Wie konnte der Mensch in die erschreckende Lage geraten, dem

Transcrição

Wie konnte der Mensch in die erschreckende Lage geraten, dem
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wie konnte der Mensch in die erschreckende Lage geraten, dem Boden,
der Luft und den Lebensformen der Erde irreversiblen Schaden zuzufügen
und damit sich und kommenden Generationen die Lebensgrundlage zu
entziehen?
In seinem Buch verfolgt Hartmann den Gang der Menschheitsgeschichte
über die Jahrtausende hinweg zurück. Was er dabei zum Vorschein bringt,
ist eine ganz andere Welt als die, die wir kennen. Denn es gab eine Zeit,
da die Menschen sich als Teil der Natur verstanden und in Kooperation mit
den anderen Kreaturen der Erde zu leben wußten. Und darin liegt
Hartmanns Botschaft der Hoffnung: Noch ist die Sehnsucht des Menschen
nach einer Wiedervereinigung mit der Welt um ihn nicht erloschen. Noch
können die alten Mythen zu neuem Leben erweckt und die Erinnerungen
an das Wissen unserer Vorfahren wachgerufen werden.
»Unser ausgebrannter Planet« verbindet auf brillante Weise Spiritualität
und Ökologie. Wenn es uns wieder gelingt, den Geist alter Bäume zu
spüren und die Göttlichkeit der Natur um uns wahrzunehmen, werden wir
auch erkennen, daß es nicht unsere Bestimmung ist, diese Natur, deren
Teil wir sind, zu beherrschen. Mit dieser Erkenntnis werden wir unsere
Rolle im Ökosystem neu bestimmen und den Weg aus der Krise in eine
bessere Zukunft finden.
Thom Hartmann zählt zu den populärsten und einflußreichsten
»prophetischen Denkern« der Gegenwart. Neben seiner erfolgreichen
Autorentätigkeit ist er Psychotherapeut und NLP-Trainer. Seit über
20 Jahren behandelt er in eigener Praxis Menschen mit Lern- und
Verhaltensstörungen. 1978 gründete er zusammen mit seiner Frau Louise
das New England Salem Children's Village, ein Kinderdorf, das nach dem
Konzept des Kinder- und Jugendhilfswerks Salem arbeitet. Oberstes Ziel
ist dabei, ein gewaltfreies Zusammenleben aller Erdbewohner, Menschen
wie Tiere, zu fördern und den Kindern Achtung vor der Erde und allen
Wesen nahezubringen. Seit 1998 ist dem Kinderdorf auch eine
Internatsschule (»The Hunter School«) angegliedert.
Thom Hartmann arbeitete auch für die Hungerhilfe des internationalen
Salem-Programms in Afrika, Europa, Südamerika und Asien sowie als
Berater für US-Regierungsstellen und Privatunternehmen. Gegenwärtig lebt
Thom Hartmann mit seiner Familie in Vermont, USA.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
1/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Thom Hartmann
Unser
ausgebrannter
Planet
Von der Weisheit der Erde
und der Torheit der Moderne
Aus dem Amerikanischen
von Gisela Kretzschmar
Riemann Verlag
One Earth Spirit
Die amerikanische Originalausgabe erschien
unter dem Titel »The Last Hours of Ancient Sunlight«
bei Mythical Books, Northfield, Vermont, USA.
5. Auflage
©1998, 1999 Mythical Research, Inc.
This translation published by arrangement with Crown Publishers,
a division of Random House, Inc., New York
©2000 der deutschsprachigen Ausgabe Riemann Verlag GmbH, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
ISBN 978–3–570–50011–8
www.riemann-verlag.de
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
2/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Gewidmet
meiner Tochter Kindra Hartmann für all die Lektionen, die sie
uns über Mitgefühl und Liebe erteilt hat, und das beispielhafte
Mitgefühl und Verständnis, das sie uns vorlebt;
meinem Sohn Justin Hartmann als Anerkennung für seine
Liebe zu Büchern und Ideen und die Herausforderung, vor die
er uns mit seiner Sehnsucht nach konkretem Handeln zur
Verbesserung der Welt gestellt hat;
und meiner Tochter Kerith Hartmann für die Inspiration, die sie
uns durch ihr Handeln und ihren leidenschaftlichen Einsatz für
die Heilung der Menschen und des gesamten Lebens
vermittelt.
Wir, die Generation, die dem nächsten Jahrhundert
entgegensieht, können die … feierliche Aufforderung
hinzufügen: »Wenn wir nicht das Unmögliche tun, werden wir
das Undenkbare erleben.«
Petra Kelly (1947–1992)
Mitbegründerin der Grünen in
Deutschland
Hinweis des Autors
Von Anbeginn der jüdisch-christlichen Tradition bis heute
waren und sind einige Menschen der Ansicht, der Name des
Schöpfers sei so heilig, daß er, von wenigen Ausnahmen
abgesehen,
nicht
ausgesprochen
oder
vollständig
geschrieben werden dürfe. Aus Respekt vor dieser Tradition
folgt das Buch der Sitte, statt des Buchstaben »o« einen
Bindestrich im Namen des Schöpfers einzusetzen – daher die
Schreibweise »G-tt«.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
3/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Inhalt
Vorwort
13
Einleitung: Warum dieses Buch?
23
Teil I
Unsere Vorräte an gespeichertem Sonnenlicht sind bald
erschöpft
29
Wir sind aus Sonnenlicht erschaffen
31
Mehr Sonnenlicht gewinnen – aus anderen Tieren · Mehr Sonnenlicht gewinnen –
aus dem Boden · Als das ehemalige Sonnenlicht in der Erde gespeichert wurde ·
Wir verbrauchen gespeichertes Sonnenlicht · Weitere Möglichkeiten, gespeichertes
Sonnenlicht zu verbrennen · Wie lange reichen die Vorräte noch? Wieviel fossile
Brennstoffe haben wir noch übrig?
Wie kann die Situation so gut scheinen und doch so schlecht sein?
49
Zahle nicht »an der Kasse« – lebe einfach vom »Startkapital« · Das »PonziSchema« · Unsere fossilen Brennstoffquellen: »Startkapital« oder »PonziSchema«? · Ist Wirtschaftswachstum die Lösung? · Alte Krankheiten kehren
zurück · Vielleicht erscheint uns die Lage einfach deshalb so gut, weil wir nicht
sehen oder hören, was passiert
Sklaverei und Freiheit
64
Flüchtige Eindrücke einer möglichen Zukunft in Haiti und anderen
Brennpunkten
68
Die Philippinen: Kinder suchen im Abfall nach Nahrung · Nepal: Vier Stunden
Fußmarsch, um das Brennholz für einen Tag zu finden · Westafrika: Das Holz wurde
verbraucht, Erosion setzte ein, jetzt ist dort Wüste · Wir bemerken die raschen
Veränderungen, nicht die langsamen
Das Baumsterben
76
Bäume · Wurzeln als »Wasserpumpe« · Neu gepflanzte Setzlinge können das
Wasser nicht nach unten ziehen · Bäume für Fleisch: Der Regenwald wird
abgeholzt, damit die Amerikaner ihr Fast food bekommen · Mit den gerodeten
Wäldern verschwinden die Wurzeln: Auswirkungen auf das Grundwasser und den
Wasserkreislauf
Ausgelöscht: Artenvielfalt hilft beim Überleben
88
Artenvielfalt hilft beim Überleben, und wir verlieren sie · Kleine, lokale und weit
verstreute Systeme sind relativ »fehlerfreundlich« · Auch die soziale Vielfalt leidet
Klimaveränderungen
99
Der Garten Eden und die Sintflut · Wir sollten bedenken, an welchem Punkt wir
angekommen sind
Besuch in einem Land, das sein Überleben plant: China
117
Wer wird China ernähren?
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
4/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Das Verschwinden der Wälder, der Kampf um Brennstoffe und der
Aufstieg und Fall von Weltreichen
126
Können wir unsere Zivilisation retten, wenn wir Alternativen zum Öl entwickeln? ·
»Grüne« Energie · Wenn der Brennstoff knapp wird, beginnen die Kämpfe
Teil II
Jüngere und ältere Kulturen: Wie sind wir in diese Lage
gekommen?
139
Die Macht unseres Weltbildes: ältere und jüngere Kulturen
141
Die Macht unserer Gedanken
Die Kontroll-Drogen der jüngeren Kultur
148
Wir schlafen nicht nur: Wir befinden uns im Drogenrausch · Die Krankheit eines
»Lebens in der Kiste« · Wie es sich anfühlt, wieder mit der Welt in Berührung zu
kommen
Wie jüngere Kulturen die Dinge sehen
167
Das heutige Weltbild »jüngerer Kulturen« · Wétik o: Gewinn durch die Vernichtung
fremden Lebens · Die Grundlagen unserer Kultur · Wohin es führt, wenn wir denken,
daß »alle anderen schlecht sind« · Die Geschichte der Gegenwart: Wir sind alle
voneinander getrennt · Unsere Vorstellung von »primitiven« Menschen · Das
Wachstum unserer Kultur hat Ähnlichkeiten mit Krebs · Der Angriff der jüngeren
Kulturen läßt uns wenig Alternativen · Die Geschichten verändern
Woran wir uns erinnern müssen
199
»Das große Vergessen« · Die Schönheit des Erinnerns · Woran wir uns erinnern
müssen: Das Weltbild der »älteren Kultur« · Die Geburt von Klassenunterschieden
und Machtstrukturen · Wie es geschah · Die »Sklaverei« (Verlust der Freiheit) der
Zivilisation · Freizeit · Kulturelle Tiefe · Moderne Sklaven
Das Leben der alten Völker
228
Die San und die Kogi: Die Bedeutung von Gemeinschaft und Kooperation; wir sind
ein Teil der Welt und nicht von ihr getrennt · Die Kayapo: umweltverträgliche
Landwirtschaft
Macht versus Kooperation in sozialen Systemen: Stadt/Staat versus
Stamm
236
Stammeskulturen und Stadt- und Staatskulturen · Die Struktur einer
Stammesgruppe · Die Struktur einer städtischen und staatlichen Kultur · Die
möglichen Ursprünge von Städten und Staaten · Die Bevölkerung in
Stammeskulturen · Aber wie haben die Stämme ihr Bevölkerungswachstum
kontrolliert? · »Aber unsere Nationen sind so stabil …« · Anarchie oder
Stammessystem?
Aber was ist mit Darwin und dem Recht des Stärkeren?
265
Teil III
Was können wir dagegen tun?
273
Die neue Wissenschaft
277
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
5/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Das Weltbild des ersten Menschen · Die Physik entdeckt das Bewußtsein · Wir
verändern täglich unsere Welt · Praktizieren Sie kleine Akte anonymer
Barmherzigkeit · Verbinden Sie sich wieder direkt mit G-tt
Wir brauchen neue Weltbilder, um die Welt zu verändern
298
Das herrschende Weltbild kann verändert werden und wird verändert: Dann ändert
sich auch die Wirklichkeit
Das Heilige berühren
304
Ein Blick in die Vergangenheit · Ankunft in der Gegenwart
Lernen Sie, Gewahrsam zu schaffen
312
Lektionen eines Mönchs
318
Den Frauen wieder die Macht übertragen
327
Das Geheimnis des »Genug«
330
Was Reichtum bedeutet · Der Reichtum der Sicherheit · Aber sind sie nicht
bitterarm? · Unsere Armut
Respekt vor anderen Kulturen und Gemeinschaften
338
Respekt vor dem Sabbat für das Land und vor den Erlaßjahren · Der Reichtum alter
Kulturen
Dem Krieg gegen das Leben abschwören
348
Sehen Sie in das Gesicht G-ttes
351
Technologie anders nutzen
354
Das Öl nutzen, um kein Öl mehr zu verbrauchen · Energieversorgung abseits der
großen Netze · Energie sparen
Schalten Sie den Fernseher ab
363
Der moderne Stamm: die Zweckgemeinschaft
368
Stämme und Gemeinschaften · Zweckgemeinschaften · Holen Sie sich
Unterstützung und Informationen von der wachsenden Community-Bewegung · Ein
Besuch bei einer »Zweckgemeinschaft«
Das Alltagsleben und Rituale neu erfinden
394
Rituale verschwinden nicht, sondern ändern sich nur · Sinnvolle Rituale · Rituale neu
erfinden
Wir haben viel zu lernen – und noch mehr, woran wir uns erinnern
müssen
404
Nachwort
408
Literaturempfehlungen
411
Danksagung
414
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
6/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Vorwort
[13]
Brillantes,
innovatives, kreatives und originelles Denken zu entdecken,
gehört zu den seltenen Sternstunden des Lebens. Um so ermutigender ist es,
wenn man dann feststellt, daß ein solcher Denker sich mit eben jenem Thema
auseinandersetzt, das für die Menschheit höchste Bedeutung hat. Weil es sich
hier um ein zukunftweisendes Werk handelt, in dem ebenso originelle wie
traditionelle Positionen vertreten werden, sehe ich unsere Situation heute in
einem neuen Licht. Und weil dieses Werk so viele Aspekte der Problematik
bis in die Tiefe auslotet, finde ich es ebenso inspirierend wie aufrüttelnd. Ich
habe bereits bei meinem Lob für das letzte Buch von Thom Hartmann, The
Prophet's Way (Der Weg des Propheten), alle Superlative strapaziert, indem
ich es zu Recht »das wichtigste Buch, das ich je gelesen habe« nannte. Jetzt
muß ich feststellen, daß dieses neue Werk ebenso beeindruckend ist, denn
das Thema, um das es hier geht, betrifft die gesamte Menschheit, ja sogar
alle Lebewesen auf dieser Erde.
Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, warum diese
herzzerreißende und geradezu beängstigende ökologische Krise oft nur so
oberflächlich und nebenbei erörtert oder gar von einer schlafwandelnden
Bevölkerung vollends ignoriert wird. Eine Krise von planetarem Ausmaß
betrifft alle Aspekte unseres Daseins, vom Persönlichen über das Soziale bis
hin zu weltweiten Zusammenhängen, aber trotz gelegentlicher
Lippenbekenntnisse und Katastrophenszenarien scheinen die meisten
unserer Gesten (ein bißchen Recycling, ein bißchen weniger Autofahren,
etwas die Heizung oder die Klimaanlage herunterdrehen, eine Spende für
eine Umweltorganisation) nur darauf abzuzielen, unser Schuldbewußtsein zu
verringern oder unser Gefühl der Ohnmacht zu verschleiern. Im Grunde tun wir
nicht viel, um unseren Absturz aufzuhalten.
[14]
Vielleicht stecken wir lieber den Kopf in den Sand, weil die Vergewaltigung
unserer Erde einfach zu riesig und zu schrecklich ist und Kräfte umfaßt, die
sich unserer persönlichen Kontrolle vollständig entziehen (wenn wir genauer
darüber nachdenken, sieht es so aus, daß sie sich jeglicher Kontrolle
entziehen). Die einzige vergleichbare Bedrohung, die mir dazu einfällt, ist die
Gefahr der atomaren Vernichtung, die fast ein halbes Jahrhundert als dunkle
Wolke über unseren Köpfen hing und sich erst in jüngster Zeit verringert hat.
Auf einer mehr regionalen und persönlichen Ebene könnte ich vielleicht auch
noch die Zerstörung durch den Steinkohle-Tagebau in den Appalachen im
südwestlichen Virginia und im östlichen Kentucky erwähnen, wo ich meine
glückliche und idyllische Kindheit verbracht habe. Die Landschaftszerstörung
durch den Tagebau, der dort nach dem Zweiten Weltkrieg begann, kann man
sich nur vorstellen, wenn man sie gesehen hat. Auf einem unberührten
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
7/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Gebirgskamm stehend kann man sehen, wie ganze Landstriche buchstäblich
dem Erdboden gleichgemacht und vernichtet wurden, ausradiert – man blickt
auf scheußliche Narben im südlichen Hochland, das früher zu den
landschaftlich schönsten Gegenden gehörte. Wo man einst den Trail of the
Lonesome Pine und andere Naturschönheiten bewundern konnte, sind heute
die Flüsse voller Schlamm, die Täler mit Abraumhalden zugeschüttet, die
Landschaft verunstaltet, aber es wurden riesige Summen in Aussicht gestellt –
kurzfristige Angebote, die beinhalteten, daß ganze Bezirke in der Region
verkauft wurden und jede Sanierungsmöglichkeit ausgeschlossen ist. Bagger
mit Rädern, die zwei Stockwerke hoch sind (Fahrzeuge, die an Ort und Stelle
zusammengebaut werden mußten), versetzten ganze Berge – doch nicht durch
Glauben, sondern ausschließlich mit Erdöl.
Hartmann wirft ein neues Licht auf solche Vorfälle und zeigt uns, daß unsere
gegenwärtige Krise eine Jahrtausende zurückreichende Geschichte hat. Sie
ist das ferne Echo jener Gedankenkräfte, die vor langer Zeit in Bewegung
gesetzt wurden, eingewoben in die neuralen Prozesse unseres Gehirns. Ein
kulturell vererbtes Gedankengebäude, das im Laufe von Jahrtausenden
errichtet wurde, steckt hinter der zunehmenden Gewalt, die wir der Erde – und
einander – antun. Die seltsamen Ängste und Wutgefühle, die unsere moderne
Welt durchdringen, sind »altes Karma«, das wir schon lange mit uns
herumschleppen und als ebenso selbstverständlich akzeptieren wie die
Bezeichnung der Farbe Blau als blau oder Rot als rot – sie sind einfach unser
Erbe, so wie die Söhne nervös werden, wenn die Väter verärgert sind,
Generation für Generation – ein unbewußter Kreislauf, der jedoch, wie
Hartmann zeigt, durch bewußtes Handeln unterbrochen werden kann.
[15]
»Ach, darum sollen sich die Ökos kümmern«, ist jedoch oft die Reaktion auf
Umweltthemen, vor allem von Seiten der Erfolgsmenschen, die sich
vorgenommen haben, Bill Gates zu übertrumpfen. Wir sind so von unseren
eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, wollen in der Welt einfach
»weiterkommen« oder »es schaffen«, daß es schwierig ist, zurückzutreten und
die Konsequenzen unseres gewöhnlichen alltäglichen Handelns zu bedenken,
das wir unbewußt als Norm akzeptieren. Oder wir rationalisieren einfach, wie
einer meiner Freunde, der als Geschäftsmann das »Ökogeschwätz« als
unwesentlich abtat angesichts der enormen Größe unseres Planeten und
unserer dementsprechend geringen Bedeutung als Bewohner dieser Erde –
als seien wir Mikroben, die über den riesigen Erdball kriechen, ohne die
planetaren Funktionen nennenswert zu beeinträchtigen.
Thom Hartmann erörtert unsere Notlage bewundernswert einfach und klar,
wobei er sich auf zahlreiche Forschungsergebnisse stützt, die in der Tat
ernüchternd sind. Ich habe sein Manuskript Freunden gezeigt und mit ihnen
ausführlich darüber gesprochen, aber trotz meiner Begeisterung war ihre
Reaktion enttäuschend. »Ach, das …« hieß es, als ihnen klar wurde, daß es
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[16]
8/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
um das Thema Ökologie ging. Und dann wandten sie sich wieder den wirklich
wichtigen Dingen zu – und dazu gehören eben keine Nebensächlichkeiten wie
eine verwundete Erde, ein sterbendes Ökosystem, das Verdorren der
menschlichen Spiritualität, die massive Überbevölkerung und drohende
Hungersnöte.
Ich erinnere mich an meinen Platznachbarn auf einem Flug von Los Angeles
nach Washington D.C. im Jahre 1979 (also vor fast 20 Jahren), einen
Geophysiker, der als Geologe für die Regierung arbeitete und eben von einer
internationalen Konferenz der Geophysiker in Tokio zurückkehrte. Er war
wenig optimistisch. »Alles, was unser Ministerium in den letzten fünfzig Jahren
prognostiziert und der Regierung vorgelegt hatte«, so behauptete er, »ist
genau wie vorhergesagt eingetreten, aber jeder unserer Berichte über die
schwerwiegenden ökologischen Probleme ist systematisch ignoriert oder
regelrecht unterdrückt worden. Wahrscheinlich ist unser Beitrag zum
Bruttosozialprodukt nicht allzugroß, und deshalb heißt es dann: ›Wir brauchen
die Öffentlichkeit nicht mit den alarmierenden Meldungen dieser
Wissenschaftler zu beunruhigen, die sich selbst so furchtbar ernst nehmen,
wissen Sie.‹«
Die Hauptsorge bei jener Konferenz der Geowissenschaftler im Jahre 1979
galt der Zerstörung des Regenwaldes in der Region um den Äquator. Der
Regenwald in dieser Gegend ist die einzige substantielle Quelle von
Sauerstoff und nimmt gleichzeitig das Kohlendioxid aus der Luft auf. Zudem
beeinflußt er nachhaltig die globalen Niederschläge und Wettermuster. Aber
damals wurden stündlich etwa 1 200 000 Quadratmeter Regenwald abgeholzt,
und die Wissenschaftler waren sich einig, daß es sich hier um einen
verhängnisvollen Irrtum von globalen Ausmaßen handelte, der immer rascher
um sich griff.
Um festzustellen, um wieviel schneller der Regenwald heute zerstört wird,
sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich die Statistiken der letzten zwanzig
Jahre ansehen – falls Sie den Mut dazu besitzen.
Eine andere Zufallsbekanntschaft aus dem Flugzeug war Geologe bei BP
(British Petroleum). Ich traf ihn 1991. »Unsere Ölvorräte gehen zur Neige«,
klagte er, »das Ende ist in Sicht, aber wir verbrennen weiterhin Öl. Wir sollten
es lieber aufsparen, um daraus Kunststoffe und andere Produkte herzustellen.
Wir könnten statt dessen Energie aus Wasserstoff gewinnen«, hob er hervor,
»das ist die Substanz, die im Universum am weitesten verbreitet ist. Wir sind
sicher, daß man damit Autos, Fabriken, Elektrogeneratoren und dergleichen
mehr antreiben könnte. Aber wenn wir jetzt unsere letzten Ölreserven
verbrennen«, wiederholte er, »dann ist das eine Riesenkatastrophe und
absolut unvernünftig.« (Ich habe seitdem nichts mehr über die WasserstoffTechnologie gehört, und auch nichts darüber, daß die Logik und Vernunft
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[17]
9/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
unserer Wirtschaftsweise in Frage gestellt worden wäre.)
Wäre das Verbrennen unserer Ölreserven der einzige unlogische Vorgang in
der heutigen Zeit, vielleicht wäre dann die unterschwellige Angst, an der die
gesamte Menschheit leidet, nicht so ausgeprägt, aber das Öl ist, wie
Hartmann auf den folgenden Seiten darlegt, nur ein Faden im Gewebe unserer
ineinandergreifenden Handlungen, die von extremer Geistesverwirrung
zeugen. Warum sollen wir dieses Zeug lesen, fragen Sie vielleicht, wenn die
Situation tatsächlich so ernst ist, wie die Experten behaupten? Warum nicht
einfach essen, trinken und fröhlich sein, die letzten Rosenknospen sammeln,
denn morgen …? Sie sollten weiterlesen, weil Bürgerinnen und Bürger, die nur
durch oberflächliche Drei-Minuten-Beiträge in Funk und Fernsehen informiert
werden, bestenfalls oberflächlich reagieren können. Es steht wesentlich mehr
auf dem Spiel. Hartmanns Sammlung kalter Fakten ist notwendig, um die volle
Bedeutung dessen zu erfassen, was hier vorgeht. Sein Aufruf zu
verantwortungsbewußtem Handeln, einem Handeln, zu dem wir alle fähig sind,
ist ein vernünftiger und praktikabler Aufruf, wieder zu geistiger Gesundheit
zurückzukehren und, wenn wir die Situation schon nicht umkehren können, so
doch wenigstens den Samen für eine neue Ökologie und eine neue Erde zu
pflanzen: zu retten, was noch zu retten ist, wenn ein nicht mehr lebensfähiges
und chaotisches System sich am Ende selbst zerstört. Wir müssen erst die
Krankheit begreifen, bevor wir die Therapie verstehen können.
[18]
Natürlich werden immer mehr Bücher über den ökologischen Kollaps
veröffentlicht, während Wissenschaftler bei den Regierungen, der Industrie und
den Verbrauchern um die Anerkennung der Fakten ringen – leider vergeblich.
Viele von uns, die der Öffentlichkeit kritische Themen unserer Zeit vermitteln
wollen, erreichen nur die Leute, die sich ohnehin schon umgestellt haben (die
anderen hören nicht zu), während die große Maschine, die nun zur »globalen
Ökonomie« herangewachsen ist, sich immer schneller auf den Abgrund
zubewegt. Wir erinnern uns an Rachel Carsons prophetisches Buch Der
stumme Frühling, das vor vielen Jahren erschienen ist, und sprechen davon,
daß ihre Arbeit ein »Wendepunkt« in der Diskussion über die chemische
Vergiftung der Erde war, doch rückblickend erkennen wir, daß keine
nennenswerten Veränderungen stattgefunden haben, sondern nur ein wenig
Oberflächenkosmetik betrieben wurde, um den Aufschrei zu mildern und
unbeeindruckt
weiterzumachen
wie
bisher.
Unsere
»Umweltschutzorganisationen« streiten vor den Kameras um kleine Fische,
während sie hinter unserem Rücken riesige Kröten schlucken. Carsons
Behauptungen hätten letztendlich auch wenig zum Bruttosozialprodukt
beigetragen; folglich enthält die Muttermilch heutzutage mehr DDT als damals
und zusätzlich noch eine Menge neuer Chemikalien, an die Carson nicht
einmal im Traum gedacht hat. (Wir produzieren im Durchschnitt neuntausend
neue Chemikalien pro Jahr, molekulare Kombinationen, die es nirgendwo
sonst im Universum gibt, und 90 Prozent davon sind krebserregend.) Und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
10/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Krebs, die Krankheit, an der die arme Rachel ironischerweise gestorben ist,
breitet sich nahezu exponentiell aus.
Im Jahre 1954 – so lange ist es tatsächlich schon her – haben die britischen
Zellbiologen Williamson und Pierce nach dreißig Jahren medizinischer
Forschung, die von der Peckham Foundation gefördert wurde, erklärt, die
Menschheit sei zu einem Krebsgeschwür am lebenden Körper der Erde
geworden, und sie haben vorhergesagt, da die Erde und ihre Bewohner eine
einzige lebendige Symbiose darstellen, würden sich Krebskrankheiten in der
menschlichen Bevölkerung epidemisch ausbreiten. Ihre Prognosen und
Empfehlungen waren wenig geeignet, das Wachstum der britischen Industrie
oder gar der Vereinigten Staaten zu fördern, und sie wurden völlig ignoriert.
[19]
Schon lange brauchen wir eine neue Sichtweise der Problematik und eine
Darstellung der himmelschreienden Fakten, die so überzeugend ist, daß sie
für sich selbst sprechen. Und genau das präsentiert uns Thom Hartmann hier:
Er macht uns deutlich, daß die Verarmung und der Verfall der menschlichen
Spiritualität die Wurzel unserer Krankheit ist, eine Entwicklung, die sich
bereits über Jahrtausende erstreckt, und daß nur ein neues kulturelles
Selbstbild und Weltbild uns retten kann. Wir hören zwar bis zum Erbrechen
vom
»wissenschaftlichen
Paradigmenwandel«,
aber
nur
die
Wiederentdeckung eines sehr alten Paradigmas, bei dem es um die
Heiligkeit des Alltagslebens, die Heiligkeit jeder Lebensform, von der
lebendigen Erde über die Menschen bis zu allen anderen Lebewesen geht,
kann die Wende bringen. Und diese Vorstellungen werden uns nicht durch das
Fernsehen oder die Computertechnologie vermittelt.
Insofern ist der letzte Teil dieses Buches nicht nur ein Aufruf zu persönlicher
Verantwortlichkeit – eine eher vage Abstraktion –, sondern eine sehr
machtvolle und deutliche »Verhaltensvorschrift«, nach der sich auch der Letzte
von uns richten kann, um in seinem eigenen Inneren dieses alte und doch stets
neue Bild des Lebens zu entdecken und danach zu handeln. Hier ist eine
Aufforderung zum Handeln, der jeder folgen kann, zur persönlichen
Bereicherung und spirituellen Erneuerung, um geistigen Frieden zu erlangen
und unseren Planeten wieder zu dem zu machen, was er einmal war.
[20]
Ich kann nur dringend darum bitten, daß jeder dieses bemerkenswerte,
ungewöhnliche, einzigartige und außerordentliche Buch liest, darüber spricht
und es bekannt macht, so als würde unser persönliches Leben davon
abhängen – was tatsächlich der Fall ist.
Zweifellos werden wir der Aufrufe zum Handeln müde, doch wenn wir diesen
hier ignorieren, gefährden wir uns selbst, unsere Kinder und Kindeskinder und
diese wunderbare Erde, für die wir Verantwortung tragen. Als ich Jerry
Manders Meisterwerk In the Absence of the Sacred, das in dieselbe Richtung
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
11/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wie Hartmann weist, gelesen hatte, dachte ich, ich sei über ökologische
Themen informiert, aber die Lektüre von Unser ausgebrannter Planet hat mir
die Augen für neue Perspektiven geöffnet.
Lesen Sie also dieses Buch. Kaufen Sie ein weiteres Exemplar und schenken
Sie es einem Freund. Machen Sie ein bißchen Wind – schicken Sie ein
Exemplar an Ihren Bundestagsabgeordneten, an die Handelskammer, an eine
Rundfunkanstalt. Bestehen Sie darauf, daß es in die Lehrpläne von Schulen,
Hochschulen und Universitäten aufgenommen wird. Und ruhen Sie sich nicht
nach ein paar noblen Gesten auf Ihren Lorbeeren aus (wie ich es oft tue).
Bleiben Sie am Ball – der immer schneller fortschreitende Verfall, zu dem wir
selbst beigetragen haben, wird sich nicht so leicht stoppen lassen. Wir haben
ungeheure Kräfte in Bewegung gesetzt, und jetzt ist ein enormer Einsatz
gefragt.
Als sie vom Gemetzel an den afrikanischen Elefanten erfuhr, warf sich meine
damals elfjährige Tochter, besessen von der geradlinigen und klaren Logik
der Vernunft und deshalb unfähig, die mörderische Unvernunft der
Erwachsenen zu begreifen, weinend auf den Boden und schrie: »Wie können
sie das nur tun? Wie nur?« – und dann drehte sie sich um, zeigte auf mich und
klagte: »Und du sitzt einfach nur da rum!«
Was sollte ich sagen? Wenn ich gewollt hätte, hätte ich etwas tun können,
aber ich wußte nicht was. Nach bemerkenswerten Einsichten in die Natur der
Krankheiten, die uns befallen haben, stellen Ihnen die folgenden Seiten noch
bemerkenswertere Mittel und Wege vor, zeigen Ihnen konkrete,
ungewöhnliche und unerwartete Handlungsmöglichkeiten. Und sogar ich, in
meinem siebten Lebensjahrzehnt auf dem Weg ins Unbekannte, kann wirklich
etwas tun, ebenso wie Sie. Also, wie meine Tochter sagen würde: »Sitzen Sie
nicht rum, tun Sie etwas!« Machen Sie dieses Buch bekannt, und setzen Sie
seine Botschaft in Ihrem Leben um. Jetzt. Hier und heute, zu dieser Stunde.
[21]
Hochachtungsvoll
Joseph
Pearce
Chilton
Faber, Virginia, USA
Oktober 1997
[23]
Einleitung
Warum dieses Buch?
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
12/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wir hatten unsere letzte Chance. Wenn wir
k ein besseres oder gerechteres System
schaffen k önnen, wird das Armageddon[1] vor
unserer Tür stehen.
Douglas MacArthur (1880–1964)
am 2. September 1945
In den letzten vierundzwanzig Stunden sind auf unserem Planeten 80 000
Hektar Regenwald zerstört worden. Volle 13 Millionen Tonnen giftiger
Chemikalien wurden in unsere Umwelt entlassen. Mehr als 45 000 Menschen
sind verhungert, davon 38 000 Kinder. Und mehr als 130 Pflanzen- oder
Tierarten sind durch menschliches Handeln ausgelöscht worden. (Ein
Artensterben von diesen Ausmaßen fand zuletzt beim Untergang der
Dinosaurier statt.) Und all dies geschah in nur vierundzwanzig Stunden.
Wir Menschen in der modernen Welt denken oft im Leben nur an unsere
Alltagsprobleme, ans Geldverdienen und an die Sicherung eines bestimmten
Lebensstandards. Gelegentlich hören und sehen wir etwas genauer hin, und
dann können wir ohne große Mühe eine Kakophonie von Stimmen
wahrnehmen, die sich in düsteren Voraussagen über die Zukunft ergehen, von
vernünftig bis unwahrscheinlich.
Täglich präsentieren uns die Medien Geschichten über neue Killerbakterien
oder Viren, extreme Wetterverhältnisse, allgegenwärtige krebserregende
Umweltgifte, alarmierende Bedrohungen für unsere Nahrungsmittelversorgung
und Experten, die behaupten, der wirtschaftliche Zusammenbruch und die
weltweite Depression – vielleicht auch die letzte Schlacht von Armageddon –
seien nur noch ein paar Tage oder Jahre entfernt.
[24]
Auf der anderen Seite gibt es aber auch Leute, die uns sagen, alles sei
bestens, vielen Dank, und es gebe keine Probleme: Die gesamte
menschliche Weltbevölkerung passe in ein Gebiet in der Größe von Florida
(obwohl die Einwohner von Florida von dieser Idee nicht begeistert sind), und
die moderne Technologie werde eines Tages alle unsere Probleme lösen.
Zwischen diesen widerstreitenden Ansichten darüber, was in unserer Welt
richtig oder falsch läuft, gibt es eine andere Kontroverse, bei der es darum
geht, was wir zur Lösung der Probleme tun oder nicht tun sollten.
Bei den meisten Auseinandersetzungen dieser Art werden jedoch vier
grundlegende Realitäten übersehen:
1. Trotz der Bedeutung der modernen Technologie sind die gegenwärtigen
Krisen und Gefahren nicht etwa Unfälle, die durch Veränderungen in
jüngster Zeit verursacht worden wären. Sie sind das vorhersagbare
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
13/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Ergebnis der Art und Weise, wie die Menschheit seit dem Aufkommen
der ersten Städte/Staaten, die von den Sumerern vor etwa 7000 Jahren
gegründet wurden, gelebt hat. Außerdem spiegeln sie immer
wiederkehrende Zyklen, die diese Städte/Staaten durchlaufen haben,
seitdem einige Menschen sich entschieden haben, nicht mehr in
Stammesgemeinschaften, sondern in Städten/Staaten zu leben.
2. Wir (und alle anderen Lebewesen) bestehen aus der Nahrung, die wir
essen, und die einzige Energiequelle der Nahrung ist das Sonnenlicht.
Ohne Sonne kein Leben; Sonnenlicht im Überfluß und reichlich Wasser
sorgen dagegen für eine Fülle von Lebensformen. Wir bestehen aus
Sonnenlicht. Wie wir mit dieser fundamentalen Energiequelle umgehen,
spiegelt unser Selbstbild im Verhältnis zur sonstigen Natur.
3. Unsere Probleme werden nicht durch unsere Technologie, unsere
[25]
Ernährungsweise, Gewaltdarstellungen in den Medien oder durch irgend
etwas anderes, das wir tun, hervorgerufen. Sie sind eine Folge unserer
Kultur – unserer Weltsicht. Die meisten Vorschläge zur Lösung der
weltweiten Krise sind nicht praktikabel, weil sie Ausdruck derselben
Weltsicht sind, die eben jene Krise verursacht hat. Sie werden beim
Lesen dieses Buches erkennen, daß weder Recycling noch
Geburtenkontrolle noch der Schutz der verbliebenen Regenwälder die
Welt retten kann. Selbst wenn wir all dies konsequent umsetzen würden,
hätten wir das fundamentale Problem nicht gelöst, und der Teufelskreis
würde sich unvermeidlich wiederholen. Nicht einmal die kalte Fusion, mit
deren Hilfe wir unseren Energiebedarf ohne Erdöl decken könnten und
die der ganzen Welt unbegrenzte Energiemengen bescheren würde,
könnte »die Welt retten«. Nur wenn wir unsere Weltsicht und unser
Verständnis der Welt ändern, können wir einen echten, bedeutsamen
und dauerhaften Wandel herbeiführen. Und dieser Perspektivenwandel
wird uns dann auf ganz natürliche Weise dazu bringen, daß wir das
Bevölkerungswachstum eindämmen, unsere Wälder schützen, das
Gemeinschaftsleben neu gestalten und unserem verschwenderischen
Konsum Grenzen setzen.
4. Die Lösungen, die ich in diesem Buch vorschlage, sind in der
Geschichte der menschlichen Rasse weder neu noch radikal. Im Grunde
sind sie Ausdruck einer Weltsicht, die die Menschheit seit
Hunderttausenden von Jahren erhalten und ernährt hat. In Südamerika,
Nordamerika, Afrika, Australien und im frühen Asien haben die
einheimischen Stämme ihr Bevölkerungswachstum beschränkt und ihre
Welt nicht zerstört, obwohl sie in den meisten Fällen über sehr viel mehr
Ressourcen verfügten, als sie brauchten. Auch gibt es in der frühen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
14/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Menschheitsgeschichte keine Hinweise darauf, daß die Menschen einen
harten, verzweifelten Lebenskampf führten, wie es so oft in den Medien
dargestellt wird und wie es sich der moderne Durchschnittsbürger
vorstellt. Sie lebten im Einklang mit ihrer Umwelt, sahen die Heiligkeit
[26]
der Welt und die Gegenwart des Schöpfers und des Göttlichen in allen
Dingen und führten im allgemeinen ein erfülltes Leben, in dem sie über
sehr viel mehr Freizeit verfügten, als die durchschnittliche arbeitende
Bevölkerung in der industrialisierten Welt sie je haben wird. Ihr
Bewußtsein und ihr Lebensstil haben ihre Kultur und die Menschen
hundertmal länger bewahrt, als die Vereinigten Staaten existieren, und
sie erhalten immer noch Millionen dieser Menschen auf der ganzen Welt.
Sie haben uns wichtige Lektionen zu vermitteln – obwohl, wie dieses
Buch zeigen wird, wir »zivilisierten« Völker sie buchstäblich ausrotten
und deshalb das entsetzliche Risiko eingehen, daß ihr Wissen
verlorengeht, während wir ihnen ihr Land, ihre Sprache und ihr Leben
rauben.
Wenn genügend Menschen ihre Sicht der Dinge ändern, dann werden
Lösungen erkennbar, und zwar oft auf eine Weise, die wir uns nicht vorstellen
konnten, bevor wir die Zusammenhänge nicht mit neuen Augen betrachtet
haben. Unsere Kultur hat dazu geführt, daß wir viel von der Welt zerstört
haben; wir können aber noch vieles retten, wenn wir unsere Kultur ändern.
Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie feststellen, daß wir im kulturellen
Unterbau unserer Vorfahren die alten Schlüssel zu jenem Wissen finden, das
die menschliche Rasse und den Planeten bewahren kann – ohne daß wir dazu
wieder in Höhlen und Hütten leben müssen. Im gezielten und freiwilligen
Konsumverzicht liegt ein Weg, der mehr Sicherheit für die Menschen und den
Planeten bietet. Und dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie Sie Ihre eigene
Lebensqualität verbessern können, während Sie an der Rettung der
Menschheit und unserer Welt mitwirken.
In diesem Buch geht es darum, wo sich die Welt hinbewegt und was wir dazu
beitragen können. Das Ende ist optimistisch, aber auf dem Weg dorthin
erfahren Sie auch viele schlechte Nachrichten … wenngleich das Verständnis
dafür, wie die Dinge sind und wie sie so wurden, uns auch erkennen läßt, daß
es in unserer Umgebung Werkzeuge gibt – vor allem in der Art, wie wir leben
und die Welt wahrnehmen –, die positiv sind und Veränderungen bewirken
können. So gesehen sind sogar die »schlechten Nachrichten« in Wirklichkeit
gute Nachrichten. Ich will mit diesem Buch keine Schuldgefühle und
Depressionen erzeugen: Ich schreibe in der Hoffnung, daß ich damit einen
positiven und dauerhaften Wandel herbeiführen kann.
[27]
Das Buch beginnt mit einer Darstellung des Zustands, in dem sich die Welt
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
15/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
heute befindet: Bevölkerungswachstum, Raubbau an unseren Ressourcen,
und wie wir auf dem Weg dahin »unser Nest beschmutzt« haben.
Entscheidend ist an dieser Stelle ein Faktor, dessen Bedeutung bisher nur
wenige Menschen erkannt haben: die Quelle der Energie, die wir in Form von
Nahrungsmitteln und Brennstoffen verbrauchen, und der Nachweis, daß wir
wirklich auf dem besten Weg sind, diese Quelle zu erschöpfen. Wir werden
erörtern, wie es so weit kommen konnte, und erfahren, warum so viele Leute
heute noch glauben, daß alles zum Besten steht, obwohl das keineswegs
stimmt.
Menschen, die mir bei der Arbeit an diesem Buch geholfen haben, haben mir
berichtet, daß sich nach dem Lesen des ersten Drittels ihre gesamte Sicht
des Lebens verändert hat. Sie hatten ein neues, noch unklares, aber
unentrinnbares Bild davon, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und was
das für die Zukunft bedeutet, wenn wir nicht bald etwas unternehmen. An
diesem Punkt wird sich vielleicht der eine oder die andere abwenden und den
Weg nicht zu Ende gehen wollen, der direkt von unserer Vergangenheit in eine
Zukunft führt, die beunruhigend aussieht. Dennoch besteht Hoffnung für diese
Zukunft, selbst angesichts der enormen Probleme, denen wir
gegenüberstehen.
Im zweiten Teil des Buches wird erläutert, warum wir uns selbst in diese
mißliche Lage gebracht haben. Wenn wir dieses »Warum« verstehen, dann
haben wir, glaube ich, den Schlüssel, mit dem wir unsere Zukunft retten und
die Tür zu neuen Lösungen öffnen können, die sich bereits als realisierbar
erwiesen haben.
[28]
Im letzten Teil des Buches werden wir sehen, was wir mit unseren neuen
Erkenntnissen anfangen können. Wenn Sie mir bis dorthin folgen, werden Sie
von einer realistischen, auf Tatsachen basierenden Zuversicht erfüllt sein, daß
wir, wenn wir richtig handeln, es wirklich schaffen können.
Bitte gehen Sie diesen Weg mit uns. Wie meine Freundin Gwynn Fisher sagt:
»Ohne Hoffnung können wir nicht reifen.« In diesem Buch geht es letztlich
immer um Hoffnung, und es bietet uns – wenn wir erst einmal verstanden
haben, warum die Dinge so wurden, wie sie sind – konkrete Lösungen für eine
sinnvollere und erfreulichere Zukunft.
Thom Hartmann
Roxbury,
Vermont, USA,
1997
[29]
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
16/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Teil I
Unsere Vorräte an
gespeichertem Sonnenlicht sind
bald erschöpft
Wo unsere Energie herkommt, wie wir ȟber
unsere Verhältnisse leben« und was unseren
Kindern geschehen wird, wenn die Vorräte
erschöpft sind
Es beginnt alles mit Sonnenlicht.
Sonnenlicht gießt Energie über die Erde, und diese Energie wird von einer
Form in die nächste umgewandelt, in einem endlosen Kreislauf von Leben,
Tod und Erneuerung. Ein Teil des Sonnenlichts wurde unterirdisch
gespeichert, und dadurch verfügen wir über ein enormes »Sparkonto« an
Energie, von dem wir zehren können. Unsere Zivilisation hat einen großen
Hunger nach dieser Energie entwickelt, denn wir haben Milliarden und
Abermilliarden von großen und kleinen Maschinen gebaut, die alle auf
Brennstoff und Elektrizität angewiesen sind.
Doch unsere Ersparnisse sind bald aufgezehrt, und deshalb sehen wir
höchstwahrscheinlich schweren Zeiten entgegen.
Im ersten Teil dieses Buches werden wir Ihnen einen Überblick über die
Situation vermitteln, damit wir eine Grundlage haben, auf der wir unsere
Aktionspläne entwickeln können. Themen sind unter anderem:
Die Geschichte des Sonnenlichts in der Menschheitsgeschichte
Wie kommt es, daß die Situation so gut aussieht und doch so schlecht
ist?
Die Bedeutung der Bäume – ihre drei lebenswichtigen Funktionen in
[30]
einer erneuerbaren Umwelt und einige alarmierende Statistiken über
das, was geschieht, wenn wir sie abholzen
Die Beschleunigung des Artensterbens durch die vom Menschen
verursachten Umwelt- und Klimaveränderungen
Lassen Sie uns mit dem Anfang beginnen, mit der Energiequelle, die diesem
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
17/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Planeten vor Millionen von Jahren das Leben geschenkt hat: das Sonnenlicht.
[31]
Wir sind aus Sonnenlicht erschaffen
Die Sonne, der Hort der Zuneigung und des
Lebens, gießt brennende Liebe über die
entzück te Erde.
Arthur Rimbaud (1854–1891)
In einem sehr konkreten Sinne sind wir alle aus Sonnenlicht erschaffen.
Die Wärme, das sichtbare Licht und das ultraviolette Licht der Sonne ist die
Quelle allen Lebens auf der Erde. Alles Leben in Ihrer Umgebung existiert nur,
weil irgendwann und irgendwo eine Pflanze fähig war, das Sonnenlicht
einzufangen und zu speichern.
Alle Tiere leben von diesen Pflanzen, sei es direkt (als Pflanzenfresser) oder
indirekt (als Fleischfresser, die sich von Pflanzenfressern ernähren). Das gilt
für Säugetiere, Insekten, Vögel, Amphibien, Reptilien, Bakterien … alles, was
lebt. Jede Lebensform auf der Oberfläche dieses Planeten existiert nur, weil
eine Pflanze das Sonnenlicht sammeln und speichern konnte, und weil ein
anderes Wesen sich von dieser Pflanze ernährt und das gespeicherte
Sonnenlicht aufgenommen hat, um seinem Körper damit Energie zuzuführen.
[2]
Insofern waren Überfluß oder Mangel an Nahrung für die Menschen bis vor
wenigen Jahrhunderten weitgehend davon abhängig, wieviel Sonnenlicht auf
den Boden fiel. Und für alle nichtmenschlichen Lebensformen auf diesem
Planeten gilt das immer noch: Sie werden feststellen, daß in vielen Gegenden
um den Äquator herum, wo es reichlich Sonnenlicht gibt, auch zahllose
Pflanzen und Tiere leben, wogegen man in den relativ sonnenarmen
Polarregionen wesentlich weniger Lebewesen und eine geringere Artenvielfalt
findet.
[32]
Pflanzen speichern das Sonnenlicht auf eine sehr direkte Weise. Unsere
Atmosphäre enthält Millionen Tonnen von Kohlenstoff, der überwiegend
gasförmig als Kohlendioxid (CO2) vorkommt. Die Pflanzen atmen dieses CO2
ein und benutzen die Energie des Sonnenlichtes für eine chemische Reaktion
in ihren Blättern, die sogenannte Photosynthese, welche die beiden
Sauerstoffatome vom Kohlenstoff trennt und auf diese Weise freien
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
18/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kohlenstoff (C) und freien Sauerstoff (O2) produziert. Die Pflanze stellt aus
dem Kohlenstoff Kohlenhydrate wie Zellulose her und so gut wie alle anderen
Pflanzenteile – Wurzeln, Stämme, Blätter, Früchte und Nüsse –, während sie
den Sauerstoff als »Abfallprodukt« ausatmet.
Viele Leute glauben, die Pflanzen würden aus der Erde aufgebaut – sie
meinen, der Baum vor ihrem Haus bestehe überwiegend aus der Erde, in der
er wächst. Das ist jedoch ein weitverbreiteter Fehler – tatsächlich setzt sich
der Baum im wesentlichen aus den Gasen in unserer Luft (Kohlendioxid) und
im Wasser (Wasserstoff und Sauerstoff) zusammen. Bäume sind eine feste
Form von Luft und Sonnenlicht.
Die Blätter der Pflanzen fangen das Sonnenlicht ein und benutzen diese
Energie, um Kohlenstoff und Kohlendioxid aus der Luft zu gewinnen, sie mit
Sauerstoff und Wasserstoff aus dem Wasser zu verbinden und auf diese
Weise Zucker und andere komplexe Kohlenhydrate (sie bestehen ebenfalls
aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff) wie Zellulose zu bilden, woraus
die Wurzeln, Stämme und Blätter überwiegend aufgebaut sind. Wenn wir Holz
verbrennen, wird die »Sonnenenergie« in Form von Licht und Hitze (des
Feuers) freigesetzt. Der größte Teil des Kohlenstoffs im Holz kehrt die
Photosynthese um.
Das kleine Häufchen Asche, das am Ende zurückbleibt, enthält sämtliche
Mineralstoffe, die der Baum aus der Erde aufgenommen hat. Alle anderen
Bestandteile waren Gase aus der Luft: Kohlenstoff, Wasserstoff und
Sauerstoff.
[33]
Tiere und Menschen können ihre Körpergewebe nicht wie Pflanzen direkt aus
dem Sonnenlicht, dem Wasser und der Luft bilden. Deshalb war die Zahl der
Menschen auf unserem Planeten von Anfang an durch die begrenzte Menge
an pflanzlicher Nahrung (und Tieren, welche Pflanzen fressen) limitiert. Somit
gab es seit den Anfängen der Menschheit (vor schätzungsweise 200 000
Jahren) bis vor etwa 40 000 Jahren auf der ganzen Welt nie mehr als ungefähr
fünf Millionen Menschen. Das entspricht einer Weltbevölkerung, die geringer
war als die heutige Einwohnerzahl der Stadt Detroit.
Ich vermute, daß der Grund für diese niedrige Bevölkerungszahl darin zu
suchen ist, daß die Leute damals nur wildwachsende Nahrung aßen. Wenn
das Sonnenlicht, das auf 40 Hektar Land fiel, genügend Nahrung für zehn
Menschen hervorbrachte – in Form von eßbaren Früchten, Gemüse, Samen
und wilden Tieren, die Pflanzenfresser waren –, dann pendelte sich die
Bevölkerungsdichte in diesem Gebiet darauf ein und blieb stabil.
Untersuchungen aller Arten von Tierpopulationen zeigen, daß bei
Säugetieren – einschließlich der Menschen – die Fruchtbarkeit nachläßt und
die Sterblichkeit zunimmt, wenn die Nahrung in einer Gegend nicht ausreicht,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
19/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
um die dort lebende Bevölkerung zu ernähren. Auf diese Weise beschränkt
die Natur die Population aller Tierarten durch die Menge der zur Verfügung
stehenden Pflanzen und Nahrung.
Auch Kleidung und Obdach der Menschen wurden damals aus Pflanzen und
den Häuten von Tieren hergestellt, die ihrerseits nur dank des »gegenwärtigen
Sonnenlichts«, das während der wenigen Jahre ihres Lebens auf die Erde fiel,
existieren konnten. Unsere Vorfahren benutzten die Tierfelle und die Bäume
(Dinge, die vor kurzem erst aus Sonnenlicht entstanden waren), um daraus
Kleidung zu machen und Hütten zu bauen.
[34]
All das war im Laufe weniger Jahre vom Sonnenlicht hervorgebracht worden.
Mehr Sonnenlicht gewinnen – aus
anderen Tieren
Vor ungefähr 40 000 Jahren geschah dann etwas sehr Wichtiges: Die
Menschen fanden einen Weg, die natürlichen Abläufe so zu verändern, daß
sie sich mehr Sonnenlicht und Nahrung verschaffen konnten als andere
Lebewesen. Die Nahrung unserer Vorfahren war bis dahin auf jene Pflanzen
und Tiere beschränkt, die von Natur aus in der jeweiligen Gegend existierten.
Sie hing davon ab, wieviel Rehe oder Kaninchen in einem bestimmten
Waldstück leben konnten oder wie viele eßbare Pflanzen man auf einem guten
Boden finden oder anbauen konnte.
Dort, wo der Boden so schlecht war, daß nur Büsche und Gras gediehen,
entdeckten die Menschen, daß Ziegen, Schafe und Kühe sich durchaus von
solchen Pflanzen ernähren konnten und deshalb in der Lage waren, das
tägliche Sonnenlicht, das Büsche und Gräser auf diesem »nutzlosen« Land
einfingen, in tierisches Fleisch umzuwandeln, das wiederum den Menschen
Nahrung bot. Indem es unseren Vorfahren also gelang, Weidetiere in Herden
zu halten, konnten sie mehr von dem gegenwärtigen Sonnenlicht nutzen: Die
Tiere fraßen die Pflanzen, die sich als menschliche Nahrung nicht eigneten,
und die Menschen gewannen zusätzliche Energie in Form von Arbeitstieren,
Milchvieh und Schlachtvieh.
Es gibt archäologische Hinweise, daß die Menschen vor etwa 40 000 Jahren
begannen, Nutzvieh in Herden zu halten. Diese Praxis verbreitete sich rasch,
denn die Tiere sorgten dafür, daß wir mehr von dem Sonnenlicht, das im Laufe
des Jahres auf die Erde fiel, für uns nutzen konnten.
[35]
Mehr Sonnenlicht gewinnen – aus dem
Boden
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
20/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Ungefähr um dieselbe Zeit lernten die Menschen auch, daß sie nichteßbare
Pflanzen (beispielsweise Wälder) durch eßbare ersetzen konnten. Nun konnte
ein bestimmtes Stück Land nicht nur zehn, sondern hundert Menschen
ernähren. Die Anfänge des Ackerbaus werden als landwirtschaftliche
Revolution bezeichnet, und sie begann vor etwa 10 000 Jahren, sich rasant
auszubreiten.
Nachdem unsere Vorfahren gelernt hatten, die Sonnenenergie durch
Nutztierhaltung und Landwirtschaft effizienter in menschliche Nahrung
umzuwandeln, wuchs das Nahrungsangebot. Und dem Naturgesetz folgend,
daß dort, wo es mehr Nahrung gibt, auch mehr Menschen leben können,
begann die menschliche Bevölkerung schneller zu wachsen.
Innerhalb weniger tausend Jahre hatten unsere Vorfahren auch entdeckt, wie
man mineralische Gesteine abbauen konnte, um daraus reine Metalle zu
gewinnen, aus denen man Werkzeuge herstellen konnte. Diese Werkzeuge
wie Pflüge und Sensen machten die Landwirtschaft wesentlich ertragreicher,
so daß die menschliche Bevölkerung in der Zeit von 8000 vor Christus bis
etwa um Christi Geburt weltweit von vorher fünf Millionen auf 250 Millionen
anwuchs, eine Zahl, die nur geringfügig unter der gegenwärtigen
Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten liegt.
Aber noch immer wurde jedes Jahr nur so viel Sonnenlicht verbraucht, wie in
diesem Zeitraum auf die Erde fiel, und obwohl die Menschen inzwischen
begonnen hatten, einige andere Arten zu vernichten, mit denen sie im
Wettbewerb standen oder die ihnen als Nahrung dienten, blieben die
Auswirkungen ihres Handelns auf den Planeten insgesamt schlimmstenfalls
minimal. Wir waren noch nicht »ans Eingemachte gegangen«.
Doch dann entdeckten wir im Mittelalter eine Quelle des Sonnenlichts (das vor
etwa 400 Millionen Jahren von Pflanzen eingefangen worden war), und das
paßte hervorragend zu unserer neuen Theorie, daß es für Menschen
akzeptabel ist, ihre Nahrungskonkurrenten auszurotten und alle Ressourcen
dieses Planeten für die Produktion von menschlicher Nahrung einzusetzen.
Kohle ersetzte das Holz der Wälder als Wärmequelle, und folglich konnte man
die Wälder roden, um neues Ackerland zu gewinnen und darauf mehr
Nahrungsmittel anzubauen.
[36]
Als das ehemalige Sonnenlicht in der Erde
gespeichert wurde
Vor etwa 400 Millionen Jahren gab es ein Zeitalter, das die Wissenschaftler
als Karbon bezeichnen. Der Name wurde daraus abgeleitet, daß zu Beginn
dieser Periode riesige Mengen Kohlenstoff in Form von Kohlendioxid in der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
21/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Atmosphäre waren.
Kohlendioxid ist ein »Treibhausgas«, das ähnlich wie das Glas eines
Gewächshauses die Sonnenhitze auf der Erdoberfläche hält und sie nicht in
die Atmosphäre entweichen läßt. Während des Karbon-Zeitalters, das mehr
als 70 Millionen Jahre dauerte und vor etwa 410 Millionen Jahren begann, gab
es in der Erdatmosphäre so viel Kohlendioxid, daß die Temperatur unseres
Planeten sehr viel höher war als heute.
Die Erde besteht aus 25 Prozent Landmasse und etwa 75 Prozent Wasser,
den Ozeanen, und damals bildete die gesamte Landmasse einen riesigen
Kontinent, den die Geologen Pangäa nennen.
Pangäa existierte lange, bevor Vögel und Säugetiere entstanden, ja sogar
noch vor den Dinosauriern, und die einzigen Lebensformen auf dem Planeten
waren damals Pflanzen, Fische, Insekten und kleine Reptilien. Der hohe
Kohlendioxidanteil in der Luft sorgte nicht nur dafür, daß das Sonnenlicht die
Erdoberfläche nachhaltig erwärmte, sondern bot den Pflanzen auch reichlich
Kohlenstoff für die Photosynthese, so daß sie üppig wachsen konnten.
Pangäa war fast vollständig von einer dichten, mehrere hundert Meter hohen
Vegetation bedeckt, welche am Boden eine dicke Schicht verrottender
Pflanzen bildete, die an einigen Stellen mehrere hundert oder sogar tausend
Meter tief reichte. Diese Schichten lebender und toter Vegetation wurden im
Laufe von über 70 Millionen Jahren dicker und dicker.
[37]
Während die Pflanzen immer üppiger wuchsen, fingen sie mehr und mehr
Kohlenstoff aus der Atmosphäre ein und verwandelten ihn in Zellulose, aus der
sie ihre Blätter, Stämme und Wurzeln bildeten. Auf diese Weise verringerten
sie den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre, wobei der Kohlenstoff
zurückgehalten wurde und als dicke Schicht von Pflanzenmaterial den Boden
des Kontinents Pangäa bedeckte.
Gleichzeitig beherbergten auch die Ozeane, die drei Viertel der Erdoberfläche
bedecken, große Mengen von Pflanzenmaterial, wenngleich vieles davon
einfacher aufgebaut war, wie etwa einzellige Algen und andere
mikroskopische Pflanzen. Auch diese fingen in der Nähe der
Wasseroberfläche Sonnenenergie ein. Sie benutzten diese Energie, um
atmosphärisches Kohlendioxid in pflanzlichen Kohlenstoff zu verwandeln, und
wenn sie starben, sanken sie auf den Grund des Meeres.
