast jeder Kritiker die Übersetzung überprüfen. Deshalb findet auch aus
vielen Sprachen so gut wie keine Übersetzungskritik statt. Ich fände es beispielsweise schön, wenn
am Ende eines Buchs ein kurzer Bericht des Übersetzers über die Arbeit am vorliegenden Werk
abgedruckt würde: Was für Grundsatzentscheidungen gab es? Wo musste man vom Wortlaut des
Originals abweichen, um seinem Geist treu zu bleiben? Dies würde den Leser am Prozess des
Übersetzens beteiligen. Allerdings müsste dies gesondert honoriert werden. Und jetzt kommt mir
beim Schreiben eine Idee: Wir könnten auf tell dafür einen Rahmen bieten und solche „Nachworte“
zu Neuerscheinungen veröffentlichen, am besten natürlich begleitend zu den Rezensionen … Das ist
vorderhand kaum zu realisieren, weil wir erst Geld auftreiben müssen, um so etwas gezielt
durchhalten zu können. Und auch hier: Ich denke nicht an den Austausch zwischen Kritikern und
Übersetzern, sondern zwischen LESERN und Übersetzern. Die professionellen Kritiker sind ja nur
Leser, die das Privileg haben, ihre Meinung zu veröffentlichen. Ich möchte das Feld des qualifizierten
Lesens mit tell öffnen für alle, die beim Lesen nachdenken.
Sieglinde Geisel ist Journalistin und Autorin und schreibt u. a. für die Neue Zürcher Zeitung und
Deutschlandradio Kultur. Seit 18. März 2016 ist das von ihr initiierte Literaturmagazin „tell“ online:
www.tell-review.de
Das Gespräch führte Nadine Püschel.