Vor schätzungsweise 300 Millionen Jahren ereignete sich ein schweres
Unglück, eine der fünf historischen Katastrophen, die unseren Planeten
getroffen haben. Niemand weiß genau, warum (man vermutet eine Kollision
mit einem Kometen oder einem Asteroiden), aber eine riesige tektonische
Explosion sprengte den Kontinent Pangäa auseinander und veränderte
unwiderruflich die Umwelt auf dem Planeten. Die Erdkruste brach an vielen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
22/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Stellen auf, Vulkane brachen aus, und Kontinente wurden in Stücke gerissen
und trieben auseinander. An den Stellen, wo die Landmassen, die einmal
Teile von Pangäa gewesen waren, mit anderen Teilen des vormals einzigen
Kontinents zusammenstießen, wurden riesige Bodenflächen von Bergen oder
anderem Land bedeckt. Die dicke Vegetationsschicht versank und mit ihr
über 70 Millionen Jahre gespeicherten Sonnenlichts, das in Form von
Kohlenstoff gebunden war.
[38]
Fünfzig Millionen Jahre später erschienen die Dinosaurier, und auf der Erde
mit ihren nunmehr zwei großen Kontinenten, die von den Geologen Laurasia
und Gonwanaland genannt werden, herrschte nun eine weitere Periode
relativer Stabilität. Die triassische und die jurassische Periode endeten vor
205 Millionen Jahren, als nach weitgehend übereinstimmender Ansicht der
Wissenschaftler ein weiterer Meteor oder Asteroid mit der Erde
zusammenstieß und eine erneute Katastrophe auslöste, die auch zum
Untergang der Dinosaurier führte. Wieder änderte sich die Oberfläche des
Planeten, und die beiden Kontinente Laurasia und Gonwanaland zerbrachen
in kleinere Stücke, die wir heute als Asien, Nordamerika, Südamerika,
Europa, Australien, Afrika und die Antarktis bezeichnen. Als die Kontinente
sich ineinanderschoben, entstanden Berge, und ein Teil des
Pflanzenmaterials, das nun schon Jahrmillionen alt war und viele hundert Meter
unter der Erdoberfläche lag, sank noch weiter in die Tiefe, wo es großem
Druck ausgesetzt war.
Wir verbrauchen gespeichertes
Sonnenlicht
Vor etwa 900 Jahren entdeckten die Menschen in Europa und Asien Kohle
unter der Erdoberfläche und begannen, sie zu verbrennen. Diese Kohle war
der am nächsten unter der Oberfläche liegende Teil der alten
Vegetationsschichten – des seit 300 Millionen Jahren gespeicherten
Sonnenlichts –, und indem sie es verbrannten, waren die Menschen zum
ersten Mal in der Lage, Sonnenenergie zu nutzen, die in ferner Vergangenheit
gespeichert worden war.
Bis dahin hatten unsere Vorfahren einen gewissen Bestand an Wäldern
erhalten müssen, weil sie das Holz brauchten, um damit während der kalten
Winterzeit im Norden zu heizen. Die Wälder fingen die Energie des
»gegenwärtigen Sonnenlichtes« ein und gaben diese wieder frei, wenn das
Holz an einer Feuerstelle oder in einem Ofen verbrannt wurde, um während
der langen dunklen Wintertage ein Haus, eine Höhle oder ein Tipi zu heizen.
[39]
Die Ausbeutung der Kohlenvorkommen verringerte jedoch die Abhängigkeit
vom gegenwärtigen Sonnenlicht und gestattete den Menschen, mehr
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
23/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Waldgebiete zu roden und in Ackerland zu verwandeln, denn die Bäume
wurden jetzt nicht mehr unbedingt zum Heizen benötigt. Auf den größeren
Anbauflächen konnte mehr Nahrung erzeugt werden, und so wuchs die
Weltbevölkerung von etwa 500 Millionen Menschen im Jahr 1000 auf die erste
Milliarde im Jahr 1800.
Dies war ein kritischer Augenblick in der menschlichen Geschichte, denn zu
diesem Zeitpunkt begannen unsere Vorfahren, den Vorrat an Sonnenlicht, den
unser Planet gespeichert hatte, aufzuzehren.
Weil sie nun über die Sonnenenergie verfügen konnten, die vor vielen
Millionen Jahren von Pflanzen gespeichert worden war, begannen sie, zum
ersten Mal mehr Ressourcen – in Form von Nahrung, Wärme und anderen
Stoffen – zu verbrauchen, als unser Planet im Laufe der Erdgeschichte durch
das tägliche Sonnenlicht hatte ansammeln können. Die menschliche
Bevölkerung wuchs über die Zahl hinaus, welche die Erde hätte erhalten
können, sofern die Menschen lediglich das regional verfügbare
»gegenwärtige Sonnenlicht« als Energie- und Nahrungsquelle verbraucht
hätten.
Wenn damals die Kohlevorräte unserer Vorfahren zur Neige gegangen wären,
dann hätten sie schließlich nur noch die schreckliche Wahl gehabt, Ackerland
aufzugeben (und damit Hungersnöte zu riskieren), um Wälder
wiederaufzuforsten, damit sie Holz zum Heizen hatten, oder weiterhin
genügend Nahrung zu produzieren, dafür aber im Winter zu erfrieren. (Sie
hätten natürlich auch die Gegenden mit kälterem Klima verlassen und sich
näher am Äquator ansiedeln können, aber die Geschichte zeigt, daß die
Völkerwanderungen immer vom Äquator wegführten, ein Trend, der durch die
Verfügbarkeit von Brennstoffen gefördert wurde.)
[40]
Heutzutage sehen wir denselben Trend: Die Verfügbarkeit von Brennstoffen
führt zu einer wachsenden Bevölkerung, die von diesen Brennstoffen abhängig
ist und unter einem Mangel leiden müßte.
Wäre unseren Vorfahren die Kohle ausgegangen, hätte die Natur das
Bevölkerungswachstum wieder auf ihre Weise kontrolliert.
Doch statt dessen entdeckten die Menschen ein weiteres »Sparkonto«, das
sie anzapfen konnten, einen weiteren Vorrat an gespeichertem Sonnenlicht:
das Pflanzenmaterial, das vor mehreren hundert Millionen Jahren auf den
Grund des Ozeans gesunken und dort unter starkem Druck zu dem geworden
war, was wir als Öl bezeichnen.
Öl wurde als neue Energiequelle um 1850 zunächst in Rumänien ausgiebig
genutzt. Der richtige Boom begann jedoch 1859, als man in den Vereinigten
Staaten in Titusville, Pennsylvania, Öl entdeckte. Damals betrug die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
24/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Weltbevölkerung gerade etwas mehr als eine Milliarde, und die Menschen
lebten sowohl von dem gegenwärtigen Sonnenlicht, das auf Ackerland und
Viehweiden fiel, als auch in beträchtlichem Maße von gespeichertem
Sonnenlicht, das sie in Form von Kohle in Europa, Asien und Nordamerika
aus der Erde holten und verbrannten.
Doch erst mit der Entdeckung reichhaltiger Ölvorkommen öffnete sich die Tür
zu einem wahrhaft riesigen Vorrat von gespeichertem Sonnenlicht.
Durch den Einsatz dieses in Form von Kohlenstoff gespeicherten Sonnenlichts
als Wärme- und Energiequelle ersetzten unsere Vorfahren nun Zugtiere durch
Traktoren, und damit wuchs die landwirtschaftliche Produktivität dramatisch.
(Zugtiere wie Pferde und Ochsen fressen Gras und leben damit von
»gegenwärtigem Sonnenlicht«. Insofern ist ihre Arbeitskapazität begrenzt …
durch die Menge Gras, die sie täglich fressen und in Energie umwandeln
können. Ein mit Diesel betriebener Traktor dagegen kann an einem Tag soviel
Sonnenlicht verbrennen wie mehrere hundert Pferde zusammen.)[3]
[41]
Weitere Möglichkeiten, gespeichertes
Sonnenlicht zu verbrennen
Bald zeigte sich, daß sich Öl nicht nur als Brennstoff verwenden läßt, und so
haben wir seit Anfang dieses Jahrhunderts begonnen, unser SonnenlichtSparkonto noch stärker zu »plündern«.
Aus Öl lassen sich synthetische Gewebe herstellen (Nylon, Rayon, Polyester),
Harze für die Bauwirtschaft und Kunststoffe (aus denen man fast alles machen
kann, einschließlich der Tastatur, auf der dies geschrieben wird). Da die
Menschen nun Kleidung aus Öl herstellen konnten, brauchten sie weniger
Weiden für die Schafe und weniger Land für den Baumwollanbau, so daß
noch mehr Ackerfläche für die Produktion von Nahrungsmitteln frei wurde.
Der sprunghafte Anstieg unserer Nahrungsmittelversorgung, der gleich nach
dem amerikanischen Bürgerkrieg stattfand, sorgte dafür, daß die
Weltbevölkerung (Abb. 1) von etwas über einer Milliarde um die Zeit, als das
Öl entdeckt wurde, auf zwei Milliarden im Jahre 1930 anstieg.
[42]
Um 1930 begann der extensive Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen, und
die dank des Öls verbesserte landwirtschaftliche Produktivität – man trieb
damit nicht nur Traktoren an, sondern stellte daraus auch Düngemittel und
Pestizide her – ließ die Nahrungsmittelproduktion explodieren. Während wir
für die erste Milliarde Menschen 200 000 Jahre benötigt hatten, reichten 130
Jahre für die zweite und ganze 30 Jahre für die dritte Milliarde.
1960 erreichte die Weltbevölkerung die Drei-Milliarden-Marke. Und das war
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
25/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
keineswegs das Ende. Wir verbesserten unsere Technik, gewannen mehr
gespeichertes Sonnenlicht aus dem Öl, raffinierten es und bauten effizientere
Verbrennungsmaschinen,
und
so
erhöhte
sich
unsere
Nahrungsmittelproduktion aufs neue. Und dasselbe geschah mit der
Bevölkerungszahl.
Es dauerte nur noch 14 Jahre, von 1960 bis 1974, und wir hatten eine
Weltbevölkerung von vier Milliarden erreicht. Nach weiteren 13 Jahren waren
wir 1987 bei fünf Milliarden angelangt, und für die nächste Milliarde brauchen
wir nur noch 12 Jahre: 1999 erreicht die Weltbevölkerung die SechsMilliarden-Marke.
Als wir 1987 fünf Milliarden erreicht hatten, waren die Menschen, gemessen
an der gesamten Biomasse, die zahlenmäßig am stärksten vertretene
Lebensform auf dieser Erde. Um 1990 wurden wir die zahlreichste
Säugetierart auf diesem Planeten und übertrafen damit sogar die Ratten.
Heute gibt es mehr menschliches Fleisch auf dieser Erde als Fleisch
irgendeiner anderen einzelnen Spezies. Wir verbrauchen inzwischen über 40
Prozent der gesamten weltweiten Nettoprimärproduktion (NPP), welche ein
Maß für die Gesamtsumme an Nahrung und Energie darstellt, die allen
Lebewesen auf dieser Erde zur Verfügung steht. Wir verbrauchen mehr als 50
Prozent des Süßwassers auf diesem Planeten. Das bedeutet, daß alle
anderen Tier- und Pflanzenarten um das wenige, das wir übrig lassen,
konkurrieren müssen.
Abb. 1: Das Bevölkerungswachstum der modernen Menschen (Homo
sapiens sapiens)
[43]
Quelle: U.S. Census Bureau
Wie Michael Tobias in seinem Buch World War III[4] (Der Dritte Weltkrieg)
hervorragend dokumentiert, wächst die Weltbevölkerung heute alle drei
Wochen um die Einwohnerzahl von Los Angeles. In einem Zeitraum, der
weniger als ein Zehntel Prozent der gesamten Menschheitsgeschichte
ausmacht, ist die menschliche Bevölkerung um mehr als 90 Prozent ihrer
Gesamtzahl angewachsen.
Bei einer unveränderten Wachstumsrate würden wir 2030 schon zehn
Milliarden erreichen, 2070 wären es zwanzig Milliarden und 2150 volle achtzig
Milliarden. Doch niemand erwartet, daß die Wachstumsrate so bleibt. Es gibt
einfach nicht genug Nahrung für so viele Menschen. Ob das Ende durch
Hungersnöte, Krankheitsepidemien, Naturkatastrophen oder »gute
Wissenschaft« (wie beispielsweise eine weltweite Geburtenkontrolle) kommt,
darüber wird noch heftig diskutiert. Unbestritten ist jedoch, daß wir uns nicht
mit der gegenwärtigen Wachstumsrate weiter vermehren können.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
26/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wir haben diese übervölkerte Welt voll überschätzter Ressourcen dadurch
geschaffen, daß wir ehemaliges Sonnenlicht in gegenwärtige Nahrung
verwandelt haben, die wir jetzt verzehren, um noch mehr menschliches Fleisch
zu schaffen.
[44]
Ohne das gespeicherte Sonnenlicht könnte unser Planet vielleicht zwischen
einer Viertelmilliarde und einer Milliarde Menschen ernähren – ungefähr die
Zahl, die er vor der Entdeckung von Öl und Kohle ernährte. Ohne Öl und Kohle
würden die anderen fünf Milliarden Menschen verhungern.
Wie lange reichen die Vorräte noch?
Wieviel fossile Brennstoffe haben wir
noch übrig?
Und so stehen wir zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts vor einer
kritischen Überlebensfrage: Wir sind weitgehend davon abhängig, daß wir
auch in Zukunft über gespeichertes Sonnenlicht in Form fossiler
Meerespflanzen verfügen können, den fossilen Brennstoff, den wir als Öl
bezeichnen. Doch unsere Ölvorräte gehen allmählich zur Neige.
Seit der Entdeckung von Öl in Titusville, wo die erste Ölquelle der Welt 1859
angebohrt wurde, haben die Menschen 742 Milliarden Barrel[5] Öl aus der
Erde herausgeholt. Die gegenwärtigen Welterdölreserven werden auf
ungefähr 1000 Milliarden Barrel beziffert, die (nach den optimistischsten
Schätzungen der Ölindustrie) »bei gleichbleibenden Verbrauchsraten für fast
45 Jahre reichen würden«.
Für diejenigen von uns, die noch einige Jahrzehnte zu leben haben oder große
Hoffnungen in die Zukunft ihrer Kinder und Enkel setzen, klingen diese Zahlen
hart. Aber das sind die Erwartungen der Ölindustrie selbst, bezogen auf die
Lebenszeit unserer Kinder.
Die verantwortlichen Manager der Ölindustrie scheinen derlei Aussichten
jedoch nicht für problematisch zu halten.
[45]
1996 hob ein Manager der Ashland Chemical Company in einer
beschwingten und optimistischen Ansprache vor dem Economic Club of
Columbus in Ohio hervor, alternative Energiequellen seien »einfach nicht
kostengünstig genug«, aber schließlich würden die Weltölreserven bei
gleichbleibenden Verbrauchsraten ja noch »fast« 45 Jahre reichen. Er
verkündete das als sehr gute Nachricht und sagte am Schluß seiner Rede, die
Weisen hätten das Ende unserer Ölvorräte fast seit Beginn der ersten
Bohrungen von Colonel Drake im Jahre 1859 prophezeit. Aber in der
Vergangenheit seien diese Vorhersagen nie eingetroffen. Und mit dem
typischen Optimismus der Ölindustrie stellte er fest, es werde »wahrscheinlich
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
27/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis der Wolf vor der Tür steht«.
Andere Experten der Ölindustrie sind weniger optimistisch im Hinblick auf die
sogenannte gute Nachricht, daß unsere Vorräte noch für »fast« 45 Jahre
reichen werden. Petroconsultants in Genf, eine in der Schweiz angesiedelte
internationale Consulting-Firma für die Petroleum-Industrie, hebt hervor[6], daß
die nordamerikanische Ölproduktion 1974 ihren Höhepunkt erreichte.
(Nebenbei bemerkt ist der Ausdruck »Produktion« ein hübscher
Euphemismus. In Wirklichkeit produzieren wir genauso wenig Öl wie etwa
Minenarbeiter Silber »produzieren«. Wir pumpen das Erdöl einfach aus der
Tiefe nach oben. Produziert wurde es vor 300 Millionen Jahren, als die
Vegetation das Sonnenlicht einfing.) Man erwartet, daß die Weltproduktion
ihren Höhepunkt im Jahr 2002 erreicht, wenn wir mehr als die Hälfte der
weltweiten Ölvorräte verbraucht haben.
Dabei geht man von der Annahme aus, daß irgendwann um diesen Zeitpunkt
herum eine Preisexplosion für Produkte, die auf Ölbasis hergestellt werden,
die ganze Welt erschüttern wird.
Die Petroconsultants-Studie hebt hervor, daß sogar bei verringerten
Verbrauchsraten infolge der erwarteten Preiserhöhungen (und der
wahrscheinlich dadurch verursachten weltweiten Depression) die
schwindenden Vorräte dafür sorgen werden, daß wir im Jahre 2050 nur noch
über soviel Öl verfügen können wie 1960, als auf diesem Planeten lediglich
drei Milliarden Menschen lebten. Doch die meisten Demographen erwarten,
daß die Weltbevölkerung im Jahre 2050 über zehn Milliarden beträgt.
[46]
Stellen Sie sich das vor: zehn Milliarden Menschen, aber das Öl reicht nur für
drei Milliarden. Das würde bedeuten, daß die restlichen sieben Milliarden –
mehr als die gesamte heutige Weltbevölkerung – vom Hungertod bedroht
wären.
Wieder andere Experten halten die von der Ölindustrie geschätzten 45 Jahre
für stark übertrieben, was bedeuten würde, daß die Situation noch schlimmer
ist, als gerade beschrieben.
Der Wissenschaftler M. King Hubbard wies darauf erstmals 1956 hin, als er
den bekannten Hubbard-Peak entwickelte, der den Moment bezeichnet, wo
die Ölförderung ihren Höhepunkt erreicht und dann geringer wird. 1956 gab er
an, die USA würden den Hubbard-Peak 1970 erreichen (er hat sich um vier
Jahre geirrt; die Ölkrise war 1974), und im Jahre 1975 sagte er voraus, der
weltweite Hubbard-Peak werde 1999 oder 2000 erreicht.
Obwohl Hubbard 1989 starb, wurde seine Arbeit von J. Colin Campbell
fortgeführt. Er ist der Autor des Buches The Golden Century of Oil: 1950–
2050: the depletion of a resource[7], das ursprünglich Teil einer Untersuchung
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
28/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
über die weltweiten Ölvorräte und den weltweiten Ölverbrauch war, welche die
norwegische Regierung 1989 in Auftrag gegeben hatte. In diesem Buch wie
auch in anderen Veröffentlichungen heben Campbell und andere
Wissenschaftler hervor, daß die ölfördernden Länder oft ihre geschätzten
Ölreserven übertreiben, um sich bei der OPEC für höhere Förderquoten zu
qualifizieren, damit sie bei der Weltbank Kredite beantragen können, für die
ihre angenommenen Ölreserven als Sicherheit dienen. Campbell und andere
Experten schätzen, daß wir bereits mehr als die Hälfte der gesamten
Weltölvorräte verbraucht haben und daß sich vielleicht weitaus weniger als
700 Millionen[Milliarden? Anm.d.Tippers] Barrel noch unter der Erde befinden.
[47]
Es gilt festzuhalten, daß wir kaum damit rechnen dürfen, demnächst leicht
zugängliche neue Ölfelder zu entdecken. Der größte Teil der Welt ist
inzwischen mit Hilfe von Satelliten, seismischen Geräten und Computern
digital »durchleuchtet« worden, wobei 41 000 Ölfelder entdeckt wurden.
641 000 Probebohrungen wurden durchgeführt, und nahezu alle Felder, von
denen man sich etwas verspricht, sind wohlbekannt und wurden in die
geschätzte Summe von einer Billion Barrel einbezogen, auf welche die
Ölindustrie die Weltölreserven beziffert.
Und schließlich müssen wir bedenken, daß die »optimistischen« Zahlen der
Ölindustrie besagen, unsere Vorräte würden bei unveränderten
Verbrauchsraten noch für 45 Jahre reichen. Legt man jedoch die Zahlen von
Petroconsultants (und anderen) zugrunde, dann steigt der Weltölverbrauch um
2,8 Prozent jährlich. Und wenn wir diese Steigerungsrate extrapolieren,
schmelzen die angenommenen 45 Jahre auf ganze 30 Jahre zusammen.
Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung in den nächsten zwölf Jahren um eine
weitere Milliarde, während China, Indien, Mexiko und andere Länder der
sogenannten Dritten Welt industriell aufrüsten – mehr Fabriken, Autos,
Straßen und mit Öl betriebene Kraftwerke – mit Wachstumsraten, die höher
liegen als die der Vereinigten Staaten oder Europas im vergangenen
Jahrhundert. Folglich wird der weltweite Ölverbrauch die »gegenwärtigen
Verbrauchsraten« erheblich übersteigen, und unsere Reserven werden mit
Sicherheit nicht so lange halten, wie die Optimisten annehmen. Eine
umfassende wissenschaftliche Untersuchung, die von dem britischen
Stromunternehmen PowerGen in Auftrag gegeben und veröffentlicht wurde
und über die Associated Press im September 1997 weltweit berichtete,
kommt zu dem Ergebnis: »Der globale Energiebedarf wird sich im Jahr 2020
wahrscheinlich verdoppelt haben« [Hervorhebung vom Autor], weitgehend
bedingt durch das rasche Wachstum der asiatischen Schwellenländer,
insbesondere Chinas.
[48]
Es bahnt sich also offensichtlich eine Kollision an zwischen der wachsenden
Weltbevölkerung mit ihrem zunehmenden Verbrauch unserer schwindenden
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
29/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Vorräte an gespeichertem Sonnenlicht und unserer Fähigkeit, diese
Bevölkerung zu ernähren. Und selbst wenn wir plötzlich große neue
Ölvorkommen entdecken würden (es gibt zunehmend Stimmen aus der
Ölindustrie, die das in Aussicht stellen), oder wenn alternative Energiequellen
wie die kalte Fusion oder die Wasserstofftechnologie sofort und überall
verfügbar wären, würde ihre rasche Vermehrung die Zerstörung des Planeten
und den Tod von Milliarden Menschen nur noch beschleunigen, auf eine
Weise, die bald deutlich wird. (Auf der anderen Seite gibt es Lösungen, auf
die wir später noch genauer eingehen werden; doch sie haben mehr mit
unserer Kultur als mit unserer Technologie zu tun.)
Wie konnte es so weit kommen? Und was sagt uns die Geschichte darüber,
was wir tun können?
Wir werden diese Fragen und Antworten in den folgenden Kapiteln genauer
untersuchen. Doch zunächst wollen wir einen Moment innehalten und uns einer
anderen wichtigen Frage zuwenden: Wenn so gravierende Probleme auf uns
zukommen, warum sind sie nicht für jeden offensichtlich?
[49]
Wie kann die Situation so gut scheinen
und doch so schlecht sein?
Die Zivilisation ist eine Verschwörung … Das
moderne Leben ist eine stillschweigende
Übereink unft wohlhabender Menschen, den
Schein zu wahren.
John Buchan (1875–1940)
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man so tun kann, als sei alles in Ordnung,
selbst wenn eine ganze Zivilisation bedroht ist. Ich nenne sie »vom Startkapital
leben« und »das Ponzi-Schema«.
Zahle nicht »an der Kasse« – lebe einfach
vom »Startkapital«
In den frühen achtziger Jahren habe ich kurzfristig als Marketing-Berater für
eine neu gegründete Firma gearbeitet, die in der Software-Branche Fuß
fassen wollte. Vier junge Männer hatten gemeinsam 170 000 Dollar investiert,
die sie teils selbst gespart, teils als Einlage von ihren Eltern bekommen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
30/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
hatten. Sie wollten ein neues Textverarbeitungsprogramm entwickeln und
vertreiben, das besser sein sollte als das damals populäre WordStar, und auf
diese Weise reich werden.
Mit ihrem Startkapital von 170 000 Dollar mieteten sie die zweite Etage eines
kleinen Bürohauses: Sie hatten fünf private Büros, ein Konferenzzimmer und
einen Empfangsraum, wo die Sekretärin arbeitete. Von einer Design-Firma
ließen sie sich ein Logo, einen Briefkopf und ein großes Schild für den
Eingang entwerfen. Sie leasten vier Saabs als Geschäftswagen. Sie kauften
Eichenschreibtische und lederbezogene Chefsessel. Dann ließen sie von
einem Blumengeschäft in der Nähe die Räume mit Topfpflanzen ausstatten
und von einem Fischgeschäft ein Salzwasseraquarium aufstellen und pflegen.
Sie zahlten sich selbst Gehälter von jeweils 30 000 Dollar pro Jahr. Und sie
engagierten mich für ein paar Tage und zahlten mir ein gutes Honorar.
[50]
Die Jungs waren fähige Programmierer und wußten alles über
Computersprachen. Ich hatte nicht die geringsten Zweifel, daß sie ein
benutzerfreundliches Textverarbeitungsprogramm entwickeln und als
Massenprodukt vermarkten konnten. Als ich sie zum ersten Mal aufsuchte, war
ich beeindruckt – sie und ihre Büros hatten die Ausstrahlung eines
erfolgreichen, florierenden Unternehmens. Die junge Frau in der
Empfangshalle war attraktiv und effizient, die vier Firmengründer trugen
Designer-Anzüge und -Krawatten, ihr Teppichboden zeigte die typischen
Staubsaugerstreifen, die die abendliche Reinigung hinterlassen hatte. Das
leistungsfähige Kopiergerät, der Aktenvernichter, der Stempelautomat und die
Computer zeugten von einem florierenden Geschäft. Alles war erstklassig.
Wir saßen im Konferenzzimmer um den Eichentisch in bequemen
Lederstühlen, und sie berichteten mir zuversichtlich, wie sie alle dabei waren,
Multimillionäre zu werden. Und das, so sagten sie, würde auch jeder werden,
der sein Geld bei ihnen investierte. Sie wollten ihre Aufmerksamkeit zur Hälfte
darauf konzentrieren, Anlagekapital zu gewinnen, und die andere Hälfte dafür
einsetzen, ihr neues Produkt zu entwickeln und zu vermarkten. Innerhalb von
zwölf Monaten sollte das neue Programm marktreif sein.
Ich weigerte mich jedoch, weiter mit ihnen zusammenzuarbeiten, weil ich
diese unselige Geschichte schon zuvor bei anderen MöchtegernUnternehmern erlebt hatte und mir ziemlich sicher war, wie die Sache enden
würde.
Sechs Monate später besuchte ich die Jungunternehmer auf ihre Bitte hin
erneut. Sie hatten jetzt zwanzig Angestellte, und der Laden brummte. Ihr
Produkt würde bald fertig sein, und sie hatten schon Broschüren für eine
bevorstehende Messe drucken lassen. Sie waren ein wichtiger Arbeitgeber
am Ort, ein guter Mieter für den Hauseigentümer, verfügten inzwischen über
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[51]
31/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sechs Geschäftswagen und hatten so viele Investoren gewonnen, daß ihr
Bankkonto sich auf eine Viertel Million Dollar belief. Noch immer hatten sie
nichts produziert oder verkauft, aber sie würden bald »große Tiere« sein. Alles
sah prächtig aus; das Leben war in Ordnung.
Weitere sechs Monate später hörte ich von einem ihrer Investoren, daß die
Unternehmer pleite waren. Die vier Partner hatten ihre Gehälter verfünffacht,
und dem Unternehmen war das Geld ausgegangen, noch bevor sie ihr
Produkt auch nur auf den Markt bringen konnten. Die Büros sahen hell und
strahlend aus, bis zu dem Tag, an dem die Angestellten erfuhren, daß sie
innerhalb von 24 Stunden arbeitslos sein würden. Investoren verloren ihre
gesamten Einlagen, weil die Eigentümer ihr Kapital verbraucht hatten, bevor
die Firma irgendwelche Gewinne abwarf.
Das »Ponzi-Schema«
Das Ponzi-Schema ist die zweite Möglichkeit, wie man dafür sorgen kann,
daß alles hervorragend aussieht, bis eines Tages nichts mehr zum Leben da
ist. Es kommt dann zu einem plötzlichen, katastrophalen Zusammenbruch. Die
Geschichte dieses typisch amerikanischen Unternehmers ist ebenso
faszinierend wie lehrreich.
Im Jahre 1917 zog Charles A. Ponzi als Anstreicher in Florida herum. Der
Erste Weltkrieg ging gerade zu Ende, und die europäischen Finanzmärkte
lagen am Boden. Ponzi witterte eine Gelegenheit, aus den finanziellen
Nachkriegswirren für sich Kapital zu schlagen und entwickelte eine Idee, die
ihn zum Millionär machen sollte, während sie das Leben Tausender anderer
Menschen ruinierte.
Ende 1919 zog Ponzi nach Boston und mietete ein Büro auf der Pie Alley, wo
er eine Firma eröffnete, die sich The Securities Exchange Company (SEC)
nannte. Er behauptete, er habe seine Firma gegründet, um in Frankreich und
Deutschland (deren Währungen massiv abgewertet worden waren)
internationale Antwortscheine aufzukaufen, diese in den Vereinigten Staaten
gegen US-Währung wieder einzulösen und damit einen Profit zu machen,
welcher der Differenz zwischen den zusammengebrochenen europäischen
Währungen und dem Dollar entsprechen würde.
[52]
Ein solches Projekt war in Wirklichkeit nicht praktikabel, aber Ponzi und seine
frühen Investoren machten damit ein Vermögen.
Ponzi versprach 50 Prozent Zinsen auf das eingezahlte Kapital innerhalb von
nur 45 Tagen, und mehr als 40 000 Bostoner Bürger vertrauten ihm ihre
Ersparnisse an. Die ersten paar tausend Investoren erhielten ihr Geld samt
den versprochenen Zinsen zurück. Ponzi verwendete dafür die Einlagen neuer
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
32/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Investoren. Die ersten Investoren erzählten von dem schnellen Geld, das sie
verdient hatten, und die Kunde verbreitete sich rasch. Schließlich beschäftigte
Ponzi mehrere Dutzend Angestellte, die bis spät in die Nacht die riesigen
Stapel von Bargeld zählten, die sich in der Pie Alley ansammelten: über 15
Millionen Dollar in weniger als sechs Monaten. Auf dem Gipfelpunkt seines
Erfolgs wurde Charles Ponzi von einem Zeitungsreporter als der größte
Italiener gepriesen, der je gelebt habe.
»Das stimmt nicht«, antwortete der mit ungewohnter Bescheidenheit.
»Immerhin gibt es noch Kolumbus, der Amerika entdeckte, und Marconi, der
das Radio entdeckte.«
Später sorgte eine negative Publicity in den Bostoner Zeitungen schließlich
dafür, daß Ponzi keine neuen Investoren mehr fand. Doch ohne den ständigen
Zufluß von Geld konnte er seinen früheren Anlegern keine »Gewinne« mehr
auszahlen, und so schloß er seinen Laden und machte sich mit den
Lebensersparnissen Tausender gutgläubiger Menschen davon.
Ein ähnliches System sorgte 1996 in Albanien fast für einen Regierungssturz.
Mehr als ein Viertel aller albanischen Bürger hatten ihre Lebensersparnisse in
eines der verschiedenen großen Ponzi-Projekte gesteckt, die von regionalen
Verbrechersyndikaten betrieben wurden. Albaniens Präsident, Sali Berisha,
sagte, die Regierung sei nicht dagegen vorgegangen, weil man geglaubt
habe, solche Dinge seien auf einem freien Markt normal, und die Regierung
habe nicht in die Marktmechanismen eingreifen wollen. Die Demonstrationen
und Aufstände der Albaner blieben erfolglos. Sie werden ihr Geld nie
zurückbekommen.
[53]
Unsere fossilen Brennstoffquellen:
»Startkapital« oder »Ponzi-Schema«?
Die Welt lebt (und wächst) zur Zeit davon, daß sie Energie (Sonnenlicht), die
in Form fossiler Brennstoffe (Öl, Kohle, Gas) gespeichert ist, von ihrem
»Sparkonto« abhebt. Wird unsere Weltwirtschaft nun wie ein Ponzi-Projekt
oder wie das zuvor beschriebene vielversprechende Software-Unternehmen
betrieben? Ich denke, die Lage ähnelt mehr der der Software-Firma, obwohl
es Elemente aus beiden Systemen gibt.
Die Erde enthält eine begrenzte Menge fossiler Brennstoffe. Obwohl man sich
über das Ausmaß der noch vorhandenen Reserven nicht einig ist, bestreitet
niemand, daß sie begrenzt sind, und im Grunde spüren wir sehr deutlich,
worum es dabei geht. Wir haben diese Brennstoffe verbraucht, damit die
menschliche Bevölkerung von etwa einer halben Milliarde vor der Entdeckung
von Öl und Kohle bis auf den heutigen Stand anwachsen konnte – 1997 waren
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
33/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
es fast sechs Milliarden. Diese Brennstoffe liefern uns Energie für hektische
weltweite Aktivitäten, die sehr sinnvoll und wichtig erscheinen, und diese
Aktivitäten führen zu permanenten und irreversiblen Veränderungen auf
diesem Planeten und in der menschlichen Gemeinschaft.
Und wenn uns der Brennstoff nun ausgeht?
Diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten des Wohlstands große Gewinne
verbuchen konnten, glauben vielleicht, sie hätten eine gute Überlebenschance,
und wenn es nicht zu weltweiten Epidemien oder einem Atomkrieg kommt,
könnten sie sogar recht haben. Vielleicht kommt auch noch ein kleiner Teil der
restlichen Bevölkerung als Trittbrettfahrer mit davon, so wie das im
Wirtschaftsleben ebenfalls gelegentlich geschieht. Aber den weniger
Glücklichen geht es möglicherweise ähnlich wie den Verlierern beim PonziSchema oder bei der Software-Firma: Was für sie an Nahrung und Energie
übrig bleibt, ist wenig oder nichts.
[54]
Als die Software-Unternehmer vor dem Bankrott standen, gaben sie einfach
ihre Büroetage auf und suchten sich eine andere Arbeit, um wieder zu Geld zu
kommen. Doch wenn unserer Weltwirtschaft das Öl ausgeht, können wir nicht
einfach die Tür hinter uns schließen und uns »eine andere Energiequelle
suchen«.
Einerseits hat uns die Geschichte gelehrt, daß Energieknappheit zu Kriegen
führt (mehr darüber später).
Andererseits sind unsere
ausreichend entwickelt.
»alternativen
Energiequellen«
noch
nicht
Doch an dieser Stelle gibt es auch gute Neuigkeiten: Nicht-fossile
Energiequellen existieren tatsächlich, und sie werden zunehmend genutzt. Wie
der Gewinner des Pulitzer-Preises, Ross Gelbspan, 1997 in seinem Buch The
Heat Is On[8] ausführte, blockieren die amerikanischen Öl- und Kohlekonzerne
leider aktiv die weitere Entwicklung dieser Technologien.
Wie Gelbspan eindeutig zeigt, müssen wir diese Alternativen stärker fördern,
damit unsere Kinder neue Energiequellen haben, wenn das Erdöl verbraucht
ist.
[55]
Ist Wirtschaftswachstum die Lösung?
Derweil ermutigen uns Experten und Wirtschaftswissenschaftler, das Problem
»durch Wachstum« zu lösen. Der erste, der 1954 diesen Vorschlag machte,
war der britische Finanzminister R.A. Butler. Er vertrat die Ansicht, der Staat
solle sich keine spezifischen Wachstumsziele wie eine bestimmte Anzahl von
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
34/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wohnhäusern oder neuen Eisenbahnlinien setzen, sondern die Regierung
solle einfach für ein stetiges Wirtschaftswachstum von drei Prozent sorgen. Mit
dieser Wachstumsrate, so errechnete er, würde jeder britische Bürger 1980
doppelt so reich sein wie 1954.
Tatsächlich funktionierte das Szenario genauso wie von Butler vorhergesagt:
eine 1989 von dem irischen Wirtschaftswissenschaftler Richard Douthwaithe
durchgeführte Untersuchung bestätigt das. Das Problem liegt jedoch darin,
daß sich jeder andere Index ebenfalls verdoppelte. Das Einkommen der
»oberen Zehntausend« verdoppelte sich genauso wie das Einkommen
derjenigen, die in tiefster Armut lebten, was bedeutete, daß jemand, der
vorher zehn Millionen Pfund im Jahr verdient hatte, nun zwanzig Millionen
bekam, während jemand, der vorher tausend Pfund verdient hatte, nun
zweitausend bekam – und damit immer noch in bitterster Armut lebte, auch
wenn sich sein Lebensstandard leicht verbessert hatte. Gleichzeitig kam es im
Verlauf der Entwicklung zu einer »sozialen und ökologischen Katastrophe«,
um Douthwaithe zu zitieren. Die Kriminalität wuchs um das Achtfache, die
Arbeitslosigkeit stieg an, chronische Krankheiten und Geisteskrankheiten
nahmen zu, und die Scheidungsrate explodierte. All dies waren Auswirkungen,
die Douthwaithe zunächst vorhergesagt hatte und später dokumentierte.
Auf ähnliche Weise verschlechterten sich die Lebensbedingungen in den
Vereinigten Staaten. An einem durchschnittlichen Tag des Jahres 1997
nahmen 100 000 amerikanische Kinder Schußwaffen mit in die Schule, und
vierzig Kinder wurden durch Schußwaffen getötet oder verletzt, auch wenn es
sich dabei meist um Unfälle handelte. (Seit kurzem gibt es einen
Autoaufkleber mit der Aufschrift: »Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine
freundliche Gesellschaft.« Da fragt man sich, ob die Leute, die sich diesen
Spruch ausgedacht haben, glauben, unsere Schulen seien heutzutage
freundlicher als eine Generation zuvor.) Und der Traum vom dauerhaften
Familienglück hat einer Realität Platz gemacht, die aus einer Armee von
Kindern alleinerziehender Mütter und Väter besteht: mehr als die Hälfte aller
Kinder der Nation.
[56]
Überall auf der Welt stellen wir fest, daß rasches Wachstum nahezu alle
Nationen belastet, wobei gewöhnlich die Individuen und Familien am stärksten
darunter leiden, die keinen Anteil an der extremen Macht und dem Reichtum
der herrschenden wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Eliten haben.
Die moderne Technologie hat diesen Prozeß erheblich beschleunigt.
Während beispielsweise um die Jahrhundertwende 90 Prozent aller
kriegerischen Auseinandersetzungen lediglich Soldaten betrafen, stellen wir
am Ende dieses Jahrhunderts fest, daß die ferngesteuerten High-Tech-Waffen
(die effizienter töten und die Soldaten vor einem direkten Gefecht bewahren)
sowie die weite Verbreitung hocheffizienter Waffen das Verhältnis auf den
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
35/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kopf gestellt haben: Heute sind 90 Prozent der Toten in allen Kriegen
Zivilisten. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind über zwanzig Millionen Menschen
in Kriegen getötet worden, und von den 82 Kriegen, die seitdem stattgefunden
haben, waren 79 Bürgerkriege. Und bei den meisten dieser Kriege ging es
um die Kontrolle von Ressourcen wie Waldland, Ackerland, Öl, Kohle und
Mineralien.
Bei einem Weltkongreß der Zentralbanken in Hongkong am 25. September
1997 hob Weltbankpräsident James D. Wolfensohn hervor, daß über drei
Milliarden Menschen – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung und das
Dreifache der gesamten Menschheit, die im Jahre 1800 auf diesem Planeten
lebte – heute von weniger als zwei Dollar pro Tag existieren müssen. »Wir
sitzen auf einer Zeitbombe, und wenn wir jetzt nicht handeln, könnte sie mitten
ins Gesicht unserer Kinder explodieren«, erklärte Wolfensohn. Ungefähr zur
gleichen Zeit veröffentlichte das Population Institute in Washington einen
Bericht, der dokumentiert, daß 82 Nationen (mehr als die Hälfte aller Länder
dieser Welt) nun das kritische Stadium erreicht haben, wo sie nicht mehr
genügend Nahrungsmittel anbauen können und auch nicht über das für
entsprechende Importe notwendige Geld verfügen, um ihre Bevölkerung
ausreichend zu ernähren.
[57]
Alte Krankheiten kehren zurück
Doch unsere stark bevölkerte Welt leidet nicht nur unter Krieg, Armut und
Hunger. Viele Wissenschaftler befürchten, daß durch die hohe
Bevölkerungsdichte und die rasche weltweite Mobilität jederzeit
Krankheitsepidemien ausbrechen könnten. Am 21. August 1997 berichtete
Associated Press, daß eine Woche zuvor ein dreijähriger Junge in Hongkong
an einem Grippevirus gestorben war, den man bis dahin bei Menschen noch
nie gefunden hatte. Dieser tödliche Virusstamm hatte offenbar die Artgrenzen
von Vögeln auf Menschen übersprungen (wie auch bei der Grippewelle, die im
Jahre 1918 weltweit zwanzig Millionen Menschenleben gefordert hatte) und
wurde in den USA und in Holland als H4N1-Typ-A-Strang identifiziert, gegen
den es keinen Impfstoff gibt.
Am nächsten Tag berichtete AP, daß ein Mann in Michigan sich kürzlich mit
einem neuen Strang des weltweit verbreiteten Bakteriums Staphylococcus
aureus infiziert hatte, welcher gegen alle bekannten Antibiotika einschließlich
des neuesten und effektivsten Wirkstoffes, Vancomycin, resistent ist. Dr.
William Jarvis, der als Epidemiologe für die Centers of Disease Control in
Atlanta arbeitet, erklärte anläßlich dieser ersten Entdeckung des als
biologische Zeitbombe wirkenden Killerbakteriums in den USA, daß nun »die
Zeitbombe tickt«. Drei Tage später berichtete das Wall Street Journal über
einen zweiten Fall von Vancomycin-resistenten Staphylokokken in den
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[58]
36/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Vereinigten Staaten; betroffen war ein Patient in einem Krankenhaus in New
Jersey. Seitdem sind überall im Land weitere Fälle aufgetreten.
In der Bibel, im fünften Buch Mose, Vers 28, 22, ist von »Auszehrung« die
Rede, einem Wort, das bis vor etwa fünfzig Jahren häufig zur Bezeichnung von
Tuberkulose (TB) verwendet wurde. Dort heißt es: »Der Herr wird dich
schlagen mit Auszehrung, Entzündung und hitzigem Fieber, Getreidebrand
und Dürre; die werden dich verfolgen, bis du umkommst.«
Auszehrung? Auch wenn manche Leute die Situation noch nicht alarmierend
finden – immerhin macht TB in den amerikanischen Zeitungen oder im
Fernsehen heutzutage nur selten Schlagzeilen –, sollten wir die folgenden
Fakten berücksichtigen, die deutlich machen, welche Rolle die TB mittlerweile
wieder in der Welt spielt:
In einem Bericht, der kürzlich von der Regierung der Vereinigten Staaten[9]
veröffentlicht wurde, heißt es: »Unter den Infektionskrankheiten ist Tuberkulose
weltweit die Haupttodesursache bei Erwachsenen und stellt nach Ansicht der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine ernste Bedrohung für das
öffentliche Gesundheitswesen dar. Die Sorge angesichts der weltweiten
Ausmaße der modernen TB-Epidemie ist so groß, daß die WHO Tuberkulose
im April 1993 zu einem ›globalen Notfall‹ erklärt hat – die erste Erklärung
dieser Art in der Geschichte der WHO.«
Der Bericht geht dann genauer auf das Ausmaß der Probleme ein:
»Buchstäblich bei jedem Ticken der Uhr infiziert sich irgend jemand auf der
Welt mit TB – eine Person pro Sekunde. Ein volles Drittel der gesamten
Weltbevölkerung ist jetzt schon mit dem TB-Bazillus infiziert. [Hervorhebung
von mir: Denken Sie daran, daß nur ungefähr fünf bis zehn Prozent aller
»Infizierten« tatsächlich eine »aktive« TB entwickeln und den Erreger weiter
verbreiten.] … An TB sterben gegenwärtig mehr Erwachsene pro Jahr als an
AIDS, Malaria und Tropenkrankheiten zusammen …«
[59]
Eines der Probleme bei TB besteht darin, daß sie so ansteckend ist. Das USGesundheitsministerium hebt hervor: »Wie eine gewöhnliche Erkältung und
anders als AIDS wird diese Krankheit [TB] durch die Luft übertragen, wobei
ein zufälliger Kontakt ausreicht. Wenn jemand, der ansteckend ist, hustet,
niest, spricht oder Schleim auswirft, werden die TB-Bazillen aus der Lunge
dieses Patienten durch die Luft gewirbelt, wo sie stundenlang bleiben und von
anderen Menschen eingeatmet werden.
Unbehandelt infiziert ein Mensch mit aktiver TB im Laufe eines einzigen
Jahres zehn bis fünfzehn andere Menschen.«
Aber wird die Wissenschaft uns nicht retten? Inzwischen stellt sich leider
heraus, daß die moderne Medizin selbst das Problem zu einem großen Teil
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
37/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
verursacht hat. Während sich die TB so rasch ausbreitet, besonders in den
Ländern der Dritten Welt mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte (wo die
Menschen versuchen, ihr Leben durch Wirtschaftswachstum zu verbessern),
hat sich eine neue und fast unheilbare Form von TB entwickelt, die eine Folge
davon ist, daß Ärzte und Krankenhäuser die Medikamente gegen TB nicht
korrekt einsetzen.
Als »mehrfachresistente Stämme« bezeichnet, führen diese neuen Varianten
des TB-Erregers fast immer zu einem entsetzlichen Tod unter großen
Schmerzen. Das US-Gesundheitsministerium stellt dazu fest: »Es gibt keine
Therapie für Infektionen mit einigen der mehrfachresistenten Stämme, und es
herrscht große Sorge, daß diese Stämme sich weltweit rasch ausbreiten
werden. Zwar gibt es gegenwärtig nur wenige zuverlässige Zahlen, doch die
Wissenschaftler gehen bei ihren Schätzungen davon aus, daß mehr als 50
Millionen Menschen mit TB-Stämmen infiziert sind, die zumindest gegen eines
der üblichen Antibiotika resistent sind.«
Glauben Sie nicht, dieses Problem sei auf die Dritte Welt beschränkt! Ein
Artikel in der angesehenen Wissenschaftszeitschrift Nature[10] stellt dar, daß
die Krankheit auch schon in New York und Los Angeles »besonders
gefährlich« ist und sich in den Vereinigten Staaten weiter ausbreitet. Immerhin
bewegt sich die TB so schnell wie ein hustender Mensch in einem Flugzeug,
Bus oder Zug. In der medizinischen Fachzeitschrift Chest[11], die sich speziell
an Thoraxchirurgen wendet, führen die Autoren aus, daß es in den Vereinigten
Staaten »eine alarmierende Umkehrung des Abwärtstrendes bei den
Neuinfektionen mit TB gibt«, der etwa 1984 eingesetzt hat. Sie erklären ganz
offen: »In den letzten zehn Jahren haben die Neuinfektionen mit HIV und TB in
verschiedenen großen Städten der USA epidemische Ausmaße
angenommen. Am Bellevue Hospital Center in Manhattan ist die Zahl der
Neuinfektionen mit mehrfachresistenten TB-Stämmen 1991 im Vergleich mit
jedem der vorangegangenen zwanzig Jahre um das Siebenfache
angestiegen.«
[60]
Und dies ist natürlich nicht die einzige Krankheit, die sich besorgniserregend
entwickelt. Kritisch ist die Situation auch im Hinblick auf das Hantavirus, auf
die Enzephalitis, eine mögliche Wiederholung der tödlichen Grippe-Epidemie
von 1918 (das Virus wurde Ende 1997 von Wissenschaftlern »vorsichtig«
isoliert, damit man es »untersuchen« konnte – nachdem man unter dem
ewigen Eis im Norden Europas einige Leichen ehemaliger Opfer gefunden
hatte), im Hinblick auf den Erreger Pfisteria piscicida, der an der Ostküste der
USA das Leben in vielen Meeresbuchten und Flüssen[12] dezimiert, und
Dutzende anderer.
Beim Fleischverzehr gibt es sogar Probleme mit »krankheitserregenden«
Proteinen (sogenannten Prionen[13]), für deren Entdeckung ein
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
38/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wissenschaftler 1997 den Nobelpreis erhielt. Zwar hat der Rinderwahnsinn in
Großbritannien in den achtziger Jahren dieser speziellen Manifestation von
Prionen weltweite Aufmerksamkeit beschert, doch es gibt noch viele andere
Formen, und sie verbreiten sich weltweit sehr rasch in den Schlachttieren und
in der menschlichen Bevölkerung.
[61]
Aber selbst angesichts dieser und anderer Hinweise auf die potentiellen
Gefahren und gegenwärtigen Katastrophen, die durch unser explosives
Wachstum hervorgerufen werden, bezeichnet man diejenigen, die sich für
alternative, langsamere Wachstumspfade einsetzen, als technologiefeindliche
Umweltextremisten oder wirtschaftliche Ignoranten – oder sogar als
»Wachstumsgegner«, so als ob wir tatsächlich mehr Wachstum brauchten.
Beachten Sie jedoch, daß solche Buh-Rufe überwiegend von jenen kommen,
die an der Spitze der wachsenden »Wohlstandspyramide« stehen, unter der
unser Planet zu ersticken droht.
Vielleicht erscheint uns die Lage einfach
deshalb so gut, weil wir nicht sehen oder
hören, was passiert
Ein weiterer Grund, warum wir Amerikaner meinen, alles sei in bester
Ordnung, besteht darin, daß die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung
bemerkenswert schlecht über die Situation außerhalb der eigenen
Landesgrenzen informiert ist. Der in den USA erscheinende »Weltalmanach«
World Almanac and Book of Facts beispielsweise führt Hunger oder
Hungersnöte nicht einmal als Kategorie auf. Er enthält jedoch ausführliche
Listen amerikanischer Werbefirmen, amerikanischer Universitätspräsidenten,
Filmschauspieler, Kongreßmitglieder und Leistungssportler.
Wie ist es möglich, daß wir im reichsten Land der Erde mit der bei weitem
größten Zahl von Medien so schlecht informiert sind? Das ist eine wichtige
Frage.
Das amerikanische Fernsehen berichtet selten eingehend über internationale
Ereignisse, sondern stürzt sich lieber auf »heiße« Storys wie den O.J.Simpson-Prozeß, die Einschaltquoten bringen und dadurch die
Werbeeinnahmen erhöhen. Schließlich ist das Privatfernsehen ein Geschäft,
und das gilt auch für die Nachrichtensendungen. Die Gehälter sämtlicher
Mitarbeiter stammen aus Werbeeinnahmen, und deren Höhe hängt von den
Einschaltquoten ab. Wie Calvin Coolidge sagt: »In Amerika geht es immer nur
ums Geschäft.«
[62]
Bei den Nachrichten haben wir heutzutage leider oft folgende Situation: Die
großen, multinationalen Unternehmen, die an vorderster Front der globalen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
39/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Umweltzerstörung stehen, gehören zu den hundert größten Unternehmen in
den USA, und vier von ihnen besitzen eigene Fernsehsender, die
Abendnachrichten ausstrahlen. Sie haben einen nicht geringen Anteil daran,
daß die Amerikaner so schlecht informiert sind.
Für solche Sender sind »Nachrichten« auch nur ein Geschäft. Und die meisten
»Nachrichtenkonsumenten«
vergessen,
daß
die
Zeitungen
und
Fernsehsender bei ihren Geschichten immer die verkauften Auflagen, die
Einschaltquoten und die Werbeeinnahmen im Auge haben, denn das ist ihr
Profit. Der Anspruch, die Öffentlichkeit korrekt über das zu informieren, »was
hier wirklich passiert ist«, kommt bei den Medien oft zu kurz, weil es der
geschäftliche Erfolg ist, der Einnahmen bringt und sicherstellt, daß die
Rechnungen bezahlt werden können.[14]
Doch der geschäftliche Erfolg der Medien ist kein Garant dafür, daß wir
erfahren, was wirklich in der Welt geschieht.
Auch in ihren sonstigen Sendungen präsentieren uns die Medien eine
idealisierte Wirklichkeit und keineswegs das echte Leben in dieser Welt.
Obdachlose treten beispielsweise nur selten in Fernsehserien oder anderen
Shows auf. Doch die Wirklichkeit sieht so aus, daß Teile der Vereinigten
Staaten langsam, aber unverkennbar beginnen, Erinnerungen an die Armut in
Städten wie Bombay wachzurufen.
[63]
[64]
Sklaverei und Freiheit
Sk laverei ist der erste Schritt zur Zivilisation.
Um sie zu entwick eln, müssen die
Lebensbedingungen für einen Teil der
Menschen wesentlich besser sein als für den
Rest der Bevölk erung, damit sich dann
diejenigen, denen es besser geht, auf Kosten
der anderen entfalten k önnen.
Alexander Herzen (1812–1870)
W ir
haben bisher darüber gesprochen, daß wir alle »aus Sonnenlicht
geschaffen« sind, und wie die Fähigkeit, die Menge des verfügbaren
Sonnenlichts durch fossile Brennstoffe zu erhöhen, unser außerordentliches
Bevölkerungswachstum in den letzten Jahrhunderten ermöglicht hat.
Sklaverei war ebenfalls ein Werkzeug der modernen Zivilisation, und einige
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
40/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Historiker behaupten, daß die Mesopotamier, Ägypter, Chinesen, Griechen,
Römer, Ottomanen, Europäer und Amerikaner ohne Sklaverei nicht annähernd
das Wohlstandsniveau erreicht hätten, dessen sie sich zu ihrer Zeit erfreuen
konnten. (Science News vom 20. Sept. 1997 erwähnt »die einflußreiche
Theorie, daß größere Bauten und andere Aspekte einer komplexen Kultur nur
in Ackerbaugesellschaften auftraten, die über strikte Machthierarchien und die
Arbeitskraft zahlreicher Sklaven verfügten«.)
Sklaverei ist ein weiterer Weg, sich das Sonnenlicht anzueignen, das im
Körper eines anderen gespeichert ist, und es im Interesse des Ausbeuters
»einzuspannen«.
Die früheste Geschichte der Sklaverei finden wir in der Wiege der westlichen
Zivilisation: Sie fand vor fünf- bis sechstausend Jahren im sumerischen Reich
von Mesopotamien statt, der fruchtbaren Gegend des heutigen Irak. Es gibt
auch schriftliche Aufzeichnungen darüber, daß Sklaven in Ägypten, Persien,
Babylonien und Assyrien eine zentrale Rolle spielten. Außerdem wird
Sklaverei häufig in der Bibel (im Alten wie im Neuen Testament) erwähnt (und
auch gebilligt).
[65]
In diesen Gesellschaften wurde der größte Teil aller körperlichen Arbeiten von
Sklaven verrichtet. Als die Gesellschaften sich ausbreiteten und
Handelsnetzwerke entstanden, wuchs die Nachfrage nach Sklaven, was dazu
führte, daß in der Blütezeit des griechischen und römischen Reiches sogar die
»gewöhnliche« römische Familie zumindest einen Haussklaven hatte, und daß
bei der griechischen Volkszählung im Jahre 400 vor Christus die Athener
Bevölkerung zu einem ganzen Drittel aus Sklaven bestand.
Aristoteles schrieb über die Haushaltsführung und die wichtige Rolle, die
Sklaven für die Lebensqualität in jedem modernen Haushalt spielten:
Beginnen wir mit dem Verhältnis zwischen Herr und Sklave … Denn einige Denker
meinen, die Funktion des Herrn sei eine exakte Wissenschaft … Da das Eigentum
ein Teil des Haushalts ist und die Kunst des Eigentumserwerbs ein Teil der
Haushaltsführung (denn ohne die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse ist kein
Leben und erst recht kein gutes Leben möglich), und da der Haushaltsvorstand so
wie ein Künstler Werkzeuge benötigt, um bestimmte Arbeiten zu verrichten, braucht
man auch für die Haushaltsführung seine Werkzeuge, lebende und nicht-lebende,
und so ist das Eigentum zugleich ein Werkzeug zur Bewältigung des Lebens und
jegliches Eigentum generell eine Sammlung von Werkzeugen, und ein Sklave ist ein
lebender Teil des Eigentums. Und jeder Helfer ist wie ein Werkzeug, das
verschiedenen anderen Werkzeugen dient.
Bei seinem Versuch, die Sklavenhaltung als Werkzeuggebrauch zu
rechtfertigen, verfehlte Aristoteles freilich die entscheidende Funktion, die
Sklaven in den Zivilisationen der jüngeren Kulturen erfüllten: Sklaven waren
keine Werkzeuge, sondern Energiequellen – für kinetische Energie,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[66]
41/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
gespeicherte Energie, erneuerbare Energie.
Von den Anfängen der Zivilisation bis heute haben Sklaven sehr viel mehr
geleistet, als ihren Herren nur das zu ermöglichen, was Aristoteles ein »gutes
Leben« nennt. Von den afrikanischen Sklaven, die im amerikanischen Süden
Baumwolle pflückten, bis zu den russischen Sklaven (den Slaven), die von den
Römern und Portugiesen vor etwa tausend Jahren eingeführt wurden, um auf
den Zuckerplantagen der Mittelmeerinseln zu arbeiten, und zurück zu den
Haussklaven aus aristotelischen und noch früheren Zeiten waren Sklaven stets
mehr als reine »Werkzeuge«. Sie waren eine Energiequelle, so wie
Pferdestärken oder elektrischer Strom. Von den Sklaven des römischen
Reichs bis zu den verdeckten Formen der Sklaverei wie den Leibeigenen im
mittelalterlichen Europa oder der elendiglich armen Arbeiterklasse im
viktorianischen England war die kostenlose oder billige Rückenkraft,
Beinkraft und Armkraft der lebenswichtige Treibstoff für das Wachstum
dessen, was wir als Zivilisation und Industrie bezeichnen. Eine der wertvollsten
Waren, die Kolumbus entdeckte, als er in der heutigen Dominikanischen
Republik landete, waren die dortigen Eingeborenen – über mehr als zwei
Jahrzehnte verschiffte er Tausende von Sklaven nach Europa und wurde
dadurch zu einem sehr reichen Mann.
Es ist interessant, daß die Sklaverei in den Vereinigten Staaten etwa zur
gleichen Zeit ein Ende fand, als man über reichlich Erdöl verfügen konnte.
Die amerikanischen Sklaven verwandelten gegenwärtiges Sonnenlicht
(Nahrung) in Arbeitskraft, welche den Motor unserer Nation antrieb. Als Kohle
und Erdöl reichlich und kostengünstig verfügbar wurden, verloren die Sklaven
an Bedeutung, weil wir sie nun durch Maschinen ersetzen konnten, die das
gespeicherte Sonnenlicht, das reichlicher vorhanden war als gegenwärtiges
Sonnenlicht, effektiver zu nutzen vermochten.
Die alten Römer versorgten sich primär auf ihren Kriegszügen mit Sklaven,
indem sie ihre besiegten »Feinde« versklavten. Das erhöhte den Reiz, ferne
Länder zu erobern: Die Beute des Siegers bestand nicht nur aus natürlichen
Reichtümern wie Holz und Mineralien, sondern auch aus Sklaven. Auf ähnliche
Weise verschifften die Europäer in der Zeit zwischen 1500 und 1800 mehr als
zwölf Millionen afrikanische Sklaven nach Nord- und Südamerika, wobei die
meisten nach Brasilien und auf die Inseln zwischen Florida und Venezuela
verschleppt wurden.
[67]
Die meisten Leute stellen sich die Indianer der amerikanischen Plains als
Krieger auf dem Rücken ihrer Pferde vor. Aber die amerikanischen
Ureinwohner dieser Gegend waren zehntausend Jahre lang zu Fuß gegangen,
bis die Spanier nach der fehlgeschlagenen Revolte des Tewa-Medizinmanns
Pope im Jahre 1698 dort Pferde einführten.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
42/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Der »heilige Hund« (so nannten sie das Pferd) der amerikanischen
Ureinwohner wurde das Lasttier und Transportmittel der Wahl bei den
Stämmen, die vorher zu Fuß gegangen waren und Hunde als Helfer bei der
Jagd eingesetzt hatten. Das führte zu einem hundert Jahre währenden
goldenen
Zeitalter
ungeahnten
Wohlstands
und
großen
Bevölkerungswachstums bei diesen Stämmen – bis das schreckliche und
blutige Ende mit den Europäern aus dem Osten kam, die das Land für sich
beanspruchten.
Gleichwohl hat die Einführung einer neuen Energiequelle als leichterer oder
effizienterer Weg, gegenwärtiges Sonnenlicht in Arbeitskraft zu verwandeln –
seien es nun Sklaven oder Pferde oder mit Kohle oder Öl betriebene
Maschinen –, immer zu dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen
geführt.
Umgekehrt führt der Verlust solcher Energiequellen ebenfalls zu großen
Veränderungen, denn dies war die unmittelbare Ursache für den Verfall und
die Zerstörung aller historisch bekannten Zivilisationen, bis zurück zu den
Sumerern.
Überleben und Wohlstand hängen davon ab, über wieviel Sonnenenergie wir
verfügen können.
[68]
Flüchtige Eindrücke einer möglichen
Zukunft in Haiti und anderen
Brennpunkten
Die Zuk unft besteht aus demselben Stoff wie
die Gegenwart.
Simone Weil (1909–1943)
Christoph Kolumbus öffnete nicht nur das Tor
zu einer neuen Welt, sondern er gab uns allen
auch ein Beispiel, indem er zeigte, welche
großartigen
Leistungen
man
durch
Beharrlichk eit und Gottvertrauen vollbringen
k ann.
George Bush, 1989 in einer Ansprache
W enn man über Haiti im westlichen Teil der Insel Hispaniola fliegt, wo
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
43/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kolumbus landete, dann hat man den Eindruck, jemand habe eine Fackel
genommen und alles Grün abgebrannt. Sogar das Meer um die Hauptstadt
Port au Prince herum erstickt meilenweit im Braun menschlicher Abfälle und
erodierter Böden. Aus der Luft sieht es so aus, als würde sich ein Lavafluß ins
Meer ergießen.
Die Geschichte dieser kleinen Insel repräsentiert in vieler Hinsicht einen
Mikrokosmos dessen, was in der ganzen Welt geschieht.
Als Kolumbus 1492 auf Hispaniola landete, war fast die gesamte Insel von
üppigen Wäldern bedeckt. Die dort lebenden Taino-»Indianer« hatten
offensichtlich vor Kolumbus ein idyllisches Leben geführt, wie man aus
schriftlichen Aufzeichnungen entnehmen kann, die Mitglieder der
Schiffsbesatzung des Kolumbus wie Miguel Cuneo hinterlassen haben.
Als Kolumbus und seine Männer jedoch zum zweiten Mal nach Hispaniola
kamen, nahmen sie etwa zweitausend Einheimische gefangen, die zu ihrer
Begrüßung erschienen waren. Cuneo schrieb: »Als wir mit unseren Schiffen …
wieder
nach
Spanien
aufbrechen
wollten,
trieben
wir
…
eintausendsechshundert Indianer, Männer und Frauen, zusammen und
brachten einen Teil von ihnen am 17. Februar 1495 auf unsere Schiffe. …
[Den Spaniern, die als Besatzung des Inselforts zurückblieben] sagten wir,
jeder, der ein paar Indianer haben wolle, könne sich nach Bedarf welche
nehmen, was sie auch taten.«
[69]
Cuneo notierte auch, daß Kolumbus ihm ein wunderschönes junges Mädchen
aus der Karibik als persönliche Sklavin schenkte. Als er jedoch versuchte, sich
ihr sexuell zu nähern, habe sie sich »mit aller Kraft gewehrt«. Deshalb, so
schreibt er weiter, habe er sie »gnadenlos verprügelt und vergewaltigt«.
Obwohl Kolumbus die Taino-Indianer als Kannibalen bezeichnet hat, gibt es
dafür bis heute nicht die geringsten Hinweise. Kolumbus hatte diese
Geschichte – sie wird heute noch in einigen amerikanischen Schulen gelehrt –
offensichtlich frei erfunden, als Rechtfertigung für das Abschlachten und die
Versklavung der einheimischen Bevölkerung. An das spanische Königshaus
schrieb er 1493: »Wir können hier im Namen der Heiligen Dreieinigkeit
unbegrenzt Sklaven verkaufen … Es gibt hier so viele von ihnen und auch
soviel Holz, daß sie, obwohl Lebewesen, so gut wie Gold sind …«
Kolumbus und seine Männer benutzten die Taino auch als Sex-Sklaven:
Kolumbus belohnte seine Männer gerne damit, daß er ihnen eine
einheimische Frau zur Vergewaltigung schenkte. Als er begann, Taino als
Sklaven in andere Teile der Welt zu exportieren, wurde der Handel mit SexSklaven zu einem wichtigen Teil des Geschäftes, wie Kolumbus einem Freund
im Jahre 1500 schrieb: »Man erhält für eine Frau wie für eine Farm leicht
hundert Castellanoes [spanische Münze]; der Handel ist allgemein üblich und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
44/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
es gibt viele Händler, die sich nach Mädchen umsehen; besonders gefragt
sind Mädchen im Alter von neun bis zehn [Jahren]«.[15]
Doch auf den Plantagen, die die Spanier und später die Franzosen auf
Hispaniola anlegten, erwiesen sich die Taino nicht als besonders gute
Arbeiter: Sie waren wütend darüber, daß man ihnen ihr Land und ihre Kinder
nahm, und versuchten, sich gegen die Eindringlinge zu wehren. Kolumbus
führte harte Strafen für sie ein: Selbst für ein geringes Vergehen wurde einem
Indianer die Nase oder das Ohr abgeschnitten, damit er in sein Dorf
zurückkehren und seine Leute damit beeindrucken sollte, zu welcher Brutalität
die Spanier fähig waren. Kolumbus hetzte die Hunde auf die Indianer, spießte
ihren Rumpf vom After bis zum Mund auf Pfähle und erschoß sie. Schließlich
wurde das Leben für die Taino so unerträglich, daß, wie Pedro de Cordoba
1517 in einem Brief an König Ferdinand schrieb, »die Indianer als Resultat
ihrer Leiden und der harten Arbeit, zu der sie gezwungen wurden, Selbstmord
verübt haben und weiterhin verüben. Bei einer Gelegenheit haben hundert von
ihnen einen Massenselbstmord begangen. Die Frauen sind von der Arbeit
erschöpft und versuchen, Schwangerschaften und Geburten zu verhindern …
Viele treiben ihre ungeborenen Kinder ab oder töten sie eigenhändig gleich
nach der Geburt, um ihnen ein Leben in Unterdrückung und Sklaverei zu
ersparen.«
[70]
Am Ende gingen Kolumbus und später sein Bruder Bartholomäus Kolumbus,
dem er die Verantwortung für die Insel übertragen hatte, einfach dazu über, die
Taino vollständig auszurotten. Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus,
daß auf Haiti/Hispaniola vor der Ankunft des Kolumbus etwa drei Millionen
Menschen lebten. Im Jahre 1496 ergab eine von Bartholomäus Kolumbus
durchgeführte Volkszählung noch ganze 1 100 000 Einwohner. Im Jahre 1516
war die einheimische Bevölkerung auf 12 000 reduziert, und nach Angaben
von Las Casa (der dort war) lebten 1542 nur noch weniger als 200
Einheimische. 1555 war auch der letzte von ihnen tot. (Heute gibt es auf der
ganzen Welt keinen einzigen Taino mehr: Ihre Kultur, die Menschen und ihre
Gene sind von diesem Planeten verschwunden.)
Als die aus Afrika verschleppten Sklaven in Haiti heimisch wurden, begannen
sie, die Wälder abzuholzen, um Ackerland und Feuerholz zu gewinnen. Als
Folge davon stehen heute nur noch auf weniger als einem Prozent der Fläche
Haitis Bäume. Auf dem nackten Boden wird das Erdreich vom Regen
ausgewaschen, fließt die Hügel hinab, vermischt sich mit Abfall und
Abwässern und wird von Port au Prince aus vier Meilen weit ins Meer
hinausgespült. Millionen von Menschen leben dicht gedrängt in den Städten,
wo sie extrem billige Arbeitskräfte für die multinationalen Konzerne abgeben,
als Haushaltshilfen ausgebeutet werden und – Kinder wie Erwachsene –
europäischen und amerikanischen Managern der großen Multis sowie
Touristen als billige Prostituierte dienen.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[71]
45/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Das Vermächtnis des Kolumbus besteht darin, daß die Haitianer nicht nur in
Armut, sondern in Verzweiflung leben. Bis zu sechzehn Stunden am Tag
verbringt die durchschnittliche Landbevölkerung mit der Suche nach Nahrung
oder Feuerholz, und die Stadtbewohner verbringen die gleiche Zeit mit der
Suche nach Geld oder eßbaren Abfällen. Krankheiten von Cholera bis AIDS
grassieren in dem überbevölkerten Land.
Obwohl Haiti zu den ärmsten Ländern in der westlichen Welt gehört, ist die
Situation dort nicht einzigartig. Die Dominikanische Republik auf der anderen
Seite der Insel wie auch der Rest von Mittel- und Südamerika hat ähnliche
Probleme.
Die Philippinen: Kinder suchen im Abfall
nach Nahrung
Als ich 1985 auf den Philippinen war, nahm mich Pater Ben Carreon, der eine
populäre Kolumne für die Manila Times schreibt und als Priester-Aktivist in
Manila lebt, mit zu den riesigen Müllhalden der Stadt. Der Gestank war
entsetzlich, die Luft stand vor Insekten, und Berge von verrottendem Abfall
erstreckten sich bis in weite Ferne. Wir standen dort in der heißen
Nachmittagssonne, und Pater Ben sagte: »Sehen Sie sich die Abfallberge
genau an.«
[72]
Ich blinzelte in das grelle Licht, betrachtete die entfernten Müllhalden, und dann
fiel mir etwas auf: »Sie bewegen sich!« sagte ich.
»Nein, es sind die Kinder, die sich darauf bewegen«, erklärte er. »Tausende
von Kindern. Ihre Familien leben in der Nähe, und die Kinder verbringen ihre
Tage damit, im Abfall nach Essensresten für ihre Familien zu suchen.«
Als Pater Ben Jahre zuvor entdeckt hatte, daß Heerscharen von Kindern ihr
Leben auf den Müllhalden verbrachten, hatte er ein Stipendienprogramm
eingerichtet, um den »Müllhaldenkindern« den Besuch der Schule zu
ermöglichen. Als Resultat seiner Bemühungen haben Hunderte von ihnen die
High School abgeschlossen und einige Dutzend haben sogar einen CollegeAbschluß. »Trotzdem ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagte er
mir einige Jahre nach unserem ersten Zusammentreffen. »Die Aufgabe ist
einfach unermeßlich.«
Nepal: Vier Stunden Fußmarsch, um das
Brennholz für einen Tag zu finden
Ähnliche Geschichten spielen sich überall in den »Entwicklungsländern« ab.
Nepal hat allein in den letzten Jahrzehnten über dreißig Prozent seiner
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
46/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Waldflächen verloren, weil die Menschen Feuerholz und Ackerland brauchten.
Jahrtausende lang hatten dort Stammesvölker gelebt, und die sorgfältig
terrassierten Hügel hatten die Bevölkerung zuverlässig mit Nahrung versorgt.
Heute werden die meisten dieser Terrassen vom Regen ausgewaschen, und
ohne den Schutz der Wälder fließt das Erdreich die steilen Abhänge Nepals
hinunter.
Wie in den meisten Entwicklungsländern sammeln auch in Nepal
hauptsächlich die Frauen das Feuerholz; sie beschaffen die Nahrung und
bereiten sie zu. Als Folge der raschen Waldzerstörung, so heißt es in
wissenschaftlichen Studien, die Dr. Sharon L. Camp vom Population Crisis
Committee zitiert, brauchen die Frauen in Nepal neuerdings ein bis vier
Stunden zusätzlich zu ihrem Zehn-Stunden-Arbeitstag, nur um Brennholz aus
den zunehmend entfernter liegenden Wäldern zu beschaffen. In absehbarer
Zeit werden auch diese Quellen erschöpft sein, und in Nepal wird dann
wahrscheinlich dasselbe geschehen wie in Haiti.
[73]
Westafrika: Das Holz wurde verbraucht,
Erosion setzte ein, jetzt ist dort Wüste
Das westafrikanische Land Burkina Faso (früher Obervolta) ist ein weiteres
interessantes Beispiel. Die Entwicklungshilfe beträgt 18 Prozent des
Bruttosozialprodukts, und die Bevölkerungsepxlosion schreitet weiter fort.
Durchschnittlich haben die Frauen 7,2 Kinder. Nachdem sich das Land
Zehntausende von Jahren selbst erhalten konnte, deckt die eigene
Nahrungsproduktion heute nur noch vierzig Prozent des Bedarfs. Feuerholz
wird ungefähr fünfmal schneller verbrannt, als es nachwachsen kann, und die
Frauen verbringen ungefähr die Hälfte des Tages allein mit der Suche nach
Wasser. Während die Erosion fortschreitet und die Böden immer stärker
ausgelaugt werden, sind die Bauern von Burkina Faso gute Kunden der
internationalen Düngemittelindustrie geworden, die jährlich Milliarden-DollarUmsätze macht. Doch das ist bestenfalls eine kurzfristige Lösung, und so hat
sich in den letzten vierzig Jahren die Wüste über große Teile des Landes
ausgebreitet.
1984 fielen in ganz Afrika Millionen von Menschen einer Hungersnot zum
Opfer, und Burkina Faso gehörte zu den am stärksten betroffenen Ländern.
Dr. Camp zitierte 1992 in einer Rede den burkinischen Bauern John Marie
Zawadogh, dessen Land bereits zur Hälfte aus Wüste besteht. Er sagte: »Zur
Zeit meines Vaters waren die Kornspeicher mit Hirse gefüllt, und die Erde
reichte fast zwei Meter in die Tiefe, bevor man auf Felsen stieß. Heute müssen
wir, abgesehen von besonders regenreichen Jahren, Getreide zukaufen, und
die Erde liegt nur noch eine Handbreit über dem Felsen … In meiner Kindheit
standen hier überall undurchdringliche Wälder. Stück für Stück wurden sie um
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[74]
47/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
die Siedlungen herum abgeholzt, bis eine Lichtung an die nächste reichte und
das Land so kahl war, wie es jetzt aussieht.«
In den Vereinigten Staaten ist die Lage nicht viel anders: Seit 1950 haben wir
ein Drittel des Mutterbodens verloren. Aber die meisten Leute scheinen nicht
zu merken, daß es hier oder irgendwo auf der Welt ein Problem gibt. Warum?
Wir bemerken die raschen
Veränderungen, nicht die langsamen
1976 kauften meine Frau Louise und ich eine 30-Hektar-Farm im Norden von
Michigan, weil wir dachten, daß es eines Tages vielleicht nötig sein könnte,
unsere Nahrung selbst anzubauen. Wir hatten in Detroit gelebt, als 1973 das
arabische Ölembargo verhängt worden war, gefolgt vom Streik der LKWFahrer aus Protest gegen die steigenden Benzinpreise und die
wirtschaftlichen Restriktionen, mit denen die Nixon-Regierung versucht hatte,
eine ökonomische Katastrophe zu verhindern. 1973 hatte es in Detroit etwa
eine Woche lang wenig oder gar keine Nahrungsmittel in den Regalen der
Supermärkte gegeben, und ich erinnere mich noch, daß ich vier Stunden in
der Schlange gestanden habe, um meine Ration von knapp 23 Liter Benzin zu
bekommen. Schon damals hatten wir erkannt, wie störungsanfällig das ganze
System war und daß die großen Städte bei einem ökonomischen
Zusammenbruch zu tödlichen Fallen werden konnten.
Die Lage besserte sich, als die Araber den Ölhahn wieder aufdrehten. 1978,
als Louise und ich das New England Salem Children's Village in New
Hampshire gründeten, verkauften wir die Farm, weil wir Geld brauchten. Aber
ich habe nie den kurzen Blick hinter die Kulissen in Detroit vergessen, das
erschreckende Bild, das die Stadt damals bot, nur wenige Tage, nachdem die
Lastwagen nicht mehr fuhren und das Benzin zur Mangelware geworden war.
[75]
Ein Freund, der gerne Meeresfrüchte ißt, erzählte mir einmal, man könne
einen Hummer auch langsam kochen. »Wenn man ihn in einen Topf mit kaltem
Wasser legt, das man auf kleiner Flamme erwärmt, dann schläft der Hummer
im warmen Wasser ein und wird anschließend gekocht«, sagte er. »Er schlägt
dann nicht so um sich, wie er es tut, wenn man einen lebenden Hummer in
einen Topf mit kochendem Wasser wirft.« Doch echte Hummer-Fans
bevorzugen die letztere Methode, weil das Fleisch beim schnellen Kochen
aromatischer wird, so habe ich mir sagen lassen.
Nicht anders als Hummer neigen auch wir Menschen dazu, Veränderungen in
unserem »Wasser« nicht zu bemerken, solange sie allmählich geschehen.
Wenn ein Amerikaner in einen »heißen Topf« wie Haiti oder Burkina Faso
fällt, führt das zu einer schockartigen Erkenntnis: Unser ganzer Planet befindet
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
48/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sich in demselben Topf, in dem es einige besondere »Brennpunkte« gibt,
aber der Topf als Ganzes erwärmt sich weltweit.
[76]
Das Baumsterben
Die Entwick lung von Gesellschaft und
Industrie hat sich generell immer als so
zerstörerisch für die Wälder erwiesen, daß
alles, was zu ihrem Erhalt oder zur
Wiederaufforstung
geschehen
ist,
im
Vergleich dazu völlig bedeutungslos war.
Karl Marx (1818–1883), Das Kapital (1867)
W ir haben (in unserer Lebensspanne) der Erde, dem Wasser, der Luft und
allen Lebewesen auf der Erde bereits unwiderruflichen Schaden zugefügt.
Mehr als 76 Prozent des Mutterbodens, der weltweit existierte, als die ersten
Europäer sich in Amerika ansiedelten, ist jetzt verloren, und dem
Wasserkreislauf ist durch das Abholzen der Wälder erheblicher Schaden
zugefügt worden. Damit wollen wir uns in diesem Kapitel genauer
beschäftigen, um zu sehen, was das für unsere Zukunft bedeutet.
Durch das Verbrennen von Holz, Kohle und Erdöl setzen wir heute alljährlich
über sechs Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre frei, was
gemessen an den 1,6 Milliarden Tonnen, die wir 1950 ausgestoßen haben,
eine Explosion bedeutet. Dieser Kohlenstoff (meist in Form von Kohlendioxid)
hüllt uns ein wie ein Treibhaus und wird nach Ansicht der Vereinten Nationen
und vieler wissenschaftlicher Experten weltweit für heftige Wetterextreme
sorgen.
Die Produktion von Getreide und anderen Feldfrüchten hat in Amerika wie
auch im Rest der Welt während der achtziger Jahre ihren Höhepunkt erreicht
(und sank in den neunziger Jahren), was den Agrar-Multis Rekordgewinne
eingetragen, zugleich aber auch für die schlimmsten Hungersnöte der
Weltgeschichte gesorgt hat.
Wie ist es möglich, daß unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ja
durchaus real sind und handfesten Nutzen hervorbringen, gleichzeitig unsere
Existenzgrundlagen zerstören? Die Antwort lautet, daß der handfeste Nutzen
auf ganz spezifische einzelne Bereiche beschränkt ist und nur dadurch erzielt
werden kann, daß wir unsere Zukunft mit einer schweren Hypothek belasten:
Wir fördern einen Teil des Systems auf Kosten eines anderen Teils.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[77]
49/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Bäume
Als ich in die Grundschule ging, lernten wir, daß die Meere und die Wälder die
Hauptquellen des Sauerstoffs für unseren Planeten sind. Es zeigt sich jedoch,
daß dies zumindest für die Tiere, die den Sauerstoff aus der Luft atmen, nur
teilweise zutrifft. Die Meere spenden nur etwa acht Prozent des
atmosphärischen Sauerstoffs, und diese Rate sinkt rapide: Es gibt inzwischen
riesige Meeresgebiete, in denen alles Leben abstirbt, weil sie zu stark mit
giftigen Abfällen belastet sind, oder weil sich die Meerestemperatur verändert
hat, und diese Meeresgebiete verbrauchen heutzutage Sauerstoff.
So berichteten Forscher beispielsweise im Januar 1999 bei einem Treffen
der American Association for the Advancement of Science, daß die 7000
Quadratmeilen große »tote Zone« im Golf von Mexiko seit 1992 doppelt so
groß geworden ist, womit nun ein riesiges Gebiet von Fischen, Krabben und
nahezu allen Meerestieren entvölkert ist, abgesehen von bestimmten
Bakterien, die eine Umgebung mit niedrigem Sauerstoffgehalt vorziehen.
Nach Angaben von Professor Otto Doering von der Purdue University hängt
diese Entwicklung damit zusammen, daß amerikanische Farmer im Rahmen
ihrer intensiven Anbaumethoden jährlich 6,5 Millionen Tonnen Stickstoff als
Dünger auf ihre Felder ausbringen. Über Tausende von Bächen und Flüssen,
die in den Mississippi münden (der 40 Prozent der gesamten Abwässer des
Kontinents ins Meer leitet), gelangt dieser Stickstoff in den Golf.
[78]
Während die tote Zone im Golf von Mexiko gut untersucht ist, weil sie genau
vor der Küste der Vereinigten Staaten liegt, gibt es überall in der Welt eine
wachsende Zahl anderer, weniger bekannter Meeresgebiete, in denen
ebenfalls kein Leben mehr möglich ist, wodurch die Fischbestände bedroht
sind und das gesamte Ökosystem auf unserem Planeten aus dem
Gleichgewicht gerät.
Demnach sind also die Bäume die Hauptquelle des atmosphärischen
Sauerstoffs. Sie sind die Lungen unseres Planeten.
Eine ausgewachsene Kiefer oder ein Hartholzbaum hat eine Blattoberfläche,
die je nach Art von etwa tausend Quadratmeter bis zu zwölftausend
Quadratmeter reicht. Die Blattoberflächen der Bäume in den Regenwäldern
können bis zu hundertsechzigtausend Quadratmeter pro Baum betragen. Auf
dieser enormen Oberfläche wird das Sonnenlicht als Energiequelle benutzt,
um Kohlendioxid in Sauerstoff und Pflanzenmaterial zu verwandeln (unter
Einsatz von »C«, was Kohlenstoff bedeutet). Die Bäume atmen das CO2
buchstäblich über ihre enormen Blattflächen ein, nachdem wir es als
Abfallprodukt ausgeatmet haben, und sie atmen ihrerseits Sauerstoff als
Abfallprodukt aus. Ohne Bäume würde unsere Atmosphäre wahrscheinlich
giftig für uns werden, und weil die Bäume in den Regenwäldern eine so viel
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
50/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
größere Blattoberfläche als gewöhnliche Bäume haben, spenden die
Regenwälder der Welt viel von dem Sauerstoff, den Sie einatmen, während
Sie diese Seite lesen.
Dieser Zusammenhang ist allgemein bekannt, doch er gehört im Grunde zu
den weniger wichtigen Funktionen der Bäume: Andere Einzelheiten über die
Bedeutung der Bäume für unser Überleben sind weniger bekannt.
[79]
Wurzeln als »Wasserpumpe«
Ein Baum im Regenwald zieht durch seine Wurzeln fast vierzehn Millionen
Liter Wasser nach oben, die während der Lebenszeit des Baumes als
Wasserdampf in die Atmosphäre entweichen. Obwohl es so aussieht, als
würde der Erde dadurch Wasser entzogen, trifft eigentlich das Gegenteil zu:
Die Bäume ziehen Wasser in das Erdreich, und das ist der erste Schritt in
einem komplexen Kreislauf, der verhindert, daß das Land zur Wüste wird.
Ohne die Wälder, die Millionen Tonnen Wasser in die Atmosphäre pumpen,
gäbe es nur wenig Feuchtigkeit in der Luft, die zu Wolken kondensieren und
dann abregnen könnte. Die Folge ist, daß auf der dem Wind zugekehrten
Seite unterhalb eines ehemaligen Waldgebietes, das abgeholzt worden ist,
kein Regen mehr fällt und ein Prozeß beginnt, den man Desertifikation nennt
und der zur Wüstenbildung führt. Dies ist in weiten Teilen des nördlichen und
östlichen Afrika geschehen und hat zu massiven Hungersnöten geführt, weil
der Regen ausfiel, die Ernte vertrocknete, der Mutterboden vom Wind
weggeweht wurde und nur Wüste zurückblieb.
Der größte Teil des Regens, der auf baumloses Land fällt, versickert entweder
als Grundwasser oder wird über unterirdische Wasserläufe, Gräben,
Abwasserkanäle, Bäche und/oder Flüsse ins Meer geleitet. Nur Bäume
können auf den kontinentalen Landmassen große Wassermengen effektiv in
die Atmosphäre zurückleiten.
Stellen Sie sich zum Vergleich vor, wie das Wasser in einem 160 000
Quadratmeter großen See verdunstet. Das scheint eine Menge Wasser zu
sein, entspricht aber gerade der Blattoberfläche eines einzigen großen
Baumes.
Während ich dies schreibe, werden stündlich 600 Hektar Land weltweit zur
Wüste, hauptsächlich durch die Zerstörung der Wälder. Der gesamte Bestand
an Regenwäldern auf diesem Planeten entspricht in etwa noch dem
kontinentalen Teil der Vereinigten Staaten, und jedes Jahr wird davon ein
Gebiet so groß wie Florida abgeholzt und für immer zerstört.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[80]
51/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Neu gepflanzte Setzlinge können das
Wasser nicht nach unten ziehen
Die Holzindustrie zeigt in ihrer Werbung, wie nach dem Roden neue Setzlinge
gepflanzt werden, doch im Hinblick auf den Wasserkreislauf sind diese Bilder
völlig irreführend. Hier werden zwar gerodete Bäume ersetzt, doch es entsteht
ein Jahrzehnte währende Lücke im Wasserkreislauf.[16]
Wenn man Tausende Tonnen Biomasse aus einem Wald herausholt und statt
dessen Setzlinge pflanzt, die nur ein paar hundert Gramm wiegen, dann trägt
das kaum dazu bei, atmosphärische Feuchtigkeit zu erzeugen, die sich als
Regen niederschlägt.
Und auch wenn die Setzlinge zu Bäumen herangewachsen sind, ist die
ökologische Vielfalt zerstört, und die natürliche Fauna und Flora der
betreffenden Region ist einer Monokultur gewichen, in der nur noch die
Baumart wächst, die von den holzverarbeitenden Firmen verwendet wird.
Aber nicht nur die Holzindustrie ist für die Zerstörung unserer Wälder
verantwortlich.
[81]
Bäume für Fleisch: Der Regenwald wird
abgeholzt, damit die Amerikaner ihr Fast
food bekommen
Die von der Weltbank und den Vereinten Nationen gegründete Consultative
Group on International Agricultural Research berichtete 1996, daß jede
Minute 29 Hektar Regenwald zerstört werden, überwiegend von notleidenden
Menschen, die den Wald roden und abbrennen, um Ackerland oder
Viehweiden für Rinder zu gewinnen, deren Fleisch dann in die Vereinigten
Staaten exportiert wird.
Dieser Verlust von 15 Millionen Hektar Regenwald pro Jahr wird, wenn er
unvermindert anhält, noch zu Lebzeiten unserer Kinder die gesamten
Regenwälder der Welt zerstören. Das Ende ist buchstäblich absehbar.
Ein Sprecher der Weltbank hat erklärt, die Studie zeige deutlich, daß Armut
und Überbevölkerung die Hauptursachen für die Zerstörung jener Wälder sei,
deren Erhalt so wichtig für das Leben auf diesem Planeten ist.
Kürzlich klagte ein Freund meines Sohnes bei mir darüber, eine der großen
Hamburger-Ketten sei für die Zerstörung zahlreicher Regenwälder in
Lateinamerika verantwortlich. Ich verstand nicht, was er meinte. Ich hatte
immer angenommen, die Regenwälder würden im Auftrag der
holzverarbeitenden Industrie gerodet, um in Japan und Skandinavien seltene
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
52/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Hölzer zu Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen verarbeiten zu
können. Wenn die Fast-food-Ketten die Regenwälder zerstörten, so dachte
ich, dann doch wohl nur, um billiges Holz für das Papier zu bekommen, in das
sie ihre Burger einwickeln, oder vielleicht weil ihre Plastikverpackungen auf
irgendeine Weise den Regenwald schädigen.
Doch damit war ich einem weit verbreiteten Mißverständnis aufgesessen, an
dessen Fortbestehen die amerikanische Fast-food-Industrie wahrscheinlich
ein lebhaftes Interesse hat.
Zwar werden viele Regenwälder, die im Laufe von Jahrhunderten gewachsen
sind, oft gerodet, um das Holz zu verkaufen, aber genausooft werden sie
einfach abgebrannt und nicht wieder aufgeforstet, besonders an Stellen, wo es
sehr notwendig wäre, das Holz auf den Markt zu bringen. Das »kostenlose«
Holz ist dabei meist nur ein »Zubrot« für die Kleinbauern, eine Art Startkapital
zum Erwerb der ersten Zuchtrinder.
[82]
Der häufigste Grund für die Zerstörung der süd- und mittelamerikanischen
Regenwälder ist Armut: Der hohe Fleischkonsum in den USA hat sowohl für
die armen Kleinbauern als auch für die großen Rancher zu einem
Nachfrageboom geführt, und das ist der wichtigste Grund für die Zerstörung
der
tropischen
Regenwälder
Lateinamerikas.
Kleinbauern
und
Großgrundbesitzer betreiben eine Landwirtschaft, die auf Brandrodung
basiert: Sie zerstören die alten Wälder, um an deren Stelle riesige Weiden für
das Vieh anzulegen.
Jedes Jahr importieren die Vereinigten Staaten fast 100 Millionen Kilo
Rindfleisch aus El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Honduras, Costa Rica
und Panama – während der Durchschnittsbürger in diesen Ländern weniger
Fleisch ißt als die durchschnittliche amerikanische Hauskatze.
Die Zerstörung der lateinamerikanischen Regenwälder für Fast-food ist vor
allem deshalb so besorgniserregend, weil in diesem sehr empfindlichen
Gebiet 58 Prozent aller Regenwälder unseres Planeten stehen. (19 Prozent
befinden sich in Afrika und 23 Prozent in Ozeanien und Südostasien.)
Mit den gerodeten Wäldern verschwinden
die Wurzeln: Auswirkungen auf das
Grundwasser und den Wasserkreislauf
Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Waldzerstörung sind die
Verluste von Trinkwasser. Trinkbares Wasser fällt als Regen vom Himmel und
versickert im Boden.
In tieferen Erdschichten hat das Wasser oft viele gelöste Mineralien (aus der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
53/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Erde) aufgenommen, insbesondere Salze. Die Wurzeln der Bäume reichen
tief nach unten und ziehen die Feuchtigkeit aus den Schichten direkt oberhalb
des salzigen Wassers nach oben, pumpen es in die Atmosphäre und nutzen
die Mineralien, um damit ihr Holz zu härten. Wenn das Wasser so aus der
Erde entfernt wird, entsteht ein Abwärtssog, der das frische Regenwasser
nach unten zieht. Dieser Kreislauf hält das Erdreich gesund.
Wenn die Wälder jedoch gerodet werden, steigt mehr von dem salzhaltigen
Grundwasser nach oben und dringt in immer höhere Erdschichten ein.
Wenn dieses Salzwasser schließlich bis auf wenige Meter an die
Erdoberfläche heranreicht, schädigt es das Immunsystem der noch
verbliebenen Bäume, die ähnlich wie Menschen mit AIDS anfällig für
Parasiten werden. So kommt es zu Schädlingsbefall und Pilzinfektionen wie
»Rost«, unter denen heute die Bäume überall auf der Welt leiden.
Oft glauben die Leute, Schädlinge wie Käfer, Raupen, Motten und Pilze seien
äußere Faktoren, die das Sterben der Wälder verursachen, und reagieren
darauf, indem sie große Mengen von Insektiziden und Fungiziden versprühen,
oder sie zucken einfach mit den Schultern und sagen, man könne nichts
dagegen tun. Aber in einem gesunden Wald kommt es nur selten zu
Schädlingsbefall, so wie bei einem gesunden Menschen opportunistische
Infektionen die Ausnahme sind. Doch inzwischen sterben sogar schon die
Mischwälder in Europa und den Vereinigten Staaten, weil sie dadurch
geschwächt werden, daß die Menschen einen großen Teil des
oberflächennahen Grundwassers abpumpen, während gleichzeitig saurer
Regen fällt und die benachbarten Wälder zerstört werden.
[84]
In Europa sind nur noch 27 Prozent der Fläche bewaldet. In Asien sind es 19
Prozent. In Nordamerika beträgt die Waldfläche (einschließlich der weiten
kanadischen Wälder) 25 Prozent.
Der weltweite Trend, Wälder durch Weideland für Rinder zu ersetzen, ist
inzwischen so ausgeprägt, daß im waldarmen England einige Gemeinden
jetzt »Holzkohle« aus verbrannten Rinderknochen statt der echten Holzkohle
verwenden, um das Trinkwasser zu filtern. Als Vegetarier in Yorkshire gegen
dieses Verfahren protestierten, erklärte die Yorkshire Water Company, die
Knochen seien aus Indien importiert worden, weil man sich die traditionelle
Holzkohle aus Kostengründen nicht mehr leisten könne, und Associated Press
zitierte einen Vertreter der Wasserwerke, der erklärt hatte: »Wir können keine
Wasserversorgung gewährleisten, die individuellen Ernährungsbedürfnissen
entspricht …«[17] Im Jahre 1997 wurde die »Holzkohle« aus Rinderknochen,
die trotz der Transportkosten aus Indien billiger ist als echte Holzkohle, in zehn
Wasseraufbereitungsanlagen verwendet, und die Wasserwerke hatten vor,
weitere sechs Anlagen in den folgenden Monaten umzustellen.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
54/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wenn das salzige Wasser immer höher steigt und schließlich nur noch etwa
einen halben Meter unterhalb der Oberfläche steht, beginnen die Ernten zu
verderben. Hat es am Ende die Oberfläche erreicht, kann auf dem Boden
nichts mehr gedeihen, und das Land wird zur Wüste.
Um mit diesen immer stärker versalzenen Böden fertig zu werden, haben die
Landwirte von Kalifornien über Europa bis nach Australien damit begonnen,
Grundwasserpumpen zu installieren, welche das salzhaltige Wasser
beseitigen sollen, das durch die Mitwirkung der Bäume früher in tiefere
Schichten gezogen wurde. Dadurch kommt es zwar zu einer vorübergehenden
Entlastung, aber auf lange Sicht wird das Problem nur weiter verschärft, weil
das unerwünschte Wasser nicht in die Atmosphäre zurückgelangt (wofür die
Bäume sorgen würden), sondern die Wasserläufe vergiftet, über die es ins
Meer fließt.
[85]
Die starke Anreicherung von Mineralien und Salzen im Grundwasser
gefährdet auch die menschliche Trinkwasserversorgung. In vielen Städten der
Welt ist das Trinkwasser so belastet, daß es die Gesundheit gefährdet. In den
meisten größeren Städten der USA und Europas schmeckt das Trinkwasser
im günstigsten Fall scheußlich. Bei einem Salzgehalt von 1300 ppm (Teile pro
Million) ist jedoch der Punkt erreicht, wo die Menschen, die solches Wasser
trinken, krank werden und Schwindelanfälle bekommen: In vielen Städten liegt
der Salzgehalt mittlerweile über 1000 ppm.
Durch den Verlust der Bäume verschwindet jedoch nicht nur der Mutterboden
durch Versalzung und Verwüstung, sondern wir verlieren auch die Aussicht auf
zukünftigen Mutterboden. Die Wurzeln der meisten Pflanzen verankern sich
lediglich im Mutterboden, den sie als Transportmedium benutzen und aus dem
sie sich Nährstoffe und Wasser holen. Bäume haben dagegen tiefe Wurzeln,
die bis in die obersten Felsschichten reichen, diese aufbrechen und langsam
nach oben holen, aber auch oberflächennahe Wurzeln, welche das
Oberflächengestein aufbrechen. Außerdem ziehen Bäume Mineralstoffe aus
der Erde, um daraus Pflanzenmaterial zu bilden. Wenn sie ihre Blätter
abwerfen, wird das Laub zu einem wichtigen Bestandteil der obersten
Erdschicht.
Auf diese Weise entsteht durch die Bäume schließlich neuer Mutterboden. Es
dauert durchschnittlich vierhundert Jahre, bis ein Wald etwa 30 Zentimeter
Mutterboden hervorgebracht hat, auf dem andere Pflanzen wachsen können.
Ohne den Wald kann sich fast gar kein neuer Mutterboden bilden. (Wind und
Wasser sorgen zwar für eine Erosion der Felsen, aber daraus entsteht nur
etwas Sand und kein Mutterboden.) Das zeigt auch, wie kurzsichtig es ist,
eine Landwirtschaft auf Brandrodung zu gründen, bei der durch das
Verbrennen der Wälder zwar eine dünne Schicht Mutterboden entsteht, die
aber schon nach wenigen Jahren verbraucht ist.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[86]
55/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wenn wir bedenken, daß es ohne Mutterboden keine Ernte gibt, sollten wir
eigentlich sehr besorgt sein über den Verlust der Mutterboden
hervorbringenden Bäume und den Verlust des gegenwärtigen Mutterbodens.
Doch statt dessen sehen die Regierungen und die Agrarunternehmen, die den
größten Teil der landwirtschaftlichen Erträge in Amerika produzieren, einfach
weg, wenn weltweit jede Minute über 300 Tonnen Mutterboden verlorengehen.
Wegen der steigenden Durchschnittstemperaturen aufgrund der globalen
Erwärmung hat sich der Reproduktionszyklus des Borkenkäfers in Alaska von
zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt. Das hat fast zu einer Verdoppelung der
Borkenkäfer-Population geführt, die riesige Flächen alaskischer Wälder
zerstört haben.
Weltweit sind die Wälder gefährdet.
Kaum ein anderes Beispiel verdeutlicht die vielfältigen, komplexen
Wechselwirkungen in unserer natürlichen Umwelt so gut wie die Rolle der
Bäume, doch sie werden weiterhin gerodet und verbrannt. Das macht unsere
Lage in diesen letzten Tagen des gespeicherten Sonnenlichts noch
schlimmer: Wir haben weniger Blattoberflächen, die Sauerstoff abgeben, die
Wasserkreisläufe stagnieren, wir riskieren, daß die Wüsten sich noch weiter
ausbreiten, und gleichzeitig gelangt durch die Brandrodung noch mehr
Kohlenstoff in die Atmosphäre.
Dieses Vorgehen erweckt den Eindruck, als hätten die Menschen (zumindest
diejenigen, welche die Entscheidungen treffen) keine Vorstellung von ihrer
Rolle im Ökosystem.
Doch unsere Vorherrschaft in der Welt schwächt uns auch noch auf andere
Weise: Dieselbe Ausrottungsmentalität, die zum Aussterben der Taino führte
(und aller anderen Völker, die den Herrschern nicht genehm waren), führt auch
zu einem unvorstellbaren Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt, woraus
sich eine weitere Veränderung ergibt, die wir nicht so bald ungeschehen
machen können: der Verlust der Artenvielfalt.
[87]
[88]
Ausgelöscht: Artenvielfalt hilft beim
Überleben
Eine Nation, die ihren Boden zerstört, zerstört
sich selbst.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
56/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Franklin D. Roosevelt (1882–1945)
Die modernen Menschen erschienen vor etwa 200 000 Jahren auf dieser
Erde. (Einige Schätzungen bewegen sich zwischen 400 000 und 70 000
Jahren, aber die meisten Experten nehmen aufgrund fossiler Funde etwa
200 000 Jahre an.) Bis zur Zeit um Christi Geburt – also während der ersten
198 000 Jahre – wuchs die Weltbevölkerung auf 250 Millionen Menschen.
Aber sogar diese erste Viertelmilliarde Menschen hatte schon deutlich
erkennbare Auswirkungen auf die Artenvielfalt in der Welt. In Nordamerika
sind beispielsweise viele Tiere ausgestorben, die noch vor 20 000 Jahren ein
Teil des Ökosystems waren (heute finden wir sie nur noch als Versteinerung
im Museum). Verschwunden sind unter anderem die riesigen langhaarigen
Mammuts, die Tiger mit den Säbelzähnen, Elefanten, Riesenbären und
Faultiere und auch die wilden Vorfahren der Pferde und Kamele.
Vor ungefähr zehn- bis zwölftausend Jahren sind diese Tiere und
siebenundfünfzig andere weitverbreitete Säugetierarten vom amerikanischen
Kontinent verschwunden, ein Artensterben, das sich, gemessen an der
Lebenszeit unseres Planeten, in einem kurzen Augenblick abgespielt hat.
Aber warum?
Eine beliebte Theorie besagt, daß diese riesigen Säugetiere einer
Klimaveränderung zum Opfer gefallen sind, die vor etwa 12 000 Jahren das
Ende der Eiszeit brachte. Doch neuere Forschungsergebnisse, über die
Richard Leaky ausführlich berichtet hat, zeigen, daß diese Theorie beachtliche
Lücken hat.
So kam es beispielsweise auf den pazifischen Inseln (einschließlich Hawaii),
in Australien und Neuseeland zu einem ähnlich massiven Artensterben.
Hunderte großer Tierarten, die am Boden lebten, wurden in einem Zeitraum
von weniger als tausend Jahren ausgelöscht; dazu gehörten Vögel ohne
Flügel, Tapire, nilpferdähnliche Tiere, eine riesige Echsenart, eine
elefantengroße Säugetierart und riesige, am Boden lebende Faultiere.
[89]
Doch das Artensterben in Australien, Neuseeland und auf den anderen
pazifischen Inseln geschah nicht zur gleichen Zeit wie auf dem amerikanischen
Festland, obwohl das Ende der Eiszeit alle Teile der Welt gleichmäßig traf.
Warum?
Der Paläontologe Paul Martin von der University of Arizona weist darauf hin,
daß das Artensterben in diesen verschiedenen Weltgegenden nicht mit
Klimaveränderungen zusammenfiel, sondern mit einem anderen Ereignis –
dem plötzlichen Erscheinen des tödlichsten und mutwilligsten Räubers, den es
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
57/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
auf dieser Erde gibt: des Menschen.
»Clovis-Menschen« nennen Paläontologen und Archäologen jene Menschen,
die vor ungefähr 11 500 Jahren die Bering-Landbrücke überquerten, welche
Asien mit dem amerikanischen Kontinent verband. Innerhalb von nur 350
Jahren, so berichtet Martin, seien sie bis zum Golf von Mexiko vorgestoßen,
und ihre Zahl sei auf mehr als eine halbe Million angewachsen. Vor etwa
10 500 Jahren sollen sie die südlichste Spitze von Südamerika erreicht
haben.
Auf ihrem Weg ließen sie Souvenirs zurück, die unsere Paläontologen heute
entdecken. Pfeilspitzen und Speerspitzen, die zwischen den fossilen
Überbleibseln der heute ausgestorbenen Tierarten verstreut liegen. (Die Form
dieser Speerspitzen hat ihnen die Bezeichnung »Clovis« eingetragen[18]).
Wie Leakey in Die sechste Auslöschung[19] graphisch darstellt, fand das
Artensterben der Tiere in Australien (vor etwa 20 000 Jahren), in Nordamerika
(vor ungefähr 10 000 Jahren) sowie auf Madagaskar und Neuseeland (vor
etwa 1000 Jahren) nicht zeitgleich mit klimatischen Veränderungen, sondern
mit der Ankunft der Menschen in diesen Gegenden statt.
[90]
Vertreter dieser »Pleistozän-Overkill«-Hypothese mußten sich der Frage
stellen: »Wenn tatsächlich all diese Tiere von Menschen ausgerottet wurden,
wieso haben dann die Bisons und Büffel, vier Arten von Känguruhs, Bären und
andere Tierarten überlebt?«
Leakey gibt darauf eine elegante Antwort, mit der Darwin wohl sehr glücklich
gewesen wäre. Er nimmt an, daß die Tierarten, die ausgerottet wurden, nur
wenige natürliche Feinde hatten und deshalb dieses neue kleine haarlose Tier
in ihrer Umgebung nicht fürchteten. Sie hatten keine Ahnung, daß die
Menschen eine tödliche Gefahr darstellten, und so verschwanden sie von der
Bildfläche, noch ehe sie Gelegenheit hatten, Nachkommen in die Welt zu
setzen, die den Menschen fürchteten. Die überlebenden Tierarten waren jene,
die sich instinktiv vor allen Lebewesen in ihrer Umgebung hüteten – auch vor
den Menschen.
So müssen wir feststellen, daß sogar diese frühe und relativ kleine
menschliche Bevölkerung einen nachhaltigen Einfluß auf den Planeten hatte,
der höchstwahrscheinlich ein größeres Artensterben ausgelöst hat. Heute
indessen, da wir zusätzlich über die Energie der fossilen Brennstoffe verfügen,
hat sich unsere Zahl vervielfacht, und die Auswirkungen unseres Handelns
haben einen Punkt erreicht, an dem sie das gesamte Ökosystem der Erde
gefährden.
[91]
Artenvielfalt hilft beim Überleben, und wir
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
58/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
verlieren sie
Mit dem Verlust der Artenvielfalt steht uns ein Zusammenbruch ökologischer
und ökonomischer Systeme bevor.
Mitte 1996 gab es in den meisten Staaten der Westküste Amerikas einen
Stromausfall, durch den Millionen Menschen fast einen ganzen Tag lang ohne
Elektrizität waren. Krankenhäuser mußten ihre Notaggregate einschalten, in
Hunderten von Städten hingen die Menschen in Aufzügen fest, und weil die
Klimaanlagen ausfielen, schwitzten sie bei Temperaturen von fast vierzig
Grad. Der Zusammenbruch der Stromversorgung war dadurch zustande
gekommen, daß man ein paar Bäume in Oregon nicht richtig beschnitten
hatte. An einem besonders heißen Tag hatten sich einige
Hochspannungsleitungen ausgedehnt und hingen nach unten durch, wie es
geschehen kann, wenn Metall zu heiß wird. Die Leitungen waren in die Bäume
gesunken, und das hatte zu einem Kurzschluß im gesamten Stromnetz des
Nordwestens geführt.
Weil die überschüssige Energie aus diesem Netz nach Kalifornien und
Nevada weitergeleitet wurde, hatte der Ausfall dort zu einer Überlastung des
Systems geführt, wodurch auch in diesen Regionen die Stromversorgung
zusammenbrach. Jedesmal, wenn man versuchte, die Generatoren wieder
hochzufahren, kam es zum erneuten Zusammenbruch, bis die Ingenieure die
verschmorten Bäume in Oregon fanden und den Schaden behoben.
Dieser Domino-Effekt zeigt, wie eine kleine Veränderung in einem Teil eines
komplexen Systems zu großen Wirkungen an anderen Stellen führen kann.
Elektroingenieure wissen das schon lange: Auf diesem Weg können
Transistoren den schwachen Strom von der Nadel eines Plattenspielers in den
ohrenbetäubenden Klang eines Lautsprechers umsetzen. Aber die meisten
Leute begreifen nicht, wie zerbrechlich dieser Effekt menschliche und
ökologische Systeme macht.
[92]
Kleine, lokale und weitverstreute Systeme
sind relativ »fehlerfreundlich«[20]
Als die Menschen noch mit Holz heizten, die Dunkelheit mit Kerzenlicht
erhellten und ihre Nahrung in der näheren Umgebung anbauten und jagten,
waren auch die Probleme lokal begrenzt und hatten wenig Einfluß auf andere
Teile des Landes.
Ähnliches gilt im Hinblick auf die Nahrungsvielfalt: Als die Menschen noch
viele verschiedene Nahrungspflanzen anbauten, hatten Ernteausfälle bei einer
bestimmten Pflanzenart keine schwerwiegenden Folgen. Als jedoch in Irland
die Kartoffeln zum Hauptnahrungsmittel wurden, führte eine Mißernte im Jahre
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
59/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
1846 zu einer landesweiten Hungersnot.
Amerika hat (wie die meisten anderen Länder) alles darangesetzt, Produktion
und Dienstleistungsgewerbe so weit wie möglich zu zentralisieren. Obwohl
allein in Nordamerika über 15 000 bekannte Nahrungspflanzen wachsen,
verzehren die meisten Amerikaner im Jahr durchschnittlich weniger als dreißig
Pflanzen und weniger als fünfzig während ihres gesamten Lebens. Riesige
Ackerflächen werden als Monokulturen bewirtschaftet (oft mit Hybridsaaten)
und sind damit ein gefundenes Fressen für Schädlinge.
Der größte Teil unserer Nahrung wird von wenigen riesigen Konzernen[21]
produziert; diese Firmen haben unser Überleben in der Hand. Und sie sind
sich dieser Tatsache so bewußt, daß viele Arten von Hybridsamen gezielt
gezüchtet werden, damit die Bauern aus den Pflanzen kein neues Saatgut
herstellen können, sondern sich damit jedes Jahr wieder bei den großen
Saatgutmultis neu versorgen müssen. (Wenn Sie das nur schwer glauben
können, denken Sie daran, daß in den vergangenen zehn Jahren mehrere
Bauern von Saatgutfirmen des Diebstahls beschuldigt worden sind, weil sie
von ihrer eigenen Ernte Samen zurückbehalten haben, um sie im nächsten
Jahr wieder auszusäen.)
[93]
Nach Richard Leakey beträgt die normale oder »Hintergrund«-Rate der
Artenverluste eine Art alle vier Jahre. Diese Hintergrundrate ist über 300
Millionen Jahre konstant geblieben – der Planet verlor durchschnittlich in
jedem Jahrhundert 25 Arten oder in jedem Jahrtausend 250 Arten –, bis zu
diesem Jahrhundert.
Doch jetzt, angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Menschen die
planetaren Ökosysteme zerstören, hat die Erde fast ein Viertel aller Pflanzenund Tierarten verloren, die existierten, als die ersten Menschen auf der
Bildfläche erschienen. All diese Verluste haben sich überwiegend in den
letzten hundert Jahren ereignet.
Weil es auf diesem Planeten inzwischen über fünf Milliarden Menschen gibt,
verlieren wir jährlich zwischen 17 000 und 100 000 Arten (je nachdem, von
welchen Statistiken man ausgeht): ein weltweiter Schwund von pflanzlichem
und tierischem Leben, den es in dieser Größenordnung nur fünfmal in den
letzten fünf Milliarden Jahren gegeben hat (zuletzt beim Untergang der
Dinosaurier).
Dies, so sagt Leakey, entspricht einer Massenvernichtung und hat das
gesamte Gleichgewicht der Natur zerstört. Und er betont ausdrücklich, daß
jenes Tier an der Spitze der Evolutionspyramide – das für die Vernichtung all
dieser Arten, die sein Überleben gewährleistet haben, verantwortlich ist – bald
selbst das Opfer einer Massenvernichtung wird, wenn sich die Situation nicht
radikal und schnell ändert.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
60/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Auch die soziale Vielfalt leidet
[94]
Die räuberische Art und Weise, wie wir andere Lebewesen ausrotten, drückt
sich aus und wird zum Teil verursacht durch die Besessenheit, mit der unsere
Gesellschaft Reichtum anhäuft, oft ohne die geringste Rücksicht auf die
Konsequenzen, die sich daraus für das Ökosystem oder andere Menschen
ergeben. Wenn es akzeptabel ist, anderen Arten ihre Lebensgrundlage zu
rauben, warum sollte man dann nicht auch anderen Menschen ihre
Ressourcen nehmen? Wenn man die Ausbeutung anderer Arten gutheißt, was
spricht dann dagegen, andere Menschen auszubeuten? Worum es geht,
zeigen folgende Statistiken des United Nations Development Program:
Die Schere zwischen den reichsten und ärmsten Menschen der Welt hat
sich in den ersten zwei Dritteln dieses Jahrhunderts langsam geöffnet.
Doch 1960 begann eine Explosion: Bis 1989 hat sich der Abstand
zwischen reich und arm verdoppelt.
Im Jahre 1989 haben die reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung
über 82 Prozent des Reichtums der Welt kontrolliert, wogegen das
ärmste Fünftel der Weltbevölkerung sich mit 1,4 Prozent des weltweiten
Reichtums begnügen mußte. Das ist ein Verhältnis von sechzig zu eins.
Ein ähnliches Ungleichgewicht (ungefähr vierzig zu eins) trat kurz vor der
Weltwirtschaftskrise von 1929 auf, aber davon abgesehen gab es
solche Extreme noch nie in einem überlebensfähigen »demokratischen«
Wirtschaftssystem, oft genug jedoch in Demokratien, kurz bevor sie in
Diktatur oder Anarchie abstürzten wie zahlreiche afrikanische Nationen,
Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg und Frankreich vor der
Revolution.
In den Ländern der nördlichen Hemisphäre (Nordamerika, Europa,
Nordasien) leben nur 25 Prozent der Weltbevölkerung, doch sie
verbrauchen über 70 Prozent der gesamten Weltenergiereserven,
verzehren mehr als 60 Prozent der weltweit erzeugten Nahrung und
verbrauchen mehr als 85 Prozent der Holzerzeugnisse.
[95]
Während wir in solchen unglaublichen Mengen Reichtum ansammeln
und Ressourcen verbrauchen, sterben weltweit stündlich Tausende von
Menschen an Hunger.
Die Konzentration von Macht in den Händen einiger weniger Menschen und
multinationaler Konzerne hat einige Geschäftsleute und Politiker reich werden
lassen, aber auch zur Anhäufung und Vernichtung von Ressourcen geführt: Wir
stehen in direktem Wettbewerb mit jeder anderen Lebensform auf diesem
Planeten. Solange es »dort draußen« noch mehr auszubeuten gab, war
Wachstum möglich. Doch jetzt, da wir an die Grenzen stoßen, über die hinaus
unser Planet keine Nahrung mehr erzeugen und unsere Abfälle nicht mehr
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
61/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
aufnehmen kann, müssen wir uns zu der Erkenntnis durchringen, daß der
Begriff »umweltverträgliches Wachstum« ein Widerspruch in sich ist. (Dies hat
der Weltbank-Ökonom und Professor an der University of Maryland, Herman
Daly in seinem Buch Wirtschaft jenseits von Wachstum [22] brillant dargelegt.)
Und selbst wenn die Natur uns nicht töten sollte, dann werden wir es
wahrscheinlich selber tun. Der Verbrauch an Pestiziden ist in den USA seit
dem Zweiten Weltkrieg um über dreitausend Prozent gestiegen, doch das hat
keineswegs zu geringeren Ernteverlusten durch Insektenfraß geführt. Im
Gegenteil: Heute haben wir 20 Prozent mehr Fraßschäden, aber wegen der
zunehmenden Pestizidresistenzen bei Insekten und bedingt durch die stark
technisierten Formen der Landwirtschaft hat die Pestizidindustrie viele Bauern
von ihren Produkten ökonomisch abhängig gemacht. Harmlose Arten
verschwinden tatsächlich von unserem Planeten, aber keine einzige
Schädlingsart ist vernichtet worden.
Insekten, die sich während eines einzigen menschlichen Generationszyklus
Hunderte bis Millionen Male vermehren können, werden zunehmend resistent
gegen unsere Pestizide, nicht jedoch die Menschen. Und so werden wir selbst
zu Opfern jener Gifte, die wir entwickelt haben, um andere Arten zu töten.
[96]
Im September 1997 erschien beispielsweise in der New York Times ein
Artikel von John H. Cushman jr. unter dem Titel »Krebserkrankungen bei
Kindern nehmen zu: verdächtige Toxine«. Dargestellt wurde, daß die
Krebsrate bei Kindern in den Vereinigten Staaten seit den siebziger Jahren –
damals wurden im Vergleich zu heute weniger als die Hälfte der Pflanzengifte
auf die Felder ausgebracht – sprunghaft in die Höhe geschnellt ist. Ein heute
in Amerika geborenes Kind wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 600 in
den ersten zehn Jahren seines Lebens an Krebs erkranken. Krebs ist
inzwischen (nach Unfällen) die zweithäufigste Todesursache bei Kindern und
zählt zu den am weitesten verbreiteten tödlichen Kinderkrankheiten, auf deren
Konto volle zehn Prozent aller Todesfälle bei Kindern gehen. So sind
beispielsweise seit 1973 die Erkrankungen an akuter lymphatischer
Leukämie bei Jungen um 27 Prozent gestiegen, und die Fälle von
Hirntumoren während desselben Zeitraums sogar um 40 Prozent.
Neunundneunzig Prozent der Muttermilch amerikanischer Frauen enthält heute
nachweisbare Mengen an DDT.
Im Jahre 1950 wurde festgestellt, daß 0,5 Prozent der männlichen
amerikanischen Collegestudenten unfruchtbar waren. 1978 war diese Rate
sprunghaft auf 25 Prozent gestiegen, und in den vergangenen 32 Jahren ist
die durchschnittliche Spermaproduktion bei amerikanischen Männern um 30
Prozent gesunken. Einige Forscher führen dies auf die Belastung mit
chlorierten Kohlenwasserstoff-Pestiziden zurück (die oft eingesetzt werden,
um Schädlingsinsekten unfruchtbar zu machen), während andere spekulieren,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
62/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
daß einige Kunststoffe, die bei der Verpackung von Lebensmitteln verwendet
werden, in ihrer chemischen Struktur dem weiblichen Hormon Östrogen
gleichen und dadurch die Männer »verweiblichen«, während sie bei Frauen
das Risiko für Brustkrebs und Gebärmutterkrebs erhöhen.
[97]
Aber damit fängt das Problem erst an.
1960 war eine routinemäßige Anreicherung von Tierfutter mit Antibiotika
nahezu unbekannt. Seitdem ist die Verabreichung von Antibiotika an
Schlachtvieh jedoch so drastisch gestiegen, daß heute mehr als 55 Prozent
aller in den Vereinigten Staaten produzierten Antibiotika über das Futter oder
auf andere Weise an Tiere verabreicht werden. Das hat unseren Viehbestand
in eine riesige Brutstätte für antibiotikaresistente Mikroorganismen
verwandelt.
Die pharmazeutische und die fleischverarbeitende Industrie in den Vereinigten
Staaten sehen darin kein Problem (und auch nicht die Politiker, die von diesen
Unternehmen jährlich Spendengelder in Millionenhöhe bekommen), und so
fördern sie weiterhin die routinemäßige Behandlung von Milch- und
Schlachtvieh mit solchen Medikamenten. Aber diese Haltung wird keineswegs
durch die herrschende Wissenschaft gestützt: Die Europäische Gemeinschaft
hat die Einfuhr von antibiotikabelasteten amerikanischen Fleischprodukten
verboten.
Warum? Die Europäer sind besorgt, weil Forschungsergebnisse gezeigt
haben, daß 1960 nur bei 13 Prozent der Staphylokokken-Infektionen in
Amerika die Erreger penizillinresistent waren, während deren Zahl 1988 auf
über 90 Prozent explodiert war. Der Schöpfer der Muppets-Show, Jim
Henson, starb beispielsweise an einer solchen Infektion mit
antibiotikaresistenten Erregern, obwohl er enorm reich war und Zugang zum
besten und teuersten Gesundheitssystem der Welt hatte.
Und solche Krankheitserreger sind nicht nur zu Lande ein Problem. James W.
Porter, Spezialist für Meeresstudien an der University of Georgia, weist darauf
hin, daß menschliche Viren und Bakterien sich auch in den Weltmeeren
explosionsartig vermehren, die Korallenriffe zerstören und Krankheiten unter
den Menschen verbreiten. Er geht davon aus, daß 20 bis 30 Prozent der
Korallenriffe bedroht sind, wobei sich die Infektionen innerhalb der Riffe um
446 Prozent erhöht haben, seit er 1996 damit begonnen hat, die Korallen vor
der Küste Floridas regelmäßig zu untersuchen. Joan B. Rose,
wissenschaftliche Mitarbeiterin der University of South Florida, hebt hervor,
daß sich 20 bis 24 Prozent aller Menschen, die an den Stränden von Florida
ins Wasser gehen, mit Viren infizieren, die Herzkrankheiten, Ohrinfektionen,
Halsschmerzen und
Augenbeschwerden, Meningitis, Magen-DarmKrankheiten, Hepatitis und Diabetes auslösen können. Bei etwa einem
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[98]
63/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Prozent der Betroffenen, so sagt sie, wird die Infektion chronisch. Außerdem
hat sich gezeigt, daß bei einer Probe von Schalentieren aus den Gewässern
um New York 40 Prozent mit menschlichen Pathogenen infiziert waren. Eine
Wasseruntersuchung im Gebiet des Waikiki-Strands in Hawaii ergab, daß
mehr als ein Drittel der untersuchen Proben mit menschlichen Viren infiziert
waren.
In Vermont hat der Eiscreme-Hersteller Ben & Jerry's die Regierung verklagt:
Die Firma will ihre Produkte mit dem Hinweis versehen, daß die bei der
Produktion verwendete Milch von Kühen stammt, die nicht mit
Wachstumshormonen oder unnötigen Antibiotika behandelt wurden. Aber die
Regierung ist der Meinung, diese Information sei für den Verbraucher so
irrelevant, daß sie – auf den finanziell gut ausgestatteten Vorschlag der
Pharmalobby hin – ein Gesetz erlassen hat, das den Herstellern von
Milchprodukten verbietet, auf ihren Produktverpackungen zu vermerken, ob
die verwendete Milch von hormon- oder antibiotikabelasteten Tieren stammt
oder nicht.
Zumindest jetzt noch fällt in Vermont genügend Regen, und es herrscht ein
Klima, das den Milchbauern erlaubt, ihre Kühe so zu halten, daß sie eine
qualitativ hochwertige Milch für Ben & Jerry's Eiscreme liefern. Doch
Klimaforscher sehen bereits erste Warnzeichen, die darauf hindeuten, daß
das »gute Wetter« der letzten paar tausend Jahre sich bald ändern könnte,
auch dies wieder als Reaktion auf menschliche Aktivitäten.
[99]
Klimaveränderungen
Zu den außergewöhnlichen Dingen bei
Ereignissen, die von Menschen verursacht
werden, gehört es, daß das Undenk bare
denk bar wird.
Salman Rushdie (geb. 1948)
An einem Nachmittag im Juli 1997 hatten wir hier mitten in Vermont ein so
schweres Unwetter, daß zwei meiner Computer dabei zerstört und die
Lichtschalter durch das Haus gewirbelt wurden. Wir waren nicht die einzigen
Opfer: Viele Familien verloren den größten Teil oder sogar alle ihrer
Elektroanlagen.
Larry, ein Arbeiter, der in unserem Auftrag Reparaturen an unserer Zufahrt, die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
64/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
eine halbe Meile lang ist, durchführte, stand eine Woche später zusammen mit
mir auf einem Hügel und erzählte, seine Frau sei, als sie während des
Gewitters die Fliegentür berührt habe, von einem elektrischen Schlag quer
durchs Zimmer geschleudert worden. »Das ist kein normales Wetter hier«,
sagte er. »Das Wetter in Vermont war zwar immer wechselhaft und schwer
vorherzusagen, aber nie so wie in den letzten Jahren.«
Die Versicherungsunternehmen sehen das genauso: Das Jahrzehnt zwischen
1980 und 1989 war das teuerste in der Versicherungsgeschichte für
Schadensfälle, die durch »höhere Gewalt« verursacht wurden; deren
Gesamtsumme belief sich auf über 50 Milliarden Dollar. Aber allein die Jahre
1990 bis 1994 brachten eine Schadenssumme von 162 Milliarden Dollar, was
die Versicherungsunternehmen veranlaßte, einen beispiellosen Appell zur
Verringerung der Kohlendioxidemissionen an die Industrie zu richten.
Am 11. Juli 1996 veröffentlichte Associated Press weltweit einen Bericht
darüber, daß die Wachstumsphase in der nördlichen Hemisphäre sich in den
letzten zwanzig Jahren um etwa eine Woche verlängert habe. Zitiert wurde der
Forscher Charles Keeling von der Scripps Institution of Oceanography in La
Jolla, Kalifornien, der in einem Artikel in der Zeitschrift Nature die Vermutung
geäußert hatte, dies sei ein Resultat der globalen Erwärmung.
[100]
Die globale Erwärmung gehört zu den Dingen, über die anscheinend jeder
eine Meinung hat, die jedoch nur wenige Leute wirklich verstehen. Die
Erdatmosphäre setzt sich aus Gasen und Wasserdampf zusammen, im
wesentlichen aus Stickstoff (78 Prozent) und Sauerstoff (21 Prozent). Das
Edelgas Argon steht an dritter Stelle, doch es bildet mit allen anderen Gasen
zusammen nur etwa ein Prozent der Gesamtatmosphäre. Sie erkennen also
gleich, daß das berüchtigte Kohlendioxid nur in sehr geringen Mengen in der
Atmosphäre vorkommt.
Sauerstoff und Stickstoff lassen Licht und Wärme relativ leicht hindurch.
Kohlendioxid jedoch (das nur einen kleinen Teil jener verbleibenden ein
Prozent Restgase ausmacht) verhält sich ganz anders. Es umhüllt die Erde
wie eine wärmende Decke und läßt die Hitze nicht nach oben entweichen.
Gase, die sich so verhalten, werden oft als »Treibhausgase« bezeichnet, weil
sie wie das Glasdach auf einem Gewächshaus wirken, das die Sonnenwärme
festhält und die Pflanzen im Inneren wärmt. (Methan, das ebenfalls Kohlenstoff
enthält, ist ein weiteres Treibhausgas.)
Der Planet Venus beispielsweise, welcher der Sonne nur 27 Prozent näher ist
als die Erde, hat eine Oberflächentemperatur von fast 400 Grad Celsius.
Wenn man lediglich die Entfernung zwischen Venus und Sonne berücksichtigt,
müßte die Oberflächentemperatur der Venus wesentlich niedriger sein, doch
der Planet ist von einer Atmosphäre umgeben, die viel Kohlendioxid enthält:
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
65/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
ein Treibhausgas. Deshalb ist es dort erheblich wärmer, als wenn die
Atmosphäre wie die der Erde zu 99 Prozent aus Stickstoff und Sauerstoff
bestehen würde.
Eine der wichtigsten Funktionen des Kohlendioxids in unserer Atmosphäre
besteht darin, die Oberflächentemperatur der Erde zu regulieren. Wenn es
wesentlich weniger Kohlendioxid gäbe, wäre die Erdoberfläche mit Eis
bedeckt. Gäbe es indessen mehr Kohlendioxid als heute, dann würde sich die
Erdoberfläche erwärmen (was sie seit etwa 1890 stetig tut, weil wir durch die
Verbrennung fossiler Rohstoffe rasch wachsende Mengen von Kohlenstoff in
die Atmosphäre entlassen).
[101]
In früheren Phasen der Erdgeschichte gab es sehr viel mehr Kohlendioxid in
der Atmosphäre als heute. Während der passenderweise als Karbon
bezeichneten Periode vor über 300 Millionen Jahren war unser Planet auf
seiner gesamten Oberfläche nicht nur warm, sondern fast heiß, und die
Pflanzen wucherten üppig in der warmen, kohlendioxidreichen Umgebung.
Die Kombination aus Hitze und Kohlendioxid führte zu einer solchen Explosion
pflanzlichen Lebens, daß der Atmosphäre große Mengen Kohlendioxid
entzogen und in Vegetation umgewandelt wurden. Dadurch verringerte sich
der Kohlendioxidgehalt der Luft, was zu einer allmählichen Abkühlung der
Atmosphäre führte, weil die wärmende »Hülle« aus Kohlendioxid dünner
wurde.
Kohlendioxid wird hauptsächlich auf zweierlei Weise aus der Atmosphäre
entfernt: durch das Wachstum von Bäumen und von Korallenriffen. Dies sind
die beiden aufnahmefähigsten »Kohlenstoffspeicher«. Die Korallen binden
den Kohlenstoff zwar dauerhafter, aber auch Wälder halten ihn
jahrhundertelang fest. Und wenn die Wälder fossilisieren und zu Öl oder Kohle
werden, können sie den ehemals atmosphärischen Kohlenstoff über Millionen
von Jahren binden.
Die Wälder der Erde haben mehrere hundert Millionen Jahre gebraucht, um
Milliarden Tonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu binden und in der Erde
zu
speichern.[23]
Der
daraus
resultierende
Rückgang
des
Kohlendioxidgehalts der Luft hat zusammen mit anderen Faktoren unser
gegenwärtiges Klima geschaffen, das völlig anders ist als in früheren Zeiten.
Die heutigen Wälder sind die wichtigsten Kohlenstoffspeicher der Gegenwart.
Wissenschaftler heben hervor (in dem eben erwähnten Nature-Artikel), daß es
eine meßbare jährliche Fluktuation des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre
gibt, die damit zusammenhängt, daß die Pflanzen im Sommer wachsen (und
dann mehr Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen), während sie im Herbst und
Winter ihre Blätter abwerfen (und dadurch wieder Kohlenstoff in die Luft
abgeben, wenn die Blätter sich zersetzen oder verbrannt werden). Die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[102]
66/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Amplituden dieser Kurve sind in den letzten dreißig Jahren um 40 Prozent
gestiegen, und der Wissenschaftler Keeling vermutet, daß dafür die
einwöchige Verlängerung der Wachstumsperiode in der nördlichen
Hemisphäre verantwortlich ist.
Das Ausmaß, in dem »gespeicherter« Kohlenstoff wieder in die Atmosphäre
gelangt, steigt ungeheuer stark. Wissenschaftler schätzen, daß in den Jahren
zwischen 1980 und 1989 volle 15 Prozent des neu in die Atmosphäre
entlassenen Kohlendioxids aus einer einzigen Quelle stammte, die durch
menschliche Aktivitäten gespeist wurde: die Brandrodung der
lateinamerikanischen Regenwälder, deren Ziel überwiegend darin bestand,
Weideland für die Viehzucht zu schaffen.
Das hat zu einem wissenschaftlichen Streit über die Auswirkungen der
Waldzerstörung geführt, weil die Höhe der Waldverluste nicht dem Niveau des
Kohlendioxidanstiegs in der Atmosphäre entsprach. Der Kohlendioxidgehalt
ist nicht so stark gestiegen, wie es nach dem Ausmaß der Brandrodung hätte
erwartet werden müssen, was einige Skeptiker der Treibhaus-Theorie
veranlaßt hat, die Vorstellung, daß die Vernichtung der Wälder zu einem
Anstieg der Treibhausgase führt, als lächerlich darzustellen. Diese Skeptiker
weisen darauf hin, daß ein ganzes Viertel der durch die Brandrodung
verursachten Kohlendioxidemissionen scheinbar aus der Atmosphäre
verschwunden ist, was ihrer Meinung nach entweder bedeutet, daß die
ursprünglichen Berechnungen über den Kohlendioxidausstoß nicht stimmen,
oder daß man die Stabilisierungsmechanismen falsch eingeschätzt hat.
[103]
Aber eine neue Untersuchung, die der Wissenschaftler Jeffrey Andrews von
der Duke University durchgeführt hat und über die er 1996 auf der
Jahrestagung der Ecological Society of America berichtet hat, erklärt diesen
Sachverhalt und zeigt, daß die Bäume sogar noch wichtiger für die
Aufrechterhaltung eines stabilen Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre sind,
als dies bisher angenommen wurde.
Andrews untersuchte das Grundwasser in der direkten Umgebung von
Bäumen und verglich es mit dem Wasser aus Böden, auf denen keine Bäume
standen. Er stellte dabei fest, daß das Wasser in der Nähe von Bäumen mehr
Kohlendioxid enthielt. Die Bäume ziehen anscheinend große Mengen von
Kohlendioxid aus der Atmosphäre und pumpen es nach unten in den Boden.
Von hier sickert es ins Grundwasser, was dafür sorgt, daß es nicht so schnell
wieder in die Atmosphäre gelangen kann. Manchmal sinkt das Grundwasser
noch tiefer und bleibt gemeinsam mit dem gebundenen Kohlendioxid über
mehrere zehntausend Jahre in der Erde. (Wenn solches Wasser später
wieder an die Oberfläche befördert wird, enthält es »natürliche Kohlensäure«;
dafür haben die Bäume gesorgt.)
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
67/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Um seine Beobachtungen zu demonstrieren, hat Andrews Bäume in einem
geschützten Waldgebiet in North Carolina mit Kohlendioxid eingesprüht, um
ihre Blätter auf diese Weise einem um 50 Prozent höheren
Kohlendioxidgehalt als normal auszusetzen. Dann untersuchte er die Erde, die
sich in etwa einem Meter Tiefe unter den Bäumen befand. Die
Kohlendioxidkonzentration war um 25 Prozent gestiegen.
Andrews sagte, daß es die lebenden Bäume sind, die überschüssiges
Kohlendioxid aus der Verbrennung von totem Holz oder fossilen Brennstoffen
aufnehmen und in den Boden leiten, wo bis zu 20 Prozent des (nach den
wissenschaftlichen Berechnungen) fehlenden Kohlendioxids gespeichert
werden und über Jahrtausende im Grundwasser bleiben.
[104]
Obwohl das im ersten Moment wie eine gute Nachricht klingt, weil es
bedeutet, daß die Atmosphäre durch die Vernichtung der Wälder nicht so
stark beeinflußt wird, sind die langfristigen Auswirkungen unheilvoll. Solange
es einen bestimmten (bisher unbekannten) Prozentsatz lebender Bäume gibt,
können sie überschüssiges Kohlendioxid ins Grundwasser ableiten.
Aber wenn der Waldbestand so weit reduziert worden ist, daß die lebenden
Bäume nicht mehr in der Lage sind, das überschüssige Kohlendioxid
aufzunehmen, könnte das zu einem Dominoeffekt führen, der das ganze
System mit einem sehr plötzlichen Anstieg des atmosphärischen
Kohlendioxids zusammenbrechen läßt. Zunächst würde sich der Anstieg
langsam, aber stetig vollziehen, bis auch die letzten Waldflächen vernichtet
sind, und dann würde es plötzlich zu einem unerwarteten sprunghaften Anstieg
kommen, der vielleicht innerhalb weniger Jahre das Klima grundlegend
verändern könnte.
Die Vereinten Nationen haben einen Kongreß veranstaltet, bei dem 2500
führende Wissenschaftler aus aller Welt zusammenkamen, die sich in den
Bereichen
Meteorologie,
Ökologie,
Geologie
und
anderen
Geowissenschaften jahrelang mit diesen Fragen beschäftigt hatten. Dieser
Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der UN kam zu dem
Schluß, daß wir aufgrund der globalen Erwärmung durch die Erhöhung der
Treibhausgase in der Atmosphäre in der Tat einer Krise von möglicherweise
biblischen Ausmaßen entgegensehen.
Wenn wir zum Himmel hinaufblicken, ist es leicht, sich vorzustellen, daß er
endlos und ewig ist, und es scheint nahezu unmöglich, diesem weiten blauen
Gewölbe Schaden zuzufügen. Doch wie Bill McKibben in seinem Buch The
End of Nature (Das Ende der Natur)[24] ausdrücklich hervorhebt, beträgt die
Entfernung zwischen dem Boden (auf der Höhe des Meeresspiegels) und
dem oberen Ende der Troposphäre – also jener Teil unserer Atmosphäre, der
nahezu alles Leben ermöglicht – nur ungefähr sechs Meilen. Das ist alles, was
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[105]
68/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wir über uns und um uns herum haben, nicht mehr als sechs Meilen Luft,
innerhalb deren sich alles irdische Leben abspielt. Vor hundert Jahren enthielt
diese dünne Luftschicht über uns im Durchschnitt 315 ppm (Teile pro Million)
Kohlendioxid.
Bei der Untersuchung der Jahresringe von 120 Jahre alten Bäumen in den
Bergen von Vermont fanden Waldexperten für ungefähr die ersten dreißig
Jahre regelmäßige jährliche Wachstumsmuster. Dann nahmen die mit Öl und
Kohle betriebenen Fabriken des Industriegürtels im Mittelwesten, in den
Tälern des Tennessee und des Ohio ihren Betrieb auf, und in Detroit wurde
intensiv gebaut. Zu diesem Zeitpunkt begannen sich die Jahresringe der
Bäume zu verändern.
Anfangs wuchsen die Bäume schneller, denn das natürliche Kohlendioxid war
Nahrung für sie. Doch dieses rasche Wachstum erhöhte die Rate, mit der die
Bäume Wasserdampf »ausatmeten«, und damit wuchs ihr Bedürfnis nach
Regen; doch die Niederschläge erhöhten sich nicht in gleichem Maße wie die
Kohlendioxidmenge in der Luft.
Außerdem wurde der Regen nun sauer, wodurch sich das
Mineralstoffgleichgewicht im Boden veränderte. Alkalische Mineralien wie
Kalzium wurden ausgewaschen und hochgiftiges Aluminium freigesetzt. Die
Folge war, daß ein Teil des Wurzelwerks durch toxische Metalle zerstört wurde
und daß die Bäume durch den Mangel an Kalzium und anderen alkalischen
Mineralien geschwächt wurden.
Auch der Qualm aus den Fabrikschloten enthielt giftige Metalle. Substanzen
wie Vanadin, Zink, Quecksilber, Blei und andere giftige Metalle oder
Schwermetalle – die in den früheren Jahresringen nicht nachzuweisen waren –
zeigten sich nun in den Ringen, die aus der Zeit der amerikanischen
Industrialisierung stammten. Ihre Konzentration wuchs allmählich von der
Jahrhundertwende bis in die fünfziger Jahre und explodierte dann regelrecht.
[106]
Abb. 2: Kohlendioxidemissionen aus fossilen Brennstoffen
Quelle: Worldw atch Institute, Oak Ridge National Laboratory
Und so begannen die Bäume zu sterben. Forschungsergebnisse von Dr.
Hubert Vogelmann an der University of Vermont, über die Charles E. Little in
seinem brillanten Buch The Dying of the Trees (Das Sterben der Bäume)[25]
berichtet, zeigen, daß das Baumsterben in der Region von Vermont, die er
untersucht hat, sich innerhalb von nur vierzehn Jahren zwischen 1965 und
1979 so beschleunigt hat, daß 40 Prozent der Rotfichten, 73 Prozent der
Bergahornbestände, 49 Prozent der Pennsylvanischen und 35 Prozent der
Zucker-Ahornbäume starben, jener Baumart, welche die meisten Leute
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
69/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
besonders mit Vermont verbinden.
Abb. 3: Atmosphärische Kohlendioxidkonzentration
[107]
Quelle: Brad Walrod/High Text Graphics, Inc.
Daten: Woods Hole Oceanographic Institution
Durch die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle pumpen wir jedes Jahr mehr
als sechs Milliarden Tonnen (Abb. 2) des Treibhausgases Kohlendioxid in die
dünne Schicht unserer Erdatmosphäre – so viel, daß sich allein in den letzten
zwanzig Jahren die Kohlendioxidkonzentration von 315 ppm auf 360 ppm
erhöht hat (Abb. 3). Nach weiteren zwei Jahrzehnten wird sie voraussichtlich
über 500 ppm liegen und damit zu einer dramatischen Erwärmung unseres
Planeten führen (Abb. 4).
Aber wie warm wird es werden? Die Wissenschaftler des IPCC der Vereinten
Nationen rechnen mit einer Erwärmung von mindestens 3 bis 4 Grad Celsius;
möglicherweise könnten es sogar 7 Grad werden.
»Was ist daran so schlimm?« fragen viele Leute. »Drei Grad sind nichts, und
wenn es in Michigan oder Maine ein bißchen wärmer würde, wäre das nicht
besser für die Wachstumsperiode, für die Urlauber und alles andere?«
Leider ist die Sache nicht so einfach.
Abb. 4: Globale Temperatur
[108]
Quelle: Dr. James Hansen, NASA Goddard Institute for Space Studies Analysis
Schon jetzt scheint die Temperaturerhöhung überall auf dem Planeten zu
gewaltigen Wetterextremen zu führen, denn Hitze ist Energie, und ein Anstieg
der Hitze in der Atmosphäre bedeutet eine erhöhte Energie in der
Atmosphäre. Diese erhöhte Energie führt dazu, daß das Wetter weltweit
weniger stabil ist und zu heftigeren Extremen neigt.
Der erwartete Anstieg der Durchschnittstemperatur um drei bis vier Grad
Celsius entspricht erschreckenderweise den weltweiten Veränderungen
zwischen der letzten Eiszeit und unserer Gegenwart. (Als die Eiszeit vor
10 000 Jahren zu Ende ging, stieg der Meeresspiegel um rund 165 Meter,
weil sich der Planet um 7 Grad Celsius erwärmte.)
Die Ölindustrie leugnet das, aber Insekten und Wildtiere lassen sich nicht
betrügen: Sie begeben sich auf Wanderschaft, weil sich das Wetter ändert.
[109]
Als wir 1983 nach Atlanta zogen, gab es dort kaum Moskitos. Wenn sie
überhaupt kamen, dann waren sie ziemlich groß und schwerfällig, flogen
langsam und wurden nur am frühen Abend zur Plage. Aber das änderte sich
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
70/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
um 1990 herum. Die Moskitos begannen, uns ständig zu belästigen; sie waren
kleiner und schneller und stachen auch am hellichten Tag. Sie waren den
größten Teil des Jahres unterwegs und von einer Hartnäckigkeit, wie ich sie
bei amerikanischen Moskitos noch nie erlebt hatte.
Schließlich stellte sich heraus, daß es sich um die Spezies Aedes aegypti
handelte, Moskitos, die normalerweise in den Tropen heimisch sind, mit einer
Ladung Reifen aus Asien nach Florida gekommen waren und nun nordwärts
zogen. Ein Insektenkundler von einer der Universitäten in Atlanta erklärte mir:
»Sie stechen bei Tag, vermehren sich rasch, fliegen schnell, und sie sind
kleiner und schlauer als unsere heimischen Moskitos. Und anders als diese
übertragen sie Gelbfieber, hämorrhagisches Dengue-Fieber, Japanische
Enzephalitis und Malaria.«
Im darauffolgenden Frühjahr lasen wir in der Zeitung Berichte über den ersten
Fall von neu aufgetretener Malaria in South Carolina, und in dem Maße, wie
sich das Klima in Nordamerika erwärmt, werden sich die Erreger nach
Norden verbreiten, so wie es heute auch in anderen Teilen der Welt geschieht.
Auf ähnliche Weise, so besagen Forschungsergebnisse aus den
Niederlanden und Großbritannien, wird die von vielen Wissenschaftlern
vorhergesagte globale Erwärmung zu einer Verdoppelung der Malaria
übertragenden Moskitos in den Tropen führen. Doch die Forscher betonen,
daß die Gefahr in den Ländern mit gemäßigtem Klima sehr viel größer ist:
Den Vereinigten Staaten, Europa, Rußland und China droht ein hundertfach
erhöhtes Risiko. Die zu erwartenden 50 bis 80 Millionen Malariainfektionen
würden sich in Regionen wie den Vereinigten Staaten besonders verheerend
auswirken, weil die dortige Bevölkerung die Krankheit seit Generationen nicht
mehr kennt und deshalb nicht über die geringste Immunität verfügt.
[110]
Dengue-Fieber wird von denselben Moskitos übertragen. Im Englischen
bezeichnet man es oft als »Breakbone«-Fieber (Knochenbruch), weil es zu
massiven Schmerzen in Knochen und Gelenken und zu schweren
Kopfschmerzen führt. Es hat sich in jüngster Zeit bis nach Puerto Rico
ausgebreitet, wo bei einer Epidemie 15 000 Menschen daran erkrankten.
Während das herkömmliche Dengue-Fieber den Patienten stark schwächt
und zu den weltweit schmerzhaftesten, nicht tödlichen Krankheiten gehört, gibt
es neuerdings einen mutierten Erreger, der das sogenannte hämorrhagische
Dengue-Fieber hervorruft, das häufig zum Tode führt. Es beginnt ähnlich wie
das herkömmliche Dengue-Fieber mit roten Flecken, Fieber und den
charakteristischen Schmerzen, doch dann greift es die kleinen Blutgefäße im
Körper an, so daß massive innere Blutungen in Gehirn, Lungen und Därmen
auftreten. Das Blut strömt aus Nase und After, und der Patient stirbt an den
inneren Blutungen. Zwischen 1981 und 1985 gab es durchschnittlich 100 000
Fälle von hämorrhagischem Dengue-Fieber pro Jahr, doch diese Zahl hat sich
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
71/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
in den »heißen Jahren« von 1986 bis 1990 auf 450 000 Fälle pro Jahr mehr
als vervierfacht.
Eine weitere Krankheit, die von Moskitos übertragen wird und neuerdings vor
allem in der Region von New Jersey, Massachusetts und New York gehäuft
auftritt, ist die asiatische Pferde-Enzephalitis. Früher befiel sie Menschen nur
selten, aber das neue Virus tötet 60 Prozent derjenigen, die durch einen
Moskitostich damit infiziert werden, und einige Ausbrüche in neuerer Zeit
haben dazu geführt, daß in den betroffenen Staaten an der amerikanischen
Ostküste Insektizide versprüht wurden.
An der Westküste hat eine Erhöhung der durchschnittlichen Wassertemperatur
von gut einem Grad Celsius seit 1950 verheerende Auswirkungen auf die
Wasservögel von Kalifornien bis Oregon gehabt, denn dadurch ist der Strom
kalten, nährstoffreichen Meereswassers von den Küsten abgelenkt worden.
Das wiederum hat zu einer vierzigprozentigen Abnahme des Zooplanktons
geführt, das den Krabben und anderen kleinen Meerestieren als Nahrung
dient. Fische und Tintenfische ernähren sich von Krabben, und die Vögel
ernähren sich von den Fischen. So starben beispielsweise allein zwischen
1987 und 1994 vier Millionen Dunkelsturmtaucher entlang der Küste, wodurch
die Population um über 90 Prozent verringert wurde.
[111]
Im Glacier National Park, Montana, schmilzt der 30 000 Jahre alte Gletscher
so schnell, daß die Wissenschaftler vorhersagen, er werde in weiteren dreißig
Jahren abgeschmolzen sein. Im Norden von Michigan kommen viele Zugvögel
wie der Rotschulterstärling, die kanadische Gans, der Breitflügelbussard und
der Kolibri drei Wochen früher an als 1965.
Am 30. August 1997 wurden in einem Artikel in Science News britische
Forscher zitiert, die 74 258 Aufzeichnungen über 65 Vogelarten analysiert und
dabei festgestellt hatten, daß, von einer Ausnahme abgesehen, alle
Vogelarten ihre Eier inzwischen »neun Tage früher als 1971 legen«, was ein
klarer Hinweis auf die Auswirkungen der globalen Erwärmung ist. Die
Forscher zeigten sich besorgt, daß diese Entwicklung die normalen
Fütterungs- und Fortpflanzungszyklen der Vögel durcheinanderbringen könnte,
auch wenn es noch einige Zeit dauern wird, bis man alle Auswirkungen kennt.
Obwohl sich die amerikanische Öl- und Kohleindustrie bemüht, die
wissenschaftlich belegten Fakten zu verschleiern (wie Ross Gelbspan in
seinem Buch Der Klima-GAU darstellt), wachen die Leute allmählich auf.
[112]
Der Garten Eden und die Sintflut
Dies ist nicht das erste Mal, daß weltweite Klimaveränderungen für den
Menschen bedrohlich werden. In der Bibel finden wir zwei Geschichten, die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
72/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
möglicherweise solche Ereignisse beschreiben:
In der Schöpfungsgeschichte (1. Mose, 2, 10–14) heißt es, der Garten Eden
habe dort gelegen, wo sich vier Flüsse vereinigten: Pischon, Gihon, Tigris und
Euphrat. In einem ausgetrockneten Flußbett, das man heute Wadi Batin nennt,
glauben viele Archäologen, den ehemaligen Pischon gefunden zu haben.
Tigris und Euphrat tragen heute noch dieselben Namen, und den Gihon glaubt
man, im heutigen Karun wiedergefunden zu haben, der, bevor er gestaut
wurde, von den Höhen des Iran herabströmte, um das Delta des heutigen
Persischen Golfs zu bilden.
Wenn man diese vier Flüsse weiterverfolgt, stellt man fest, daß sie sich an
einem Punkt treffen, der mehrere Meilen draußen im Persischen Golf liegt.
Auch wenn dieses Gebiet heutzutage unter dem Meer liegt, war es vor etwa
10 000 Jahren am Ende der letzten Eiszeit ein reiches und fruchtbares
Waldland. Damals hatten die Gletscher so viel Wasser gebunden, daß der
Meeresspiegel etwa 165 Meter tiefer lag als heute. Die Menschen, die
damals auf der Erde lebten, waren, soweit wir es wissen, alle Jäger und
Sammler, die das »müßige Leben« der !Kung/San, Hottentotten,
Schoschonen und anderer Stämme führten, die wir später in diesem Buch
noch kennenlernen werden. Dann veränderte sich das Klima, und die
Menschen waren gezwungen, dem steigenden Meeresspiegel zu weichen und
sich in einer anderen Gegend niederzulassen. Dort wurden aus den Jägern
und Sammlern Hirten und Bauern, was den Tätigkeiten entspricht, mit denen
die beiden ältesten Söhne von Adam und Eva ihren Lebensunterhalt sicherten.
Damit, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte, seien die Menschen aus
dem Garten Eden verstoßen und dazu verdammt gewesen, im Schweiße ihres
Angesichts auf den Feldern zu arbeiten.
Andere konnten nicht einfach weggehen, um den steigenden Fluten zu
entkommen. Im Gilgamesch-Epos, das mehrere tausend Jahre vor der Bibel
verfaßt wurde, gibt es die Geschichte von Upnatistim, einem rechtschaffenen
Mann, der im Traum aufgefordert wurde, eine Arche zu bauen. Das tat er und
versammelte, als der Regen einsetzte, seine Familie auf dem Boot sowie von
jeder Tierart ein Paar. Seine Arche schwamm auf dem Wasser und brachte
ihn, seine Familie und seine Tiere zu einem Berggipfel, wo sie alle in
Sicherheit waren. Colin Tudge hebt in seinem Buch The Time Before
History[26] (Die Zeit vor der Geschichte) hervor, daß diese Geschichte aus
dem Gilgamesch-Epos genau mit dem Bericht über Noah und seine Arche in
der Schöpfungsgeschichte übereinstimmt.
[113]
In der Bibel heißt es (1. Mose 11, 31), daß Abraham mit seiner Familie aus Ur
in Chaldäa nach Kanaan aufbrach, und Tudge behauptet, das Gebiet von Ur
sei ungefähr dort, wo Gilgamesch viele Jahre zuvor in Uruk regiert habe.
Wahrscheinlich ist das Gilgamesch-Epos die Quelle, aus der die Geschichte
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
73/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
von der biblischen Sintflut stammt, ebenso wie viele ähnliche Geschichten.
Jedenfalls ist es durchaus möglich, daß die Geschichten von der Arche im
Gilgamesch-Epos und in der Bibel auf historische Begebenheiten hinweisen,
die sich am Ende der letzten Eiszeit ereigneten. Damals stiegen die
Durchschnittstemperaturen weltweit um volle 7 Grad Celsius, wodurch so viel
Eis schmolz, daß die Meeresspiegel um etwa 165 Meter stiegen und die
Atmosphäre einige Zeit dermaßen mit Feuchtigkeit gesättigt war, daß es zu
monsunartigen Regenfällen kam, die wahrscheinlich jahrelang anhielten.
(Tudge zitiert Experten, die Hinweise darauf gefunden haben, daß diese
radikale Klimaveränderung sich in einem Zeitraum von nur zwanzig Jahren
abspielte.) Menschen, die ein Boot besaßen, hatten eine wesentlich bessere
Überlebenschance, und ein oder zwei haben es vielleicht wirklich geschafft
und später ihre Geschichte erzählt.
Der 2. Januar 1999 war ein schwarzer Tag für die Bemühungen zum Schutz
der brasilianischen Regenwälder – ein Gebiet, das halb so groß ist wie die
Vereinigten Staaten und zwei Drittel der nicht zu Gletschern gefrorenen
Süßwasserreserven unseres Planeten enthält. An diesem Tag wurde
berichtet, die brasilianische Regierung habe sich dem Druck des
Weltwährungsfonds zur Ausgabenbeschränkung gebeugt und ihr Budget zum
Schutz der Regenwälder drastisch gekürzt.
[114]
In den brasilianischen Regenwäldern leben Hunderte eingeborener Stämme,
und die höchste Priorität des 250-Millionen-Dollar-Programms zum Schutz der
Regenwälder bestand darin, ein Gebiet von über zehn Millionen Hektar zu
begutachten, das man theoretisch dauerhaft schützen wollte, um es
ausschließlich diesen Stämmen zur Nutzung zu überlassen. Durch die Kürzung
des Budgets von 250 auf sechs Millionen Dollar ist das Programm kaum
überlebensfähig, und es kann nun nichts Wesentliches mehr geschehen, um
die Bäume oder die Menschen dort zu schützen. In der Zwischenzeit fallen
Heerscharen von Holzfällern, Ranchern, Sägewerksarbeitern und Farmern
über die Wälder her, und während Missionare sich um das »Seelenheil« der
»heidnischen« Stammesvölker kümmern, werden täglich mehr als 80 000
Hektar Wald gerodet und abgebrannt.
Dieser Wald, der 20 Prozent der weltweiten Süßwasserreserven enthält,
gehört zu den wichtigsten Quellen atmosphärischen Wasserdampfes, über die
unser Planet verfügt, übertroffen nur noch von den Ozeanen, und seine
Zerstörung hat deshalb enorme Auswirkungen auf die weltweiten
Wettermuster. Er ist zugleich einer der wichtigsten Kohlenstoffspeicher des
Planeten, der den Kohlenstoff stabil in den Bäumen hält.
Nun, da weite Gebiete des ehemaligen Regenwaldes dem Kahlschlag zum
Opfer fallen, während überall Sägewerke gebaut werden und Weideland für
das Vieh entsteht, wird Kohlenstoff statt Wasserdampf in die Luft entlassen,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
74/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
was die globale Erwärmung fördert und die Wettermuster in Europa, im
Mittleren Osten und in Nordafrika verändert.
[115]
Südlich von Brasilien sind 70 Prozent der weltweiten Süßwasserreserven in
der Antarktis gebunden, wo sie seit Hunderttausenden von Jahren zu Eis
gefroren sind. Von Gletschern bedeckt, die oft mehr als drei Meilen hoch sind,
erstreckt sich der antarktische Kontinent über 5,4 Millionen Quadratmeilen,
eine Fläche, die größer ist als China und Indien zusammen. Würde das
antarktische Eis von der kontinentalen Landmasse abschmelzen und ins Meer
fließen, dann würde es auf der ganzen Welt zu einem erheblichen Anstieg der
Meeresspiegel kommen.
Und genau das geschieht offenbar.
Im April 1999 wurde berichtet, daß Wissenschaftler der British Antarctic
Survey in Cambridge und der University of Colorado Daten vom Boden und
von Satellitenaufnahmen analysiert haben. Sie fanden dabei überzeugende
Beweise, daß die globale Erwärmung die jährliche Eisschmelze in der
Antarktis um drei Wochen verlängert hat, was zu drastischen Veränderungen
der Gletscher führt. So befinden sich beispielsweise der Wilkins- und der
Larsen-B-Gletscher – um die Wissenschaftler zu zitieren – in »voller
Remission«. In den nur vier Monaten von November 1998 bis Februar 1999
sind mehr als 170 000 Hektar der insgesamt 0,7 Millionen Hektar des LarsenB-Gletschers abgeschmolzen. Und allein im März 1999 hat der WilkinsGletscher über 100 000 seiner 1,2 Millionen Hektar verloren.
David Vaughan, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim British Antarctic Survey,
wird von Associated Press zitiert, er habe gesagt, in nur wenigen Jahren
werde es »den Wilkins-Gletscher nicht mehr geben«.
Der Grund dafür: Die Durchschnittstemperaturen in der Antarktis, die seit den
Anfängen der Menschheit relativ stabil waren, sind seit 1950 um 2,5 Grad
Celsius gestiegen, wodurch sich die Sommertemperatur dort über den
kritischen Gefrierpunkt erhöht hat.
[116]
Wir sollten bedenken, an welchem Punkt
wir angekommen sind
Wir sind alle aus Sonnenlicht geschaffen, und alles, wovon unser Leben
abhängt, wird von Sonnenlicht gespeist.
Wir haben einige hunderttausend Jahre lang von gegenwärtigem
Sonnenlicht gelebt.
Dann entdeckten wir das in der Erde gespeicherte Sonnenlicht und
begannen, es zu verbrauchen, um daraus Wärme und Rohstoffe als
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
75/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Ersatz für Naturfasern zu erzeugen.
Das »erbeutete« gespeicherte Sonnenlicht erhöhte unsere Produktivität,
aber auch unsere Gier nach mehr. Schlimmer noch, es ermöglichte ein
immer rascheres Bevölkerungswachstum.
Außerdem führte es zu Klimaveränderungen, die das Gleichgewicht der
Lebensformen auf dem Planeten stören.
Nun sind die letzten Tage des gespeicherten Sonnenlichts in Sicht,
vielleicht weniger als eine Generation entfernt. Und selbst wenn wir
»alternative Energiequellen« entwickeln, wird das Problem dadurch
vielleicht noch verschärft (weil die Weltbevölkerung weiter wächst), wenn
sich nicht gleichzeitig unsere Kultur ändert. Solange wir gespeichertes
Sonnenlicht oder irgendeine andere »Ressource« benutzen, um über
die Natur zu herrschen und Naturgebiete in menschlichen
Siedlungsraum zu verwandeln, gefährden wir uns selbst und den Rest
der Welt durch unsere Zahl, die Vernichtung von Ressourcen und
unseren Wettbewerb mit anderen Arten um Raum, Wasser und Nahrung.
Wenn wir nicht umgehend eine Alternative zum Öl finden und die
wachsende Weltbevölkerung nicht mehr ernähren können, was wird
dann geschehen?
Sehen wir uns an, wie ein riesiges Land dieses Problem zu lösen versucht.
[117]
Besuch in einem Land, das sein
Überleben plant: China
Im Hinblick auf die Kunst des Lebens ist der
Mensch einfallslos; aber in der Kunst des
Sterbens übertrifft er die Natur selbst und
bringt durch Chemie und Technik Seuchen,
Pest und Hungersnot hervor.
George Bernard Shaw (1856–1950)
Die Chinesen planen ihr künftiges Überleben. Ich habe vor einigen Jahren
entdeckt, daß sie diesbezüglich viel zielstrebiger vorgehen und viel besorgter
sind als die meisten anderen Länder in der Welt. Sie planen langfristig und
rechnen in bezug auf Nahrung, Energie und Ressourcen in Zeiträumen, die
zehn Jahre oder sogar eine ganze Generation umfassen, während
amerikanische Unternehmen für die Zeit eines Jahres oder sogar nur eines
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
76/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Vierteljahres planen und die Politik auf wöchentliche Meinungsumfragen
reagiert.
Eine graugesprenkelte Wolkenschicht lag über Peking wie eine riesige Hand,
die sich kaum bewegte, nur wenige hundert Meter über der großen Halle des
Volkes. Ich stand in meinem braunen Regenmantel auf dem Platz des
himmlischen Friedens, hatte den Kragen hochgeschlagen und trug gegen den
kalten Nebel eine Kosakenmütze auf dem Kopf. Es war im November 1986,
und ich hatte in der letzten Woche im größten Lehrkrankenhaus für Akupunktur
mein Zimmer mit drei Ärzten aus Kolumbien und Japan geteilt. Morgens hatte
ich die chinesischen Ausdrücke für Akupunkturpunkte und Meridiane gelernt,
am Nachmittag auf den Stationen Nadeln in Patienten gestochen und abends
die Stadt erkundet. Heute war mein erster freier Tag seit einer Woche, und ich
wollte die Sehenswürdigkeiten besuchen, die abends geschlossen waren.
Der Nebel nahm der Luft nur wenig von dem schweren Geruch nach Millionen
winziger Kohlenfeuer; die meisten Bewohner der Stadt heizten einen einzigen
Raum mit ihrer wöchentlichen Zuteilung von ein paar Kohlebriketts, und der
Qualm verbreitete sich überall und machte das Atmen oft schmerzhaft.
[118]
Neben mir stand Dr. Wu[27], ein schlanker, großer, leidenschaftlicher Mann
Ende Zwanzig, der sich erboten hatte, mir die Stadt zu zeigen, um dabei seine
Englischkenntnisse auffrischen zu können. Die Kälte der feuchten Luft drang
durch jeden Muskel und Knochen meines Körpers; seit einigen Tagen fror ich
ständig.
Der Platz des himmlischen Friedens ist ein weiter, zementierter Platz, um den
herum wichtige Gebäude stehen: die große Halle des Volkes, Maos Grabmal,
das Museum des Volkes.
»Haben Sie Kinder?« fragte ich meinen Begleiter. Wir waren einige Minuten
schweigend gegangen, weil er angenommen hatte, jemand würde uns folgen.
Nun war uns niemand näher als sechs bis sieben Meter.
»Ja«, sagte er und seufzte, als komme ihm aus weiter Ferne eine bittersüße
Erinnerung. »Meine Frau und ich haben eine Tochter. Sie leben etwa eine
Tagesreise von hier.«
»Nur ein Kind?«
Er sah einen Moment zu Boden und betrachtete den Beton wie jemand, der
Angst hat, auf etwas Zerbrechliches zu treten. »Ja, ein Kind.«
»Was halten Sie von dieser Politik?« fragte ich.
Er warf mir einen schuldbewußten Blick zu und sah sich kurz um. »Sie ist
klug«, antwortete er dann. »Sie ist nötig, um die Zukunft Chinas zu sichern.«
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
77/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
»Hätten Sie gerne einen Sohn?«
Er zuckte mit den Schultern. »Jeder hätte gerne einen Sohn. Die Chancen
stehen fünfzig zu fünfzig.«
»Trotzdem gibt es unter den Kindern mehr Jungen als Mädchen.«
[119]
Ich hatte vom Krankenhaus aus den Spielplatz des gegenüberliegenden
Kindergartens gesehen. Etwa zwei Drittel der Kinder waren Jungen.
Er schüttelte heftig den Kopf. »Darüber wird nicht geredet. Vor allem nicht in
meinem Beruf.« Er blickte sich um, ob uns jemand folgte, aber anscheinend
beobachtete uns niemand.
Alle Leute um uns herum bewegten sich sehr zielstrebig. Auf der Hauptstraße,
die am Platz vorbeiführt, fuhren Hunderte identischer Fahrräder vorbei, auf
denen Leute in graubraunen Jacken und ausgebeulten Hosen saßen; alle paar
Minuten kam ein Auto oder ein Bus vorbei. Es war ein bemerkenswerter
Kontrast zu den Städten in Deutschland, wo ich damals lebte. Dort waren die
Straßen der Innenstädte ständig mit Autos verstopft, und Fahrräder sah man
nur selten, außer in den ländlichen Regionen.
Das ließ mich wieder an die Unterschiede zwischen Ost und West denken. Ich
fragte mich, ob dieser junge Vater und seine Frau wie so viele andere
chinesische Eltern bei der Geburt ihrer Tochter daran gedacht hatten, ihr Kind
zu töten. Ich fragte mich, was ich wohl empfinden würde, wenn meine
Regierung mir erklärt hätte, daß ich nur ein Kind haben dürfte. Ich wußte, ich
würde mich dagegen auflehnen, aber in China bedeutete Protest, daß man in
ein Arbeitslager oder in ein Umerziehungslager eingewiesen wurde, Orte, an
denen es so brutal zuging, daß einem der Tod oft wie eine Erlösung vorkam.
»Finden Sie, die Regierung sollte wirklich die Macht haben, darüber zu
bestimmen, wie viele Kinder eine Familie haben darf?« fragte ich, weil ich
dieses Thema gedanklich abschließen wollte.
Dr. Wu vergrub seine Hände tiefer in die Taschen seines erbsengrünen
Mantels und seufzte laut, als ob er tief in seinem Magen Schmerzen hätte.
»Vielleicht erinnern Sie sich nicht an 1960«, sagte er nach ein paar Schritten.
»Damals gab es eine entsetzliche Hungersnot, und viele Menschen starben.«
Ich erinnerte mich dunkel an die Hungersnot, unter der China zwischen 1959
und 1961 gelitten und die 30 Millionen Menschenleben gefordert hatte. Doch
das waren für mich nur abstrakte Zahlen, denn ich war damals ein Kind von
zehn Jahren gewesen. Ich hatte nie Einzelheiten darüber erfahren, nie Fotos
gesehen oder irgend jemanden getroffen, der diese Katastrophe erlebt hatte.
[120]
»Ich habe davon gehört«, sagte ich.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
78/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
»China hat jetzt über eine Milliarde Menschen«, erklärte er, während er mit
schweren Schritten über den feuchten Zement ging. »Das ist ein Fünftel der
Weltbevölkerung allein in unserem Land, und es sind doppelt so viele
Menschen wie damals während der Hungersnot. Und heute haben wir schon
Mühe, unsere Milliarde Menschen zu ernähren. Irgend etwas muß geschehen.
Verstehen Sie?«
»Ja«, erwiderte ich. »Aber warum erhöhen Sie nicht einfach die
landwirtschaftliche Produktivität? Die meisten Bauern in diesem Land
bearbeiten den Boden immer noch mit Hilfe von Ochsen oder lassen den
Pflug von ihren Frauen ziehen, während die Regierung auf ihren Öl- und
Kohlereserven sitzt. Auf meinen Reisen durch China habe ich Hunderte von
Menschen auf den Feldern gesehen, aber nur ein oder zwei Traktoren.«
»Nein«, widersprach er. »Das würde die Situation nur verschlimmern.
Produzieren Sie mehr Nahrung, und es wird mehr Menschen geben. Es gibt
jetzt schon zu viele Menschen in China; deshalb sind wir so arm.«
»Aber Sie verfügen über reichhaltige Naturschätze …«
»Wir haben ein Ziel«, sagte er und straffte seinen Körper. Seine Stimme
bekam einen anderen Tonfall, wurde befehlend und autoritär, als würde er zu
einem minder intelligenten Untergebenen sprechen, einer Krankenschwester
oder einem Hilfspfleger Anweisungen geben, wie ich es im Krankenhaus
schon erlebt hatte. »China wird nicht die Fehler wiederholen, die im Westen
gemacht wurden. Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt.«
»Fehler?«
[121]
»Wenn der Winter hereinbricht, und Sie haben genügend Nahrungsvorräte, um
ihn mit Ihrer Familie zu überstehen, würden Sie dann Ihren Kindern erlauben,
alles schon im ersten Monat aufzuessen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»China wird diesen Fehler auch mit seinen Ölvorräten nicht machen«, sagte er
ausdruckslos. »Wir werden Wasserkraftwerke bauen und einen Teil unserer
Wälder und Kohlereserven einsetzen, aber wir müssen unsere Vorräte für den
Winter aufsparen.«
»Wann ist der Winter?«
»Wenn Amerika, Europa und der Mittlere Osten kein Öl mehr haben. Einige
Leute behaupten sogar, daß wir dann die ganze Welt beherrschen werden,
daß diese Zeit das Dritte Chinesische Reich einläuten wird.«
Er schauderte und blickte zu Boden. »Aber es ist gefährlich, darüber zu
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
79/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
reden.«
»Wie das Dritte Reich?« fragte ich und bereute meine Worte sofort.
Er sah mich an, als würde er einen Feind auf dem Schlachtfeld abschätzen.
»Nationalisten gibt es in China wie in jedem anderen Land der Welt.«
Ich fühlte mich bei seinem scharfen Tonfall unbehaglich, und so versuchte ich,
das Thema zu wechseln. »Kennen Sie die amerikanischen Untersuchungen
über den Einfluß der Geburtenabfolge auf die Persönlichkeitsstruktur?«
Er nickte, während wir auf das Museum zugingen, ein riesiges Gebäude, in
dem die ältesten Beispiele technologischer Errungenschaften stehen, die je
von einer Zivilisation hervorgebracht wurden. »Ja, ich kenne diese
Untersuchungen«, sagte er.
»Haben Sie Geschwister?«
»Ich habe zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester«, antwortete er
verhalten. »Und Sie?«
»Ich habe drei jüngere Brüder«, erwiderte ich.
[122]
»Zum Führen geboren.«
»Wie bitte?«
»Der älteste in einer so großen Familie ist zum Führen geboren«, erklärte er.
»Das ist bei den Untersuchungen herausgekommen. Der älteste lernt, die
jüngeren Geschwister zu führen.«
Ich zuckte mit den Schultern, denn ich hatte keine Lust, den einen oder
anderen von uns einer Psychoanalyse zu unterziehen. »Aber wir haben beide
Geschwister«, sagte ich. »Sie wissen, daß Einzelkinder eine ganz spezifische
Persönlichkeitsstruktur haben?«
»Ja«, bestätigte er. »Das hängt natürlich von der Erziehung ab. Aber oft sind
sie ziemlich dominierend, weil sich die ganze Aufmerksamkeit der Familie
während ihres ganzen Lebens auf sie konzentriert. Sie haben ein einzigartiges
psychologisches Profil.«
Wir stiegen die Stufen zum Museum hinauf und gingen hinein. Das riesige
Gebäude aus Ziegeln und Marmor war nicht geheizt, und unsere Stimmen
mischten sich mit dem Widerhall von hundert anderen Stimmen, während die
Leute über die kalten Steinböden gingen, die Ausstellungsstücke betrachteten
und leise miteinander sprachen. Wir blieben vor einer wasserbetriebenen Uhr
stehen, die fünftausend Jahre alt war. Sie bestand aus Messing und Stein, war
etwa 1,20 Meter hoch und gut 90 Zentimeter breit. Das Wasser tropfte durch
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
80/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sie hindurch, bewegte Hebel und füllte Behälter, deren Wasserstand die Zeit
anzeigte.
»Wie wird China aussehen, wenn die gesamte Bevölkerung einschließlich
aller Führer und Manager nur noch aus Einzelkindern besteht?« fragte ich
leise.
Er blickte lange auf die Uhr. »Es wird dann Winter sein, und wir werden immer
noch über unsere Vorräte verfügen, während der Rest der Welt sie verbraucht
hat.« Er sah mich mit seinen dunkelbraunen Augen direkt an. »Und wir werden
dann am Ziel sein.«
[123]
Wer wird China ernähren?
Das war 1986, und ich schreibe diese Zeilen elf Jahre später, 1997. Zwei
Jahre nach jenem Winter 1986 begann der Mitbegründer des Worldwatch
Institute, Lester R. Brown, darüber zu sprechen und zu schreiben, daß China
bald nicht mehr in der Lage sein würde, seinen wachsenden Bedarf an
Nahrungsmitteln durch die einheimische Produktion zu decken. 1994
veröffentlichte er seinen Artikel Who will Feed China?[28] (Wer wird China
ernähren?), in dem er darauf hinwies, daß der Trend zur Industrialisierung in
China zwangsläufig dazu führen würde, daß das Land Nahrungsmittel
importieren müßte, wofür er von der chinesischen Regierung als
Bangemacher kritisiert wurde.
Doch als die Industrialisierung fortschritt und immer mehr Ackerflächen
aufgegeben wurden, um Fabriken und Straßen Platz zu machen, änderte die
chinesische Regierung 1995 ihre Haltung. In diesem Jahr mußte das
bevölkerungsreichste Land der Erde Nahrungsmittel importieren, und diese
Nachricht löste auf den Weltgetreidemärkten Schocks aus.
Während der nächsten zwanzig Jahre, so sagt Brown vorher, werde Chinas
Bedarf an Getreideimporten von ein paar Millionen Tonnen auf über 200 und
vielleicht sogar auf bis zu 300 Millionen Tonnen anwachsen. Aber nach
Angaben des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums lagen die
weltweiten Getreideexporte 1994 bei weniger als 230 Millionen Tonnen. Und
diese Exporte helfen mehr als hundert Ländern, die Nahrungsmittel
importieren müssen. Dagegen gibt es nur ein paar Dutzend exportierende
Länder, von denen lediglich Kanada und die USA Getreide in nennenswerten
Mengen exportieren.
Außerdem hängen die kanadischen und amerikanischen Exportkapazitäten
entscheidend vom Wetter ab. 1988, damals das heißeste Jahr in der
Geschichte der USA, verursachte die Trockenheit im amerikanischen
Mittelwesten Ernteausfälle, die dazu führten, daß Kanada um 37 Prozent und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[124]
81/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
die USA um 30 Prozent weniger Getreide produzierten als vorher. Damals
verbrauchten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal seit über 300 Jahren
mehr Getreide, als sie selbst produziert hatten.
Wenn China in den nächsten Jahren hungrig wird, dann werden nach Ansicht
von Brown und anderen die Weltmarktpreise für Getreide in Bewegung
geraten. Bei einem weltweiten Preisanstieg werden diejenigen Länder, die
nicht über genügend Geld für Importe verfügen, Hunger leiden, während China,
das heute Industriegüter exportiert, für seine Nahrungsmittelimporte zahlen
kann.
Es ist durchaus möglich, daß die Nahrung eher knapp wird als das Öl. Doch
leider verstehen nur wenige Menschen in den reichsten Ländern der Welt –
die die finanzielle und politische Macht hätten, daran etwas zu ändern – den
Ernst der Lage.
Während dieses Buch entstand, veröffentlichte National Geographic (im
September 1997) einen Artikel über einen anderen Aspekt der chinesischen
Überlebensbemühungen: das große Staudammprojekt am Jangtse, das sich
über drei Schluchten erstreckt. Dieser fast 200 Meter hohe Staudamm wird
ein 370 Meilen langes Wasserreservoir schaffen, das mit einer Reihe von
Schleusen ausgestattet ist, damit die Handelsschiffe weit ins Binnenland
fahren können. Im Inneren der Staumauern werden 26 der weltgrößten
Turbinen arbeiten, jede 400 Tonnen schwer, und 18 200 Megawatt Strom
erzeugen, was der Leistung von 18 Atomkraftwerken entspricht – alles in
einem einzigen Staudamm.
Das ist der Gegenwert von 900 Millionen Barrel Öl pro Jahr oder von 10 000
Quadratmeilen Solarzellen bei hundertprozentiger Effizienz. Kritiker sprechen
davon, daß der Versuch, einen so mächtigen Fluß zu stauen, verheerende
Auswirkungen haben kann (und vielleicht eine Torheit ist). Einige behaupten,
der Stausee werde eine riesige offene Kloake sein: Jetzt strömt das Wasser
durch die Schluchten, aber »stehendes Wasser ist faules Wasser«, sagen die
Kritiker. Und National Geographic hebt hervor, eine »kanadische
Umweltgruppe warne vor den Giftstoffen, die aus den dann unter Wasser
liegenden ehemaligen Fabriken austreten werden: Arsen, Zyanid,
Methylquecksilber.« Doch das Projekt schreitet weiter voran.
[125]
Offensichtlich sind die Chinesen bereit, fast jeden Preis dafür zu zahlen, daß
sie in den kommenden Jahrzehnten von niemandem abhängig sind.
[126]
Das Verschwinden der Wälder, der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
82/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kampf um Brennstoffe und der Aufstieg
und Fall von Weltreichen
Worauf wir heute zusteuern, ist die Fortsetzung einer uralten Geschichte
Ein Weltreich ist der Ausdruck einer
ungeheuren Geltungssucht.
Ralph Waldo Emerson (1803–1882)
Eins der bewunderungswürdigsten Weltreiche aller Zeiten war das Reich der
Sumerer. Einer meiner Freunde in Atlanta weiß alles über diese alte
Zivilisation. Zu seiner enzyklopädischen Sammlung gehört ein Steinfragment,
das vor sechs- bis achttausend Jahren im sumerischen Königreich von Uruk in
Mesopotamien gemeißelt worden ist, in der Gegend des heutigen Syrien, Irak
und Libanon.
»Die meisten Leute erinnern sich nicht einmal an die frühen Sumerer«, sagte
Tom, während er mir dieses kostbare Stück aus seiner Sammlung behutsam
reichte. »Aber sie waren sozusagen die Urväter jenes Lebensstils, den wir
heute als westliche Zivilisation bezeichnen.«
Im Gilgamesch-Epos, der ältesten schriftlichen Geschichte der Welt, heißt es,
einer der ersten Könige der frühen sumerischen Zivilisation (der Uruk) sei ein
Mann namens Gilgamesch gewesen. Er war der erste Sterbliche, der dem
Waldgott Humbaba trotzte, dem die oberste sumerische Gottheit, Enlil,
aufgetragen hatte, die Zedernwälder des Libanon vor den Menschen zu
schützen.
König Gilgamesch wollte eine große Stadt bauen, Uruk, um damit seinen
Beitrag zur sumerischen Zivilisation zu verewigen. Also lehnte er sich mit
seinen Waldarbeitern gegen Humbaba auf und begann, die Wälder zu roden,
die sich damals vom Jordan bis zur libanesischen Mittelmeerküste
erstreckten. Die Geschichte endet damit, daß Gilgamesch den Waldgott
Humbaba enthauptet, und damit Enlil, den Gott aller Götter, erzürnt. Enlil rächt
Humbabas Tod, indem er dafür sorgt, daß das Wasser im Königreich
ungenießbar wird und die Felder verdorren – so daß Gilgamesch und sein
Volk sterben müssen.
[127]
Abgesehen von seiner sonstigen Bedeutung ist das Gilgamesch-Epos die
früheste schriftliche Aufzeichnung darüber, wie das Wasser versickert und das
Land zur Wüste wird, weil die Menschen große Waldgebiete zerstört haben.
Die Waldflächen des Libanon (die berühmten »Libanonzedern«) sind
innerhalb von 1500 Jahren von 90 Prozent auf unter sieben Prozent
zusammengeschrumpft, wodurch sich die Niederschläge um 80 Prozent
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
83/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
verringert haben, denn die Bäume und ihre Wurzeln sind ein wichtiger
Bestandteil des Wasserkreislaufs. Als Folge davon sind Millionen von Hektar
Land in dieser ehemals so fruchtbaren Gegend in Wüste oder Buschland
verwandelt worden und bis heute unfruchtbar.
Das Hauptnahrungsmittel der Mesopotamier war Gerste, aber nachdem das
Land mehrere hundert Jahre bewässert worden war, um dort Gerste
anzubauen, waren die Böden ausgelaugt und so versalzen (das Salz war
durch die Bewässerung in die Erde gelangt), daß sie keine Erträge mehr
lieferten. Gleichzeitig war Holz durch die rasche Zerstörung der Wälder zu
einer Kostbarkeit geworden, ähnlich wertvoll wie Edelsteine oder Edelmetall:
So eroberte man die Nachbarländer, um an Holz zu kommen und neues
Ackerland für den Gerstenanbau zu gewinnen. Riesige Waldgebiete an
Euphrat und Tigris wurden gerodet, was dazu führte, daß die Versalzung der
Böden entlang der Bewässerungskanäle weiter um sich griff und die
Niederschläge sich weiter verringerten.
Die Folge dieser regionalen Klimaveränderung vor über 5000 Jahren war eine
ausgedehnte Hungersnot. Der Zusammenbruch des letzten mesopotamischen
Weltreichs fand vor etwa 4000 Jahren statt, und die uns überlieferten
Aufzeichnungen zeigen, daß die Menschen damals erst ganz zum Schluß
erkannten, wie sie ihre kostbaren Nahrungs- und Energiequellen durch die
Vernichtung ihrer Wälder und den Raubbau an ihrer sonstigen Umwelt zerstört
hatten. Über Tausende von Jahren »wußten« sie, daß ihre Lebensweise in
Ordnung war. Alles schien bestens geregelt, und es war ihnen nicht klar, daß
sie so nicht ewig weitermachen konnten: Die Sache funktionierte nur so lange,
wie es Nachbarländer gab, die sie erobern konnten. Als es nichts mehr zu
erobern gab, war der Absturz plötzlich und verheerend, genau wie beim PonziSchema.
[128]
Der Zusammenbruch des mesopotamischen Weltreiches ebnete den Weg für
den Aufstieg des griechischen Imperiums in der späten Bronzezeit. Zwischen
2000 und 1500 vor Christus übernahmen die Griechen weit verbreitete
Ackerbaumethoden, die dem mesopotamischen System ähnelten. Im
dreizehnten Jahrhundert vor Christus veranlaßte das wachsende
Nahrungsangebot die Griechen, große Waldgebiete zu roden, um
Lebensraum, Brennstoff und zusätzliches Ackerland für ihre ständig
wachsende Bevölkerung zu gewinnen. Außerdem brauchten sie riesige
Mengen Holz, um die berühmten Bronzeschmelzöfen damit zu heizen.
Der Untergang ihrer Zivilisation wird in historischen Aufzeichnungen darauf
zurückgeführt, daß der einzige verfügbare Brennstoff, Holz, für die wachsende
Bevölkerung nicht mehr ausreichte. Um 600 vor Christus war der größte Teil
Griechenlands verödet, von den kahlen Abhängen wurde das Erdreich in die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
84/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
versalzenen Flüsse gespült, und die bewässerten Felder verloren ihre
Fruchtbarkeit, weil die Böden immer mehr Salz aufnahmen und keine
Nährstoffe mehr enthielten. Prämien wurden ausgesetzt, damit die Bauern auf
den Hügeln Olivenbäume anpflanzten, denn die verzweifelten Griechen hatten
festgestellt, daß nur Olivenbäume dort wachsen und der Erosion
entgegenwirken konnten. Doch es war schon zu spät. Wie Plato in seiner
Kritias schreibt:
»Was nun bleibt, ist im Vergleich zu früheren Zeiten wie das Skelett eines kranken
Mannes, all die fette, weiche Erde weggespült, und nur das bloße Gerüst des
Landes ist zurückgeblieben.«
[129]
Es ist tatsächlich auch früher schon geschehen.
Dem Zusammenbruch des griechischen Reiches folgte der Aufstieg der
Römer.
Rom hatte ebenfalls einen großen Bedarf an Holz: Um 200 vor Christus waren
die Wälder im heutigen Italien fast vollständig gerodet, um Brennstoff und
Bauholz zu liefern, die öffentlichen Bäder zu heizen und Metalle zu schmelzen.
Große Mengen Holz wurden benötigt, um reines Silber aus Silbererz zu
gewinnen, es zu veredeln und daraus die Münzen zu prägen, welche die Basis
des römischen Währungssystems waren. Als sich dann im ersten Jahrhundert
vor Christus die Holzpreise für die Silberschmelzen mehrmals verdoppelten,
führte das zu einer monetären Krise, die dem römischen Imperium den ersten
großen Riß zufügte.
Ungefähr zur gleichen Zeit kam es zu Einbrüchen in der landwirtschaftlichen
Produktivität, weil die Böden versalzten und ausgelaugt waren und die
Niederschläge ausblieben. Nahrungsmittelknappheit bedrohte die Stabilität
des Römischen Reiches. Das veranlaßte die Führung Roms, eine Flotte von
sechzig Holzschiffen zu bauen, um die benachbarten Mittelmeerstaaten zu
erobern und das Reich noch in seinen letzten Tagen zu erweitern, während sie
außerhalb ihrer angestammten Grenzen nach Mineralien, Nahrung und Holz
suchten. Schließlich sorgte die Zerstörung der Wasserkreisläufe, der Wälder
und
der
Böden
zusammen
mit
einem
explosionsartigen
Bevölkerungswachstum
für
ausgedehnte
Hungersnöte,
die
zum
Zusammenbruch des römischen Imperiums führten.
Sogar das mächtige Rom konnte sich also nicht aus eigener Kraft erhalten
und lebte über seine Verhältnisse – selbst nachdem es die Hälfte der damals
bekannten Welt erobert hatte. Und natürlich ist das nur ein Beispiel von vielen:
Hunderte von anderen, jüngeren Kulturen sind kurzfristig entstanden, haben
ihre Existenzgrundlagen vernichtet und sind wieder untergegangen, von den
Ägyptern bis zu den Bewohnern von Ur, von den chinesischen Dynastien bis
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[130]
85/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
zu den längst entschwundenen Zivilisationen des präkolumbianischen
Südamerika.
Als Amerika sich auf den Weg machte, die größte Weltmacht zu werden, war
Holz die wichtigste Energiequelle. Es lieferte George Washingtons Armee
Energie und Wärme und blieb unsere Hauptquelle für Brennstoff, Wärme und
Baumaterial bis zum Ende des Bürgerkriegs, als man begann, die Kohle
stärker zu nutzen.
Wie schon erwähnt, erhöhte die Entdeckung gespeicherten Sonnenlichts in
Form von Öl in Pennsylvania gleich nach dem Bürgerkrieg auf dramatische
Weise unsere Fähigkeit, immer mehr Menschen weltweit zu ernähren. Und
das bringt uns in eine Situation, die auf unbehagliche Weise an
Mesopotamien, Griechenland und Rom erinnert: Nachdem wir nun so viele
Menschen von einer bestimmten Energiequelle abhängig gemacht haben,
was geschieht, wenn diese Quelle versiegt?
Können wir unsere Zivilisation retten,
wenn wir Alternativen zum Öl entwickeln?
Schon seit vielen Jahren gibt es Leute, die darauf hinweisen, daß unsere
Ölreserven ziemlich bald zur Neige gehen werden. Sie haben verschiedene
»alternative« oder »erneuerbare« Energiequellen vorgeschlagen, die das Öl
ersetzen könnten. Da es hier immer darum geht, unsere Abhängigkeit vom Öl
zu verringern – und so zu verhindern, daß ein Zusammenbruch der
Energieversorgung wie bei den Sumerern zum Untergang unserer Kultur
führt –, sollten wir uns diese Alternativen genauer ansehen.
Eine hohe ökonomische Hürde: Weil die Ölpreise
künstlich niedrig gehalten werden, fehlt der Anreiz
für Investitionen in alternative Energien
[131]
Wenn wir über Alternativen nachdenken, müssen wir berücksichtigen, warum
die Regierungen so wenig Interesse daran zeigen, Energiequellen zu
entwickeln, die fossile Brennstoffe ersetzen könnten.
Der Hauptgrund liegt darin, daß die Ölpreise heute (bereinigt um die
Inflationsrate) niedriger denn je sind, weil wir weltweit so aggressiv Öl fördern.
In den USA kann eine Literflasche Mineralwasser viermal so viel kosten wie
ein Liter Benzin – obwohl das Benzin achttausend Meilen entfernt als Rohöl
aus dem Boden gepumpt, um die halbe Welt transportiert, raffiniert und zur
Tankstelle gebracht werden muß.
Von einigen Ausnahmen abgesehen, fördern die Länder, die über reiche
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
86/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Ölvorkommen verfügen, ihr Öl so schnell wie möglich, um die ständig
wachsende Nachfrage aus aller Welt zu befriedigen. Jedes Land, das erwägt,
seine Förderung zu drosseln oder die Quellen eines Nachbarlandes zu
annektieren, braucht nur daran zu denken, mit welcher Härte Amerika reagiert
hat, als der Irak versuchte, sich die kuwaitischen Ölfelder anzueignen (die
nach Angaben des CIA zehn Prozent der bekannten Weltölreserven enthalten).
Dann werden sie sich die Sache zweimal überlegen und darauf verzichten,
den Status quo zu brechen.[29]
Die Industriezweige, die fossile Brennstoffe verarbeiten, verbindet das
gemeinsame Ziel kurzfristiger Profite, sogar auf Kosten unserer langfristigen
Überlebenschancen. Sie sind fest entschlossen, durch den Verkauf ihrer
Produkte – so schnell wie möglich – Milliarden zu verdienen, auch wenn es
sich dabei um nicht erneuerbare Energiequellen handelt.[30]
[132]
All dies hält die Ölpreise zur Zeit niedrig, so daß wenig Anreiz besteht,
Alternativen zu entwickeln.
Eine weitere Hürde: Man braucht Öl, um
Technologien zu entwickeln, die Öl ersetzen
könnten
Bei der Entwicklung alternativer Energien gibt es noch ein weiteres großes
Problem.
Denken Sie beispielsweise an die Solarenergie. Solarzellen fangen
gegenwärtiges Sonnenlicht ein, so daß wir die Energie sofort nutzen können.
Aber die Sache hat einen Haken: Für die Herstellung von Solarzellen
brauchen wir Öl, also gespeichertes Sonnenlicht:
Solarzellen werden aus verschiedenen Mineralien hergestellt, die in
geringen Mengen im Boden vorkommen: Aus mehreren hundert Tonnen
Erdreich gewinnt man nur wenige Pfund Mineralien. Zu diesem Zweck
wird die Erde mit riesigen Maschinen aufgegraben, die mit Öl betrieben
werden.
Diese Maschinen bestehen aus Materialien (Stahl, Glas etc.), zu deren
Herstellung man Hochöfen und Maschinen braucht, die ebenfalls mit Öl
betrieben werden.
Außerdem braucht man ölbetriebene Hochöfen, um die Mineralien zu
schmelzen und zu reinigen.
Auch das Glas, das die Solarzellen bedeckt, kann nur unter großer Hitze
hergestellt werden, was die Produktionskosten in die Höhe treibt, auch
[133]
wenn der Rohstoff Sand reichlich vorhanden und billig ist. (Eine
Alternative könnte darin bestehen, die Solarzellen nicht mit Glas,
sondern mit Plastik abzudecken, aber Plastik wird aus Öl hergestellt.)
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
87/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Die gesamte Produktion wird von Menschen durchgeführt, die mit
benzinbetriebenen Autos zur Arbeit fahren und in Häusern leben, die mit
Öl geheizt werden.
Was wird also geschehen, wenn unsere Ölvorräte aufgebraucht sind – wenn
wir kein gespeichertes Sonnenlicht mehr haben?
Woher sollen dann die Solarzellen kommen?
Die Solarzellen von heute liefern nicht genug Energie, um mehr Solarzellen zu
produzieren. Sie reichen kaum aus, um ein kleines Auto anzutreiben. Mit
Sicherheit können sie nicht genug Sonnenlicht einfangen, um einen Bulldozer
zu bewegen, einen Hochofen zu heizen oder eine Glasfabrik mit Elektrizität zu
versorgen, damit mehr Solarzellen hergestellt werden können. Mit diesem
Problem müssen sich Umweltexperten ernsthaft auseinandersetzen.
Ähnliche Probleme gibt es bei der Windkraft. In bestimmten Gegenden mag
der Wind zwar unablässig wehen, aber um daraus elektrischen Strom zu
gewinnen, braucht man High-Tech-Turbinen, die aus hochwertigem Stahl und
anderen Materialien bestehen, zu deren Herstellung wir heutzutage Energie
aus fossilen Brennstoffen benötigen. Wenn wir kein Öl mehr haben, können
solche Verschleißteile nicht mehr ersetzt werden, und uns bleiben dann nur
noch die klassischen Holzwindmühlen aus Holland, die es mit Hilfe der
Windenergie gerade schaffen, das Meerwasser aus einem kleinen Feld von
acht- oder zehntausend Quadratmetern herauszupumpen.
Gegenwärtig verbrauchen wir den größten Teil des Öls, um daraus
elektrischen Strom zu erzeugen. Deshalb sind die amerikanischen Kraftwerke
nach Angaben der Environmental Protection Agency verantwortlich für 66
Prozent aller Schwefeldioxidemissionen, 29 Prozent aller Stickoxide in der
Luft, 21 Prozent aller Quecksilberbelastungen und 36 Prozent aller
Kohlendioxidemissionen.
[134]
»Grüne« Energie
Wegen der starken Luftverschmutzung durch Ölkraftwerke, und weil Öl eine
nicht erneuerbare Energiequelle ist, gibt es in den USA in letzter Zeit eine
starke Bewegung, die sich dafür einsetzt, »grüne Elektrizität« zu produzieren
und zu vermarkten: Energie, die aus erneuerbaren Quellen gewonnen wird,
welche gegenwärtiges Sonnenlicht einfangen, beispielsweise Holz, Wasser,
Solarzellen und Wind.[31]
Aber die Nachfrage nach Elektrizität ist in den Vereinigten Staaten heute viel
zu groß, als daß sie aus gegenwärtigem Sonnenlicht befriedigt werden
könnte. Das ließe sich vielleicht ändern, aber da der überwiegend aus Öl
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
88/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
gewonnene elektrische Strom so billig ist, haben neue Technologien meist
nicht einmal eine Startchance.
Deshalb ist es in dieser Branche, in der man entweder schnell Geld verdient
oder untergeht, für ein Unternehmen sehr schwierig, wettbewerbsfähige
»grüne Energie« zu erzeugen. Weil angesichts der niedrigen Ölpreise nur
begrenztes Investitionskapital zur Verfügung steht, müssen sich die »grünen«
Energiefirmen gelegentlich etwas nach der Decke strecken, was dazu führt,
daß sie eine Art »pseudo-grüner« Energie anbieten – bei der so getan wird,
als sei sie grün (erneuerbar, »sauber«), was aber in Wirklichkeit nicht zutrifft.
Der Verkauf von pseudo-grüner Energie
[135]
Das wurde auf einer Konferenz im Mai 1997 in Boston deutlich, bei der
mehrere neue »grüne« Energieanbieter an einem Pilotprogramm in
Massachusetts und New Hampshire teilnahmen, wo sie ihre Ware (private
Elektrizitätsversorgung) mit Heißluftballons und kostenlosen Fichtensetzlingen
zu verkaufen versuchten. Den Kunden wurde versprochen, daß die Energie
aus einer »grünen« Quelle käme, womit gemeint war, daß es sich um
erneuerbare Energien handelte, die keine Umweltverschmutzung verursachen.
Die Verbraucher wurden stark umworben, und man bat sie, im Interesse des
Umweltschutzes einen geringfügig höheren Preis für ihre Stromversorgung zu
zahlen.
Daß sich die Sache in Wirklichkeit etwas anders verhielt, erfuhren die
Konferenzteilnehmer, als ein Sprecher der Union of Concerned Scientists sich
erhob und über des Energie-Kaisers neue Kleider sprach: »Wir sind der
Meinung, daß die Werbung in New Hampshire … ziemlich irreführend war«,
sagte er.
Es stellte sich heraus, daß ein Unternehmen »Wasserenergie« von HydroQuebec verkaufte, einem großen Unternehmen, das kürzlich weite
Landstriche, die den amerikanischen Ureinwohnern gehörten, trotz heftiger
Proteste der Eigentümer und Anwohner geflutet hatte, um dort ein
Wasserkraftwerk zu errichten.
Ein anderer Anbieter wollte Wasserenergie verkaufen, die aus
»hochgepumptem Speicherwasser« gewonnen wurde, was bedeutet, daß
schwere konventionelle elektrische Pumpen (betrieben mit Strom aus dem
lokalen Netz, der durch Kohle, Kernkraft oder Öl erzeugt wird) eingesetzt
wurden, um das Wasser in ein höhergelegenes Reservoir zu befördern, aus
dem man es dann wieder herausfließen ließ, um eine Turbine anzutreiben,
welche die angeblich »grüne« Elektrizität erzeugte. Dabei handelt es sich
bestenfalls um ein Speichersystem für »schmutzige« Energie,
schlimmstenfalls um einen regelrechten Betrug am Verbraucher. In anderen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
89/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Staaten haben Stromversorger sogar damit argumentiert, daß sie Energie
aus Kernkraftwerken als »grün« bezeichnen könnten, weil dadurch, wie sie
sagen, keine Luftverschmutzung verursacht wird.
[136]
Solche Täuschungsmanöver sind zur Zeit unvermeidlich, weil echte »grüne«
Energie einfach zu teuer ist. Ohne billiges Öl zur Herstellung von Solarzellen
und Turbinen könnte es in der Tat sogar unmöglich sein, grüne Energie in den
Mengen zu liefern, die in Amerika und Europa gegenwärtig nachgefragt
werden. Wenn wir jedoch jetzt beginnen würden, mit Hilfe von Öl
Energiesysteme zu entwickeln, die ohne Öl auskommen, dann könnte sich die
Situation zum Besseren wenden.
Wenn der Brennstoff knapp wird,
beginnen die Kämpfe
Heutzutage verkauft jedes Unternehmen in der industrialisierten Welt,
gleichgültig, welche Produkte oder Dienstleistungen angeboten werden,
irgend etwas, zu dessen Herstellung Öl benötigt wird. Die erforderliche
Elektrizität stammt aus ölbetriebenen Reaktoren, die Raumwärme wird durch
Ölheizungen erzeugt, die Autos und Busse, mit denen die Angestellten zur
Arbeit und wieder nach Hause fahren, werden mit Diesel oder Benzin
betrieben, und so geht es weiter bis zu den scheinbar unbedeutendsten
Aktivitäten oder Einrichtungsgegenständen, wie beispielsweise den aus dem
Rohstoff Öl hergestellten synthetischen Teppichböden, mit denen die Büros
ausgelegt sind.
Ohne Öl würde unsere Produktivität wieder auf das Niveau der Zeit um 1800
zurückfallen, als nur ein Sechstel der heutigen Weltbevölkerung auf diesem
Planeten lebte und unsere Brennstoffquellen aus Pflanzenöl, Walfett, Kohle
und Holz bestanden. Und wenn die Produktivität sinkt, werden die Ressourcen
sogar noch knapper.
Selbst eine geringfügige Verknappung der Hauptenergiequelle kann eine
ganze Nation aus dem Gleichgewicht bringen. Viele Historiker teilen die
Ansicht, daß Hitler, wenn Deutschland unbeschränkt über Öl verfügt hätte,
durchaus in der Lage gewesen wäre, seine Pläne zur Eroberung Europas
erfolgreich umzusetzen. Historische Aufzeichnungen zeigen, daß Japan Pearl
Harbor im wesentlichen deshalb bombardiert hat, weil die amerikanische
Flotte die Gewässer im Westen Japans blockierte und das Land damit von
den Öllieferungen aus den Förderländern im Indischen Ozean abschnitt.
Japanische und amerikanische Militärstrategen wußten, daß das Reich der
aufgehenden Sonne damit innerhalb weniger Monate in die Knie zu zwingen
gewesen wäre, auch wenn die amerikanischen Militärs offenbar die Härte des
japanischen Vergeltungsschlages unterschätzt haben.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[137]
90/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wenn das Öl in den nächsten Jahrzehnten knapp wird, steigen die Preise, so
wie es einst mit den Holzpreisen im sumerischen, griechischen und römischen
Reich geschah. Wenn die Kosten für den wichtigsten Energieträger sprunghaft
in die Höhe schnellen, werden die oberen Zehntausend, die den Reichtum und
die Armeen der Welt unter Kontrolle haben, ihre Schäfchen ins Trockene
bringen können, aber die Masse der Bevölkerung hat dann ernste Probleme.
Wir können das heute in Ländern wie Haiti beobachten, wo die
Bevölkerungsexplosion angesichts begrenzter Energiequellen weit verbreitet
zu Armut und Hunger geführt hat.
Wir im Westen stehen an der Spitze der Energiepyramide und werden
wahrscheinlich als letzte unter dem Mangel zu leiden haben (vorausgesetzt, wir
verfügen noch über handlungsfähige Armeen, die arabische und
südamerikanische Länder zwingen können, uns ihre letzten Ölvorräte zu
verkaufen. Als den Mesopotamiern, Griechen und Römern das Holz ausging,
zettelten auch sie Kriege an. Die Frage ist jedoch, wo wir den Treibstoff für
unsere Flugzeuge und Panzer hernehmen sollen, wenn wir nicht mehr genug
Öl haben …).
Aber selbst wenn die Erste Welt ihr Militär einsetzen kann, um den Zugang zu
den Ölvorräten der Dritten Welt zu erzwingen, wird die zunehmende weltweite
Energieknappheit zu weitverbreiteten und verheerenden Folgeerscheinungen
führen. In den letzten siebentausend Jahren ist jede »moderne« Zivilisation
letztlich daran zugrunde gegangen, daß ihre Hauptenergiequelle knapp wurde.
Ob wir dasselbe Schicksal erleiden oder nicht, bleibt abzuwarten, aber es ist
fast sicher, daß das kommende Ungleichgewicht der Ressourcen die
Grundlagen der Demokratie einer Zerreißprobe aussetzen wird.
[138]
Doch warum entwickeln sich die Dinge anscheinend immer auf dieselbe
Weise? Und was können wir dagegen tun?
[139]
Teil II
Jüngere und ältere Kulturen:
Wie sind wir in diese Lage
gekommen?
Im ersten Teil dieses Buches haben wir uns mit den Fakten beschäftigt, die
darauf hindeuten, daß wir schon jetzt in ernsten Schwierigkeiten stecken: Wir
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
91/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sind alle aus Sonnenenergie geschaffen; wir verbrauchen die Energie, die
unser »Startkapital« bildet (das gespeicherte Sonnenlicht, das in
unterirdischen »Sparkonten« angelegt ist, die bald erschöpft sein werden); wir
zerstören die Bäume, die unseren Wasserkreislauf erhalten, den Boden vor
Erosion bewahren und das Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen; wir rotten
eine immense Zahl von Tier- und Pflanzenarten aus, und die von uns
verursachten
Klimaveränderungen
führen
zu
unvorhersehbaren
Wetterextremen, die Ernteerträge und Menschenleben gefährden.
Wie sind wir in diese Lage gekommen?
Wie haben wir es fertiggebracht, in einem halben Jahrhundert von einer
Ausgangsposition, die zweifellos zu großem Optimismus Anlaß gab, in eine
Lage zu geraten, die uns allem Anschein nach nur noch eine Generation Zeit
läßt, bevor eine Katastrophe die industrialisierte Welt ereilt? Eine
Katastrophe, der die Dritte Welt, wo Hunger und Krankheit explosionsartig
zunehmen, schon zum Opfer gefallen ist.
Am Ende dieses Buches werden wir darüber nachdenken, was wir gegen das
sich anbahnende Desaster tun können. Wenn wir uns richtig verhalten, gibt es
Anlaß zur Hoffnung. Aber zunächst müssen wir verstehen, wie es soweit
kommen konnte, und darum geht es hier im zweiten Teil, wo wir uns mit
folgenden Themen beschäftigen wollen:
[140]
Die historische Perspektive
Das Konzept der »jüngeren Kulturen« und »älteren Kulturen«: wichtige
Unterschiede zwischen der Art, wie wir heute sind und damals waren.
Ein außerordentlicher kultureller Wandel, den man als Wétiko
bezeichnet: Nachdem die Menschen 100 000 Jahre kooperativ
miteinander (und mit der Natur) gelebt hatten, begannen sie einander
(und die Natur) zu beherrschen und zu versklaven.
Sozialpsychologische Aspekte
Die Bedeutung von »Geschichten«: Wie wir das interpretieren, was wir
um uns herum wahrnehmen. Unsere Geschichten über das Leben
können uns auf Abwege oder zu Problemlösungen führen.
Alte Weisheiten, die wir einst kannten, aber vergessen haben.
Hatte Darwin recht? Wird der Tüchtigste überleben und die Schlacht
gewinnen?
Worin unterscheiden sich unsere heutigen Sozialstrukturen von der Art,
wie die Menschen früher lebten?
Um die zentrale Bedeutung des gespeicherten Sonnenlichts zu verstehen,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
92/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
müssen wir uns zunächst mit der entscheidenden Rolle beschäftigen, welche
die Kultur für alle Zivilisationen in Vergangenheit und Gegenwart gespielt hat.
[141]
Die Macht unseres Weltbildes:
ältere und jüngere Kulturen
Eine Kette ist nicht stärk er als ihr
schwächstes Glied, und das Leben ist letzten
Endes eine Kette.
William James (1842–1910)
Durch menschliches Handeln – und Nichthandeln – scheint unser Planet auf
eine Katastrophe zuzusteuern.
Die Weltbevölkerung ist schon lange über die Zahl hinausgewachsen, die wir
ohne eine intensive Nutzung von Benzin und Öl hätten ernähren können, und so
verbrennen wir fossile Pflanzenstoffe, die 300 Millionen Jahre alt sind (und die,
wenn sich nichts ändert, noch während der Lebensspanne unserer Kinder
aufgebraucht sein werden), um jene sechs Milliarden Menschen zu ernähren,
die sich gegenwärtig an Bord des Raumschiffs Erde befinden. In Zukunft
werden noch viel mehr von ihnen verhungern als heute. Und die Regierungen
der Welt tun so gut wie nichts, um diese sehr reale Möglichkeit zu verhindern.
Aber was können wir selbst tun? Wir trennen Müll für die Wiederverwertung,
ernähren uns vegetarisch, fahren Autos mit geringem Benzinverbrauch, und es
kommt uns so vor, als würden wir damit etwas Nützliches tun. Tatsache bleibt
jedoch, daß jeder Obdachlose in New York monatlich über mehr Geld verfügt,
als der größte Teil der Weltbevölkerung im ganzen Jahr zu sehen bekommt.
Aber nicht einmal auf diesem »Armutsniveau« kann unser Planet die
Menschen erhalten, ohne daß unsere fossilen Brennstoffquellen innerhalb von
ein oder zwei Generationen erschöpft sein werden.
Die meisten Leute glauben wahrscheinlich, daß sie nichts tun können, um
diese Last zu erleichtern.
Doch sie irren sich. Es gibt sehr wohl wichtige und wirksame Schritte, die wir
unternehmen können.
[142]
Vielleicht ist es zu spät (um mindestens vier Jahrzehnte, wie viele Experten
behaupten), um sämtliche Schäden zu verhindern, auf die wir uns zubewegen:
den Tod von Milliarden Menschen und die weitere nachhaltige Zerstörung
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
93/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
eines großen Teils unserer Umwelt durch Krieg, Ressourcenausbeutung und
Industrieabfälle. Überall auf der Erde werden Kriege geführt, Hungersnöte
brechen aus, während Sie diese Worte lesen, und die Überbevölkerung hat
einen Punkt erreicht, wo Straßenkinder in vielen größeren Städten der Dritten
Welt von »Jagdclubs«, zu denen sich junge Männer der Mittel- und Oberklasse
und Polizisten in ihrer Freizeit zusammenrotten, mit Gewehren verfolgt werden.
[32] Manche Leute machen sich darauf gefaßt, daß wir Zeugen der letzten
Tage des amerikanisch/europäischen Weltreichs werden könnten, ähnlich wie
die Römer vor 1600 Jahren den Untergang ihres Imperiums miterlebten.
Wahr ist aber auch, daß wir jetzt die Grundlagen für eine positive und
hoffnungsvolle Welt schaffen können, in der zukünftige Generationen, unsere
Kinder und Kindeskinder leben werden – den Anfang der nächsten Zivilisation,
der Nach-Öl-Ära.
Ihre Zukunft liegt in unseren Händen.
Die Macht unserer Gedanken
Wenn Sie in der Stadt eine Straße entlang gehen oder fahren, dann ist das,
was Sie sehen, eine Manifestation von Gedanken. Am Anfang eines jeden
Gebäudes stand die Idee, die jemand hatte. Jemand kaufte das Land.
Jemand entwarf das Haus. Jemand hatte die Idee, eine Gruppe von
Menschen zu organisieren, die das Haus bauten, entweder gegen Lohn oder
um selbst darin zu wohnen. Die Bäume, die Sie sehen, wurden gepflanzt, um
im Garten, auf dem Gehweg oder am Straßenrand Schatten zu spenden. Die
asphaltierten oder gepflasterten Straßen und Wege, die wir als »natürliches«
Element der Landschaft empfinden, wurden von menschlichen Gehirnen
geplant, entworfen, in die Realität umgesetzt und erhalten.
[143]
Gedanken schaffen unsere materielle Wirklichkeit, und sie schaffen auch
unsere kulturelle Wirklichkeit. Wenn es in alten Zeiten ein Gewitter gab, dann
nahmen die Menschen Donner und Blitz als die Stimme einer mächtigen
Gottheit wahr. Wenn jemand vom Blitz getroffen wurde, dann war das für die
anderen der Beweis, daß dieser Mensch ein Verbrechen begangen oder die
Gottheit erzürnt hatte. Wenn es laut donnerte, dann knieten die Menschen auf
dem Boden nieder und riefen laut ihre Gebete. Wenn sie die schrecklichen
Blitze über den Himmel zucken sahen, dann erkannten sie darin den Finger
ihres Gottes, der Botschaften übermittelte oder seine Meinung kundtat. Heute
betrachten wir Blitz und Donner als Entladung elektrischer Energie zwischen
Ionen in der Luft und dem entgegengesetzt geladenen Boden. Wenn jemand
vom Blitz getroffen wird, dann ist das entweder seine eigene Dummheit (wenn
er auf dem Golfplatz steht und den Schläger in die Luft hält) oder einfach Pech.
Wenn es sich um ein heftiges Unwetter handelt, dann suchen wir Schutz, weil
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
94/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wir ein gefährliches Naturereignis fürchten, nicht jedoch einen erzürnten Gott.
Dasselbe Ereignis führt bei den Menschen von heute zu völlig anderen
Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen, als bei den Menschen in alter
Zeit. Der entscheidende Punkt ist, daß wir heute die Realität anders
wahrnehmen und deshalb auch anders darüber denken.
Vor ein paar Jahren war ich eingeladen, auf einer Konferenz, die von der
Hebräischen Universität in Jerusalem veranstaltet wurde, einen Vortrag zu
halten. Anschließend machten Louise und ich einen Bummel durch die Altstadt
hinunter zum arabischen Viertel, wo die meisten Touristengeschäfte sind. Es
war Freitag, der moslemische Sabbat, aber da wir keine Moslems waren,
glaubten wir nicht, daß das unsere Besichtigungs- und Einkaufspläne
irgendwie beeinträchtigen würde. Da es ein sehr heißer Tag im Mai war, trug
Louise bequeme Shorts. Als wir so durch die Straßen schlenderten, kam ein
Kaufmann aus seinem Laden und begann Louise als »westliches Schwein«,
»Hure« und »Gotteslästerin« zu beschimpfen. »Du Hexe, weißt du nicht, daß
dies ein heiliger Tag ist?« schrie er. »Du hast nicht das Recht, deine nackten
Beine zu zeigen!«
[144]
Ich erwähne diesen kulturellen Zusammenstoß, weil die Wirklichkeit des
Kaufmanns so aussah, daß eine Frau (die im Islam einen anderen sozialen
Status hat als in den meisten jüdisch-christlichen oder westlichen Kulturen) auf
schamlose Weise gegen das Gesetz verstieß. Louises Wirklichkeit sah so
aus, daß sie sich an einem heißen Tag in einem Touristenzentrum befand und
mit ihren Shorts nach westlichen Vorstellungen bequem und angemessen
gekleidet war, wofür sie nun angepöbelt wurde. Meine Wirklichkeit sagte mir,
daß dieser Mann schlechte Manieren hatte, meine Kultur und Religion, Frauen
im allgemeinen und ein anderes menschliches Wesen im besonderen nicht
respektierte, weil er uns anschrie, statt ruhig zu uns zu kommen und seinen
Einwand angemessen vorzutragen.
Wir alle waren im Recht.
Und so sieht sich nun die gesamte Menschheit einer verwirrenden Vielfalt
widersprüchlicher Realitäten gegenüber. Wie wir damit umgehen, entscheidet
über unser aller Zukunft. Überlegen Sie einmal, welche unterschiedlichen
Vorstellungen die Menschen vom Leben haben können:
»Wir brauchen Elektrizität, um uns wohl zu fühlen und unseren
Lebensstandard zu wahren«, oder:
»Unsere Kraftwerke pumpen Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die
Atmosphäre, was zu globaler Erwärmung und gefährlichen
[145]
Wetterextremen führt.«
»Die Möglichkeit, jederzeit kostengünstig überall hinfahren zu können,
bedeutet Freiheit«, oder:
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
95/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
»Die amerikanischen Fahrgewohnheiten fördern die Zerstörung des
Planeten.«
»Die gesamte Natur ist dazu da, die Bedürfnisse der Menschen zu
erfüllen«, oder:
»Menschen sind auf diesem Planeten nicht mehr und nicht weniger
wichtig als jede andere Lebensform.«
Diese Vorstellungen haben ihren Ursprung in den Geschichten – den Mythen
unserer Kultur, unseren Paradigmen, unseren Überzeugungen –, welche den
Kern dessen bilden, was wir als unsere »Wirklichkeit« betrachten.
Geschichten sind in diesem Zusammenhang alles, womit wir unsere direkte
Erfahrung anreichern und was dazu führt, daß sich unsere Wahrnehmung der
Wirklichkeit ändert oder daß wir anders darüber denken.
Da so vieles von dem, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, subjektiv ist, gibt
es kaum »richtige« oder »falsche«, sondern nur »nützliche« und »nutzlose«
Geschichten, je nachdem, welcher Kultur man angehört und welche Stellung
man darin einnimmt, je nachdem, welche Beziehung man zur Natur und welche
Vision man von der Zukunft hat.
Die Geschichten, die wir uns nun seit Jahrhunderten erzählen, gehören
mittlerweile zunehmend nicht mehr in die Kategorie der »nützlichen«, sondern
der »nutzlosen« Geschichten.
Ein Beispiel dafür ist die biblische Aufforderung, so viele Kinder wie möglich
zu bekommen. In den Tagen von Noah und Abraham war der Stamm mit der
größten Anzahl junger Männer, die ein Heer bilden konnten, gewöhnlich der
Stamm, der überlebte. »Seid fruchtbar und mehret euch« war eine Formel, die
das kulturelle Überleben sicherte, auch wenn die Sache fast immer damit
endete, daß es hieß: »Und wenn die Ressourcen und der Lebensraum knapp
werden, dann tötet eure Nachbarn und raubt ihr Eigentum.«[33]
[146]
Wir haben dies im Laufe der Jahre rationalisiert, indem wir sagen, daß dieser
erobernde und beherrschende Lebensstil uns so viele »gute Dinge« beschert
hat: das Fernsehen, die Mondlandungen, moderne Technik und den Sieg über
viele Krankheiten. Ich erinnere mich, daß, als ich in der High School war, ein
Vertreter der Army kam, um den Zehntklässlern die Streitkräfte schmackhaft
zu machen: »Die meisten wirklich wichtigen Fortschritte in unserer Zivilisation,
von der Entwicklung der Raketen bis zur Entdeckung neuer Antibiotika, sind
auf die Erfordernisse des Kriegs zurückzuführen«, sagte er und präsentierte
uns damit eine weitere Rationalisierung des periodisch auftretenden
Massenmordes an Menschen, die uns ein gutes Gefühl vermitteln sollte. Krieg
ist gut, lautete seine Botschaft: Er führt zum Fortschritt und verbessert den
Lebensstandard.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
96/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Früher, als nur ein paar Millionen Menschen auf unserem Planeten lebten,
konnte man sich vielleicht noch Situationen vorstellen, in denen große
Familien, ein hohes Bevölkerungswachstum und die Eroberung benachbarter
(oder ferner) Länder vorteilhaft waren. Ein solches Verhalten mochte
moralisch fragwürdig sein, wurde jedoch durch die Normen einer Kultur
gedeckt, deren hauptsächliches Ziel Überleben und Wachstum war. Heute
jedoch gefährden solche Geschichten genau jene Kultur, aus der sie
hervorgegangen sind.
Die alten Griechen veränderten die Welt und errichteten die Fundamente der
westlichen Zivilisation auf der Idee, daß man Demokratie und Sklaverei
miteinander vereinbaren könne. Wann immer sich davor oder seitdem eine
Kultur zum Besseren oder zum Schlechteren verändert hat, war die Ursache
dafür eine Idee, eine Erkenntnis, ein neues Verständnis davon, wie die Dinge
sind und was möglich ist. Ideen waren die Vorläufer jeder Revolution, jedes
Kriegs, jeder Veränderung und jeder Erfindung.
[147]
Folglich besteht die gute Nachricht darin, daß wir unsere kulturellen Normen
neu definieren, die Geschichten, die über unsere Wahrnehmung der Realität
entscheiden, neu erzählen können, um auf diese Weise dafür zu sorgen, daß
sich das Verhalten der Menschen ändert und sich diesen neuen Geschichten
anpaßt.
Doch zunächst müssen wir die Geschichten der Gegenwart und der
Vergangenheit verstehen, um dann für die Zukunft andere Geschichten zu
entwickeln, die die erwünschte Wirkung haben können.
[148]
Die Kontroll-Drogen der jüngeren Kultur
Es sind nicht Heroin oder Kok ain, die einen
Menschen süchtig machen, es ist das
Bedürfnis, der harten Realität zu entfliehen.
Es
gibt
in
diesem
Land
mehr
Fernsehsüchtige,
mehr
Baseballund
Footballsüchtige, mehr Filmsüchtige und mit
Sicherheit
mehr
Alk oholik er
als
Drogensüchtige.
Shirley Chisholm (geb. 1924)
Als eine Folge des Kriegs haben nun die
Konzerne das Zepter übernommen, und eine
Ära der Korruption in leitenden Positionen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
97/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
bricht an … bis der gesamte Reichtum in
wenigen Händen k onzentriert und die Republik
zerstört sein wird.
Abraham Lincoln
Politiker und Schriftsteller nennen unsere Zeit oft das Informationszeitalter.
Der heutige Durchschnittsmensch, so sagen sie, weiß mehr als irgend jemand
zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit. Durch das Internet, CD-RomEnzyklopädien und eine Vielzahl von Fernsehkanälen, so heißt es, hätten
selbst die meisten Normalbürger augenblicklich Zugang zu dem gesamten
Wissen unseres Planeten. Einfach wunderbar, und wir sind phantastisch gut
informiert.
Aber stimmt das wirklich?
Wenn wir tatsächlich so gut informiert sind, warum können dann die meisten
Amerikaner nicht einmal simple Fragen zur Weltgeschichte beantworten? Wie
viele unserer Kinder haben auch nur ein einziges Stück von Shakespeare
vollständig gelesen? Und wie viele Menschen wissen beispielsweise über den
Ursprung und die Bedeutung der Kriege in Bosnien und im Kongo mehr als in
den Fünfzehn-Sekunden-Häppchen der Abendnachrichten serviert wird? Oder
daß die Regierung der Vereinigten Staaten auch heute noch in Nevada,
Minnesota, Wyoming, Arizona, New Mexico, Alaska und einem Dutzend
anderer Staaten Land stiehlt, das den Indianern gehört.
[149]
Ja, das Internet ist eine beachtliche Informationsquelle. (Ich benutze es selbst
für Recherchen und habe eine Web-Seite für meine Bücher.) Aber die Leute,
die beruflich damit zu tun haben, sagen einem, daß die Mehrzahl der
profitablen und häufig benutzten Internetseiten jene sind, die Sex oder
pornografische Fotos anbieten. Alle Unternehmen, die »Suchmaschinen«
betreiben, berichten, das am häufigsten benutzte »Suchwort« sei »Sex«,
gefolgt von anderen Worten, die Nacktheit oder verschiedene Sexualakte
bezeichnen. Danach kommen die Sport- und Unterhaltungs-»Kanäle« sowie
interaktive »Seifenopern« und Clips von den neuesten Filmen und
Fernsehshows. Es ist schlicht eine Tatsache, daß das Internet keinen großen
Einfluß darauf hat, wie gut die Amerikaner informiert sind.
Und was ist mit dem Fernsehen? Wenn ich gelegentlich in Vorträgen sage,
daß wir seit einigen Jahren in unserem Haus keinen Fernseher mehr
angeschlossen haben – nicht wegen der Inhalte der Sendungen, sondern weil
das Medium als solches dazu führen kann, daß die Aufmerksamkeitsphasen
der Kinder kürzer werden und an Intensität verlieren –, erklären mir die Zuhörer
lang und breit, wieviel sie beispielsweise durch Naturdokumentationen im
Fernsehen gelernt haben.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
98/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Ich bestreite nicht, daß es im Fernsehen einige interessante und informative
Sendungen gibt. Aber ihre Zahl ist sehr gering, und die meisten Informationen
kann man in Büchern nachlesen – doch neuere Untersuchungen zeigen, daß
nur eine kleine Minderheit der Amerikaner im vorangegangenen Monat ein
Buch gelesen hat. Als der frühere FCC-Beauftragte Newton Minnow das
Fernsehen als eine »weite Wüste« bezeichnete, hat er noch weit untertrieben.
Auf der Jagd nach Werbeeinnahmen, die von den Einschaltquoten abhängig
sind, setzen die Programmgestalter immer mehr auf Unterhaltung und
verzichten zunehmend auf Information (auch in den »Nachrichtensendungen«).
Und sogar die »Information« im Fernsehen soll oft nur einem besonderen
Unternehmensinteresse dienen.[34]
[150]
Es mag sein, daß wir in gewissem Sinne in einem »Informationszeitalter« mit
einem »Informationsüberschuß« leben. Aber wenn es darum geht, was
wirklich in den Köpfen der Menschen ankommt, dann ist unser Zeitalter durch
einen »Mangel an Wissen« gekennzeichnet.
Die Menschen verfügen nicht mehr über so lebenswichtige Informationen, wie
etwa, was sie tun müssen, um ihre eigene Nahrung anzubauen, wie man
trinkbares Wasser findet, was in ihrer Nahrung enthalten ist, wie man eine
Feuerstelle baut und sich warm hält, wie man in der Natur überlebt, was die
Himmelszeichen bedeuten und wie man sie liest, wann die
Wachstumsperioden beginnen und enden, welche Pflanzen im Wald und auf
den Feldern eßbar sind, wie man Wild aufspürt, erlegt, würzt, ißt und haltbar
macht, wie man ohne (oder auch mit) Chemikalien und Traktoren den Acker
bestellt, wie man Knochenbrüche und andere häufig vorkommende
medizinische Notfälle behandelt oder einem Baby auf die Welt hilft.
Durch dieses »Informationsdefizit« haben wir alle den Kontakt zur Wirklichkeit
verloren und stehen am gefährlichen Rand einer ölabhängigen, von Konzernen
herbeigeführten
Informations-Hungersnot.
Während
der
großen
Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren lebten weit mehr Menschen auf
dem Land als in den Städten. Das Wissen darüber, wie man Nahrung anbaut
und haltbar macht, in schweren Zeiten überlebt und mit wenig auskommt, war
noch weit verbreitet. Heute kennen wir die Namen der neuesten Filmstars und
wissen, wieviel ihre Filme eingespielt haben oder wo der Dow-Jones-Indes
gerade steht, aber nur wenige von uns könnten zwei Monate überleben, wenn
die Supermärkte plötzlich schließen würden.
[151]
Außerdem sind nach Angaben der Barbara Bush Foundation for Family
Literacy volle 27 Prozent aller erwachsenen Amerikaner »funktionale
Analphabeten«, wogegen weniger als ein Prozent aller amerikanischen
Hausbesitzer kein Fernsehgerät haben.
Das verschafft all jenen enorme Vorteile, die davon profitieren, daß wir von
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
99/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
ihren Systemen und Informationen, ihrem Öl und ihren Nahrungsmitteln
abhängig sind. Es ist sehr einfach geworden, uns zu beherrschen und zu
kontrollieren. Wir wählen jeden, der den besten Zehn-Sekunden-Spot in den
Abendnachrichten hat oder die wirksamste und teuerste Werbung ausstrahlt.
Unternehmen, die giftige oder krebserregende Chemikalien verkaufen oder
Produkte herstellen, bei deren Erzeugung jene als Abfallstoffe anfallen, können
Nachrichten so effektiv lancieren oder unterdrücken, daß die meisten Bürger
von Vermont beispielsweise nicht wissen, daß fast 50 000 Pfund einer
Chemikalie, die in Deutschland, Italien, den Niederlanden, Schweden,
Österreich und anderen Ländern verboten ist, jedes Jahr auf ihren Futtermais
gesprüht werden.[35] Wissenschaftliche Studien haben diese Chemikalie mit
Brustkrebs, Leukämie, Lymphomen, angeborenen Mißbildungen und Tumoren
der Fortpflanzungsorgane in Verbindung gebracht. An dem Tag, an dem die
Umweltgruppe Food & Water[36] diese Geschichte in einer Anzeige
veröffentlichte, wurde in einem anderen Teil derselben Zeitung erwähnt, daß
Wissenschaftler zahlreiche Berichte über mißgebildete Frösche an den
Seeufern von Vermont erhalten hatten. Zu den angeborenen Defekten
gehörten »fehlende oder deformierte Gliedmaßen«, »Frösche, deren Augen
auf dem Rücken saßen« und »Finger mit Saugnäpfen, die an den Seiten des
Rumpfes wuchsen«.
[152]
Doch trotz aller Aktivitäten von Umweltgruppen, die versuchen, solche
Nachrichten zu verbreiten, sieht es so aus, als würden wir einfach schlafen und
nichts davon merken. Aber ich vermute, wir schlafen gar nicht; man kann auch
wach sein und trotzdem nicht wahrnehmen, was um einen herum vorgeht.
Wir schlafen nicht nur: Wir befinden uns
im Drogenrausch
Als Teenager, der in den sechziger Jahren in College-Städten und in San
Francisco aufwuchs, lernte ich mehrere Drogensüchtige kennen. Es waren im
großen und ganzen nette Leute – nicht die Stereotypen, die wir aus dem
Fernsehen und der Literatur kennen, sondern relativ normale
Mittelklassekinder, die sich bis über beide Ohren auf eine Droge eingelassen
hatten, die stärker war, als sie erwartet oder geglaubt hatten. Als ich älter
wurde, lernte ich auch eine Reihe von Alkoholikern kennen. Ähnlich wie die
Junkies waren die meisten von ihnen keine schlechten Menschen, sondern
wurden von einer Droge beherrscht, die ihr Leben aufzehrte. Ich habe im Laufe
der Jahre auch viele Raucher getroffen, die meisten ebenfalls mit besten
Absichten, die immer dachten, sie könnten eines Tages einfach nein sagen,
und dann entdeckten, wie unglaublich schwer das war.
Bei all diesen Süchtigen ist mir aufgefallen, daß die Versorgung mit der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
100/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
jeweiligen Droge zur wichtigsten Sache in ihrem Leben geworden war. Es war
der Mittelpunkt ihres Daseins. Wenn sie morgens aufwachten, galt ihr erster
Gedanke dem Tagesbedarf ihrer jeweiligen Droge. Der Tag war durchtränkt
von dieser Droge, und sie gingen mit ihrer Droge schlafen.
[153]
Außerdem kann man feststellen, daß Drogensüchtige auch Dinge, die ihnen
eigentlich wichtig sind, ihrer Sucht opfern. Vielleicht haben sie große Pläne im
Hinblick auf Karriere, Ausbildung oder Partnerschaft, aber irgendwie wird
alles dem Genuß der Droge untergeordnet. Selbst wenn die Droge schon
längst nicht mehr »high« macht, sondern nur noch die schmerzhaften
Entzugserscheinungen verhindert, sind die Betroffenen jeden Tag über viele
Stunden mit ihr beschäftigt.
Es ist keineswegs klar, ob das aus der Sicht der Herrschenden in unserer
Kultur historisch negativ bewertet wurde – es gibt sogar durchaus Hinweise,
daß die Regierenden in jüngeren Kulturen es für wünschenswert hielten, wenn
die Leute süchtig wurden.
Denken Sie beispielsweise daran, daß die amerikanische Regierung
weiterhin Subventionen (ein netter Euphemismus für Geschenke oder
Zuwendungen aus Steuergeldern) in Milliardenhöhe an Tabakproduzenten
zahlt. In etwas fernerer Vergangenheit, dreißig Jahre nachdem sie den
amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verloren hatten, führten die Briten einen
Krieg mit China um ihr »Recht«, weiterhin Opium an die mehr als zwölf
Millionen Menschen verkaufen zu können, die sie in China süchtig gemacht
hatten. Sie gewannen den Krieg, annektierten Hongkong als Teil ihrer Beute,
und das Empire verdiente Milliarden am Opiumhandel und an den
Opiumsteuern. Viele Historiker glauben, daß die Briten den Opiumkrieg vor
allem deshalb gewonnen haben, weil so viele Mitglieder der chinesischen
Kaiserfamilie und der Bürokratie selbst opiumsüchtig waren. Das verringerte
ihre Effizienz als militärische Gegner und schmälerte auch die Begeisterung
dafür, die Briten – und ihr Opium – zu vertreiben.
In auf Herrschaft ausgerichteten jüngeren Kulturen besteht das oberste Ziel der
Kultur als solcher, an dem Regierungen und Kirchen ihr Handeln ausrichten,
darin, die Bürger zur Anpassung zu bewegen. Wir haben bereits festgestellt,
was mit Menschen geschieht, die sich nicht »anpassen« wollen: Sie werden
ausgelöscht. Dieses Schicksal haben viele Naturvölker erlitten; das Ergebnis
ist, daß die Überlebenden in eroberten Ländern zur Fügsamkeit tendieren.
(Wenn das für Sie so klingt, als würden die Eroberer die Besiegten wie Tiere
behandeln, die gezähmt werden müssen, dann haben Sie genau verstanden,
was ich ausdrücken wollte.) Wie jeder Heroindealer, Zigarettenverkäufer und
Spirituosenhändler weiß, machen Menschen, die für ihr Wohlbefinden auf ihre
tägliche Dosis des jeweiligen Suchtmittels angewiesen sind, wenig Ärger.
(Sie machen vielleicht anderen Leuten Schwierigkeiten, aber ihre Händler
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[154]
101/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
lassen sie gewöhnlich in Ruhe.)
Auf ähnliche Weise hat auch unsere technologische Kultur eine
technologische Droge gefunden, mit der sie die Menschen fügsam macht. Ein
Maßstab für das Suchtpotential einer Droge ist der Prozentsatz von
Menschen, die jederzeit frei entscheiden können, ob sie sie nehmen wollen
oder nicht. Diese Leute nennt man in Amerika »Chippies«, gelegentliche
Drogennutzer, die aber auch ohne Probleme oder Entzugssymptome monateoder jahrelang darauf verzichten können. Untersuchungen, über die Science
News berichtet hat, sind zu dem Ergebnis gekommen, daß ziemlich viele
Leute jederzeit vorübergehend auf Marihuana verzichten können, ein mittlerer
Prozentsatz auf Alkohol, Kokain und sogar Heroin, aber nur sehr wenige
(weniger als fünf Prozent) auf Tabak. Nun stellen Sie sich eine »Droge« vor,
auf die nicht einmal fünf Prozent der Amerikaner einen Monat lang verzichten
können, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Definitionsgemäß hätte eine solche
Droge das höchste Suchtpotential, das es überhaupt geben kann.
Abgesehen davon, daß sie die Leute vom vorübergehenden Verzicht abhält,
hätte diese Droge auch noch einen stabilisierenden Einfluß auf die
Stimmungslage. Sie würde die Menschen in einen solchen Geisteszustand
versetzen, daß sie die Langeweile, den Schmerz und die Eintönigkeit des
täglichen Lebens hinter sich lassen könnten. Sie würde ihre Gehirnwellen und
ihre Neurochemie verändern und ihnen ständig versichern, daß ihre
Abhängigkeit keine Sucht, sondern lediglich eine Vorliebe ist. Wie ein
Alkoholiker, der behauptet, nur in Gesellschaft zu trinken, würden diese
Drogenabhängigen öffentlich erklären, sie könnten auch ohne ihr Suchtmittel
auskommen. In Wirklichkeit würden sie aber nicht einmal daran denken, über
Tage, Wochen oder sogar Jahre darauf zu verzichten.
[155]
Eine solche »Droge« gibt es bereits.
Sie wirkt stärker sedierend als Opium, bestimmt unser Verhalten und unsere
Erwartungen weit effektiver als Alkohol und wird täglich länger konsumiert als
Tabak: Die eindringlichste und heimtückischste Droge unserer Kultur ist das
Fernsehen.
Viele Drogen sind letztendlich das konzentrierte Destillat einer natürlichen
Substanz: Penizillin wird aus Schimmelpilzen gewonnen, Opium aus
Mohnpflanzen. Auf ähnliche Weise ist das Fernsehen ein destillierter Extrakt –
hochkonzentriert wie die meisten unserer starken Drogen – des »wirklichen«
Lebens.
Die Menschen verbringen große Teile ihres Lebens damit, in diese
Flimmerkiste zu starren – jeden Tag mehrere Stunden lang. Sie beziehen den
größten Teil ihrer Informationen über die Welt aus dieser Kiste, lassen sich
von ihr sagen, wie sich die Politiker verhalten und was wirklich ist, obwohl der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
102/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Inhalt dieser Kiste von ein paar Konzernen kontrolliert wird, deren Mehrzahl
auch im Waffengeschäft sowie im Tabak- und Alkoholhandel mitmischt.[37]
Amerikanische Bürger stehen morgens mit dieser Droge auf, konsumieren im
Laufe des Tages so viel wie möglich davon und gehen abends wieder mit ihr
zu Bett. Viele können nicht einmal während der Mahlzeiten darauf verzichten.
Was die meisten Leute heutzutage in ihrem Leben bereuen, sind nicht die
Dinge, die sie getan haben, sondern die Dinge, die sie nicht getan haben, die
Ziele, die sie nie erreicht haben, beispielsweise nicht der Partner oder
Freund, der Vater oder die Mutter gewesen zu sein, die sie gerne gewesen
wären. Aber unsere Kultur hält uns dazu an, (mindestens) mehrere Dutzend
Stunden pro Woche vor einer flimmernden Kiste zu sitzen, Hunderte oder
Tausende Stunden pro Jahr, und dabei wie aus weiter Ferne zuzuschauen,
wie unsere Lebenszeit uns wie Sand durch die Hände rinnt.
[156]
Die Krankheit eines »Lebens in der Kiste«
Psychologen sind übereinstimmend der Ansicht, daß es unserer geistigen
Gesundheit und unserem Wohlbefinden generell schadet, wenn wir von
anderen Menschen getrennt sind. Um uns wohl zu fühlen, brauchen wir die
Verbindung zu anderen.
Meine Frau und ich leben mit einer Katze namens Flicker zusammen, einem
wunderschönen, sterilisierten, schwarzen Weibchen mit einer dicken grauen
Mähne, die sie wie ein kleiner Löwe aussehen läßt. Flicker ist verrückt. Die
Leute, von denen wir sie bekommen haben, erzählten uns, Flicker sei davon
überzeugt, daß jeder Mensch auf der Welt darauf aus sei, sie zu töten, und
inzwischen haben wir selbst festgestellt, daß dies offenbar zutrifft. Sie ist ein
»Angsthase« und im klinischen Sinne paranoid.
Gestern traf ich Flicker zufällig in der Diele, als ich durch die Küche ins
Wohnzimmer gehen wollte. Sie sah mich mit vor Angst hervorquellenden
Augen an, wirbelte herum und rannte auf die Küche zu. Da ich in dieselbe
Richtung wollte, ging ich weiter. Nun war sie überzeugt, daß ich hinter ihr her
war. In der Küche machte sie eine kurze Pause, aber ich kam näher, weil der
Weg ins Wohnzimmer durch die Küche führt. Sie sah sich mit einem
panischen Blick um und lief dann auf das Wohnzimmer zu: Ich war immer noch
hinter ihr her. Ich versuchte, sie durch sanfte, schnurrende Geräusche zu
beruhigen und rief ihren Namen, aber bei dieser paranoiden Katze hilft nichts:
Sie wußte, daß ich kam, um ihr weh zu tun. Im Wohnzimmer begegnete ich ihr
erneut, was dazu führte, daß sie hoch in die Luft sprang und dann hinausrannte
in die zweite Diele, die zur Haustür führt.
[157]
Flicker lebt in einer feindseligen Welt voll böswilliger Riesen. In den paar
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
103/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Monaten, seit sie bei uns ist, ist es uns nur hin und wieder gelungen, ihr näher
zu kommen, aber sie hat immer diesen verrückten Ausdruck, diese latente
Überzeugung, daß sie nur sich selbst trauen kann.
Vor einigen Wochen war ich Gast in einer überregionalen Radiosendung, wo
ich über einige Themen sprach, die in diesem Buch behandelt werden, und
ein Mann aus Kansas rief im Studio an.
»Wollen Sie etwa sagen«, fragte er, »daß Pflanzen und Tiere auf diesem
Planeten ein Recht auf Leben haben?«
»Ja«, antwortete ich, »genau das will ich sagen.«
»Wissen Sie«, fragte er weiter, »daß das die Position der radikalen
Umweltschützer ist – der Leute, die um jeden Baum kämpfen?«
»Ja, das habe ich gehört«, gab ich zurück. »Und was ist Ihre Position?«
»Daß wir die Dinge bewerten müssen, nach wissenschaftlichen und
ökonomischen Kriterien. Einige Wälder sind schützenswert und andere nicht.
Einige Arten sollten erhalten werden, beispielsweise Kühe und Hunde und
Rehe, die können gemeinsam mit uns weiterleben, aber andere nicht, und
über die sollten wir uns auch keine Gedanken machen.«
»Und wo wollen Sie die Grenze ziehen?« fragte ich. »Woher wissen Sie,
welche Art wir erhalten und welche wir auslöschen sollten, um mehr Raum für
die Arten zu schaffen, die wir erhalten wollen, oder für mehr Menschen?«
»Wir sollten diejenigen erhalten, die nützlich sind!« erklärte er mit großer
Selbstverständlichkeit. »Wer braucht denn um Gottes Willen einen
Fleckenkauz oder einen Schlangenhalsvogel. Wir brauchen Jobs,
ökonomische Sicherheit, saubere Straßen und sichere Städte. Das sind die
wichtigen Dinge.«
[158]
Ich versuchte ihm klarzumachen, daß, selbst wenn seine Annahme (daß die
Welt nur für die Menschen da sei) richtig wäre, solche massiven Eingriffe wie
das Auslöschen Hunderttausender von Arten und die Veränderung der
Atmosphärenchemie gleichwohl unerwünschte Folgen haben könnten, die
letzten Endes dazu führen würden, daß der Planet auch für unsere
»Herrenrasse« ein ungastlicher Platz wäre. Und in der Tat finden sich in
diesem Buch und vielen anderen zahlreiche Hinweise darauf, daß genau dies
geschieht.
Wenn wir nicht mehr von unserer eigenen Vormachtstellung ausgehen,
sondern uns statt dessen dem Weltbild der älteren Kulturen anschließen
würden, daß alle Wesen einen Wert und ein geheiligtes Lebensrecht auf
diesem Planeten haben, dann wären die Risiken, daß wir unseren Planeten
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
104/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
ungewollt vernichten, wesentlich geringer.
Wie Flicker sieht der Mann, der während dieser Radiosendung im Studio
anrief, nur eine Welt. Seine Welt ist ein Ort, den strahlende, farbenprächtige
und »wirkliche« menschliche Wesen bevölkern, und jedes andere Lebewesen
verblaßt dahinter. Jedes »Ding« ist hier, um uns zu dienen, und wir besitzen
das Wissen und die Macht über Leben und Tod. Wenn es uns einen Vorteil
bringt, die Erde von allem Leben bis auf eine einzige Art von Bäumen,
Getreide, Gemüse und Fisch zu »befreien«, dann bitte. Wir haben
beschlossen, daß das richtig ist, weil wir die Welt so wahrnehmen und
verstehen, wie sie wirklich ist. Und für diejenigen, die sich dagegen sperren,
haben wir ein paar Worte verschiedener Götter zum Beweis, überliefert von
Menschen, die sich für unfehlbar halten.
Das ist die Logik von Geisteskranken.
So wie Flicker überzeugt ist, daß sie die Welt durchschaut hat und daß mein
Weg vom Schlafzimmer zum Wohnzimmer – ganz gleich, welche Motive ich
selbst dabei zu haben glaube – der Beweis für die bösen Absichten aller
Menschen ist, lebt dieser Anrufer in der Überzeugung, daß alles, was er in der
Welt wahrnimmt, nur für ihn da ist. Wenn ich ihm versichere, daß alle Wesen
ihr eigenes Recht auf Leben haben, dann beteilige ich mich an einer
Verschwörung, die ihn seines Eigentums berauben will. Paranoiker
konstruieren sich eine bis ins kleinste Detail wohlorganisierte Welt, in der alles
einen Sinn hat und die eigene Wahrnehmung bestätigt. Der Mann dort an der
Ecke, der Sie ansieht, ist ein CIA-Spion, der den Auftrag hat, Ihnen einen
Sender ins Gehirn zu setzen. Er sieht weg, damit Sie nicht merken, daß er ein
Spion ist. Er hat Ihnen nicht deshalb einen flüchtigen Blick zugeworfen, weil
Sie ihn angestarrt haben, sondern weil er sich fragt, ob Sie schon
herausgefunden haben, daß er für den Sender verantwortlich ist. Er steigt nicht
in den Bus, um zur Arbeit zu fahren, sondern um Ihnen zu folgen. Und so weiter
und so weiter.
[159]
Ganz gleich, welches Weltbild wir haben, wir sammeln immer Hinweise
darauf, daß es stimmt. Flicker glaubt, daß die Leute hinter ihr her sind, und
findet überall Anzeichen dafür. Wenn Sie nun glauben, daß alles auf der Welt
nur existiert, damit Sie es zu Ihrem Vorteil ausbeuten können, dann werden
auch Sie überall Anzeichen dafür finden.
Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse und der Mann, bei dem viele
heute nach Definitionen dessen suchen, was geistige »Kranhkeit« oder
»Gesundheit« bedeutet, hat diesbezüglich einige Jahre vor seinem Tod
verschiedene interessante Beobachtungen gemacht. Er war zu der
Überzeugung gelangt, daß das, was unsere Zivilisation als ein »gesundes
Ego« bezeichnet, in Wirklichkeit ein »geschrumpfter Rest« dessen ist, was wir
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
105/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
früher im Leben waren, als das Ego noch eine »sehr viel umfassendere« und
»engere Bindung« an seine Umgebung erfuhr.[38] Viele Psychologen
behaupten, eine Folge dieses »Schrumpfungsprozesses« bestehe darin, daß
Selbstmord nach Angaben der National Institutes of Mental Health die
dritthäufigste Todesursache bei jungen Amerikanern zwischen 15 und 27
Jahren ist.
[160]
Dieses Schrumpfen in die Getrenntheit, dieses Zerbrechen der engen
Verbindung mit der Welt um uns herum, dieses Aufspalten in isolierte
»Kisten« war während der ersten mehr als hunderttausend Jahre der
menschlichen Geschichte weitgehend unbekannt. Es ist auch heute noch bei
den Stammesgesellschaften in aller Welt fast unbekannt, deren
Selbstmordrate, sofern sie wenig Kontakt mit Menschen aus jüngeren Kulturen
haben, so niedrig liegt, daß man sie oft kaum messen kann.
Professor Theodore Roszak von der University of California in Hayward hat
die Beziehung zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umgebung untersucht
und verwendet zur Definition dieser Beziehung den Ausdruck Ökopsychologie.
[39] Roszak stellt wortgewandt dar, wie der Mangel an physischer, mentaler
und spiritueller Verbundenheit bei modernen Menschen für den gesamten
Bereich individueller und kollektiver Geisteskrankheiten verantwortlich sein
und eine erneute Verbindung mit der Natur für den einzelnen Menschen und
die Gesellschaft insgesamt zu einem mächtigen therapeutischen Prozeß
werden könnte.
Doch dieser Mangel an Verbundenheit mit der Natur war die zentrale
Erfahrung der »zivilisierten« Menschen, seit vor etwa siebentausend Jahren
die erste derartige »Zivilisation« entstand. Aristoteles feierte sie in seinen
Schriften, in denen er ausführte, das Universum und die Natur seien lediglich
Ansammlungen einfacher Teilchen (Atome), die die Menschen manipulieren
könnten, wenn sie sie erst einmal verstanden hätten. Descartes verfeinerte die
Argumentation durch seine Behauptung, das gesamte Universum sei eine
riesige Maschine, und diese maschinenartige Natur finde ihren Widerhall bis
hinunter in die kleinsten Teilchen. Wenn wir nur herausfinden könnten, wo die
Hebel und Schalter seien, dann könnten wir auch stets einen Weg finden, die
Maschine zu kontrollieren. Wir zogen uns aus der natürlichen Welt zurück und
schufen in unseren Städten eine künstliche Welt, die sich stark von unserer
ursprünglichen Umgebung unterscheidet. Im Laufe der Zeit überzeugten wir
uns selbst davon, daß mit dem Rest des Planeten einiges in Ordnung und
einiges nicht in Ordnung sei, und machten uns daran, die »äußere« Welt so zu
gestalten, daß sie unseren »inneren« Bedürfnissen entsprach.
[161]
Wir stellten unseren Planeten in die Mitte des Universums und uns selbst an
die Spitze der Hierarchie unserer Welt. Die Religionen und Philosophien
unserer jüngeren Kultur proklamierten explizit und implizit, die gesamte
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
106/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Schöpfung sei nur für den Menschen da. Galilei verstieg sich sogar zu der
Behauptung, die Welt würde aufhören zu existieren, wenn es keine Menschen
mehr gäbe, welche sie beobachteten. Als man schließlich akzeptierte, daß
unser Planet nicht der Mittelpunkt der Schöpfung war, änderten wir lediglich
unsere Ausdrucksweise, um sie einem im Kern unveränderten Weltbild
anzupassen: Heute geht fast jeder »religiöse« Bürger jeder »zivilisierten
Gesellschaft« davon aus, daß wir das spirituelle Zentrum des Universums
sind.
Auf dem Hintergrund dieser Geschichte und dieser Weltsicht – daß unsere
von Menschen erbauten Städte zivilisiert sind, während die Natur wild ist und
die Menschen, die dort leben, primitiv und unzivilisiert oder Wilde sind –
haben wir eine Psychologie entwickelt, die nur uns selbst und unsere eigene
Kultur anerkennt und preist und die jeglichen Kontakt mit der wirklichen
materiellen Welt und ihren außerordentlichen Kräften und Mysterien verloren
hat.
Als die frühen europäisch-amerikanischen Siedler in die Prärie
ausschwärmten und jeden Büffel erschossen, der ihnen begegnete,
beobachteten die amerikanischen Ureinwohner schockiert und entsetzt dieses
Verhalten, das ihnen wie der sinnlose Amoklauf von Geisteskranken erschien.
Wie konnten die Siedler das Leben in den Plains einfach auslöschen? Wie
konnten sie das Fleisch von Mutter Erde in Parzellen aufteilen? Wie konnten
sie so verrückt sein, jeden Baum in ihrer Nähe zu fällen?
[162]
Die Siedler ihrerseits hielten die »Indianer« für verrückt, weil sie nicht so viele
Büffel wie möglich töteten. Wie konnten sie zehntausend Jahre lang darauf
verzichten, diese wertvolle Quelle vollständig auszubeuten? Sie mußten Wilde
sein, unzivilisierte Halbmenschen, die nicht genug Verstand hatten, um die
Schätze der Natur im Interesse der menschlichen Rasse richtig zu nutzen.
Eine Zeitlang funktionierte die Sache für die »amerikanischen« Eroberer.
Genau wie Gilgamesch die Libanonzedern abholzen konnte, genau wie die
Griechen ihre Wälder zerstören konnten, genau wie die Amerikaner zulassen
konnten, daß die Hälfte des Mutterbodens von ihrem Land weggeschwemmt
wurde, funktionierte die rasche Ausbeutung »dort draußen«, um unsere
Bedürfnisse »hier drinnen« zu befriedigen, für mehr als nur ein paar
Generationen.
Doch damit ist es jetzt vorbei, wie wir am »Frühwarnsystem« der Dritten Welt
erkennen. Wie bei einem Unternehmen, das sein Startkapital verzehrt, hat
unser Raubbau an der Umwelt gut funktioniert, bis nichts mehr da war.
In den amerikanischen Stadtzentren, wo die Leute Angst haben, mit
unverriegelten Türen oder geöffneten Fenstern Auto zu fahren, auf unseren
Farmen, wo Dioxin oder PCB-haltige Abfälle als Dünger über die Pflanzen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
107/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
ausgestreut werden, in unseren Krankenhäusern, wo ein ursprüngliches
Abfallprodukt, das bei der Produktion von Kernwaffen anfällt (Yttrium), als
experimentelle Therapie zur Behandlung von Krebs (der zu einem großen Teil
auf die Luft, die Nahrung und die Medikamente und Drogen unserer Kultur
zurückzuführen ist) erprobt wird – dort überall sehen wir, daß die Welt, die wir
geschaffen haben, nur für sehr wenige Menschen funktioniert. Es entspricht
dem Wesen von hierarchisch aufgebauten Herrschaftssystemen, stets auf
diese Weise zu Ende zu gehen.
[163]
Andere Kulturen sind älter, weil sie seit Zehntausenden von Jahren überlebt
haben. Im Vergleich dazu sind jüngere Kulturen immer noch ein Experiment,
und jedesmal wenn es unternommen wurde (Mesopotamien, Rom,
Griechenland), endete es trotz aller Größe in einer Selbstzerstörung, während
Stammesgesellschaften Jahrtausende überleben.
Jüngere Kulturen basieren auf einer Grundlage, die psychologisch und
spirituell krank ist: Freuds »geschrumpfter Rest« der echten und historischen
Schönheit des menschlichen Lebens in enger Verbindung mit der Natur. Wir
leben zunehmend in der Isolation, in »Kisten« – und wir leiden darunter.
Wie es sich anfühlt, wieder mit der Welt in
Berührung zu kommen
Es ist möglich, aus der Kiste herauszusteigen und wieder Kontakt mit der Welt
aufzunehmen.
Während der letzten fünfundzwanzig Jahre habe ich an mehreren Kursen über
eßbare Wildpflanzen oder Heilpflanzen teilgenommen. Gewöhnlich gehörten
dazu ein oder mehrere Ausflüge in Wald und Feld, um die entsprechenden
Pflanzen zu suchen. Eine der Kursleiterinnen trug ein kleines Fläschchen mit
Maiskörnern bei sich. Sie sagte: »Wenn ich eine Pflanze aus der Erde
herausziehe oder ein Blatt abschneide, dann lege ich ein paar Maiskörner auf
die Erde, um damit den Pflanzengeistern zu danken und ihnen ein Opfer
darzubringen, weil sie uns einen Teil ihrer selbst geben.«
In seinem Buch Der Ursprung des Bewußtseins[40] stellt Julian Jaynes,
Professor für Psychologie an der Columbia University, die These auf, daß die
Menschen in prähistorischen Zeiten (vor über sieben- bis zehntausend Jahren)
tatsächlich die Stimmen der verschiedenen Götter hörten. Wenn sie in die
Natur hinausblickten und beobachteten, dann sahen sie Feen, Kobolde,
Geister und andere Wesenheiten.
[164]
Das war möglich, so meint Jaynes, weil bei diesen Menschen die beiden
Hälften des Gehirns besser miteinander verbunden waren, so daß die für das
Hören zuständige Region der linken Hirnhälfte eine direkte Verbindung zu den
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
108/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
halluzinatorischen Regionen der rechten Hirnhälfte (Wernicke- und BrocaZonen) hatte, die bei uns heutigen Menschen normalerweise nur noch aktiv
sind, wenn wir träumen oder unter Schizophrenie leiden. Wegen dieser
direkten Verbindung nimmt Jaynes an, daß das, was wir heute als
Halluzinationen bezeichnen, bei unseren Vorfahren vielleicht eine
weitverbreitete Alltagserfahrung war.
Es sei der Aufstieg des mesopotamischen Stadt-Staat-Reiches gewesen, so
die These von Jaynes, und die dortige Verwendung der Schrift, die zum
Zusammenbruch dieser Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften geführt
habe, mit der Folge, daß wir alle – außer ein paar Mystikern oder
Schizophrenen – während des normalen Wachbewußtseins keinen Kontakt
mehr zu unserer rechten Hirnhälfte haben.
Jaynes Argumente sind überzeugend, besonders dort, wo er sich auf
historische
Aufzeichnungen
und
moderne
neurologische
Forschungsergebnisse bezieht. Wenn seine Sicht der Dinge zutreffend ist,
dann müßten wir davon ausgehen, daß Leute, die heutzutage genauso leben,
wie es alle Menschen vor zehntausend Jahren taten, sich in einer Welt
lebendiger Geister, Energien und Stimmen befinden. Wenn sie nun aus dieser
Welt entfernt würden, »zivilisiert« würden, indem sie Lesen und Schreiben
lernen, dann würden sie alsbald (innerhalb einer Generation, vielleicht
innerhalb der Lebenszeit eines Menschen) den Kontakt zu jener anderen Welt
verlieren.[41]
[165]
Eine andere Sicht vertritt Terence McKenna in seinem Buch Die Speisen der
Götter.[42] McKenna glaubt, daß die Verbindung der beiden Gehirnhälften in
alten wie in modernen Kulturen durch die Einnahme bestimmter
Pflanzensubstanzen herbeigeführt wird. Halluzinogene Pflanzen, so McKenna,
werden in zahlreichen Kulturen benutzt, um die Pforten zur Welt der Götter zu
öffnen. Er stellt sogar die These auf, daß die Strenge, der Schmerz und die
Sterilität des modernen Lebens weitgehend darauf zurückzuführen sind, daß
wir den Zugang zu diesen Welten verloren haben, weil diese Substanzen, die
einst überall wuchsen, wo Menschen lebten, heute stark reglementiert und
kontrolliert werden. McKenna geht davon aus, daß diese Pflanzen als eine Art
Katalysator bei der Geburt des menschlichen Bewußtseins in frühen Primaten
wirkten. Dies wiederum beschleunigte die Entwicklung des denkenden und
mystischen Gehirns/Geistes und gab der menschlichen Rasse die geistige
Kraft, die Pflanzen durch eigene Formen der Kontrolle mystischer Erlebnisse
oder Gotteserfahrungen zu ersetzen, im wesentlichen durch die Kraft der
Gesetze, die durch organisierte Religionsgemeinschaften gefördert wurden.
Sowohl Jaynes als auch McKenna haben entscheidend zu unserem
Verständnis der historischen Entwicklung des Bewußtseins beigetragen.
McKenna hat als teilnehmender Beobachter das Leben von
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
109/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Stammesgesellschaften studiert, die heute noch diese Pflanzen verwenden,
um mit den Geistern ihrer Welt in Kontakt zu kommen, und Jaynes hat sich
intensiv mit den schriftlichen Zeugnissen vergangener Zivilisationen
beschäftigt und mit Leuten gesprochen, die erklärten, sie würden die Stimmen
ihrer Götter im Inneren ihres Kopfes hören.
[166]
Ungeachtet ihrer Technik oder Methode sind sich beide Autoren und auch
andere Experten einig, daß alte und »moderne primitive« Menschen über die
Fähigkeit verfügen, etwas zu sehen, zu fühlen und zu hören, wozu die
Menschen der modernen westlichen Gesellschaft im allgemeinen keinen
Zugang haben.
Wenn ein Schoschone auf Nahrungssuche war, horchte er auf das, was das
Land ihm erzählte, auf die Stimmen der Pflanzen und Tiere und der Erde
selbst. Sie zeigten und sagten ihm, wo er sein tägliches Mahl finden würde,
und von ihnen erfuhr er auch, welche Zeremonien geeignet waren, der Welt für
dieses Geschenk zu danken.
Betrachten wir im Gegensatz dazu das Leben der europäischen Könige im
Mittelalter, dann sehen wir, wie die herrschende Geisteshaltung jener Zeit in
ein ironischerweise unbewußtes Pseudo-Informationszeitalter geführt hat,
woraus vielleicht unbemerkt das entstanden ist, was die australischen
Aborigines als das »große Vergessen« bezeichnen.
Unsere Gedanken und unsere Kultur haben uns in die Situation gebracht, in
der wir uns heute befinden. Wenn wir das verstehen, haben wir etwas
Wichtiges begriffen und finden darin die Kraft zu erkennen, welche Rolle wir
selbst dabei spielen können, die Zukunft des Planeten für uns selbst und
unsere Kinder neu zu bestimmen.
[167]
Wie jüngere Kulturen die Dinge sehen
Stellen Sie sich die Erde als ein Lebewesen
vor, das von Milliarden Bak terien angegriffen
wird, deren Zahl sich alle vierzig Jahre
verdoppelt. Entweder der Wirt stirbt, oder sie
[die Parasiten] sterben, oder beide sterben.
Gore Vidal
Ich erinnere mich an das Jahr 1960. John F. Kennedy war gerade zum
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
110/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden und versprach, unsere
Nation von der Politik der Ausbeutung und Trennung wegzuführen, die frühere
Regierungen institutionalisiert hatten. Kennedy forderte uns auf, die Zukunft
unserer Kinder über unsere eigenen Interessen zu stellen, einen dauerhaften
Wandel einzuleiten und eine neue Welt aufzubauen, die Bestand haben und
dabei ihre wertvollen natürlichen Ressourcen schützen konnte.
Nach Angaben des U.S. Census Bureau lebten 1960 auf der Erde
3 038 930 391 Menschen. Im selben Jahr wuchs die Weltbevölkerung um
40 622 370 Menschen, von denen jeder täglich drei Mahlzeiten, eine
angemessene Menge Trinkwasser und Waschwasser und einen Platz zum
Leben brauchte. Während die Regierungen der Welt sich noch bemühten, die
Bedürfnisse jener über 40 Millionen neuer Erdenbürger zu erfüllen, überstieg
1961 weltweit die Geburtenrate die Sterbefälle um weitere 56 007 855
Menschen. Und während wir uns noch bemühten, Platz für sie zu finden, wuchs
die Weltbevölkerung 1962 um weitere 69 393 370 Menschen an. Im Jahre
1963 schließlich konkurrierten zusätzliche 70 987 231 Menschen um Nahrung,
Wasser, Obdach und Wärme auf diesem Planeten.
In den drei Jahren, die von der Vereidigung Kennedys bis zu seinem
gewaltsamen Tod im November 1963 vergingen, wuchs die Weltbevölkerung
um eine Zahl, die höher war als die gesamte Bevölkerung der Vereinigten
Staaten.
[168]
Diese explosionsartige Vermehrung hat dazu geführt, daß bald jeder
bewohnbare Fleck auf dieser durch den Raum treibenden kleinen blauen
Kugel mit menschlichem Fleisch gefüllt war.
Es ist leicht, von der »guten alten Zeit« zu schwärmen: Fast jede Generation
hat das getan, seit die Geschichte aufgezeichnet wird. Tatsache ist jedoch,
daß man 1960 zu fast jedem Ort auf diesem Planeten reisen und sich dabei
ziemlich sicher fühlen konnte. Man konnte per Anhalter durch Nord-, Mittel- und
Südamerika fahren (was viele taten) und dabei überleben, und Hungersnöte
waren lokal begrenzt und traten nur ausnahmsweise auf.
Heute gilt das alles nicht mehr. Und heute leben ungefähr doppelt so viele
Menschen auf der Erde wie 1960.
Nun, wenn Sie sich das vorstellen können, sind wir dabei, diese Entwicklung
zu wiederholen. In weiteren dreißig Jahren werden wir zusätzlich zu unserer
jetzigen Weltbevölkerung noch einmal so viele Menschen auf diesem Planeten
haben, wie die gesamte Weltbevölkerung von 1960.
Und während Nahrung, Wasser, Obdach und Platz immer knapper werden,
wächst die Verzweiflung derjenigen, die darum kämpfen, ihren Anteil daran zu
sichern und zu schützen. Die Kämpfe werden gewalttätiger und tödlicher.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
111/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Das heutige Weltbild »jüngerer Kulturen«
Unsere Kultur ist jung: Nachdem die Menschheit mehrere hunderttausend
Jahre überlebt hat, repräsentiert unsere Kultur nun eine Idee, eine Geschichte,
die erst vor etwa siebentausend Jahren aufkam. Die Idee ist im Laufe dieser
Jahre erstarrt, zu verschiedenen Werten geronnen und schließlich zu dem
geworden, was wir als unsere Kultur bezeichnen. Unsere Kultur ist der
Ausdruck unserer kollektiven Vorstellungen davon, wie die Dinge waren, sind
und sein werden. Sie ist unsere kollektive Geschichte darüber, wie die
Verhältnisse wurden, wie sie sind, und wie die Entwicklung weitergehen oder
enden wird.
[169]
Das moderne Bewußtsein setzt sich aus sehr spezifischen Mythen,
Überzeugungen und Paradigmen (die ich als Geschichten bezeichne)
zusammen, und es sind diese Geschichten, die uns zu Überfluß und
Wohlstand verholfen haben, obwohl sie paradoxerweise den Untergang
unserer Kultur
beschleunigen. Man kann
sie
folgendermaßen
zusammenfassen:
Wir sind kein integraler Bestandteil der Welt, sondern von ihr getrennt.
Die Erde (und alles pflanzliche und tierische Leben auf ihr) ist etwas
anderes als wir. Wir nennen dieses andere »Natur« und »Wildnis«,
während wir uns selbst mit Ausdrücken wie »Menschheit« und
»Zivilisation« bezeichnen. Wir haben ein sehr klares Bild von den
Unterschieden zwischen uns und dem Rest des Lebens auf diesem
Planeten: Wir sind von ihm getrennt, ihm überlegen und gehorchen
unseren eigenen Gesetzen. Wenn wir etwas haben wollen, können wir
es uns einfach nehmen und brauchen niemanden um Erlaubnis zu
fragen.
Es ist unsere Bestimmung, den Rest der Schöpfung zu unterwerfen
und zu beherrschen. Von der biblischen Aufforderung, uns die Erde und
alles, was darauf ist, »untertan« zu machen, bis zum amerikanischen
»Manifest Destiny«[43] und unseren Science-Fiction-Geschichten über
die Kolonisierung des Weltraums erzählen wir uns selbst viele
Geschichten, die ausdrücken, daß wir es verdienen, über alles zu
herrschen, was wir sehen können, von den Weltmeeren bis zum Mond
[170]
und darüber hinaus. Einige Leute versuchen das abzumildern, indem sie
sagen, die Herrschaft des Menschen über die Erde bedeute, daß wir für
ihr Wohlergehen verantwortlich sind, aber nur wenige Menschen in
unserer Kultur benehmen sich so, als würden sie das glauben.
Jüngere Kulturen sehen sich selbst als Herrscher und Eroberer. Sie leben
nicht nur in ihrem eigenen Land, ernähren sich davon und verteidigen sich
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
112/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
gegen Angreifer; vielmehr suchen sie sich Feinde (Tiere oder Menschen), die
sie
gefangennehmen,
versklaven
oder
auslöschen.
Mit
ihren
landwirtschaftlichen Methoden versuchen sie, so viel wie möglich aus der Erde
herauszupressen, selbst wenn der Boden anschließend tot ist. Sie enthalten
sich gegenseitig Dinge vor, und sie haben Polizeikräfte und Armeen, die den
Reichen helfen, ihren Reichtum zu sichern.
Diese Ideen spiegeln sich in den Schriften der Begründer und maßgeblichen
Denker unserer Kultur. Aristoteles bestimmte die klassische griechische
Sichtweise in seinem Essay unter dem Titel »Politik«: »Pflanzen existieren
zum Wohl der Tiere und Tiere zum Wohl des Menschen – Haustiere als
Nutzvieh und Nahrung und wilde Tiere (die meisten jedenfalls) als Nahrung
oder Rohstoff für andere Gegenstände wie Werkzeuge und Kleidung.«
Die römische Perspektive wurde von Cicero gut zusammengefaßt, der
schrieb: »Wir sind die absoluten Herren dessen, was die Erde hervorbringt.
Die Berge und die Ebenen sollen uns erfreuen. Die Flüsse sind unser
Eigentum. Wir säen die Samen und pflanzen die Bäume. Wir düngen den
Boden. Wir stauen die Flüsse und lenken sie in beliebige Richtungen; kurzum:
Mit unseren eigenen Händen und durch unser Handeln in dieser Welt gestalten
wir sie, als sei sie eine andere Natur.«
Im siebzehnten Jahrhundert erklärte Francis Bacon im Novum Organum
ausdrücklich: »Ich bin in Wahrheit gekommen, euch die Natur mit all ihren
Kindern als Sklaven zu Diensten zu machen.«
Im neunzehnten Jahrhundert schrieb Karl Marx, das Ziel des Sozialismus
bestehe darin, »ihren (der Menschheit) materiellen Austausch mit der Natur
rational zu regulieren und der gesellschaftlichen Kontrolle zu unterstellen.«
Engels bezeichnete die Menschen als »die wahren Herren der Natur«.
[171]
Anfangs wandten wir diesen Herrschaftsglauben nur auf die Natur an. Statt
einfach mit anderen Tieren um unsere Nahrung zu konkurrieren, begannen wir,
sie zu beherrschen. Dadurch erlangten wir über die bloße Nahrungskonkurrenz
hinaus die Fähigkeit, sie vollständig zu zerstören. Dies taten wir mit jeder
Spezies, die mit uns im Wettbewerb um Nahrung stand oder unseren
Bestrebungen, Nahrung oder Ackerland zu bekommen, irgendwie hinderlich
war. Von Wölfen über Insekten bis zu Unkräutern entwickelten wir immer neue
und bessere Verfahren, um unsere Konkurrenten auszulöschen.
Von dieser Sichtweise ausgehend ist es kein besonders großer Sprung,
diese Vorstellung auf andere Menschen auszudehnen. Die logische
Erweiterung der Idee, daß der Mensch das Recht hat, über die gesamte
Schöpfung zu herrschen, ist die Überzeugung, daß einige Menschen
»rechtmäßigere Herrscher« sind als andere. Und da wir schon entschieden
hatten, daß es nicht nur akzeptabel, sondern gut war, Konkurrenten zu
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
113/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
zerstören, entwickelten wir immer bessere Verfahren zur Zerstörung anderer
Menschen, die ihren höchsten Ausdruck in den modernen Kriegsmaschinen
erreicht haben.
Eine andere Weise, auf die unsere Kultur ihre Weltsicht untermauert, zeigt
sich in der Struktur unserer Sprache. Als Dorothy Lee[44] in den fünfziger
Jahren beim Stamm der Wintu in Nordkalifornien lebte und ihre Sprache
erlernte, entdeckte sie fasziniert, daß diese Menschen kaum Ausdrücke
hatten, die Besitzverhältnisse oder Zwänge bezeichneten. Statt von »meiner
Schwester« zu sprechen, sagten sie »Ich werde geschwestert von« oder »Ich
lebe mit einer Schwester«.
[172]
Die meisten jüngeren Kulturen sind völlig anders. Man braucht sich
beispielsweise nur die verschiedenen Überzeugungen anzusehen, die es
weltweit über die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen gibt. In
einigen Ländern, besonders wenn sie sich zum Islam bekennen, dürfen die
Frauen nicht alleine ausgehen, müssen ihren Körper verhüllen, dürfen nicht
wählen oder sich um öffentliche Ämter bewerben oder in irgendeiner Weise
außerhalb des eigenen Haushalts Macht ausüben, und sie sind im
wesentlichen das Eigentum der Männer. Der Mord an Frauen, die ihren Vätern
»ungehorsam« waren, ist in muslimischen und hinduistischen Ländern nicht
ungewöhnlich, wie sich im August 1997 zeigte, als Marzouk Ahmed AbdelRahin seine fünfundzwanzigjährige Tochter Nora zur Strecke brachte, ihr den
Kopf abschlug und diesen Kopf dann zu seinem Dorf in der Nähe von Kairo
brachte und den versammelten Dorfbewohnern verkündete: »Nun ist die Ehre
der Familie wiederhergestellt.« Ihr Verbrechen: Sie war ausgerissen. Am
folgenden Tag zündete ein anderer Mann in einem Dorf, vierzig Meilen
nördlich von Kairo, seine neunzehnjährige Tochter vor der versammelten
Dorfgemeinschaft an, indem er sie mit Benzin übergoß und dann ein
Streichholz auf sie warf. »Nora war kein Einzelfall«, berichtete Associated
Press am 19. August und bemerkte, in vielen dieser Fälle gehe es darum, daß
die Töchter einen Mann heiraten wollten, der nicht genügend Geld habe, um
der Familie eine Mitgift zu zahlen, und daß in diesen Kulturen, wie die
ägyptische Schriftstellerin Nawal Saadawi es ausdrückt, »Heirat als ein
Geschäft betrachtet wird, bei dem die Frauen die Ware sind – sie werden
gekauft und verkauft, wie es den Vätern paßt.«
[173]
Wétiko: Gewinn durch die Vernichtung
fremden Lebens
Vor zehntausend Jahren war es eine neue und radikale Idee, daß Menschen
die Natur oder einander »besitzen« oder »beherrschen« konnten. Selbst
heute finden wir unter den noch existierenden »Steinzeitmenschen« und/oder
Stammesgesellschaften, die so leben wie vor fünfzigtausend Jahren, wenig
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
114/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Hinweise darauf. Anfang der neunziger Jahre geriet das Volk der Dani in
Indonesien in eine Krise, weil seine Kultur lehrte, daß Menschen kein Land
besitzen sollten (und auch sonst fast nichts – sie haben während der letzten
zwölftausend Jahre als Stammesgesellschaften gelebt.) Weil die Dani nicht
bereit waren, Eigentumsansprüche für das Land geltend zu machen, auf dem
sie seit Urzeiten lebten, weil sie ein solches Vorgehen für unmoralisch und
falsch hielten, kamen Leute von auswärts, zeichneten Eigentumsurkunden für
das Land, »auf das niemand Anspruch erhob«, und begannen, den
Regenwald abzuholzen, in dem die Dani lebten.
Etwas ähnliches habe ich 1971 erlebt. Ich verbrachte drei Tage mit mehreren
hundert amerikanischen Ureinwohnern von den Oneida, Choctaw, Cherokee,
Ho-Chunk, Navajo, Poma, Ojibwe, Otoe, Cree, Lac Couste Oneilles,
Mescalero-Apachen, Tohono O'odham und Cheyenne Sioux (unter anderen).
Immer wieder sprachen die Menschen davon, man müsse »unsere Mutter«,
die Erde, achten, um eine Verbindung mit der Natur zu erleben und die
Verbindung mit dem Geist, die durch die Verbindung mit der Natur entsteht.
Diese Menschen gehören zu den »älteren Kulturen«, auf die ich später in
diesem Buch näher eingehen werde, und sie betrachten selbst heute noch die
Erde als heiligen Ort und respektieren das Gesetz der Natur, daß man mit
seiner Umgebung in Harmonie leben muß und sie nicht beherrschen und
zerstören darf.
So gab es nun nach mehr als hunderttausend Jahren, die die Menschen
weitgehend in Harmonie mit der Natur gelebt hatten, diese kulturellen
Eruptionen: In einigen Teilen der Welt begannen einige Stämme, über die
Natur zu herrschen, ihre natürliche Umgebung neu zu gestalten und große
Teile der ehemaligen Wälder in Gras- oder Ackerland zu verwandeln, um auf
diese Weise mehr Nahrung für die Menschen zu produzieren.
[174]
Dieses Vorgehen der neuen jüngeren Kultur verringerte das Nahrungsangebot
für andere Tiere und die Zahl der lebenden Arten, weil wir die nicht »eßbaren«
Pflanzen (überwiegend Bäume, mit denen auch die damit verbundenen
artenreichen Ökosysteme ausgelöscht wurden) durch Monokulturen ersetzten,
in denen nur Pflanzen gediehen, die für Menschen eßbar waren oder deren
Nutzvieh als Nahrung dienten, doch es erhöhte das Nahrungsangebot für
Menschen.
Dieses erhöhte Nahrungsangebot führte dazu, daß sich die Weltbevölkerung
in der Zeit zwischen Christi Geburt und dem Jahr 1000 von 250 auf 500
Millionen Menschen verdoppelte – die erste halbe Milliarde Menschen. Wir
brauchten also mehr als hunderttausend Jahre, um schließlich etwa im Jahr
1000 die erste halbe Milliarde Menschen zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt
waren wir bereits dabei, andere Arten rasch zu zerstören, um auf ihrem Gebiet
Farmen und Ackerland einzurichten, die uns mit mehr Nahrung versorgen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
115/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sollten. Die Erdgeschichte zeigt, daß wir in den 200 000 Jahren unserer
Existenz als Menschen von einem Kontinent zum nächsten gezogen sind, und
daß unsere Vorfahren dabei die riesigen langhaarigen Mammuts, die Tiger
mit den Säbelzähnen, Elefanten, Riesenbären und Faultiere, die wilden
Vorfahren der Pferde und Kamele, Vögel ohne Flügel, Tapire, nilpferdähnliche
Tiere, eine riesige Echsenart, eine elefantengroße Säugetierart und riesige,
am Boden lebende Faultiere ausgelöscht haben. Die Theorie, welche diesen
Vorgang erklärt, wird als Pleistozän-Overkill-Hypothese bezeichnet und gilt
unter Wissenschaftlern als weitgehend unumstritten.
Die Feststellung, daß wir »selbstverständlich« dazu bestimmt sind, über
möglichst alles zu herrschen, hat weitreichende Folgen. Diese »Geschichte
darüber, wie die Dinge sind«, hat buchstäblich die Welt verändert, und zwar
oft auf brutale Weise.
[175]
Sie war die Grundlage jener Philosophie, mit der die Briten ihre imperiale
Eroberungspolitik rechtfertigten. Sie war die Basis des »Manifest Destiny«, in
dem der amerikanische Kongreß festlegte, es sei unsere göttliche
Bestimmung, über den ganzen Kontinent zu herrschen; und so töteten wir
jeden, der uns in die Quere kam, was zum Mord an mehreren zehn Millionen
amerikanischer Ureinwohner führte.
Aber so haben sich nicht nur die Amerikaner verhalten; dasselbe ist mit den
Ureinwohnern überall auf der Welt geschehen. Sklaverei, Apartheid und die
ganze Idee des Sozialdarwinismus dienten dazu, das fortgesetzte Leiden
zahlloser Menschen zu rechtfertigen.
»Es gibt Herrscher, und es gibt jene, die beherrscht werden«, stellten wir fest.
Wir glaubten, das sei ein Naturgesetz. So mußten die Dinge von Anfang an
gewesen sein, und folglich sorgten wir lediglich dafür, daß die Dinge so
waren, wie sie sein sollten. Wenn wir es nicht taten, würde es jemand anders
tun.
Unsere Geschichten werden zu unserer Wirklichkeit. Weil die Geschichten
selbstzerstörerisch sind, was ungesund ist, darf man sie, glaube ich, auch als
»krank« bezeichnen.
Und es sind solche kranken Überzeugungen, die dazu beigetragen haben, die
Welt zu schaffen, in der wir heute leben.
Dr. Jack Forbes, Professor für Native American Studies an der University of
California in Davis und Autor des brillanten Buches Kolumbus und andere
Kannibalen[45], benutzt den indianischen Ausdruck Wétiko, um diese
Sammlung kranker Überzeugungen zu beschreiben. Wétiko bedeutet wörtlich
»Kannibale«, und Forbes benutzt den Ausdruck mit Absicht, um die
europäischen Kulturstandards zu beschreiben: Wir »essen« andere
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[176]
116/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Menschen, indem wir sie zerstören, ihr Land zerstören und ihre Lebenskraft
dadurch verzehren, daß wir sie entweder körperlich oder ökonomisch
versklaven. Die Geschichte von Kolumbus und den Taino ist dafür nur ein
Beispiel.
Die Grundlagen unserer Kultur
Wir leben in einer Kultur, die folgendes Prinzip beinhaltet: Wenn jemand etwas
hat, das wir brauchen, und es uns nicht geben will, und wenn wir die
Möglichkeit haben, ihn zu töten, um es zu bekommen, dann spricht nichts
dagegen, dies zu tun und dabei die erforderliche Gewalt anzuwenden. In
einigen Fällen ist es sogar unsere Pflicht, so zu handeln.
Der Ausdruck »Pflicht« mag vielleicht übertrieben wirken, aber er wurde oft
von der amerikanischen Regierung beschworen, wenn es in den ersten
Jahrhunderten der Geschichte unseres Landes darum ging, Pioniere und
Soldaten zur Tötung amerikanischer Ureinwohner aufzurufen. Hitler beschwor
die Pflicht, um seine Soldaten im Zweiten Weltkrieg zu motivieren, besonders
wenn es darum ging, das Land anderer Nationen als »Lebensraum« für das
deutsche Volk zu erobern. Julius Caesar berief sich auf die Pflicht, als seine
Soldaten die Kelten, Druiden und Pikten (unter anderen) abschlachteten. Pol
Pot beschwor die Pflicht, als seine Roten Khmer über zwei Millionen ihrer
Landsleute umbrachten. Unter der Präsidentschaft von George Washington
waren mehr als 80 Prozent des amerikanischen Haushalts für den »Krieg
gegen die Indianer« verplant. Und so geht die Liste immer weiter und weiter:
für Gott, Vaterland und Familie; für Mama und das Recht, deinen Apfelkuchen
aus ihren Äpfeln zu machen.
Der erste »Indianerkrieg« der Vereinigten Staaten war der »Pequot Krieg von
1636« in New England, in dem die Siedler das größte der Pequot-Dörfer
umzingelten, es bei Sonnenaufgang anzündeten und dann ihre Pflicht erfüllten:
Sie erschossen jeden – Männer, Frauen, Kinder und Alte –, der zu entkommen
versuchte. Der Pilger und Siedler William Bradford beschrieb die Szene so:
»Es war ein furchtbarer Anblick, sie auf diese Weise im Feuer braten zu
sehen, während gleichzeitig das Blut in Strömen floß, und der Gestank war
entsetzlich. Doch der Sieg schien ein süßer Lohn, und sie [die Siedler] priesen
Gott, der so wunderbar mit ihnen gewesen war …«
[177]
Die Narragansetts, bis dahin »Freunde« der Siedler, waren von diesem
Beispiel europäischer Kriegsführung so schockiert, daß sie sich weiteren
Bündnissen mit den Weißen verweigerten. Captain John Underhill machte die
Narragansetts lächerlich, weil sie nicht bereit waren, sich am Völkermord zu
beteiligen, und sagte, die Kriege der Narragansetts mit anderen Stämmen
hätten »mehr dem Zeitvertreib gedient als der Unterwerfung von Feinden«.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
117/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Darin hatte Underhill recht: Die Kriegsführung der Narragansetts wie der
meisten Stämme alter Kulturen und nahezu aller amerikanischen Ureinwohner
verfolgte nicht das Ziel, den Gegner auszulöschen. Schließlich brauchte man
die Nachbarn, um mit ihnen Handel zu treiben, um durch Heirat mit ihnen für
einen starken Gen-Pool zu sorgen und die kulturelle Vielfalt zu sichern. Die
meisten Stämme hätten das Land der anderen nicht einmal gewollt, denn sie
hätten Bedenken gehabt, die heiligen oder von Geistern erfüllten Gebiete
anderer Stämme zu verletzen oder zu betreten. Oft genug gehört nicht einmal
das Töten der »Feinde« zu den Zielen der »Stammeskriege«: Statt dessen
kämpft man meist um einen vorher festgelegten »Sieg« wie beispielsweise
das Erobern eines Stabes, das Übertreten einer bestimmten Linie oder die
erste Verwundung oder Niederlage eines Gegners.
Die europäische Art der Kriegsführung, die einem Völkermord gleicht, hat
eine relativ kurze Geschichte, die nur bis in die Tage von Gilgamesch
zurückreicht. Sie wurde von Hitler gegen die nichtarischen Bürger Europas
eingesetzt, von Pol Pot gegen die Kambodschaner, von Kolumbus gegen die
jetzt ausgerotteten Stämme der Taino und Arawalk auf Hispaniola sowie von
den gut bewaffneten englischen, französischen, portugiesischen, belgischen,
holländischen und spanischen Invasoren gegen die eingeborenen Völker
Amerikas. Sie wurde von den Hutus gegen die Tutsi in Ruanda eingesetzt und
von den Tutsi gegen die Hutus in Zaire, als es der Kongo wurde. (Während
diese Kämpfe tobten, töteten beide Seiten fast alle der rund dreitausend noch
existierenden Pygmäen, die letzte Stammesgesellschaft von Jägern und
Sammlern im Osten Zentralafrikas, die damals in den Regenwäldern von Zaire
und Ruanda lebten.) Es gibt Berichte darüber in der Bibel (siehe Buch Josua)
und in der Geschichte fast aller Zivilisationen, die ihre Wurzeln in den ersten
Stadtstaaten des Mittleren Ostens hatten, mit ihnen in Berührung kamen oder
von ihnen erobert wurden.
[178]
Diese Art der Kriegsführung wird täglich von Farmern und Ranchern weltweit
gegen Wölfe, Kojoten, Insekten, Tiere und Bäume des Regenwaldes sowie
gegen einheimische Stämme eingesetzt, die im Dschungel und im Regenwald
leben.
Das ist unser Lebensstil. Er entspringt unseren grundlegenden kulturellen
Vorstellungen.
Folglich sollte es uns nicht überraschen, daß mit der Verdoppelung der
Weltbevölkerung in den letzten 37 Jahren Gewalt und Brutalität explodiert sind.
Das entspricht unserer Art.
Sogar heute noch beraubt die amerikanische Regierung Dutzende von
Stämmen ihres Landes, um deren Rechte an den Bodenschätzen auf
Körperschaften des öffentlichen Rechts zu übertragen. Fast überall auf der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
118/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Welt werden die Ureinwohner auf ähnliche Weise brutal und gnadenlos
enteignet.[46]
Aber warum?
Hier sind einige Geschichten unserer Kultur, die beschreiben, »wie die Dinge
so wurden, wie sie sind.«
1. »Die Frauen sind schuld.«
Eine alte Geschichte, die uns von den Männern überliefert wurde, die dazu
beigetragen haben, die frühen Grundlagen unserer modernen Kultur zu
schaffen, besagt, das sei alles die Schuld der Frauen.
[179]
In einer Geschichte heißt es, die erste Frau, Eva, sei dumm und unredlich
gewesen, auf eine Schlange hereingefallen, und dafür werde jede Frau nach
ihr von Gott bestraft. Von einer anderen ersten Frau, Pandora, erzählt man, sie
habe ihre Neugier nicht beherrschen können. Da die Frauen die Ursache all
unserer Probleme sind, scheint es durchaus sinnvoll – es ist unsere religiöse
Pflicht –, sie anders als Männer zu behandeln, zu bestrafen und zu
unterdrücken. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden die Namen von
Frauen aus unseren modernen religiösen Texten getilgt; nur die Namen von
Männern sind es wert, unsere Abstammung zu dokumentieren.
2. »Der Schöpfer hat uns alle böse geschaffen.«
Eine andere Geschichte besagt, daß wir alle böse oder dumm geboren sind
(eine Vorstellung, die es nur in jüngeren Kulturen gibt). Durch Evas »Ursünde«
befindet sich jeder Mensch – Mann oder Frau –, der von einer Frau geboren
wird, im Zustand der Erbsünde und ist von Natur aus schlecht.
Dies ist eine Geschichte, die für viele Kulturen, die mit christlichen
Missionaren in Kontakt kamen, besonders schwer zu verstehen war. Jonathan
Edwards schrieb 1822 ein Buch unter dem Titel Memoirs of Rev. David
Brainerd: Missionary to the Indians, aus dem Jack Forbes in seinem Werk
Kolumbus und andere Kannibalen zitiert. Bei Edwards erklärt Brainerd
wörtlich:
»Es ist nahezu unmöglich, [den Indianern] die rationale Überzeugung zu vermitteln,
daß sie alle von Natur aus Sünder sind und daß ihre Herzen korrupt und sündig
sind … um ihnen zu zeigen, daß sie alle moralisch verdorben und sündig sind, sage
ich ihnen, dies könnte so sein, ohne daß sie es [bemerken, weil] sie geistig blind
sind; und es gibt keinen Beweis dafür, daß sie nicht sündig sind …«
[180]
Wie viele ältere Kulturen betrachteten auch die amerikanischen Ureinwohner
die Vorstellung von der Erbsünde mit Befremden. Viele waren genauso
konsterniert darüber, daß die Europäer sich ihren Gott voller Haß und
Rachsucht vorstellten und meinten, es bereite ihm Vergnügen, die Menschen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
119/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
in Versuchung zu führen und sie dann für ihr Versagen zu strafen.
3. »Der Schöpfer ist ein vergeßlicher Buchhalter.«
Genauso hielten viele amerikanische Ureinwohner es für reichlich seltsam,
daß unsere religiösen Führer behaupteten, wenn jemand ein von einem
Priester vorgeschriebenes Ritual vollziehe, dann »vergesse« Gott, daß der
Betreffende einen Mord, Diebstahl oder eine Vergewaltigung begangen habe.
Würde das nicht schlechtes Verhalten begünstigen? fragten sie. Die ganze
Vorstellung eines Gottes, dessen hauptsächliche Funktion die eines
Buchhalters war, aber eines vergeßlichen (wenn die richtigen Rituale vollzogen
oder Worte gesprochen wurden), war ihnen unverständlich.
Aber einige Leute fanden, die Idee, daß jeder Mensch sündig geboren wird,
und daß es in unserer Natur liegt, zu lügen, zu betrügen, zu stehlen,
auszubeuten und andere zu verletzen, sei eine nützliche Rationalisierung ihres
Verhaltens und könne andere Menschen dazu bringen, ihre Weltsicht zu
übernehmen.
Und wir haben noch weitere Fluchtwege: Man kann sein Leben lang das
Schicksal herausfordern und am Ende Buße tun, sich mit einer großzügigen
Spende für die Armen freikaufen oder vor seinem Tod eine bestimmte
Abfolge von Worten sagen, und dann hat man garantiert in alle Ewigkeit einen
Platz im Paradies.
Aber funktioniert diese Weltsicht wirklich?
[181]
Wohin es führt, wenn wir denken, daß
»alle anderen auch schlecht sind«
Für die spirituellen und moralischen Glücksspieler unter uns ist diese
Geschichte ein Freibrief, alles zu stehlen, wonach ihnen der Sinn steht.
Denken wir nur an die in den USA erzeugten Nahrungsmittel. Pflanzen ziehen
ihre Nährstoffe aus der Erde, und wenn die Erde nicht genügend Zink oder
Kalzium enthält, werden diese Stoffe auch den Pflanzen fehlen und genauso
den Menschen oder Tieren, die sich von diesen Pflanzen ernähren. Nach dem
Reaktorunfall in Tschernobyl stellten die europäischen Länder, über die der
Wind die radioaktive Wolke getrieben hatte, fest, daß ihr Boden mit
radioaktivem Cäsium verseucht war, und das Gemüse, Obst und Getreide,
das auf diesem Boden wächst, wird noch Jahre nach der Ernte den
Geigerzähler zum Ausschlagen bringen. Mit anderen Worten: Was in der Erde
ist, befindet sich auch in unserer Nahrung.
Denken
Sie
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
nun
etwa,
daß die
Düngemittel,
mit
denen
unsere
120/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Nahrungspflanzen behandelt werden, rein und sauber sind?
Weit gefehlt.
Früher gab es noch keine Einschränkungen im Hinblick auf die
Zusammensetzung des Öls, das auf nicht befestigte Straßen gesprüht wurde,
um den Staub am Boden zu halten, oder in den Asphalt für unsere
Straßendecken gemischt wurde. Und so ließ sich die Mafia einen cleveren
Trick einfallen, über den die »60 Minutes Show« von CBS erstmals berichtete:
Unternehmen, bei deren Produktion giftige Abfallstoffe anfallen – Blei,
Quecksilber, PCB, Dioxin, flüssige radioaktive Abfälle, die ganze Palette –,
wurden von einer »Entsorgungsfirma« angesprochen, die ihnen in Aussicht
stellte, ein Vermögen zu sparen, indem sie ihnen die giftigen Abfälle für 200
Dollar statt für 3000 pro Pfund abnahm. Es war ein unglaublich gutes Geschäft
für die Umweltverschmutzer, und die Firmen griffen zu, ohne irgendwelche
Fragen zu stellen. Die »Entsorgungsunternehmen«, korrekt angemeldet und
überwacht, nahmen den Giftmüll und vermischten ihn mit Öl, wodurch die
Giftstoffe stark verdünnt wurden … und dann sprühten sie diese Mischung auf
die staubigen Feldwege des Staates New York und anderer Staaten an der
amerikanischen Ostküste. Sie kippten sie in den Teer, mit dem Straßen
asphaltiert wurden. In einigen Fällen streckten sie damit auch Benzin, das sie
an Tankstellen verkauften. Die Wahrheit kam ans Licht, als die Mitglieder
einiger Familien, die entlang der »staubarmen« Feldwege wohnten, sehr
krank wurden, und die landesweite Ausstrahlung im Fernsehen bereitete dem
offensichtlichsten Teil der Operation ein Ende.
[182]
Das war in den siebziger Jahren. Und wo ist der Giftmüll geblieben?
1997 veranlaßte die Bürgermeisterin einer kleinen Stadt im Staat Washington
eine Untersuchung, warum einige Viehherden kränkelten, obwohl sie nur
regional erzeugtes Futter fraßen. Das Ergebnis schockierte sie.
In den Vereinigten Staaten gibt es keine Gesetze, die festlegen, daß Dünger
keinen Giftmüll und keine radioaktiven Stoffe enthalten darf. So wird
beispielsweise eine uranverarbeitende Anlage in Gore, Oklahoma, ihre
schwach radioaktiven Abfälle jetzt dadurch los, daß man sie als »Dünger«
bezeichnet (sie enthalten einige Nährstoffe, die gut für Pflanzen sind) und auf
Wiesen ausbringt. In Moxee City, Washington, nimmt die Bay Zinc Company
giftige Abfälle von Stahlwerken an und verkauft sie als Dünger an Farmer aus
der Umgebung. Und in Camas, Washington, werden die mit Blei verseuchten
Abfälle einer Zellstoff-Fabrik von Farmern auf die Felder ausgebracht. Und
das ist nur die oberste Spitze des Eisbergs.
Die Bundesregierung reagierte in zweifacher Hinsicht auf die Entrüstung der
Bürgermeisterin. Als erstes wurde unter Bezug auf die einige Jahre
zurückligende »Pestizid-Äpfel-Affäre« auf Druck der Pestizid-Lobby in
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
121/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
(bisher) 13 Bundesstaaten ein Gesetz erlassen, das die Veröffentlichung von
Nachrichten, die dazu führen könnten, daß sich die Leute Sorgen über die
Sicherheit ihrer Nahrungsmittel machen, zur kriminellen Handlung erklärt.[47]
Dadurch kam nicht einmal die Geschichte über die giftigen Düngemittel in alle
Zeitungen. Zweitens, so stellte die Seattle Times fest, fördern die
Regierungsbeamten die Praxis des Wiederverkaufs von Giftmüll als Dünger,
weil »die Industrie dadurch Geld spart« und die kostenintensiven
Sondermülldeponien nicht so schnell voll werden.
[183]
Da fragt man sich: Auf welcher Seite steht nun die Regierung? Als Duff Wilson
von der Seattle Times wissen wollte, warum die Regierung es zuläßt, daß
Giftmüll mit Dünger vermischt auf die Felder im ganzen Land ausgebracht
wird, erklärte ihm Rufus Chaney vom US-Landwirtschaftsministerium: »Es ist
unverantwortlich, unnötige Einschränkungen zu verordnen, die jede Menge
Geld kosten.«
Auf ähnliche Weise hat das amerikanische Energieministerium (ein
euphemistischer Name für eine Behörde, welche die Produktion von
Atombomben und Sprengköpfen überwacht), wie der Sprecher der Deponie
für radioaktiven Müll in Hanford, Washington, erklärte, eine neue
Verwendungsmöglichkeit für radioaktive Abfälle entdeckt. »Hier lagern
wahrscheinlich die größten Mengen von Strontium 90 in den Vereinigten
Staaten«, erläuterte er in einem Artikel, den Science News am 19. Juli 1997
veröffentlichte. »Unser Yttrium [90] ist das reinste. Die Technik, mit der wir es
aus dem Strontium 90 gewinnen, steht unter Patentschutz …« Im selben
Artikel wurde ausgeführt, daß Yttrium 90, eines der am weitesten verbreiteten
Abfallprodukte aus der Kernwaffenherstellung, jetzt in der Nuklearmedizin als
neuer Wirkstoff zur Behandlung von Tumoren getestet wird.
Natürlich gibt es ein paar Probleme, wenn man nukleare Abfallstoffe in der
Medizin einsetzt. An der Emory University wiesen Forscher darauf hin, daß bei
der Arbeit mit dem Isotop Iridium 192 »die Strahlung so durchdringend ist,
daß man sich vom Bett entfernen muß …« Gleichwohl hegt die Regierung
große
Hoffnungen,
daß
ihre
radioaktiven
Abfälle
aus
der
Kernwaffenproduktion wiederverwertet werden können, indem man sie
Menschen spritzt, die durch den Verzehr von Nahrungsmitteln, welche mit
anderen Giftstoffen belastet sind, Krebs bekommen haben.
[184]
Wie traurig ist es, daß wir angesichts solcher Situationen schockiert, aber
nicht überrascht sind.
Bei sechs Milliarden Menschen auf der Erde, die um knappe Ressourcen
konkurrieren, ist die Feststellung: »Jeder tut es, jeder ist ein Sünder, wenn wir
es nicht tun, dann eben jemand anders, und immerhin ist es doch legal«, weit
verbreitet. Solche Aussagen versteht man als nachträgliche Rechtfertigung für
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
122/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
ein Verhalten, mit dem wir unser Überleben sichern wollen. Zur Hölle mit
unseren Kindern und ihrer Welt: Nimm dir, was du jetzt bekommen kannst!
Entspricht das nicht letztlich unserer Kultur? Von Caesar, der die Kelten
ausplünderte, über Pizarro, der die Inkas beraubte, Kolumbus, der die Taino
versklavte, bis zu den Mitarbeitern der Tabakindustrie, die Kinder in der
Dritten Welt zu Süchtigen machen, entspricht alles derselben WétikoMentalität: Nutze das Leben eines anderen Menschen für deine eigenen
Zwecke.
Hervorgegangen aus einer kranken Geisteshaltung, die uns gierig macht,
kulturell ansteckend und extrem tödlich ist und von jenen gerechtfertigt wird,
die Religion und Kultur verdrehen, um ihre eigene Herrschaft, ihre
Eroberungen und ihren Diebstahl moralisch salonfähig zu machen (ganz
gleich, um welche Religion, welches Land und welche Kultur es sich handelt):
Diese Einstellung ist es, die unsere Erde und ihre Bewohner tötet.
Es ist nicht die Menschheit als solche, die der Erde den Tod bringt. Es sind
die Konsequenzen der Geschichten einer bestimmten herrschenden Gruppe
von Menschen. Diese Geschichten, die von frühester Kindheit an durch unser
Leben geistern, sind die Brille, durch die wir andere Menschen, andere
Lebewesen und letztlich die gesamte Schöpfung mit allem, was dazugehört,
betrachten, und zusammengenommen sind sie das, was wir als unsere Kultur
bezeichnen.
[185]
Die Geschichte der Gegenwart:
Wir sind alle voneinander getrennt
Die Tatsachen, daß unser Öl zur Neige geht, daß wir nach Angaben des US
Bureau of Mines nur noch für weniger als zwanzig Jahre Mineralien wie Eisen,
Zink und Mangan haben werden, und daß unseren Kindern eine ökonomisch
katastrophale Zukunft droht, sind den Verantwortlichen für den ökologischen
Raubbau und den Nutznießern der Ausbeutung »natürlicher Ressourcen« und
eingeborener Völker wohlbekannt. Die kulturellen Geschichten, mit denen
dieses Verhalten gerechtfertigt wurde, lassen sich im wesentlichen in zwei
Gruppen unterteilen:
Nimm dir deinen Teil, bevor irgend jemand anders zugreifen kann.
Diese Geschichte begleitet uns seit den Anfängen der
Geschichtsschreibung jüngerer Kulturen. Sie war die treibende Kraft
dafür, daß den amerikanischen Ureinwohnern zwischen 1820 und 1900
der amerikanische Westen geraubt wurde.
In den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts wurde sie wiederbelebt und
bildete aufs neue die Grundlage der Regierungspolitik. Dies führte zu
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
123/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
einer massiven Konzentration des Reichtums, zum BeinaheZusammenbruch der Staatsfinanzen, während einer Orgie öffentlicher
Ausgaben, die durch Staatsverschuldung finanziert wurden, und zum
Kollaps eines Teils der Bankgeschäfte, wie es in dem Bestseller
America: What Went Wrong[48] (Amerika: Was schiefgegangen ist)
dargestellt wird.
Die »Nimm Deins«-Geschichte reicht bis in die Gegenwart und bildet
die Geisteshaltung der klassischen jüngeren Kultur, wie wir sie im
[186]
wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Alltag finden.
Die Welt geht sowieso zugrunde, also nimm dir, was du jetzt noch
kriegen kannst. Während seiner Präsidentschaft wurde Ronald Reagan
gefragt, ob er glaube, daß die Vorstellung vom Ende der Welt, wie sie in
der biblischen Geschichte der Schlacht um Armageddon dargestellt
wird, eintreffen könne. Seine unverblümte Antwort lautete, daß er dies
nicht nur für möglich halte, sondern noch zu seinen Lebzeiten erwarte.
Diese Geisteshaltung oder Geschichte rechtfertigt die Vergewaltigung
der Erde durch die Vorstellung, daß sowieso alles vergänglich ist.
Demnächst wird Feuer vom Himmel fallen, der größte Teil der Welt wird
zerstört werden, und alle guten Menschen werden umgehend in den
Himmel kommen.
Beachten Sie, daß diese Geschichten beide davon ausgehen, daß wir nicht
mit anderen verbunden sind: Menschen, die solche Geschichten ausleben,
fühlen sich getrennt von anderen (die sie entweder als potentielle Opfer oder
als Konkurrenten betrachten), von der Natur (die sie als Quelle für ihren
persönlichen Reichtum betrachten) oder vom Leben selbst (das für sie
lediglich ein Spiel mit Gewinnern und Verlierern darstellt): Auf der einen Seite
stehen diejenigen, die reich sind oder in den Himmel kommen, und auf der
anderen Seite die Armen und Verlorenen.
James Watt, der zeitweise während der Reagan-Regierung Innenminister war,
ist ein Beispiel für die »Ich habe meinen Teil bekommen«-Geschichte. Er
verschaffte sich mit großem Eifer Anteile an Minen und Nutzholzvorkommen,
um (kostengünstig) an mehr Mineralien und Nutzholz heranzukommen, weil,
wie er sagte, Jesus jederzeit auf die Erde zurückkehren könnte und dann alles
erneuert werden würde, wie die Offenbarung nahelegt.
Ganz ähnlich waren auch Präsident Ronald Reagan, Verteidigungsminister
Caspar Weinberger und Jerry Falwell führende Vertreter der Einstellung: »Die
Welt geht sowieso zugrunde, also nimm dir, was du jetzt noch kriegen kannst.«
Jerry Falwell ging mehrfach auf das Thema der Verzückung ein,
beispielsweise in der folgenden Ansprache: »Sie fahren in einem Auto.
Vielleicht sitzen Sie selbst am Steuer. Sie sind ein Christ. Zusammen mit
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[187]
124/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Ihnen befinden sich noch mehrere Leute im Wagen, vielleicht auch jemand,
der kein Christ ist. Wenn dann die Trompeten erklingen, werden Sie und die
anderen wiedergeborenen Gläubigen auf der Stelle im Himmel sein: Sie
werden verschwinden und nur ihre Kleider und andere materielle Dinge
zurücklassen, die kein ewiges Leben erlangen können. Die Menschen, die
nicht durch ihren christlichen Glauben errettet werden, stellen verblüfft fest, daß
sich der Wagen ohne Fahrer bewegt und plötzlich irgendwo mit einem
Hindernis zusammenstößt.«
Im Februar 1990 besuchte Reagan Atlanta, wo ich damals lebte. In einer
halbstündigen Ansprache (für die er über 160 000 Dollar kassierte) an
Franchise-Nehmer der Days-Inn-Motel-Kette (die Klienten einer Werbeagentur
waren, welche ich gegründet hatte) sagte er: »Wir dürfen nicht vergessen, daß
die Schlacht von Armageddon den Prophezeiungen entsprechend irgendwo in
Israel beginnen wird.« Im Jahre 1983 erklärte Reagan einem Vertreter der
Israel-Lobby: »Wissen Sie, ich beschäftige mich wieder mit den Propheten
des Alten Testaments und den Zeichen, welche Armageddon vorhersagen,
und inzwischen frage ich mich, ob wir die Generation sind, die diese
Ereignisse erleben wird. Ich weiß nicht, ob Ihnen in letzter Zeit irgendwelche
Anzeichen dafür aufgefallen sind, aber glauben Sie mir, dort werden eindeutig
die Zeiten beschrieben, die wir gerade durchmachen.«
Im August 1984 erklärte Reagan als damaliger Gouverneur von Kalifornien
dem Abgeordneten James Mills: »Alles fällt auseinander. Es kann jetzt nicht
mehr lange dauern … Hesekiel sagt, daß Feuer und Schwefel auf die Feinde
Gottes herabregnen werden. Damit muß gemeint sein, daß sie durch
Kernwaffen zerstört werden. Die gibt es jetzt, und es gab sie nie zuvor …«
[188]
Der andere Mann, der seinen Finger auf dem Startknopf für die
amerikanischen Kernwaffen hatte, Verteidigungsminister Caspar Weinberger,
war sogar noch präziser, indem er – wie die Zeitung Globe & Mail in Toronto
in einem Artikel berichtete – den Hügel von Megiddo in Nordpalästina,
ungefähr 15 Meilen südöstlich von Haifa, als den Ort bezeichnete, wo der
große Brand beginnen würde, der den Weltuntergang einläuten sollte.
Diese Geschichten, daß »das Ende der Welt bevorsteht«, sind keineswegs
außergewöhnlich, vor allem nicht unter den Christen des amerikanischen
Weltreichs. Sogar bei Nicht-Christen sind sie recht weit verbreitet: Als der
frühere sowjetische Premierminister Chruschtschow (ein überzeugter Atheist)
von amerikanischen Reportern gefragt wurde, ob er es für möglich halte, daß
Raumschiffe aus anderen Welten die Erde besucht hätten, sagte er, das sei
schlicht unmöglich, einfach deshalb, weil jede Kultur, die in der Lage sei,
Raumschiffe zu bauen, gleichzeitig technisch so fortgeschrittene Waffen
entwickeln könnte, daß sie sich damit selbst zerstören würde.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
125/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Mir geht es hier nicht um die Frage, ob die biblische Prophezeiung einer
Schlacht auf dem Feld von Armageddon eintreten wird oder nicht: Ich spreche
mich weder dafür noch dagegen aus. (Wenn genug Leute davon überzeugt
sind, daß sie eintreten wird, dann könnte das betreffende »Feld« – wie Rupert
Sheldrake es wohl ausdrücken würde – so stark werden, daß es tatsächlich
dazu kommt.) Aber mit oder ohne Armageddon wird unsere unmittelbare
Krise – seit über 4000 Jahren – durch Menschen verursacht, die ihr Leben und
ihre Geschäfte so führen, als ob Armageddon vor der Tür stehen würde.
Was wir brauchen, sind neue Geschichten.
[189]
Unsere Vorstellung von »primitiven«
Menschen
Wenn wir beispielsweise an die Franzosen denken, dann stellen wir uns Leute
vor, die ein relativ glückliches Leben führen, und wir haben dabei ganz
bestimmte Bilder vor unserem geistigen Auge – Bilder von Weinbergen
vielleicht, von schönen Landschaften oder vom Eiffelturm in Paris. Diese
Bilder werden möglicherweise ergänzt durch bestimmte Klänge – die
Vorstellung von Menschen, die Französisch sprechen und intelligente
Unterhaltungen führen. Dazu kommen wahrscheinlich noch Gefühle (Neugier,
Vertrautheit, der Reiz des Neuen) sowie geschmackliche Vorstellungen und
Gerüche (beispielsweise französische Speisen und Wein).
Aber wenn wir als Angehörige einer westlichen Kultur versuchen, uns primitive
Völker wie die Kayapo vorzustellen, dann fehlen dabei meist sinnliche
Eindrücke wie Klang, Geschmack und Geruch. Weil wir so wenig über ihre
Kultur wissen, oder aufgrund der Geschichten, die wir unser ganzes Leben
lang über das schwere Los primitiver Völker gehört haben, stellen wir uns oft
Menschen vor, die kränklich sind, halbnackt mit fleckigen Zähnen durch den
Dschungel streifen, klein und unterernährt sind und ein verzweifeltes Leben in
einer feindlichen Umgebung führen. Wenn wir uns überhaupt vorstellen, daß
sie miteinander reden, dann hören wir nur ein sinnloses Kauderwelsch – ganz
gewiß führen solche Leute keine intelligenten, bedeutsamen, wichtigen
Unterhaltungen –, und sinnliche Eindrücke von Geschmack und Geruch fehlen
uns vollständig.
Ähnlich dürftig sind unsere Vorstellungen von den Menschen, die vor dem
Beginn unserer Zivilisation gelebt haben. Wenn wir an »Höhlenmenschen«
oder »Steinzeitmenschen« denken, dann stellen wir uns die Figuren aus
Zeichentrickfilmen vor, seelenlose Wesen, die nicht ganz menschlich sind und
ganz sicher keine Sprache, Kultur, Zivilisation, Küche, Religion, Familie,
Gemeinde und auch kein Wirtschaftssystem hatten.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
126/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Unsere Vorstellungen sind deshalb so farblos und verzerrt, weil unsere Kultur
diese »anderen Leute« nicht als vollkommen menschlich erkennt. Wir
bezeichnen die Zeit vor dem Aufstieg des mesopotamischen Reiches vor
7000 Jahren als »Vorgeschichte«, so als hätte sie keine eigene Geschichte.
Sie war nicht real. Sie existierte nur als eine Fußnote zum Leben des
Planeten, und wenn sie überhaupt einen Sinn hatte, dann war sie lediglich das
Bühnenbild für unseren Auftritt.
[190]
Aber die Kayapo und Hunderte anderer eingeborener Völker strafen unsere
kulturelle und religiöse Mythologie Lügen.
Vor Tausenden von Jahren, wahrscheinlich lange vor dem Aufstieg der
sumerischen »Zivilisation«, war die Kultur der Kayapo über weite Teile
Brasiliens verbreitet. Jahrtausendealte Skelette zeigen, daß sie – wie die
meisten »primitiven« Völker – über eine bessere Gesundheit und eine höhere
Lebensqualität verfügten als wir, mit weniger degenerativen Krankheiten,
hochgewachsenen und kräftigen Körpern, und ein hohes Alter erreichten. Sie
hatten eine komplizierte Sprache, die bis heute überlebt hat, eine alte,
mündlich überlieferte Geschichte, Traditionen und Religionen, und sie
bevölkerten Brasilien in Tausenden von Siedlungen, in denen jeweils bis zu
4000 Menschen lebten. Diese Städte waren auf hohen Erdwällen errichtet,
welche die Bewohner vor jahreszeitlich bedingten Überschwemmungen
schützten und zwischen denen Wasserwege verliefen, die für die
Bewässerung der Felder ebenso wie für den Handel benutzt wurden. Sie
hatten Familien, heirateten und sorgten für ihre Kinder, praktizierten ihre
Religion und kannten keine Kriege. (Zwar gab es zwischen den einzelnen
Stämmen Konflikte, aber dabei ging es nie darum, eine andere Gruppe von
Menschen auszulöschen oder zu zerstören. Der in unserer Kultur seit 7000
Jahren praktizierte Völkermord war ihnen völlig fremd.)
Seit Hunderttausenden von Jahren versorgten sich die Kayapo und
ihresgleichen weltweit auf umweltverträgliche Weise mit Nahrung, Obdach und
Kleidung, womit sie ihr eigenes Überleben und ihre Lebensqualität ebenso
sicherten wie die Zukunft der nächsten Generationen, soweit sie sich diese
Zukunft vorstellen konnten.
[191]
Dann kam Pizarro. Innerhalb von hundert Jahren waren über 85 Prozent der
südamerikanischen Ureinwohner tot, wobei die meisten an Krankheiten
starben, welche die Eroberer aus Europa eingeschleppt hatten (Influenza,
Masern, Pocken, Pest etc.). Die überlebenden Kayapo flohen tief in die
brasilianischen Regenwälder und bearbeiteten dort ihre Felder weitere 400
Jahre lang mit waldschonenden Methoden.
Dann kamen im frühen zwanzigsten Jahrhundert die Holzfäller und die
Rancher. Die Hölzer des Regenwalds, vor allem Mahagoni, erzielen in unserer
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
127/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kultur wegen ihrer Seltenheit und Schönheit einen hohen Preis. Und wenn die
Regenwälder abgeholzt sind, kann man auf dem verwundeten Land gute
Viehweiden anlegen.
Die Rancher und Holzfäller heuerten Söldner an, um die Kayapo und andere
Stämme aus dem Regenwald auszulöschen, und sie zahlten Prämien, wenn
jemand ihnen ein Paar Ohren oder einen Skalp brachte – so wie die
amerikanische Regierung im neunzehnten Jahrhundert Prämien für die Ohren
und Skalps von Indianern zahlte. Diese Praxis wurde erst kürzlich verboten
(obwohl viele Rancher und Holzfäller immer noch danach verfahren, sowohl in
Brasilien als auch in vielen anderen Ländern der Welt[49]).
Das Verbot wurde vor allem deshalb ausgesprochen, weil man entdeckt hatte,
daß sich die Kayapo auf andere Weise ausbeuten ließen.
Die Einführung von Geld bei den Kayapo hatte noch einen unbeabsichtigten
Nebeneffekt. Sie wurden dadurch mit den Vorstellungen der jüngeren Kultur
infiziert, wie Menschen leben sollten, was dazu führte, daß einige Stämme ihre
traditionellen Formen des Ackerbaus aufgaben und sich an der Brandrodung
beteiligten, um ihre Ernten später zu verkaufen. Und so haben sie nun – wie
zuvor schon andere Ureinwohner – dem »Fortschritt« nachgegeben, und viele
von ihnen arbeiten auf den Plantagen der Multis oder in Fabriken; die
Ausgebeuteten sind zu Ausbeutern geworden. Die Kayapo-Kultur zerfällt
zusehends, und mit ihr geht auch der Regenwald unter.
[192]
Das Wachstum unserer Kultur hat
Ähnlichkeiten mit Krebs
Als ich kürzlich mit einem Freund über dieses Thema diskutierte, erwähnte er
die Gaia-Theorie, die davon ausgeht, daß unser Planet ein lebender
Organismus ist und die Menschen nur Zellen eines riesigen Körpers sind.
Viele Leute – besonders diejenigen, die ihr Geschäft mit fossilen Rohstoffen
machen – sind noch einen Schritt weitergegangen und haben behauptet, da
die Menschen ein Teil der Natur seien, müsse alles, was wir tun,
definitionsgemäß »natürlich« sein. Letztendlich sind wir ein Teil der Natur.
Und diese verdrehte Logik ist die moderne Variante des alten Grundprinzips,
auf dem das »Manifest Destiny« beruht.
Betrachten wir die Sache als medizinische Metapher: Die Zellen im Körper
werden ständig geboren, sie leben und sterben. Millionen von ihnen mutieren
jeden Tag auf verschiedenste Weise, verlieren Bausteine ihrer Nukleinsäuren
aus den DNS-Strängen oder gewinnen neue hinzu als Folge kosmischer
Strahlung, mit Giften belasteter Nahrungsmittel, durch Nebenprodukte des
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
128/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Stoffwechsels und tausend andere natürliche und unnatürliche Prozesse. Die
meisten dieser mutierten Zellen sterben einfach: Ihr neuer DNS-Code ist nicht
lebensfähig. Aber gelegentlich verändert eine Zelle ihr Erbgut auf eine Weise,
daß der natürliche Fortpflanzungsmechanismus »angeschaltet« wird und nicht
mehr ausgeschaltet werden kann. Die Zelle beginnt sich zu teilen – zu
vermehren –, immer aufs neue, und sie wächst exponentiell zu einer
Gewebemasse, die immer mehr Nährstoffe braucht. Sie lenkt Blutgefäße in ihr
Inneres und verzehrt in einer wahren Wachstumsorgie den Raum und die
Gewebe der Organe in der Umgebung. Sie übernimmt das Kommando. Das
nennt man Krebs.
[193]
Man kann Krebs als etwas Natürliches bezeichnen. Zweifellos gibt es einige
Arten von Krebs, die sich beispielsweise aus ehemals nützlichen biologischen
Prozessen entwickelt haben, und es gibt ganz eindeutig Gene, die einen
Menschen mehr oder weniger anfällig für Krebs machen.
Aber die meisten Krebserkrankungen sind keine normalen Vorgänge im
natürlichen Ablauf des menschlichen Lebens. Vielmehr werden sie durch
etwas verursacht, das den Körper von außen schädigt und seine Funktionen
auf eine völlig unnatürliche Weise verändert.
Bezogen auf die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Planeten
bedeutet diese Metapher folgendes: Über Jahrmillionen hat der Genus Homo
und über Hunderttausende von Jahren hat die Spezies Homo sapiens
sapiens friedlich mit dem Rest der Welt zusammengelebt. Unsere Gegenwart
blieb nicht unbemerkt: Während wir von einem Kontinent zum nächsten zogen,
haben wir Dutzende großer auf dem Land lebender Säugetiere ausgerottet,
und wir haben die natürliche Landschaft fast überall, wo wir hinkamen,
verändert. Aber wir waren nie eine wirkliche Bedrohung für das empfindsame
Gewebe des Lebens, für die Gesundheit unseres Planeten.
Unser Handeln war immer lokal begrenzt. Als die Druiden im Jahr 3000 vor
Christus London einnahmen, gab es nichts, was ein Mensch dort tun konnte,
was beispielsweise das Leben der Menschen in den Anden, auf der anderen
Seite des Erdballs, beeinflußt hätte.
[194]
Und selbst die lokal begrenzten Auswirkungen unseres Handelns waren im
allgemeinen so, daß sie die nähere Umgebung für menschliche Ansiedlungen
günstiger gestalteten (Viehzucht, Ackerbau, Hausbau) und keine negativen
Auswirkungen auf das Leben im weiteren Umfeld hatten. Die Erde war noch
lebendig. Die Wälder waren stark und gesund. Tiere, Pflanzen und Fische
wuchsen und lebten im Überfluß.
Männer und Frauen hinterließen keine tiefen Spuren auf der Erde.
Als ich vor ein paar Jahren auf einer Vortragsreise durch England und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
129/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Schottland fuhr, zeigten unsere Gastgeber meiner Familie und mir die Höhlen
in der Nähe von Chiselhurst bei London. Ein großer Teil dieser Höhlen – die
während des Zweiten Weltkriegs als Luftschutzbunker dienten – war vor
Tausenden von Jahren von den Druiden in das weiche Gestein gegraben
worden. Man geht davon aus, daß einige für religiöse Zeremonien benutzt
wurden, weil dort ein Altar in die Wand gemeißelt ist und sie über eine so
außergewöhnliche Akustik verfügen, daß jeder Klang auf überirdische Weise
verstärkt und von den Wänden zurückgeworfen wird.
Auf dem Druidenaltar befindet sich eine Vertiefung etwa in der Größe einer
Schüssel, von der aus eine Rille zum Rand des Altars verläuft. Die Briten, die
vom Zeitpunkt der Eroberung durch die Römer bis vor wenigen hundert Jahren
eine Phase der Folterung, Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen
erlebten, haben kürzlich über diese Stelle ein Bild gehängt, das mehrere
Frauen darstellt, die in einen hölzernen Käfig gesperrt sind, der über der
Vertiefung hängt, und darin verbrannt werden. »Menschenopfer!« schrie das
Poster. »Ein religiöses Ritual der Druiden!« (Nachdem Julius Caesar im Jahr
54 vor Christus versucht hatte, die britischen Inseln zu erobern, schrieb er, daß
die Druiden Menschenopfer darbrachten, indem sie ihre Gefangenen in
riesigen Weidenkörben verbrannten. Dieser Bericht könnte zutreffend sein, es
könnte sich aber auch um eine Praxis handeln, die von den Römern
übernommen wurde, oder Caesar könnte auf diese Weise versucht haben,
seine rücksichtslosen Eroberungskriege und die Ermordung aller Völker, die
ihm im Weg standen, zu rechtfertigen.)
[195]
Niemand weiß genau, wozu die Druiden diese Höhlen benutzten. Aber wir
wissen sehr wohl, daß sie von den Römern, den Sachsen und späteren
Eroberern, deren Nachfahren heute die Mehrheit der englischen Bevölkerung
darstellen, ausgerottet wurden. Unsere Gastgeberin erklärte uns angesichts
des Altars, daß das wenige, was wir heute über die Druiden wissen, darauf
hinweist, daß sie wahrscheinlich das Leben der Erde als weibliche und
gewährende Macht verehrt haben. Ihre kulturellen Spuren lassen erkennen,
daß »Mutter Erde« ihnen heilig war und daß Frauen bei ihnen hohes Ansehen
genossen, wie es in solchen »primitiven« Kulturen üblich ist. So wurde die
Menstruation beispielsweise nicht als abscheulich und unrein betrachtet, wie
es in unseren männlich beherrschten Kulturen üblich ist, wo Frauen während
der Menstruation als »weniger nützlich« gelten, sondern die Druiden sahen
darin wahrscheinlich einen Teil des monatlichen Zyklus der Fruchtbarkeit, des
Lebens und der Natur, etwas, das gefeiert und verehrt werden sollte.
Unsere Gastgeberin zeigte auf die Vertiefung im Altar und sagte: »Ich wette,
daß die Frauen sich darüberhockten und ihr Menstruationsblut hineinfließen
ließen, das dann bei religiösen Zeremonien benutzt wurde oder dazu diente,
die Ernte zu segnen. Vielleicht war es das Menstruationsblut der
Hohepriesterin, das heiligste Opfer, das sie ihrem Stamm darbringen konnte,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
130/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
und deshalb wurden sie und andere Frauen mit einem Respekt behandelt, den
die barbarischen Eroberer für ›Anbetung‹ hielten.«
Das könnte durchaus möglich sein. Riane Eisler[50] und andere Forscher und
Anthropologen verweisen darauf, daß es in der Geschichte zahlreiche
»primitive« Kulturen und Gesellschaften gab, die das Weibliche verehrten und
von Frauen geführt wurden – einige existierten Jahrtausende länger als unsere
westliche Zivilisation und lebten während dieser Zeit friedlich mit ihren
Nachbarn zusammen, bis sie den Eroberern der jüngeren Kultur zum Opfer
fielen.
[196]
Um nun zu unserer medizinischen Analogie zwischen den Zellen des
menschlichen Körpers und den Menschen als Teil der Erde zurückzukehren:
Historisch war der Genus Homo ein Teil der Natur und hat seine Umwelt auf
dieselbe Weise beeinflußt, wie alle anderen Lebewesen – von Tigern bis zu
Termiten – es zwangsläufig ebenfalls tun.
Der Angriff der jüngeren Kulturen läßt uns
wenig Alternativen
Aber dann begann sich vor etwa 7000 Jahren ein Krebsgeschwür zu
entwickeln. Man kann es sich als eine ansteckende Art von Zivilisation
vorstellen, eine, die bis auf den heutigen Tag ihre Wirkung zeigt, wenn Kinder
nach den Geschichten und Konventionen unserer jüngeren Kultur handeln.
Ich erinnere mich beispielsweise an einen Jungen namens Dennis, der mit mir
zusammen im sechsten Schuljahr war. Er verbreitete absoluten Terror und
hatte großen Spaß daran, jeden blutig zu prügeln, der ihm in die Quere kam.
Dennis war der unumstrittene König auf dem Spielplatz, im Park und auf dem
Schulweg. Er knöpfte den unglücklichen Mitschülern, die ihm begegneten, das
Geld fürs Mittagessen ab und schlug andere zusammen, nur weil er Spaß
daran hatte, seine Stärke zu demonstrieren. Er verkörperte in dieser kleinen
Subkultur den Herrscher der jüngeren Kultur. Wir wußten, daß er dieses
Verhalten von seinem Vater übernommen hatte, der, wie Dennis sagte, ihn mit
dem Gürtel schlug, zur Strafe, aber auch, weil es ihm Spaß machte.
[197]
Diejenigen von uns, die in der Nähe von Dennis wohnten und auf dem
Schulweg an seinem Haus vorbeigehen mußten, hatten drei Möglichkeiten:
Wir konnten versuchen, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, es
zulassen, daß er uns immer wieder zusammenschlug, oder wir konnten uns
bewaffnen oder Judo lernen. Da uns die letzte Option im sechsten Schuljahr
noch nicht offenstand, entschieden sich die meisten dafür, Dennis so oft wie
möglich auszuweichen. Trotzdem hat er mir mehr als ein blaues Auge
geschlagen, wobei er jedesmal seine Fähigkeiten auf für mich demütigende
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
131/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Weise vor einem möglichst großen Publikum zur Schau stellte.
Die genannten drei Möglichkeiten sind in etwa auch die Alternativen, die eine
gesunde Kultur hat, wenn sie von einer gewalttätigen Herrscherkultur bedroht
wird. Die nordamerikanischen Ureinwohner versuchten zunächst, mit den
»Besuchern« der jüngeren Kultur aus Europa zu verhandeln und Freundschaft
zu schließen. Als dann deutlich wurde, daß diese Besucher Diebe, Mörder und
Vergewaltiger waren, die den Ureinwohnern das Land und die Tiere stahlen
und ihre Stammesangehörigen töteten, begannen einige, sich zu wehren.
Doch dazu mußten sie die Mittel und Methoden der Angreifer übernehmen.
Und auf diese Weise wurden sie infiziert mit der geistigen Krankheit der
Herrschsucht und Aggression und verwandelten sich in herumziehende
Krieger und Menschenjäger.
Wenn von zwei benachbarten Zivilisationen, die jahrelang zusammengelebt
und miteinander Handel getrieben haben, eine mit dem Weltbild der jüngeren
Kultur infiziert wird, dann kann die andere nur noch fliehen, sterben, sich
versklaven lassen oder ebenfalls das Weltbild der jüngeren Kultur
übernehmen.
Dies ist einer der Gründe, warum unsere jüngere Kultur so furchtbar
ansteckend ist.
Doch selbst heute noch gibt es einige wenige, die die Flamme der alten
Weisheit hochhalten, die älteren Kulturen, deren Erkenntnisse, deren Weltsicht
und Geschichte für uns vielleicht die Chance birgt, das nächste Jahrtausend zu
überleben.
[198]
Die Geschichten verändern
Es gibt Hoffnung. Es gibt immer noch eine Möglichkeit, wie wir die
Geschichten verwandeln können, die unsere Kultur selbst erzählt. Diese
Hoffnung zeigt sich in einer tiefen Sehnsucht, die fast alle Menschen in allen
»modernen« Gesellschaften teilen.
Wir finden diese Sehnsucht nach einer erneuten Verbindung mit der Welt um
uns herum in der Zurück-zur-Natur-Bewegung, der Idealisierung des
Landlebens, der wachsenden Popularität von Öko-Tourismus, Camping und
Wandern, ja sogar im »sportlichen« Bereich bei den Jägern und Anglern. Das
Bedürfnis nach dieser Verbindung ist fest in unserem Gehirn verankert als
Ergebnis der Millionen Jahre, die wir und unsere Vorfahren in der Natur
verbracht haben.
Es gibt ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, sich mit unserer
ursprünglichen Umwelt zu verbinden, und wir können dieses Bedürfnis nutzen,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
132/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
um die Geschichten zu erzählen, die die Menschen sich selbst über die Welt
erzählen.
In der Kultur geht es nicht um das Absolute, das Reale oder das Wahre,
sondern um das, was eine Gruppe von Menschen zusammenhält und woran
sie gemeinsam glauben. Kultur kann gesund oder vergiftet sein, nährend oder
mörderisch. Kultur entsteht aus Geschichten, und wie wir im nächsten Kapitel
sehen werden, können diese Geschichten zum Besseren verändert werden.
Indem wir die Geschichten unserer Kultur ändern, finden wir vielleicht einen
Weg, um einige der Probleme zu lösen, die wir bisher in diesem Buch
behandelt haben.
[199]
Woran wir uns erinnern müssen
Zu plündern, abzuschlachten und zu stehlen,
diese Dinge bezeichnen sie fälschlicherweise
als Imperium; und wo sie ein wildes
Durcheinander anrichten, sprechen sie von
Frieden
Tacitus (55–120, römischer Historiker)
Gold ist am besten: Gold ist ein Schatz; und
wer darüber verfügt, k ann in der Welt alles
tun, was er will; er k ann sogar Seelen ins
Paradies erheben.
Christoph Kolumbus, 1503 in einem Brief
an den König und die Königin von Spanien
W ir haben die Verbindung zu den Erinnerungen unserer frühen Vorfahren
verloren. Wir kennen nicht mehr die Geschichten, die vor zweihundert
Generationen erzählt wurden, und die meisten unserer Geschichtsbücher tun
so, als hätte es diese Zeit gar nicht gegeben: Sie wird als »Vorgeschichte«
bezeichnet, und in diesem Vakuum des »vor« haben wir fast die Schlüssel für
unser zukünftiges Überleben verloren.
Wie konnten wir vergessen? Haben andere Zivilisationen ähnliche blinde
Flecken gehabt? Und wie können wir die Erinnerungen an unsere fernen
Vorfahren wiedererlangen?
»Columbus sailed the ocean blue in 1492« (»Kolumbus besegelte den blauen
Ozean im Jahr 1492«) heißt es in einem amerikanischen Schulreim.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
133/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Schulkinder in den Vereinigten Staaten lernen, daß dies die Zeit der
Entdeckung Amerikas war, womit gemeint ist, daß damals die Europäer
Amerika entdeckten.
Aber Nord- und Südamerika waren schon lange vorher entdeckt worden.
Natürlich, da gab es die heute gut dokumentierten Expeditionen von Leif
Ericson und anderen Norwegern, und einige Gelehrte gehen davon aus, daß
keltische Besucher zwischen 100 vor Christus und etwa 54 vor Christus an der
Küste von New England landeten. Das war ungefähr zu der Zeit, als Julius
Caesar und die Römer erstmals die britischen Inseln eroberten und damit
begannen, die Kelten und ihre Druidenpriester zu ermorden, zu versklaven und
zu vertreiben.
[200]
Aber selbst diese Landnahmen vor zweitausend Jahren markieren nicht das
früheste Datum menschlicher Ansiedlungen in Amerika; dieses liegt
mindestens zehntausend Jahre zurück, vielleicht sogar bis zu vierzigtausend
Jahre.
Paläoanthropologen gehen derzeit davon aus, daß es drei große
Völkerwanderungen über die Bering-See gab, wo vor zehntausend Jahren
noch eine Landbrücke bestand. Die früheste dieser Wanderungen spielte sich
wahrscheinlich vor 35 000 bis 40 000 Jahren ab und führte dazu, daß die
Arktis von Menschen besiedelt wurde, deren Nachfahren sich heute Inuit
nennen und von Europäern früher als Eskimos bezeichnet wurden. Mit der
zweiten Welle gelangten die Menschen wahrscheinlich weiter nach Süden bis
ins heutige Argentinien, was dazu führte, daß Südamerika vor
schätzungsweise 25 000 bis 15 000 Jahren besiedelt wurde. (Darüber wird
immer noch diskutiert: Einige Experten glauben, daß diese Menschen damals
den Pazifik mit Booten überquert haben.) Die dritte Wanderungswelle vor
etwa zehntausend Jahren führte zur Besiedlung Nordamerikas.
Als Kolumbus 1492 auf der Insel Hispaniola landete, hielt er sich für den
Repräsentanten eines großen Weltreichs (das der europäischen Nationen im
allgemeinen und Spaniens im besonderen) und glaubte sich auf dem Weg, ein
anderes großes Weltreich (Indien) zu besuchen. Tatsächlich jedoch waren die
beiden größten, den Europäern damals bekannten Weltreiche die chinesische
Ming-Dynastie und das Osmanische Reich in der Türkei. Sie kontrollierten
mehr als die Hälfte der zwischen ihnen liegenden damals bekannten Welt und
hatten den Handel zwischen Asien und Europa dermaßen blockiert, daß
Kolumbus unter anderem deshalb zu seiner Reise aufbrach, weil er einen
neuen Weg nach Indien finden wollte, der weder durch die von den Türken
kontrollierten Gewässer noch über die von den Chinesen kontrollierten
Landwege führte. Wenn ihm das gelänge, würden die Spanier keine Zölle und
Steuern mehr an diese großen Imperien zu entrichten haben, und ihr Handel
würde dadurch wesentlich profitabler werden. (Die Vorstellung, daß die Leute
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[201]
134/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
damals gemeint hätten, die Erde sei eine flache Scheibe, ist einfach ein
Mythos: Jeder Seeman wußte, daß die Erde rund ist, denn schließlich konnte
man beobachten, wie die Schiffe am Horizont verschwanden. Das gehörte
sowohl unter den Gelehrten als auch unter den Seeleuten zum
Allgemeinwissen, und zwar schon seit Hunderten von Jahren.)
Eine andere Spekulation bezieht sich darauf, daß Kolumbus tatsächlich auf
der Suche nach Amerika war – genauer gesagt auf der Suche nach Gold und
Sklaven, die dort vielleicht zu holen waren –, denn schon vor seiner Abfahrt
gab es viele Berichte von anderen, die »das ferne, reiche Land im Westen«
entdeckt hatten, einschließlich portugiesischer Expeditionen im Jahre 1460,
zahlloser baskischer Unternehmungen zwischen 1375 und 1491 sowie einer
Expedition, die 1481 von Bristol in England ausging, die Küste von
Neufundland erreichte und 1491 zurückkehrte. Die Kunde ging um, und keine
Königin hätte ihre Juwelen versetzen müssen, um Kolumbus auszustatten.[51]
Doch es stellte sich heraus, daß das, was Kolumbus auf Hispaniola entdeckte,
wesentlich profitabler war als jeder steuerfreie Handel mit Indien: Er fand
Sklaven und Gold. Kolumbus kehrte als märchenhaft reicher Mann zurück.
Das führte in Portugal zu einer Explosion des Gold- und Sklavenfiebers.
Innerhalb von dreißig Jahren war Spanien bis 1520 mit zahlreichen
Streitkräften an den Stränden von Mexiko gelandet und hatte den
Ureinwohnern mehrere zehntausend Pfund Gold geraubt.
[202]
Etwa um dieselbe Zeit hörte einer der spanischen Konquistadoren Gerüchte
über ein großes Weltreich im Süden, ein Land, wo die Gebäude mit Gold
verkleidet und die Menschen sagenhaft reich waren. 1532 führte Francisco
Pizarro ein Heer von 260 Söldnern an die Küste des heutigen Peru.[52] Mit 62
Reitern und 198 Infanteriesoldaten ging er an Land und zog hinauf in die
Anden zur Inkastadt Cajamarca, wo er um eine Audienz beim Inkaherrscher
nachsuchte. Dieser reiste nach Cajamarca zu einem, wie er meinte,
friedlichen Treffen mit ausländischen Besuchern, doch Pizarro nahm ihn und
seine Begleiter gefangen und hielt sie als Geiseln fest, bis mehrere Wochen
später ein Lösegeld von zwei Zimmern Silber und einem Zimmer Gold (nach
heutigen Kursen über 60 Millionen Dollar) gezahlt wurden.
Dieses Lösegeld überzeugte Pizarro, daß an den Geschichten, die er über
die Inkas gehört hatte, etwas dran sein mußte, und so ließ er den
Inkaherrscher und seine Begleiter hinrichten, die Leichen begraben und
begab sich auf den langen Marsch nach Cuzco, der auf einem Berggipfel
gelegenen Hauptstadt des Inkareiches von Tahuantinsuyu.
Was er dort fand, war die Hauptstadt des damals größten Weltreichs, eine
Nation, die niemand in Europa und Asien kannte, die jedoch mehr Einwohner
hatte als das China der Ming oder das Osmanische Reich, und die weit
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[203]
135/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
größer als Spanien war.
Das Weltreich der Inka herrschte über das heutige Peru, Argentinien, Chile,
Kolumbien, Bolivien und Ecuador – fast das gesamte Südamerika mit
Ausnahme der Dschungel und Regenwälder auf dem Gebiet des heutigen
Brasilien (das die Portugiesen später für sich in Anspruch nahmen). Die Inkas
hatten über 40 000 Kilometer Straßen gebaut, die bei jedem Wetter befahrbar
waren und ihnen die Transporte durch ihr weites Reich erleichterten, ein
Straßensystem, dem bis zur Entwicklung des Automobils nichts gleichkam. Ihr
Reich war in achtzig politische Provinzen unterteilt, und wie die Römer hatten
sie den verschiedenen Völkern, über die sie herrschten, eine einheitliche
Sprache verordnet, die Runa Simi.
Die Stadt Cuzco war tatsächlich mit Gold überzogen. Es gab riesige
Promenaden, funkelnde Springbrunnen, massive Gebäude, in denen
Regierung und Verwaltung untergebracht waren, und majestätische Tempel.
Und das Gold glänzte überall: Die Bürger trugen Goldschmuck, und die Innenund Außenwände der Tempel und königlichen Paläste waren ganz mit Gold
überzogen. Goldene Statuen und Figuren der verschiedenen Inka-Götter,
besonders des goldenen Sonnengottes Inti, füllten die Stadt und ihre
Gebäude.
Wie das Römische Reich und die nachfolgenden europäischen Reiche wurde
das Reich der Inka von einer elitären Familie beherrscht. Mit weniger als
40 000 Mitgliedern setzte sich diese Familie aus den einzigen wahren
»Inkas« im Reich zusammen – jeder andere war Diener oder Sklave oder
Dorfbewohner. Die königliche Familie der Inkas trat ungefähr zur selben Zeit
hervor wie die königlichen Familien in Europa – zwischen 600 und 1000 nach
Christus –, und sie hatte ihre Herrschaft um 1500 ausgedehnt und gefestigt.
Daß es Pizarro möglich gewesen war, sein berühmtes Dekret zu verlesen,
das größte Imperium der Welt mit nur 260 Mann zu erobern und auf seinen
Schiffen Hunderte von Tonnen Gold nach Spanien zurückzubringen, wurde von
den Spaniern als Zeichen göttlicher Vorsehung betrachtet, ihre Version des
»Manifest Destiny«.
[204]
Der eigentliche Grund für die einfache Eroberung lag jedoch darin, daß zu
dem Zeitpunkt, als Pizarro 1532 in Cuzco ankam, schon mehr als 60 Prozent,
vielleicht sogar bis zu 90 Prozent der Menschen, die ursprünglich im Land der
Inkas gelebt hatten, tot waren.
Als einer der spanischen Konquistadoren 1520 die Pocken nach Mexiko
eingeschleppt hatte, führte das zu einer Epidemie in der einheimischen
Bevölkerung – die gegen diese europäische Krankheit nicht die geringste
Immunität besaß –, welche sich wie in Steppenbrand unter den Ureinwohnern
von Mittel- und Südamerika verbreitete. Bis 1524 war nahezu die gesamte
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
136/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Bevölkerung Panamas den Pocken zum Opfer gefallen, und als die Seuche
erst einmal die Landenge überwunden hatte, verbreitete sie sich in
Südamerika und tötete dort nahezu alle Bewohner.[53]
Wayna Capac, der letzte Inkaherrscher, starb 1525 zusammen mit seinem
Sohn und Thronfolger sowie dem größten Teil seiner Familie an den Pocken.
Das Machtvakuum und der demographische Kollaps waren so gewaltig, daß
Pizarro, als er sieben Jahre später dort ankam, nur noch ein kränkliches
Überbleibsel der einst so mächtigen Zivilisation als schwachen Gegner
vorfand.
Die Inkas hinterließen so viel Gold, vor allem in ihren kunstvoll gearbeiteten
unterirdischen Familiengräbern, daß die spanische Regierung auf den InkaLändereien in Südamerika Minen abstecken ließ. 1537 war der Goldrausch
voll im Gange; Tausende von Spaniern und der kastilische (spanische) König
hatten eine offizielle Schmelzanstalt im Moche-Tal eingerichtet. Deren
Aufgabe bestand jedoch nicht darin, das Gold aus dem Erz zu schmelzen (wie
es die Inkas fast tausend Jahre lang getan hatten), sondern hier wurden
Hunderttausende von goldenen Gegenständen eingeschmolzen, die aus der
Plünderung des Mausoleums von Chan Chan und der Sonnenpyramide
stammten. Sie schmolzen diese Kunstwerke von unschätzbarem Wert ein,
damit die Beute leichter nach Spanien verschifft werden konnte, und die
Männer des Königs überwachten den Vorgang, um die ihm zustehenden 20
Prozent Steuern einzutreiben. Bis auf den heutigen Tag ist die Jagd nach InkaKunstwerken ein wichtiger (wenn auch illegaler) Industriezweig für die Armen,
die auf dem größten Teil des früheren Inka-Landes in Südamerika leben.
[205]
»Das große Vergessen«
Der Australier Geoff Page und der Künstler Bevan Hayward (dessen
Aboriginal-Name Pooaraar ist) haben unter dem Titel The Great Forgetting
ein wunderbares Buch mit Fotos, Gedichten und Geschichten
zusammengestellt. Der Buchtitel ist eine Art »geflügeltes Wort«, mit dem die
australischen Ureinwohner lange Zeit die traurige Geschichte beschrieben
haben, die ihrer Kultur angetan wurde, als sie vor 200 Jahren mit
Waffengewalt gezwungen wurden, sich an die auf europäischen Normen
basierende Kultur der weißen Australier anzupassen. In neuerer Zeit hat
Daniel Quinn diesen Ausdruck in seinen Büchern Ismael und The Story of B
verwendet, um das Phänomen zu beschreiben, daß eine zur Assimilation
zwingende Kultur von Eroberern dafür sorgt, daß das Wissen der
ursprünglichen Kultur zerstört und vergessen wird, von den Eroberern ebenso
wie von den Eroberten.
Der südamerikanische Durchschnittsbürger hat heutzutage, ungeachtet seiner
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[206]
137/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Abstammung, wenig Interesse an der Kultur und dem Leben der Menschen,
die diesen Kontinent vor Pizarro bevölkerten, und noch geringer als sein
Interesse ist sein Wissen darüber. Die Zeit der Inkas ist vergessen, ein Teil
der »Vorgeschichte«, die peruanische Schüler nicht einmal im
Geschichtsunterricht lernen, sondern die in das geheimnisvolle Reich der
Archäologie und Paläoanthropologie verbannt wird. Die Leute wurden
besiegt, die meisten von ihnen starben an den Pocken oder später unter dem
Schwert der Eroberer, und ihr Gold und andere Werte wurden geraubt. Und
dann wurden sie vergessen.
Aber das war nicht das erste große Vergessen.
Als die Inkas, die das Gemetzel der Spanier überlebt hatten, um 1530 befragt
wurden, erklärten sie, die Inkas seien die erste Zivilisation auf dem
südamerikanischen Kontinent gewesen. Der Sonnengott Inti, so sagten sie,
habe den ersten Inka-Mann und die erste Inka-Frau dort geschaffen, und aus
ihnen sei die Nation hervorgegangen. Die Stammbäume waren bekannt, wer
der Sohn von wem war, bis zurück zu jenem ersten Mann und der ersten Frau.
Aber obwohl der durchschnittliche Inka des Jahre 1530 daran glaubte, ist dies
nicht die wahre Geschichte jener Region. Im nördlichen Hochland von Peru
beispielsweise herrschten die Inkas von etwa 800 bis 1500 nach Christus.
Von 400 bis 800 nach Christus wurde dieses Gebiet jedoch von den
Marcahuamachua kontrolliert.
Noch weiter zurück bis etwa zum Jahr 10 nach Christus herrschte das RecuayImperium über diese Gegend. Deren Vorgänger waren die jeweiligen Reiche
der Chavin, Kotosh, Huacaloma und Galgada, deren Herrschaft ungefähr um
das Jahr 2000 vor Christus begann. Von 8000 bis 2000 vor Christus lebten
die Lauricocha, und von 10 000 bis 8000 vor Christus die Guitarrero in dieser
Gegend.
Sie alle waren von den Inkas vergessen worden, so wie die meisten
modernen Peruaner die Inkas selbst vergessen haben.
Obwohl das Reich der Inkas vor 1500 Jahren begann, war ihre Kultur von
Herrschaft, Unterdrückung und Völkermord gekennzeichnet. Sie bauten ihr
Imperium auf, indem sie die Nachbarländer eroberten und deren Bürger
versklavten. Ihr Reich bestand aus einer kleinen herrschenden Elite, etwa ein
Prozent der Bevölkerung, die gut die Hälfte, vielleicht sogar bis zu 90 Prozent
des nationalen Reichtums kontrollierte. In dieser Hinsicht unterschieden sie
sich nicht im geringsten von den Spaniern, die ihr Land eroberten, oder von
den heutigen westlichen europäischen und amerikanischen Kulturen. Sie alle
waren oder sind jüngere Kulturen.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[207]
138/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Andererseits haben einige Angehörige der älteren Kultur das Gemetzel der
Inkas überstanden. Heute gibt es noch Nachfahren von ihnen. Der Stamm der
Kogi in Kolumbien beispielsweise betrachtet den Boden, die Meere, die
Flüsse, die Wälder und den Himmel weiterhin als lebendig und heilig. Sie
sahen mit Entsetzen, wie die Inkas vor 1500 Jahren die Menschen und das
Land überwältigten und unterwarfen, genauso wie sie heutzutage mit
Entsetzen sehen, welche Gewalt die Abkömmlinge der europäischen Kultur
dem Planeten antun. Sie wissen, daß es vor ihnen andere Völker gab, daß die
Erde eine unendlich lange Geschichte hat und daß der Planet mit oder ohne
uns weiterexistieren wird.
Die Schönheit des Erinnerns
Meine Mutter ist von Stammbäumen fasziniert. Sie hat ihre Vorfahren bis zu
Präsident James Madison zurückverfolgt und noch weiter bis ins zehnte
Jahrhundert zum ursprünglichen Prinzen von Wales (bevor die britische
Königsfamilie sich dieses Titels bemächtigte, als sie die Waliser unterwarf).
Ich fühle mich mit Norwegen verbunden, dem Land, aus dem die Eltern
meines Vaters direkt vor dem Ersten Weltkrieg kamen. Wenn ich die
Geschichten lese und die Familienstammbäume betrachte, die meine Mutter
und andere Familienmitglieder ausgegraben und zusammengestellt haben,
dann bekomme ich ein Gefühl von Zugehörigkeit, ein Gespür für Geschichte,
eine Empfindung von Fortbestand und Erdung. Ich frage mich, wie diese
Menschen gelebt haben, was sie getan haben, wie ihre Gedanken und
Handlungen immer noch durch meine DNA und durch die Welt widerhallen. Ich
versuche, so viel wie möglich über ihre Ziele und Ideale herauszufinden, was
dazu beiträgt, mein eigenes Wertesystem zu entwickeln, zu bestärken oder in
Frage zu stellen.
[208]
Dieses Gefühl für die eigene Geschichte ist für Menschen enorm wichtig. Es
ist wesentlich für eine gesunde Kultur, weshalb auch der Geschichtsunterricht
für unsere Schulkinder ein Pflichtfach ist. Es ist wichtig für das
Selbstwertgefühl, und eben deshalb drängen so viele farbige Amerikaner
darauf, Afrika und die Geschichte der Sklaverei nicht mit europäischen Augen
zu betrachten. Aus diesem Grund hat auch fast jeder religiöse oder politische
Führer versucht, den eigenen Platz in der Geschichte entweder neu zu
definieren oder festzuschreiben (oder beides).
Und doch ist unsere Sicht der Geschichte zeitlich und räumlich seltsam
begrenzt.
In den Kulturen, die aus jüdischen, christlichen oder islamischen Religionen
hervorgegangen sind, wird gelehrt, daß der erste hebräische Stamm mit
Adam und Eva und ihren Söhnen Kain und Abel begann. Sie kamen vor etwa
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
139/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
5000 Jahren auf die Erde.
Die Schöpfungsgeschichte spricht von anderen Menschen (im Lande Nod),
mit deren Töchtern sich die Söhne von Adam und Eva vermählten und Kinder
zeugten, aber diese Menschen gehörten zu anderen Stämmen und werden
deshalb nur kurz erwähnt.
Die Geschichte wird auf eine Art erzählt, die uns von den Erinnerungen an die
anderen Menschen abschneidet, die vor der Geburt der Sammler Adam und
Eva, ihres Sohnes Kain, der Ackerbau betrieb, und seines Bruders Abel, der
das Vieh hütete, lebten. Sie errichtet einen Erinnerungswall gegen alles, was
vorher war.
Die auf Herrschaft gegründeten jüngeren Kulturen funktionieren am besten,
wenn ihre Mitglieder glauben, sie seien einzigartig in der menschlichen
Geschichte, direkte Abkömmlinge des ersten Mannes und der ersten Frau und
vom Schöpfer des Universums auserwählt, über alle anderen Kulturen zu
herrschen (eine Annahme, die implizit in den beiden ersten enthalten ist).
[209]
Solche Kulturen kämpfen bis zum letzten Atemzug darum, ihre Annahmen zu
bewahren, und sie werden alles tun, »was nötig ist«, um die Angehörigen
anderer Kulturen, welche eine Herausforderung für diese Überzeugungen
darstellen könnten, entweder zu töten oder ihrer Erinnerungen zu berauben.
Als Pol Pot ein bis zwei Millionen Kambodschaner ermorden ließ –
insbesondere jene, die lesen und schreiben konnten –, verfolgte er dabei das
Ziel, »reinen Tisch« zu machen, um auf dieser Grundlage eine »neue
Gesellschaft« zu errichten. Vor etwa sechs Jahren lernte ich in Indonesien den
Leibarzt von Pol Pot kennen, den Rotkreuzarzt Dr. Will Krynen. Er erzählte mir,
Pol Pot habe geglaubt, wenn es ihm gelänge, seinem Volk jede Erinnerung an
die eigene Geschichte zu nehmen – indem er jeden tötete, der lesen oder
schreiben konnte, und auch jeden, der alt genug war, sich an die
Vergangenheit zu erinnern[54] –, dann könnte er eine neue Gesellschaft
aufbauen, indem die überlebenden Kinder mit einer »neuen Vergangenheit«
aufwachsen würden, die er erfunden hatte und die beinhaltete, daß er der
Vater ihrer Kultur und Zivilisation war. Aus diesem Grund ordnete er an, das
Jahr nach seinem großen Gemetzel an den Kambodschanern als das Jahr
»0« zu bezeichnen. Alle Kalender in Kambodscha würden sich von nun an auf
dieses Datum beziehen, und in den Geschichtsbüchern, die für die jungen
Überlebenden des Gemetzels geschrieben wurden, sollte die Zeit vor dem
Jahr 0 als »Vorgeschichte« gelten, eine relativ bedeutungslose Zeit, über die
nur sehr vage Informationen existierten.
Pol Pot hatte die Geschichte sorgfältig studiert: Er wußte, daß andere vor ihm
genau das getan hatten, was ihm vorschwebte, und damit Erfolg gehabt
hatten.[55] Beinahe hätte er auch Erfolg gehabt, und er hätte seine Pläne
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[210]
140/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wahrscheinlich verwirklichen können, wenn nicht die Vietnamesen in
Kambodscha eingegriffen hätten, um das Gemetzel zu beenden.
Ich war verblüfft, als ich zum ersten Mal einen Stamm amerikanischer
Ureinwohner besuchte und erfuhr, daß es bis vor zwanzig Jahren offizielle
Politik der Vereinigten Staaten gewesen war, amerikanische Ureinwohner,
die ihre eigene Religion praktizierten, ins Gefängnis zu stecken. Bestimmte
Tänze, Schwitzhüttenzeremonien, bestimmte Gesänge und gewisse Arten von
Gebeten waren verboten, und diejenigen, die man bei der Durchführung
solcher »heidnischen« Rituale erwischte, wurden gemeinsam mit Mördern und
Dieben ins Gefängnis gesperrt.[56] Und es ist immer noch Regierungspolitik,
jene amerikanischen Ureinwohner zu Gefängnisstrafen zu verurteilen, zu deren
religiösen Praktiken es gehört, bewußtseinsverändernde Pflanzen zu sich zu
nehmen, die auf ihrem eigenen Land wild wachsen und schon Jahrtausende,
bevor Europäer einen Fuß auf diesen Kontinent setzten, ein wesentlicher
Bestandteil ihrer religiösen Praktiken waren.
[211]
Auch Anthropologen, welche die Religionen und Kultur der amerikanischen
Ureinwohner vor der Ankunft von Kolumbus untersuchen wollen, stoßen dabei
auf erhebliche Schwierigkeiten, besonders in Südamerika, wo es ein großes
Interesse an den Mayas gibt. Die katholische Kirche erklärte die Ureinwohner
zu »Heiden«, und deshalb unternahmen die Spanier gezielte Expeditionen,
um sämtliche Kunstgegenstände, Aufzeichnungen, Tempel, Hieroglyphen und
dergleichen mehr aufzuspüren und zu zerstören, was den Mayas oder anderen
Ureinwohnern erlaubt hätte, sich an die Vergangenheit zu erinnern oder ihre
Kultur fortzuführen. Ihre Sprache wurde verboten, ihre Religionen wurden
verdammt, und jeder, der sich dabei erwischen ließ, wie er das eine oder
andere praktizierte, wurde zum Tode verurteilt. (Auf dieselbe Weise war
Caesar bei der Eroberung Europas vorgegangen, als er die zahlreichen dort
lebenden Stämme ausrottete.)
In den Vereinigten Staaten hatten die Spanier nicht die Gelegenheit gehabt,
so gründlich vorzugehen, wie in Süd- und Mittelamerika, und so existierten
noch viele Indianerstämme, als unsere Soldaten und Siedler im 19.
Jahrhundert westwärts zogen. Auch wenn es nicht gelang, die amerikanischen
Ureinwohner völlig auszurotten, so wurden ihnen doch für Jahrhunderte
Gesetze aufgezwungen, die darauf abzielten, ihnen die Erinnerung an ihre
eigene Geschichte zu nehmen und sie ihrer Identität zu berauben. Viele dieser
Bemühungen wurden von der katholischen Kirche angeführt, die bis heute in
zahlreichen Indianerreservaten Schulen unterhält und andere Programme
durchführt.[57] Diese Praxis gibt es natürlich nicht nur in Amerika. In Australien
beispielsweise hat die Regierung bis in die achtziger Jahre den Aborigines
ihre Kinder mit Gewalt genommen und sie bei weißen Pflegeeltern
untergebracht, damit sie ihre eigene Kultur vergessen sollten.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[212]
141/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Durch die Art und Weise, wie auf Herrschaft ausgerichtete Kulturen die
Massen erziehen, weiß der Durchschnittsbürger der modernen Welt wenig
oder nichts über diese Dinge. Die weitverbreitete Vorstellung ist die, daß
primitive Völker … nun ja … primitiv sind. Selbst dieses Wort, mit dem unsere
Vorfahren mehrere hundert Jahre lang die nordamerikanischen Ureinwohner
bezeichneten, wurde ganz offen verwendet, um Minderwertigkeit, Hunger, ein
ungehobeltes Sozialverhalten, eine kindlich-schlichte Technologie und eine
lächerlich naive Religion anzudeuten. Der am besten bekannte amerikanische
Ureinwohner in der amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts ist eine fiktive
Figur namens Tonto, der Kumpan des heldenhaften Cowboys The Lone
Ranger. »Tonto« bedeutet in der Sprache der Mescalero-Apachen
»langsam«.
Erst seit dem Zweiten Weltkrieg, als eine Einheit amerikanischer Ureinwohner
auf seiten der Alliierten kämpfen durfte und hohe Auszeichnungen errang,
empfinden die Amerikaner Respekt, Schuldgefühle, Einschüchterung und
sogar Ehrfurcht, wenn sie amerikanischen Ureinwohnern begegnen, die noch
nach den Regeln ihrer alten Kultur leben.
Im Grunde wird Ihnen jeder, der die anthropologische Literatur sorgfältig
gelesen oder Stammesgesellschaften besucht hat, erzählen, daß sich die
Tiefe der menschlichen Erfahrung bei »primitiven« und »modernen«
Menschen nicht unterscheidet. Beide haben identische Bereiche des
Ausdrucks und der Emotion, beide haben klar definierte kulturelle Standards
und Verhaltensnormen, beide verfügen über Rituale und Religionen, die für
ihre jeweiligen Angehörigen eine tiefe Bedeutung haben. Der hauptsächliche
Unterschied besteht darin, daß »primitive« Völker im allgemeinen über mehr
Freizeit und Muße verfügen, weniger Armut und nahezu keine Kriminalität
kennen (ganz gewiß gibt es keine Polizei und keine Gefängnisse bei denen,
die nicht die »Art des weißen Mannes« übernommen haben), sich
abwechslungsreicher und gesünder ernähren, weniger degenerative
Krankheiten, eine bessere psychische Gesundheit und eine Kultur haben, zu
deren wichtigsten Werten Kooperation (statt Konkurrenz), gegenseitiger
Respekt (statt Herrschaft), umweltverträgliches Wirtschaften (statt Raubbau an
der Natur, um die schnelle Mark zu machen) und Gleichheit (zwischen
Menschen, zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Mensch und Umwelt)
statt Machthierarchien gehören.
[213]
In seinem Buch Health and the Rise of Civilization[58] (Gesundheit und der
Aufstieg der Zivilisation) weist der Anthropologe Mark Nathan Cohen darauf
hin, daß, gemessen an 30 000 Jahren aufgrund fossiler Funde gut
dokumentierter Menschheitsgeschichte, nur während der letzten ungefähr
hundert Jahre die Menschen, die Ackerbau betrieben, eine höhere
Lebenserwartung hatten als die Jäger und Sammler.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
142/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Die Fakten sind in der Tat verblüffend eindeutig: Vor 30 000 Jahren war der
durchschnittliche erwachsene Mann 1,80 m groß und die durchschnittliche
erwachsene Frau 1,67 m. In den Ackerbaugemeinschaften, die vor
zehntausend Jahren begannen und erst vor etwa zweihundert Jahren endeten,
betrug die durchschnittliche Größe des Mannes 1,67 m, und die Frauen waren
durchschnittlich nur noch 1,52 m groß.
Vor 30 000 Jahren fehlten dem durchschnittlichen Erwachsenen bei seinem
Tod 2,2 Zähne; in den Ackerbaugesellschaften waren es vor 8000 Jahren
schon 3,5 Zähne, und zur Zeit der Römer war der Zahnverfall so explodiert,
daß dem durchschnittlichen Erwachsenen bei seinem Tod 6,6 Zähne fehlten.
Und das hatte nichts damit zu tun, daß die Menschen länger lebten:
Tatsächlich betrug die durchschnittliche Lebensspanne eines Mannes im
späten Paläolithikum 33,3 Jahre, was in den Ackerbaugesellschaften erst
wieder erreicht wurde, als die durchschnittliche Lebensspanne nicht-weißer
Männer um 1900 in den Vereinigten Staaten 32,5 Jahre erreichte. (Seither
haben vor allem die Antibiotika in der Ersten Welt zu einem plötzlichen
Anstieg der Lebenserwartung geführt, denn Sulfonamide wurden während des
Ersten Weltkriegs und das Penizillin wurde während des Zweiten Weltkriegs
entwickelt.) Im allgemeinen ernährten sich die Jäger und Sammler gesünder
und abwechslungsreicher als die Ackerbauern, sie bekamen mehr
angemessene Bewegung und lebten mit weniger Streß in größerer Harmonie
mit ihrer Umgebung und ihren Nachbarn.
[214]
Wie Jack Forbes bemerkt, ist es mehr als nur eine kleine Ironie, daß die
Menschen, die wir als »primitiv« und »unzivilisiert« bezeichnen, einen
Lebensstil entwickelt hatten, der so gut funktionierte, daß sie weder Polizei
noch Gefängnisse brauchten. Seitdem ich das gelesen habe, habe ich
festgestellt, daß es einen sicheren Weg gibt, um zu bestimmen, wie gerecht
eine Gesellschaft ihr Vermögen verteilt: Je stärker der Reichtum in den
Händen weniger Menschen konzentriert ist, und je mehr Gewalt die
Herrschenden in einer Gesellschaft anwenden, desto mehr Gefängnisse gibt
es.
Woran wir uns erinnern müssen:
Das Weltbild der »älteren Kultur«
Forbes hebt hervor, daß die amerikanischen Ureinwohner mit wenigen
Ausnahmen in ihren kollektiven Mythen andere Vorstellungen hegten. Statt der
Geschichte, daß wir »vom Rest der Schöpfung getrennt und dazu geboren
sind, über sie zu herrschen«, haben diese Kulturen ein anderes Bild vom Platz
des Menschen innerhalb der Schöpfung:
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
143/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wir sind ein Teil der Welt. Wir sind aus demselben Fleisch gemacht
wie andere Tiere. Wir teilen Luft, Wasser, Erde und Nahrung mit jeder
[215]
anderen Lebensform auf dem Planeten. Wir werden auf dieselbe Weise
geboren wie andere Säugetiere, und wenn wir sterben, werden wir wie
sie ein Teil der Erde, die künftige Generationen ernähren wird.
Es ist unsere Bestimmung, mit dem Rest der Schöpfung zu
kooperieren. Jede Lebensform hat ihre spezielle Aufgabe im großen
Ökosystem, und sie alle sind zu respektieren. Jedes Tier und jede
Pflanze verfügt über eine eigene, einzigartige Intelligenz und geistige
Kraft. Es ist uns erlaubt, mit anderen Pflanzen oder Tieren zu
konkurrieren, aber wir dürfen sie nicht mutwillig zerstören. Alles Leben
ist genauso heilig[59] wie das menschliche Leben. Obwohl das Jagen
und Töten von Lebewesen, die uns als Nahrung dienen, ein Teil der
natürlichen Ordnung ist, muß es mit Respekt und Dankbarkeit
geschehen.
Ältere Kulturen sind überwiegend auf Kooperation und nicht auf Herrschaft
angelegt. Es gibt menschliche Kulturen, die sich nicht an der Zerstörung der
Welt beteiligen. Sie machen deutlich, daß Zerstörung und Herrschaft nicht
ein unvermeidlicher Teil der menschlichen Natur sind.
Bevor die jüngeren Kulturen vor etwa 7000 Jahren auf den Plan traten, gibt es
keine anthropologischen Belege dafür, daß irgendeine andere Kultur sich als
getrennt von der Natur und ihr überlegen sah. Wir finden die Überbleibsel
dieser älteren Kulturen in Stammesgesellschaften überall auf der Welt, die wie
die San, die Kogi, die Ik in Uganda, die Navajo, die Hopi, die Cree und die
Ojibwa in Harmonie mit ihrer Umwelt und ihren Nachbarn leben und alles
Leben als heilig betrachten. Die San-Buschmänner kann man nicht einmal als
»Steinzeitmenschen« bezeichnen, weil sie nie Steinwerkzeuge benutzt,
sondern stets alles aus Holz hergestellt haben, und doch haben sie ihren
Lebensstil 10 000 Jahre (vielleicht sogar 100 000 Jahre) vor Aristoteles
erfolgreich praktiziert. Sie hinterlassen nur wenige Spuren, weil sie solche
Meister im Umgang mit Ressourcen sind.
[216]
Das ist umweltverträgliches Verhalten, und im Gegensatz zu den Geschichten
unserer Kultur war und ist es oft ein glückliches und bequemes Leben.
Als wir vor Jahrtausenden ein ähnliches Leben führten, genossen wir
Sicherheit von der Wiege bis zum Grab. Der Stamm sorgte für sich selbst, und
wir sorgten füreinander. Wenn einer Nahrung hatte, hatten alle Nahrung; wenn
einer ein krankes Kind oder pflegebedürftige Eltern hatte, dann hatte jeder ein
krankes Kind oder pflegebedürftige Eltern. Sicherheit war in solchen
Gesellschaften der Maßstab des Reichtums. Tauschmittel wie Geld waren
überflüssig; die Vorstellung, Nahrung oder andere Dinge zu horten, war
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
144/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
undenkbar, weil jeder für jeden verantwortlich war. Unsere frühen Vorfahren
lebten genauso wie alle anderen kooperativen Gemeinschaften in der Natur,
seien es nun die Gemeinschaften von Wölfen oder Schimpansen oder
Präriehunden: Sie gaben aufeinander acht. Unsere Vorfahren – Menschen wie
Sie und ich –, Menschen aller Rassen auf allen Kontinenten, lebten auf diese
Weise überall auf der Welt, 40 000 oder sogar 200 000 Jahre lang, je
nachdem, welchen archäologischen Theorien man folgen will.
Und dann kam es zu Eruptionen innerhalb der traditionellen Kulturen. In
einigen Teilen der Welt begannen die Menschen, ihren Lebensstil zu ändern
und mit dem Ackerbau zu experimentieren. Das führte zu einer effizienteren
Nahrungsmittelproduktion, wodurch die Bevölkerung wuchs und es einigen
Leuten möglich wurde, Nahrung zu horten: Das war der Anfang des
»Reichtums«. (Heute versuchen wir mit unserem Geld jene Sicherheit »von
der Wiege bis zum Grab« zu kaufen, die einst das Geburtsrecht aller unserer
Stammesvorfahren war, heute jedoch nur für sehr wenige von uns erreichbar
ist.)
[217]
Und dann begann eine Untergruppe der Ackerbauern mit einer neuen
kulturellen Idee zu experimentieren, der zwangsweisen Bekehrung, um andere
auf diese Weise in ihre Kultur einzubeziehen, die es vorher noch nie gegeben
hatte. Und ihre Götter sagten ihnen, wenn sie die anderen nicht bekehren
könnten, dann sollten sie sie ausrotten. Es gab einige wenige (wahrscheinlich
nicht mehr als ein Dutzend) Stämme, welche sich über die Zehntausende
anderer erhoben, die diesen Planeten bevölkerten, und dieser winzigen Zahl
gelang es, alle anderen, die umweltverträglich, friedlich und naturverbunden
lebten, auszurotten und zu vertreiben. Sie verließen den Garten Eden und
begannen, auf Herrschaft gegründete Stadtstaaten und später dann
Weltreiche zu schaffen.
Die Geburt von Klassenunterschieden
und Machtstrukturen
Sie waren die ersten Menschen, die mit Wétiko infiziert waren, dem Ursprung
unserer jüngeren Kultur, und deswegen wurden sie effizienter darin, ihre
eigene Zahl zu erhöhen.[60] Sie hatten mehr Sonnenlicht unter ihre persönliche
Kontrolle gebracht. (Ich sage »infiziert«, weil die jüngere Kultur ansteckend ist:
Menschen, die von jüngeren Kulturen angegriffen werden, haben wenig
Wahlmöglichkeiten, und jene, die überlebt haben, sind oft selbst zu jüngeren
Kulturen geworden.)
[218]
Natürlich mußte dafür ein Preis gezahlt werden. Während die San, Kogi, Ik und
andere eingeborene Stammesgesellschaften vielleicht weniger als zwei bis
vier Stunden täglich mit Nahrungssuche und der Erfüllung lebensnotwendiger
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
145/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Bedürfnisse verbrachten (und bis heute verbringen), hat sich diese Relation in
den Gesellschaften der jüngeren Kultur radikal verändert, denn der
»Durchschnittsbürger« mußte und muß für sein bloßes Überleben länger und
härter arbeiten. Die Angehörigen der herrschenden Elite indessen konnten im
Luxus schwelgen und immer weniger arbeiten.
Also mußte für jeden Menschen, der nur ein oder zwei Stunden am Tag
arbeitete, ein anderer vier oder acht oder zehn Stunden arbeiten. Ohne eine
massive Ausbeutung von Ressourcen oder Diebstahl am Eigentum anderer
Menschen müssen für jede Person mit zehnfachem Reichtum zehn andere
sich auf ein Zehntel dessen beschränken, was ihnen eigentlich zustehen
würde. So wurden die sozialen und ökonomischen Klassen geboren, und die
ersten Regierungen wurden gebildet, um die sozio-ökonomische Struktur der
Gesellschaft zu definieren, anzuordnen und zu kontrollieren und den Reichen
dabei zu helfen, ihren Reichtum zu bewahren und zu vergrößern.
Ob sie es wußten oder nicht, diese Regierungen – damals meist
Königreiche – haben die Werte der jüngeren Kultur auf alle Bürger, arm und
reich, übertragen. Die Mächtigen jener Zeit haben das Bewußtsein ihrer
Untertanen »programmiert«, genauso wie es heute unsere Regierungen,
Erziehungsinstitutionen und Massenmedien tun.
[219]
Wie es geschah
Niemand weiß, wie es zum ersten Ausbruch des kulturellen Wahnsinns von
Wétiko gekommen ist, aber den Gesetzen der Logik nach ist es
wahrscheinlich an Orten geschehen, wo Nahrung hin und wieder im Überfluß
vorhanden war. So betrieben beispielsweise bei den amerikanischen
Ureinwohnern die Stämme der Tlingit und Waida an der nordwestlichen
Pazifikküste in der Gegend um Vancouver Island einen extensiven Handel und
hielten Sklaven, lange bevor die Europäer kamen (die selbst ebenfalls
Sklaven besaßen). Anthropologen (die von westlichen Vorurteilen beeinflußt
sein könnten) gehen davon aus, daß zu jeder beliebigen Zeit bis zu 25 Prozent
der lokalen Bevölkerung Sklaven gewesen sein könnten, wobei sieben bis 15
Prozent die Norm waren. Warum?
Einige Anthropologen haben die Theorie entwickelt, daß diese Stämme, weil
die Lachse zweimal im Jahr durch ihr Gebiet zogen und kurzfristig für
Nahrungsüberfluß sorgten, Methoden entwickelt haben, um die gefangenen
Fische haltbar zu machen (Trocknen, Salzen etc.) und auf diese Weise
während des ganzen Jahres mehr Nahrung zur Verfügung zu haben, von der
sehr viel mehr Menschen leben konnten. Und tatsächlich wuchs die Anzahl der
Stammesmitglieder in vielen dieser Gegenden, so daß zu einem Stamm
schließlich mehrere hundert Menschen gehörten, während die Stämme der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
146/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Jäger und Sammler weiter im Landesinneren selten mehr als 50 bis 100
Mitglieder zählten. Eine ähnliche Größenordnung hatten die meisten Stämme
offenbar auch in Europa von den Anfängen der menschlichen Besiedlung vor
etwa sechzig- bis vierzigtausend Jahren bis zum Auftreten der »Zivilisation«
vor fünf- bis zehntausend Jahren, und wir finden immer noch Reste dieser
Struktur in Nordschweden bei den Lappen, welche die letzten eingeborenen
Jäger- und Sammlergesellschaften in Europa sind.
Zusammen mit der Möglichkeit, mehr Menschen zu ernähren, entstand durch
die Fähigkeit, Nahrungsmittel haltbar zu machen, jedoch ein zweiter, kulturell
zerstörerischer Nebeneffekt: Das Horten von Nahrung schuf den ersten
Reichtum.
[220]
Diejenigen, die am erfolgreichsten Nahrung horteten oder Nahrungsvorräte
stahlen, verfügten über den größten Nahrungsreichtum. Wenn die Nahrung
vorübergehend knapp wurde, mußten sich die Menschen oder Stämme den
Reichen unterordnen, um genügend Nahrung zum Überleben zu bekommen.
Das Horten von Nahrung war vielleicht der erste Schritt, mit dem sich die
Menschen von der Natur entfernten.[61] Es schuf die erste Trennung zwischen
den Menschen und der natürlichen Welt. Als Begleiterscheinung entwickelte
sich eine selbstzerstörerische Arroganz und der Glaube, man könne die Natur
beherrschen, woraus schließlich die Idee entstand, man könne andere
Menschen unterwerfen oder ausrotten.
Die »Sklaverei« (Verlust der Freiheit) der
Zivilisation
Im Jahre 1861 durchquerte Mark Twain einen großen Teil der Vereinigten
Staaten mit der Eisenbahn und der Überlandkutsche, und er dokumentierte
seine Reise in Roughing It. Das Buch wurde 1871 veröffentlicht. Während
einer Fahrt mit der Postkutsche in der Nähe des Großen Salzsees begegnete
er einer Gruppe von Schoschone sprechenden amerikanischen Ureinwohnern,
die sich Gosuite nannten und von den Weißen oft als »Digger Indians«
bezeichnet wurden. Twain hielt sie für »die elendesten menschlichen Wesen,
die ich je gesehen habe« und schrieb, »[sie] stellen nichts her, sie haben
keine Dörfer, keine Versammlungsorte in ihren streng begrenzten
Stammesgemeinschaften – ein Volk, dessen einziges Obdach ein Lumpen
ist, der als Schutz gegen den Schnee über einen Busch geworfen wird, und
das gleichwohl in einer der felsigsten, kältesten, abstoßendsten Gegenden
lebt, die es in unserem Land oder überhaupt auf der Welt geben kann. Die
Buschmänner und unsere Goshoots[62] [sic] stammen eindeutig von
demselben Gorilla, Känguruh oder derselben Wanderratte ab, ganz gleich,
welchem tierischen Vorfahren die Darwinisten sie zuordnen.«
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[221]
147/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Bis auf den heutigen Tag sehen viele Leute, die sich nicht die Mühe gemacht
haben, sich genauer mit den Schoschonen oder anderen Jäger- und
Sammlervölkern zu beschäftigen, diese Menschen ganz ähnlich wie Mark
Twain. In Büchern und Filmen wird immer wieder unterstellt, ihr Leben müsse
ein andauernder verzweifelter Kampf um die tägliche Nahrung gewesen sein,
und sogar Menschen vom Format eines Benjamin Franklin haben gesagt,
weder ihre Kultur noch ihre Religion verdiene, als solche bezeichnet zu
werden.
Doch diese Überzeugungen, die Twain, Franklin und viele moderne Menschen
teilen, sind falsch. Wenn das höchste Ziel der gegenwärtigen Zivilisation darin
besteht, Freizeit zu haben, frei zu sein von den Zwängen, für Nahrung und
Obdach sorgen zu müssen, damit man über die großen Mysterien des Lebens
nachdenken kann, dann hatten die Schoschonen den Gipfel des Erfolgs
erreicht!
Unsere Kultur lehrt, daß Zivilisationen (Städte/Staaten) als Ergebnis
technologischer Innovationen (wie es der Ackerbau war) entstehen und den
Menschen mehr Freizeit gewähren. In dieser Freizeit, so lautet die
Geschichte, bringen sie Kunst, Literatur und Religion hervor und erkunden den
Kosmos. Primitive Kulturen haben das alles nicht, weil ihnen die Zeit dazu
fehlt.
Tatsächlich handelt es sich hier jedoch um zwei unserer tödlichsten Mythen.
[222]
Freizeit
Jede empirische Untersuchung historischer oder gegenwärtiger Kulturen
kommt zu dem Ergebnis, daß die Leute um so härter arbeiten müssen und ihr
Leben um so hektischer ist, je komplexer und hierarchischer eine Kultur
aufgebaut ist. Sehen Sie sich nur an, wie viele Stunden pro Woche der
durchschnittliche Angestellte in einer mittleren Leitungsposition arbeitet
(ungefähr 60) und in wie vielen Familien zwei Erwachsene 40 Stunden pro
Woche arbeiten, was einer Gesamtarbeitszeit von 80 Wochenstunden
entspricht, um Miete oder Hypotheken zu bezahlen und die Familie zu
ernähren.
Freizeit im Sinne von Freiheit genießt in einer städtisch-staatlich organisierten
Gesellschaft nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen: die wirtschaftliche
und politische Führungsschicht. Und weil die herrschende Klasse keine
Nahrung produziert, müssen die anderen Nahrungsproduzenten entsprechend
mehr Zeit dafür aufwenden.
Die Schoschonen benötigten genauso wie alle anderen Menschen
durchschnittlich 2000 Kalorien pro Tag. Aber sie verbrachten durchschnittlich
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
148/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
nur zwei Stunden täglich mit der Nahrungssuche, weil sie Nomaden waren, die
dem Nahrungsangebot folgend von Ort zu Ort zogen. Wenn mit dem Wechsel
der Jahreszeiten die Nahrung an einem Ort knapp wurde, zogen sie einfach in
eine andere Gegend. Wenn ein bestimmtes Nahrungsmittel nicht vorhanden
war, wußten sie, wo und wie sie ein anderes finden konnten.
Professor Richard Lee von der Toronto University hat festgestellt, daß eine
ähnlich strukturierte Stammesgruppe, die !Kung in der afrikanischen KalahariWüste, weniger als 15 Stunden pro Woche (ungefähr zwei Stunden pro Tag)
damit verbrachten, Nahrung zu suchen und für andere Lebensnotwendigkeiten
zu sorgen. Den Rest der Zeit, so sagt er, spielten sie, erzählten Geschichten
und musizierten. John Yellen von der National Science Foundation stellte fest,
daß dasselbe für die Hottentotten gilt, eine andere Gruppe von Jägern und
Sammlern in Afrika.
[223]
Kulturelle Tiefe
Im Gegensatz zu den Eindrücken Mark Twains hatten die Schoschonen eine
differenzierte Kultur und Religion, die reich an Bedeutung war. Im allgemeinen
litten sie nicht unter Hungersnöten oder Seuchen. Sie lebten zumindest
mehrere tausend Jahre lang bequem und glücklich auf ihrem Land, hielten es,
so gut das in einer Wüsten- und Bergregion möglich war, sauber und fruchtbar
und lebten in Harmonie mit ihren Nachbarn.
Zu der Zeit, als Mark Twain durch ihr Territorium reiste, hatten die
Schoschonen – über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren – etwas
verwirklicht, das unsere Führer immer wieder als höchstes Menschheitsziel
anpreisen: Sie hatten dafür gesorgt, daß es keine Kriege gab. In ihrer
Sprache existierte nicht einmal ein Wort für Krieg.
Die Schoschonen lebten als Stammesgesellschaft in einer der verlassensten
Gegenden Nordamerikas, und ihre Bevölkerungsdichte schwankte zwischen
einer Person auf fünfzig Quadratmeilen und einer Person auf hundert
Quadratmeilen. Eine typische Stammeseinheit bestand aus einer einzigen
Großfamilie von fünf bis zwanzig Personen, die gemächlich durch ein weites
Gebiet zogen. Wenn sie bei seltenen Gelegenheiten von anderen
(einschließlich Weißen) angegriffen wurden, liefen sie einfach davon und
versteckten sich. Doch solche Situationen waren seltene Ausnahmen, vor
allem deshalb, weil die Schoschonen keine Reichtümer angesammelt hatten.
Sie hatten keine Verfahren entwickelt, um Nahrung haltbar zu machen und zu
horten, sie sammelten keine Mineralien und auch sonst nichts, was sie nicht
hätten bei sich tragen können. In dieser Hinsicht waren sie nicht arm: Ihr Leben
war bequem, ihre Familienbeziehungen waren bedeutsam, und sie fanden
immer reichlich Nahrung. Ein Symbol dafür ist die Tatsache, daß es einem
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[224]
149/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Schoschonen höchstes Ansehen eintrug, wenn er anderen von dem gab, was
er hatte. Großzügigkeit war der Weg, auf dem man bei den Schoschonen
gesellschaftliches Ansehen erwarb, im Gegensatz zu den Weißen, deren
sozialer Status davon abhing, wieviel Nahrungsvorräte und andere
Besitztümer sie unter ihrer Kontrolle hatten.
Von den Weißen wurden die Schoschonen als Diggers (Gräber) bezeichnet,
weil sie oft im Boden nach Wurzeln und anderer Nahrung gruben. Die Weißen
unterstellten, daß es sich dabei um eine Art landwirtschaftlicher Unfähigkeit
handelte, aber tatsächlich verfügten die Schoschonen über ausgezeichnete
Kenntnisse in bezug auf das Leben in ihrer Umgebung, oberhalb und unterhalb
der Erde. Sie benutzten einen heiligen Grabstock, um ihre Nahrung aus dem
Boden zu holen, die dann im Rahmen von Ritualen und Zeremonien
verarbeitet und transportiert wurde. Wenn ein Stein bewegt werden mußte,
benutzten sie dazu eine andere Art von Stock. Wenn die Schoschonen in die
Natur blickten, sahen sie eine Landschaft, die reich an sichtbarem und
verborgenem Leben war. Dieses Leben war ihnen bekannt, es rief sie, sprach
zu ihnen und führte sie auch oft.
Die Kultur der Schoschonen war voller Rituale und Regeln, welche, um ihren
Chronisten, den verstorbenen Peter Farb[63], zu zitieren, »genauso komplex
waren wie die des Vatikan oder des Hofes von Versailles«. Während ihres
ganzen Lebens mußten sie sich der Geister der Natur und der jenseitigen
Welten, die sie umgaben, bewußt sein, um zu überwachen, ob ihre
Handlungen und ihre Beziehungen zu anderen angemessen und passend
waren, mußten sich ihre Verpflichtungen und früheren Interaktionen mit ihrer
Familie und anderen Clans vergegenwärtigen und wissen, wo sich die
heiligen und profanen Orte befanden, damit sie besucht oder gemieden
werden konnten. Besonders ausgefeilte Verhaltensregeln gab es für die Riten
des Übergangs einschließlich der Eheschließung, Geburt, Tod und Pubertät.
[225]
Im Leben der Schoschonen herrschte weitgehende Gleichheit. Führerschaft
hing vor allem davon ab, ob jemand ein guter Ratgeber war. Der beste Jäger
führte die Jagd an; wer als Medizinmann oder Medizinfrau über die meisten
Kenntnisse und Erfahrungen verfügte, war der Arzt der Gruppe; der beste
Nahrungssammler führte bei der Suche nach Pflanzen. Da das Niveau von
Wissen und Erfahrung sich im Laufe des Lebens bei den einzelnen Menschen
veränderte, wechselten auch die Führungsrollen häufig. Die jeweiligen Führer
betrachteten ihre Aufgabe eher als Verpflichtung denn als Gelegenheit, Macht
und Reichtum zu erlangen, wie es »zivilisierte« Menschen oft tun. Die
Führungsaufgabe war eine schwere Last und wurde deshalb mit Respekt
wahrgenommen und oft auf mehrere Personen verteilt. Niemand strebte sie an
oder arbeitete darauf hin, sondern sie wurde meist dem kompetentesten
Mitglied vom Rest des Stammes aufgebürdet. Der häufige Wechsel der
Führerschaft unter den Schoschonen war eine Eigenart, welche die weißen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
150/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Europäer anfangs besonders verwirrte.
Während ein Farmer in Iowa heute jeden Tag unter Einsatz seiner 2000
Kalorien Lebensenergie zwölf Millionen Kalorien Nahrungsmittel produzieren
muß (und das nur tun kann, indem er technische Geräte einsetzt, die mit Öl
betrieben werden), brauchte ein Schoschone täglich nur 4000 Kalorien
Nahrung zu produzieren. Das ist es, was die Anthropologen als »kulturellen
Überhang« bezeichnen: Je mehr Energie eine Gesellschaft darauf verwendet,
nicht eßbare »Dinge« – seien es Kathedralen oder Spielzeuge oder
Wohnhäuser – zu produzieren, desto mehr Energie müssen diejenigen, die
Nahrung produzieren, mit ihrem Einsatz erzeugen. Während der kulturelle
Überhang bei uns massiv ist, war er bei den Schoschonen relativ bescheiden:
Die zusätzlichen Kalorien, welche die Erwachsenen beschaffen mußten,
dienten überwiegend dazu, kleine Kinder und sehr alte Stammesangehörige
zu ernähren.
[226]
Aus diesem Grund kam es bei den Schoschonen auch selten zu
Hungersnöten. Sie hatten keine schwankenden Produktionsstrukturen und
keine Vorratshaltung, die umkippen konnte. Wenn das Nahrungsangebot in
einem Gebiet knapp wurde, zogen sie einfach weiter.
In all diesen Beziehungen waren die Schoschonen (wie die meisten anderen
Völker, die in kleinen Stammeseinheiten leben) bemerkenswert frei von den
Lasten jeder Art von Sklaverei. Niemand »arbeitete« für einen anderen,
niemand war das »Eigentum« eines anderen, niemand produzierte Nahrung
für irgend jemanden, der nicht zur engeren Familie gehörte. Durchschnittlich
verbrachten sie zwei bis vier Stunden am Tag mit der Nahrungssuche, und der
Rest der Zeit stand ihnen zur freien Verfügung, um sich der Muße hinzugeben
oder Zeremonien abzuhalten. (Diese Situation ist typisch für
Stammesgesellschaften überall auf der Welt.)
Moderne Sklaven
Im Gegensatz zu den Menschen, die in Stammesgesellschaften leben, gibt es
in unserer modernen Gesellschaft nur wenige Leute, die sich auch nur
annähernd »frei« fühlen. Wir sind moderne Sklaven, Gefangene der
»Sklavenhalter« unserer Kultur. Diese Sklavenhalter benutzen als Ketten
Hypotheken, die wir der Bank schulden, Kredite fürs neue Auto, unbezahlte
Rechnungen, Grundsteuern fürs Eigenheim und viele andere mehr oder
weniger subtile Formen ökonomischer und kultureller Druckmechanismen, um
uns den größten Teil unserer Lebenszeit zu rauben und für ihre Zwecke zu
verwenden.
Als Resultat kennt fast jeder in der modernen Gesellschaft irgend jemanden,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[227]
151/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
der Beruhigungsmittel nimmt oder zu viel Alkohol trinkt; Fernsehsucht ist so
verbreitet, daß sie zum Zerfall traditioneller sozialer Gruppen und Vereine
führt, und unsere Kinder versinken in einem Meer von Schmerz und
Verwirrung, was in den letzten dreißig Jahren zu einer Verdoppelung der
Selbstmordrate von Teenagern geführt hat.
Sklaven wissen, daß sie Sklaven sind, ganz gleich, mit welchen Worten man
ihre Sklaverei beschreibt. Und sie werden immer versuchen, der Sklaverei zu
entkommen, sei es durch zunehmend stärkere Drogen, durch zunehmend
intensivere Formen der »Unterhaltung« oder durch psychopathisches oder
gewalttätiges Verhalten.
Wir müssen anfangen, unseren Kindern und unseren Bürgern beizubringen,
wie man nach einer wahrhaftigeren Geschichte der Welt sucht, und wir
müssen sie ermutigen, nach der Wahrheit der Gegenwart zu suchen. Nur dann
können wir wieder eine Verbindung zu unserer Vergangenheit herstellen und
so damit beginnen, eine größere persönliche Identität, kollektive Identität und
kollektive Verantwortlichkeit zu schaffen.
Auf der Grundlage dieses neuen Gefühls dafür, wer wir sind und wo wir in der
Welt hingehören, werden die Dinge, die wir zu tun haben, um einen Beitrag zur
Rettung der Welt zu leisten, erkennbar und machbar; ohne diese Perspektive
erscheinen sie uns überwältigend und undurchführbar.
Bei meinen diesbezüglichen Untersuchungen und Überlegungen bin ich zu
dem Schluß gekommen, daß wir von den Angehörigen der älteren Kulturen
wichtige Lektionen lernen können. Vielleicht sind das tatsächlich die
Lektionen, die unsere Welt retten werden …
[228]
Das Leben der alten Völker
Die Mission der Vereinigten Staaten ist eine
der wohlwollenden Assimilation.
U.S.-Präsident William McKinley (1843–1901)
Die San und die Kogi: Die Bedeutung von
Gemeinschaft und Kooperation; wir sind
ein Teil der Welt und nicht von ihr getrennt
Eine der ältesten Kulturen der Erde ist die der !Kung-Buschmänner in der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
152/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wüste Kalahari im nördlichen Teil Südafrikas. Das Ausrufungszeichen in
ihrem Namen !Kung steht für einen bestimmten Laut in ihrer Sprache, den es
in unserer Sprache nicht gibt: ein Schnalzen, das im Mund erzeugt wird, indem
man die Zunge oben gegen den Gaumen preßt, so daß sich dort ein Vakuum
bildet, und dann die Zunge ruckartig nach unten schnellen läßt. Es gibt noch
drei andere Laute in ihrer Sprache, für die wir keine Buchstaben haben, und
bei allen handelt es sich um schnalzende oder klickende Geräusche, die auf
ähnliche Weise dadurch erzeugt werden, daß man die Zunge gegen den
vorderen oder seitlichen Teil des Gaumens oder der Zähne preßt. Die !KungBuschmänner haben eine so einzigartige Kultur hervorgebracht, daß ihre
Sprache, so alt sie auch ist, Laute enthält, die in keiner anderen Sprache der
Erde zu finden sind.
Als sie während der letzten Jahrzehnte besser bekannt wurden, haben sie
Anthropologen und Linguisten gebeten, sie als die San zu bezeichnen, obwohl
man sie in den meisten Veröffentlichungen, die vor 1980 erschienen sind,
weiterhin die !Kung nennt. (Die San und ihr Leben werden in dem Film Die
Götter müssen verrückt sein auf wunderbare Weise portraitiert.)
[229]
Die San unterscheiden sich in rassischer Hinsicht von anderen Afrikanern, die
den Kontinent während der letzten Jahrtausende erobert haben. Ihre Haut ist
mehr gelb als schwarz, und ihre Augen sind leicht geschlitzt, als würden sie
von Asiaten abstammen, oder vielleicht sind sie auch selbst frühe Vorfahren
der Asiaten. Ihr Haar ist schwarz und kraus wie bei anderen Afrikanern, aber
sie sind relativ klein und zierlich gebaut, oft kaum größer als 1,50 Meter bei
einem Gewicht von deutlich weniger als 100 Pfund.
Der erste Chronist, der recht gewandt über das Leben der San berichtete, war
Laurens van der Post, ein südafrikanischer Forschungsreisender und
Schriftsteller. In seinem 1961 erschienenen Buch The Heart of the Hunter[64]
(Das Herz des Jägers) berichtet er darüber, wie er einem kleinen !KungStamm von etwa einem Dutzend Erwachsenen und Kindern begegnete, die
gerade einen besonders heißen und unwirtlichen Teil der Wüste durchquerten.
Van der Post und seine Begleiter begannen, Wild zu jagen, damit die
Buschmänner mehr Nahrung mit auf ihre Reise »zu den Blitzen am Horizont«
nehmen konnten, wo die jahreszeitlich bedingten Regenfälle einsetzten. Die
Forschungsreisenden verbrachten einen ganzen Tag damit, von ihren
Landrovern aus zu jagen, und sorgten dafür, daß die Buschmänner für ihren
weiteren Weg gut gerüstet waren.
Als der kleine Stamm aufbrach, standen van der Post und seine Leute da und
winkten ihnen zum Abschied nach, aber die Buschmänner zogen einfach
lächelnd und ohne ein Dankeswort davon.
Einer der Assistenten von van der Post, ein Jäger, der noch nie zuvor
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
153/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Buschmänner getroffen hatte, meinte, sie seien wohl ziemlich undankbar und
gleichgültig. Doch Ben, ein anderer Mann aus der Gruppe, der die Kultur der
Buschmänner verstand, erläuterte, daß es bei ihnen lediglich ein Ausdruck
guten Benehmens und ein ganz normales Verhalten sei, anderen Menschen
Nahrung und Wasser zu geben. Wenn umgekehrt die Gruppe der weißen
Forschungsreisenden nichts mehr zu essen gehabt hätte, dann hätten die
!Kung sofort Nahrung und Wasser mit ihnen geteilt, selbst wenn das ihr
eigenes Überleben gefährdet hätte. Und sie hätten dafür ebenfalls keinen
Dank erwartet.
[230]
Vor den Augen eines anderen Menschen zu essen, der selbst keine Nahrung
hat, gilt in der Kultur der San-Buschmänner als unmoralisch und genauso
entsetzlich, als würde in unserer Kultur jemand auf einem belebten Gehweg
die Hosen herunterlassen und seinen Darm entleeren.
Gleichwohl sagen die San durchaus »danke«. Sie tun es bei jeder Jagd, wenn
sie beschließen, einem Tier das Leben zu nehmen. Die San töten kein
einziges Tier, das sie als Nahrung brauchen, ohne sich bei ihm zu bedanken,
sowohl während der Jagd als auch später, wenn sie einen Tanz für die Seele
des Tieres aufführen. Außerdem werden nur Tiere getötet, wenn sie eindeutig
als Nahrung benötigt werden.
Diejenigen von uns, die in einer modernen Zivilisation aufgewachsen sind,
können sich nur schwer ein Leben und eine Kultur vorstellen, wo solche
fundamentalen Dinge einfach selbstverständlich sind. Wenn wir an einer roten
Ampel hinter einem anderen Wagen halten, öffnen wir auch nicht die Tür und
laufen zu dem Auto, das vor uns steht, um uns dafür zu bedanken, daß der
Fahrer so rücksichtsvoll war, die Verkehrsregeln zu befolgen und vor der roten
Ampel zu halten – es ist selbstverständlich, daß jeder das tut. Niemand würde
Dankbarkeit dafür erwarten. Menschen für etwas zu danken setzt voraus, daß
sie sich auch anders hätten verhalten können, aber so gehandelt haben, weil
sie nett sein wollten.
Doch stellen Sie sich eine Welt vor, in der es genauso selbstverständlich ist,
andere Menschen zu ernähren, wie es selbstverständlich ist, vor einer roten
Ampel zu halten, eine Welt, in der jemand, der anderen nichts zu essen gibt,
geächtet oder bestraft wird, so wie man einen Strafzettel bekommt, wenn man
über eine rote Ampel fährt. Eine Welt, in der es wichtiger ist, für andere zu
sorgen als für sich selbst, wo der Grundsatz »so wie du von anderen
behandelt werden willst, sollst du auch mit ihnen umgehen«, tatsächlich
praktiziert wird – nicht aus einem besonderen Bemühen heraus, sondern als
Teil des Alltags, als Normalität, als ein fundamentaler Aspekt der Gesellschaft.
[231]
Das ist die Kultur der San: die Art und Weise einer älteren Kultur.
Ein Geschichtenerzähler, der von den Chippewa und Cree abstammt, hat mir
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
154/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
berichtet, daß sein Volk davon überzeugt ist, wenn jemand zu Besuch kommt
und man nicht Nahrung und Wasser mit den Gästen teilt, so daß sie hungrig
oder durstig wieder gehen, und der Schöpfer beschließt, sie »in diesem
Moment heimzurufen«, dann kommen sie hungrig oder durstig in der geistigen
Welt an. »Die Verantwortung dafür, daß jemand in diesem Zustand dort
ankommt, trägst du, denn du warst der letzte Mensch, den diese Person
getroffen hat, und du hattest die Gelegenheit, ihr etwas zu essen zu geben.
Also sind wir verpflichtet, jedem, der in unser Dorf oder in unser Haus kommt,
wenn es nötig ist, Nahrung, Wasser und Obdach zu geben.«
In unserer jüngeren Kultur schätzen wir Produktivität und individuellen Besitz. In
der älteren Kultur schätzen die Menschen die Gemeinschaft. Die meisten
»modernen« Menschen können sich eine Welt, in der Gemeinschaft wichtiger
ist als Besitz, nur schwer oder gar nicht vorstellen, aber das ist die Art und
Weise, wie ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung immer noch lebt, und
wie alle Ihre und meine Vorfahren vor hunderttausend Jahren gelebt haben.
1997 veröffentlichte eine Gruppe von dreizehn Forschern die Ergebnisse
einer Untersuchung, bei der sie den Wert aller »Umweltgüter« auf dem
Planeten quantifiziert hatten. Vom Umfang der Krabbenernte in Louisiana bis
hin zu dem Preis, den Leute für den Zugang zu einem See, einem Korallenriff
oder anderen Naturschönheiten zu zahlen bereit waren, hatten sie alles
zusammengestellt und waren zu dem Schluß gekommen, daß die
Naturgebiete auf unserem Planeten etwa 300 Billionen Dollar wert waren.
[232]
Daß jemand auch nur daran denkt, die Erde mit einem Preisschild zu
versehen, ist ein deutliches Zeichen dafür, wie weit es mit uns gekommen ist.
Darin zeigt sich eine Geisteshaltung, die besagt, daß die Welt nur für uns da
ist und nur in dem Maße von Wert ist, in dem wir sie bereits nutzen oder nutzen
können. Aus dieser Perspektive sind »natürliche Ressourcen« nur dann
wirklich eine »Ressource«, wenn sie von Menschen verwertet werden können.
Viele Menschen teilen diese Sichtweise. Von denen, die behaupten, der
Planet sei ein sich selbst stabilisierendes lebendes System, bis zu jenen, die
argumentieren, wir brauchten mehr unberührte Natur, damit die Camper und
Rucksacktouristen genügend Wälder hätten, lautet die implizite Botschaft, daß
wir Ökosysteme schützen müssen, weil sie für die Menschen von Wert sind,
entweder direkt oder in ästhetischer Hinsicht.
Da gibt es jene, die poetisch von der Schönheit der Pazifikküste oder der
erstaunlichen Vitalität der Regenwälder am Amazonas schwärmen. Wir
müssen diese Gebiete schützen, sagen sie, damit unsere Kinder und Enkel
sich auch daran freuen können. Oder sie sagen, wir müssen sie schützen, weil
diese Bäume die Lungen des Planeten sind und weil an dieser Küste
einzigartige Lebensformen existieren, unter denen wir vielleicht eines Tages
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
155/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
ein Mittel finden, das Krebs heilen kann. Wir müssen die Naturgebiete
erhalten, weil wir sie vielleicht eines Tages wollen oder brauchen könnten.
Die alten Kogi-Indianer Kolumbiens[65] hingegen blicken auf die Bergkette
der südamerikanischen Sierra Madre, der Großen Mutter allen Lebens, und
sehen, daß, während die Mutter den Menschen einen Platz gewährt hat, ihre
»jüngeren Brüder« unserer jüngeren Kultur nun dabei sind, die Mutter selbst zu
zerstören. Unsere Flugzeuge, die am Himmel kreuzen, stechen sie wie
zahllose Nadeln; mit unseren Bergbau-Ausrüstungen graben wir uns in ihr
Fleisch und zerren ihre Eingeweide heraus; wir bohren uns tief in sie hinein
und entziehen ihr über unsere Wasser- und Ölquellen die Flüssigkeit; wir
werfen ihr Ruß und Müll und Rauch ins Gesicht und auf den Körper. Die Kogi
haben Botschafter ausgesandt, um der modernen Welt mitzuteilen, daß sie
entsetzt sind von dem, was sie sehen: Wir sind dabei, die Mutter allen Lebens
zu töten.
[233]
Selbst wenn sie extrem nobel, altruistisch und um unsere Umwelt besorgt ist,
legt unsere jüngere Kultur eine grundlegende Egozentrik an den Tag, denn im
Kern geht es ihr darum, daß wir bei einem Verlust unserer natürlichen Umwelt
diese nicht mehr länger nutzen, schätzen oder sogar anbeten können.
Auf jeden Fall enthält unsere kulturelle Weltsicht eine implizite Hierarchie im
Sinne von »gut – besser – am besten« oder »schlecht – schlechter – am
schlechtesten«. Entweder die Natur ist besser oder edler als die Menschheit,
oder aber die Menschheit steht über der Natur und hat die edle Verpflichtung,
sich diese untertan zu machen und zu beherrschen. Es gibt – wie im Kino –
immer die guten und die bösen Jungs.
Aber man kann die Natur auch anders sehen. Von wenigen Ausnahmen
abgesehen, halten ältere Kulturen an der fundamentalen Überzeugung fest,
daß wir uns von der Natur nicht unterscheiden, nicht getrennt von ihr sind, nicht
verantwortlich für sie sind und weder höher noch tiefer stehen als die natürliche
Welt. Wir sind ein Teil von ihr. Was immer wir der Natur antun, tun wir uns
selbst an. Was immer wir uns selbst antun, tun wir der Welt an. Die meisten
älteren Kulturen haben nicht die Vorstellung einer von uns getrennten »Natur«:
Alles ist eins mit uns, und wir sind eins mit allem.
[234]
Die Kayapo: umweltverträgliche[66]
Landwirtschaft
Die Kayapo sind ein Volksstamm von Gê-sprechenden Ureinwohnern, die in
den nordbrasilianischen Regenwäldern leben. Sie existieren dort seit
mindestens 2000 Jahren, und viele Wissenschaftler gehen davon aus, daß sie
dieses Gebiet schon seit 8000 bis 10 000 Jahren bewohnen. Ihre
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
156/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Lebensweise hat sich während der ganzen Zeit nicht verändert – bis vor
kurzem.
Die Kayapo praktizieren eine interessante Form des Ackerbaus, die auf der
Vorstellung basiert, daß man sich aus den Wäldern und von den Feldern
nehmen kann, was man braucht, ja, sogar Wald und Feld manipulieren kann,
damit sie mehr Nahrung und Heilpflanzen hergeben, dabei das Land jedoch
nicht verletzen darf.
Sie beginnen damit, daß sie etwas anlegen, was man als »Rundfelder«
bezeichnet. Von einem bestimmten Punkt im Wald ausgehend fällen sie die
Bäume in einem Umkreis von etwa drei bis sieben Metern, wobei jeder Baum
so fällt, daß seine Krone zum Rand einer kreisförmigen Lichtung weist.
Dadurch entsteht ein offener Bereich, der mit den gefällten Bäumen bedeckt
ist, die wie die Speichen eines Rades strahlenförmig von der Mitte nach
außen zeigen.
Im ersten Jahr pflanzen sie Hülsenfrüchte und Knollen wie Maniok, Kartoffeln
und Yams zwischen die gefällten Bäume. Diese Pflanzen stabilisieren den
Boden, und viele von ihnen binden Stickstoff und andere Nährstoffe. Am Ende
der Wachstumsphase verbrennen die Kayapo die Bäume und streuen die
Asche als Dünger über den Boden. Dem Wurzelgemüse schadet das Feuer
nicht; die Knollen werden anschließend ausgegraben, gelagert oder gleich
gegessen.
Im zweiten Jahr werden Nahrungspflanzen kreisförmig von der Mitte der
Lichtung ausgehend bis zum Waldrand gesät. Die Pflanzen, die am meisten
Sonnenlicht brauchen wie Süßkartoffeln und Yams, stehen in der Mitte, und
dann folgen von innen nach außen die Pflanzen, die mehr Schatten benötigen:
Mais, Reis, Maniok, Papaya, Baumwolle, Bohnen und Bananen. Die Pflanzen,
die am meisten Schatten brauchen, bilden die äußeren Kreise.
[235]
Zwei bis fünf Jahre lang wird das Feld auf diese Weise kultiviert, und jedes
Jahr wird ein neues Feld angelegt. Im siebten Jahr schließlich wird das erste
Feld nicht weiter bewirtschaftet, so daß auf der immer noch fruchtbaren Erde
neue Bäume wachsen können. Viele Feldfrüchte wachsen in diesem Bereich
weiterhin wild – vor allem Kartoffeln und Yams – und werden noch jahrelang
geerntet, während der Wald sich allmählich wieder ausbreitet.
Während der ersten zehn oder zwanzig Jahre, in denen aus dem ehemaligen
Feld wieder Wald wird, wachsen dort Beerensträucher, Heilkräuter und kleine
Obstbäume, die ebenfalls das Nahrungsangebot erweitern. Es gibt eine
Menge Büsche und Unterholz, wo Kleinwild lebt, das die Kayapo jagen, um
ihren Fleischbedarf zu decken. Nach zwanzig Jahren ist das ehemalige Feld
wieder ein Teil des Regenwaldes.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
157/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Diese umweltverträgliche Landwirtschaft praktizieren die Kayapo seit
mindestens zweitausend, vielleicht sogar schon seit zehntausend Jahren. Sie
ermöglichte es ihnen, eine riesige Kultur aufzubauen, die sich über weite
Gebiete Brasiliens erstreckte, bis die mörderischen spanischen und
portugiesischen Eindringlinge kamen, die sich selbst als Eroberer oder
Konquistadoren bezeichneten.
Wie anders war die Welt der Kayapo – und die der San –, verglichen mit der
unsrigen.
[236]
Macht versus Kooperation in sozialen
Systemen:
Stadt/Staat versus Stamm
Jedes Gewehr, jede Kriegshandlung und jede
Rak ete ist letztendlich ein Diebstahl an jenen,
die hungern und nichts zu essen bek ommen,
an jenen, die frieren und nichts anzuziehen
haben.
Die bewaffnete Welt verschwendet nicht nur
Geld. Sie verschwendet den Schweiß ihrer
Arbeiter, das Genie ihrer Wissenschaftler, die
Hoffnungen ihrer Kinder.
U.S.-Präsident und Fünf-Sterne-General
Dwight D. Eisenhower, 16. April 1953
Kürzlich hörte ich, wie ein selbsternannter Prophet darüber sprach, daß die
Welt bald untergehen würde, weil der Gott seiner Sekte auf die Menschen
zornig war, besonders auf die Mitglieder einer bestimmten politischen Partei.
»Zwei Drittel aller jetzt lebenden Menschen werden sterben!« rief er.
»Seuchen, Hunger und Feuer vom Himmel werden sie töten!«
Mein erster Gedanke war, daß der plötzliche Tod von zwei Drittel der
Menschheit eine erdgeschichtliche Katastrophe sein würde. Es würde extrem
schwierig sein, genügend Platz zu finden, um alle Toten zu begraben, und der
Gestank und die Krankheitsrisiken wären unvorstellbar. Die Leichen würden
sich an den Straßenrändern stapeln, so wie beispielsweise 1350 in London,
als die halbe Stadt der Beulenpest zum Opfer fiel. Die New York
Consolidated Metropolitan Statistical Area (CMSA, ein Ausdruck des
statistischen Amtes für dichtbesiedelte städtische Gebiete mit erhöhtem
Ansteckungsrisiko) würde über 13 Millionen Tote zu bewältigen haben,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
158/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wodurch die Bevölkerungszahl von 20 Millionen auf sieben Millionen sinken
würde. Im Gebiet von Los Angeles würden von 15 Millionen Menschen nur fünf
Millionen überleben, in Chicago von acht Millionen nur etwa drei Millionen. Die
Bevölkerung von Mexiko würde von 95 Millionen Menschen auf etwas über 30
Millionen sinken; in Italien würden statt 57 Millionen nur noch 19 Millionen
leben; Chinas 1,2 Milliarden Menschen würden auf lediglich 400 Millionen
reduziert. Die Welt wäre übersät mit toten und sterbenden Menschen, und das
Überleben würde zu einem Alptraum werden.
[237]
Mein zweiter Gedanke war ein ganz anderer: Ich überlegte, daß, wenn zwei
Drittel aller Menschen sterben würden, die Zahl der Überlebenden immer noch
höher wäre als die gesamte Weltbevölkerung im Jahre 1930. Selbst wenn
statt der von diesem Prediger angenommenen zwei Drittel fünf Sechstel aller
Menschen sterben würden, gäbe es auf der Erde immer noch mehr Menschen
als im Jahre 1800 – und schon damals war unser Planet relativ dicht bevölkert.
Stellen Sie sich vor, daß 23 von 24 heute lebenden Menschen sterben
müßten – selbst dann würden auf der Erde immer noch mehr Menschen
existieren als zur Zeit von Christi Geburt, und damals war die Welt keineswegs
dünn besiedelt.
Zyklen von Aufschwung und Abschwung, Aufstieg und Fall, Überfluß und
Mangel, ja sogar Zyklen von Hunger und Seuchen – sie alle sind normal in
dicht bevölkerten Städten und Staaten, die auf Wachstum und Konsum
basieren. Es hat sie in der Vergangenheit immer wieder gegeben, zunächst
lokal begrenzt, dann regional und dann national, wie wir es am Beispiel der
ehemaligen großen Weltreiche gesehen haben. Wenn genügend Nationen sie
zur gleichen Zeit erleben, könnten sie auch global auftreten.
Solche
Zyklen
treffen
jedoch
selten
Menschen,
die
in
Stammesgemeinschaften organisiert sind und umweltverträglich auf der Basis
lokaler Ressourcen wirtschaften. Der Grund dafür hängt mit der jeweiligen
Organisationsform zusammen.
[238]
Stammeskulturen und Stadt- und
Staatskulturen
Wir können zwei grundlegende soziale Organisationsformen des
menschlichen Zusammenlebens unterscheiden: Städte/Staaten und Stämme.
Stammesgemeinschaften hat es während der gesamten hunderttausend
Jahre der uns bekannten menschlichen Geschichte gegeben: Die kleinste
Stammeseinheit ist die Familie, die größten haben historisch zwischen fünfzig
und ein paar hundert Menschen umfaßt. (Einige Gruppen, die in Wirklichkeit
nach dem Muster von Städten und Staaten organisiert sind, bezeichnen sich
selbst als Stämme wie beispielsweise die heutigen Zulus in Afrika, doch Sie
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
159/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
werden bald erkennen, daß es sich dabei eigentlich um Städte und Staaten
handelt.)
Historisch gesehen waren Stammesgesellschaften eine sehr erfolgreiche
Organisationsform. Von Beginn der Menschheitsgeschichte bis vor 7000
Jahren waren alle Menschen auf unserem Planeten in Stammesgesellschaften
organisiert.
Noch bis zum Jahre 1800 war die Hälfte der Erde von Stämmen bevölkert.
Die Struktur einer Stammesgruppe
Hunderttausend
Jahre
oder
länger
waren
Menschen
in
Stammesgesellschaften organisiert, und es ging ihnen dabei ziemlich gut:
Einige Stämme haben sogar bis heute überlebt. Untersuchungen heutiger
Stammesgesellschaften belegen, daß das Leben in diesen Gemeinschaften
relativ streßfrei und befriedigend ist, den Menschen mehr Freizeit gewährt als
das Leben in Städten und Staaten, und daß es – vielleicht am wichtigsten –
auch langfristig umweltverträglich ist.
Stämme werden durch fünf grundlegende Eigenschaften charakterisiert:
1. politische Unabhängigkeit
2. Gleichberechtigung
[239]
3. Deckung des täglichen Bedarfs aus erneuerbaren und lokalen Quellen
4. Gefühl für die eigene Identität
5. Respekt vor der Identität anderer Stämme
Politische Unabhängigkeit
Ein Stamm ist eine politisch unabhängige Einheit, der gewöhnlich zwischen
einem Dutzend und zweihundert Mitglieder angehören.
Eins der Probleme, die die frühen Siedler im Umgang mit den in
Stammesgemeinschaften organisierten amerikanischen Ureinwohnern hatten,
hing mit ihren eigenen Geschichten über soziale Strukturen zusammen, denn
sie erwarteten eine hierarchische städtische und staatliche Organisation
(örtliche Gruppen wie Städte, größere Gruppen wie Staaten und so weiter),
die in dieser Form nicht existierten. Wenn die Siedler beispielsweise mit
einem örtlichen Stamm von dreißig bis fünfzig Leuten eine Vereinbarung
getroffen hatten, dann gingen sie davon aus, daß diese Vereinbarung für alle
amerikanischen Ureinwohner galt, die denselben Stammesnamen trugen oder
dieselbe Sprache hatten. Aber das war und ist nicht der Fall. Es gab
Tausende von Cheyenne- oder Apachen- oder Paiute-Stämmen, und jeder
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
160/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
war eine politisch unabhängige Einheit.[67]
Gleichberechtigung
[240]
Bei einem Stamm ist die Rolle des Führers keine autoritäre, sondern eine
beratende. (Es gibt Ausnahmen von dieser Regel, aber anthropologische
Untersuchungen zeigen, daß diese selten sind.)
Auch das haben die frühen europäischen Eindringlinge nicht verstanden: Im
Grunde hielten sie es für ein Zeichen von Rückständigkeit, und so suchten sie
stets den »Häuptling« oder Führer eines Stammes, weil sie glaubten, es
reiche aus, mit ihm zu verhandeln, und der Rest des Stammes würde sich den
Abmachungen fügen. Tatsächlich wird die Stammesführung jedoch von einer
Gruppe wahrgenommen, und sogar diese hat eher eine beratende als eine
autoritäre Funktion. Die Macht wird wie die materiellen Güter unter den
Stammesmitgliedern aufgeteilt.
Wie die Kibbuz-Bewegung in Israel gezeigt hat, funktioniert diese Variante
eines Regierungssystems nach Gemeindegruppen im Rahmen kleiner
»Stammesgruppen«. Wie die Erfahrungen in den Städten und Staaten der
früheren kommunistischen Welt belegen, versagt sie bei größeren städtischen
und staatlichen Einheiten. Moderne Menschen, die die Welt aus der Sicht ihrer
eigenen Geschichte betrachten, gehen von der Annahme aus, daß es auch in
Stämmen Menschen mit hohem Status geben muß, beispielsweise
Medizinmänner, Schamanen, Häuptlinge etc. Tatsächlich zeigt jedoch eine
sorgfältige Lektüre der Berichte von Menschen, die mit Stämmen Kontakt
hatten, bevor diese den negativen Einflüssen der Städte und Staaten
ausgesetzt waren, daß die Personen, die solche Titel trugen, als Gleiche unter
Gleichen galten und ihre besondere Rolle als Verpflichtung zum Dienst an
anderen, nicht jedoch als Gelegenheit zur Herrschaft betrachteten.
Deckung des täglichen Bedarfs aus erneuerbaren
und lokalen Quellen
Die Stämme ernähren sich von dem, was in ihrer Gegend wächst. Wenn sich
das Nahrungsangebot verändert oder knapp wird, ziehen sie weiter. Einige
Stämme ziehen regelmäßig durch ein bestimmtes Gebiet und bleiben einige
Monate bis zu einigen Jahren dort, bevor sie in ein anderes ziehen, damit sich
der bisherige Standort erholen kann. Andere Stämme bleiben an einem Ort
oder leben vom Ackerbau.
[241]
Die beiden Schlüsselbegriffe lauten hier »lokal« und »erneuerbar«. Stämme
leben in engem Kontakt mit ihrer lokalen Umwelt und entwickeln dadurch
gewöhnlich religiöse, soziale und rechtliche Systeme, die die Bedeutung und
den Wert der Natur hervorheben. (Weil Stämme mit dem, was ihnen zur
Verfügung steht, meist sorgfältig und sparsam umgehen, um lange davon
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
161/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
zehren zu können, sind die Gebiete, in denen sie leben, – leider – in der Regel
reich an natürlichen Ressourcen und deshalb attraktiv für die Räuber der
städtischen und staatlichen Kulturen.)
Gefühl für die eigene Identität
Ein Stammesmitglied wird in seinen Stamm hineingeboren. Der Stamm
definiert die Identität der Menschen, die ihm angehören. Stämme
missionieren nicht (sie versuchen nicht, andere für ihre Lebensweise zu
gewinnen), sie akzeptieren keine »Überläufer« oder »Zugezogenen«, und sie
sind überzeugt, daß ihre Lebensweise, ihre Weltsicht und ihre Götter die
besten für sie sind. Ein Apache würde beispielsweise genauso wenig daran
denken, sich als Cree zu bezeichnen, wie er daran denken würde, sich als
Wolf oder Berg zu bezeichnen. So etwas wäre undenkbar. Dieser
Ethnozentrismus leistet den Stämmen gute Dienste, indem er ihnen ein
langfristiges Überleben als Stammeseinheit garantiert; er hat dazu
beigetragen, daß die Stämme Hunderttausende von Jahren erfolgreich
existieren konnten. Genauso haben die Unterschiede in den menschlichen
Gemeinschaften, die durch so viele verschiedene Stämme gewährleistet
wurden, für eine starke menschliche Präsenz überall auf der Welt gesorgt:
Artenreiche Ökosysteme sind stark, während Monokulturen empfindlich sind
und dazu neigen, unter Belastungen zusammenzubrechen.
Respekt vor der Identität anderer Stämme
[242]
Zwar gibt es auch unter Stämmen gelegentlich Konkurrenz oder Konflikte,
aber meist kooperieren sie miteinander, wie man in den Ritualen der Potlach
oder Pow-wow sehen kann. Vielleicht betrachtet ein Stamm den anderen mit
Geringschätzung wegen seiner sozialen, religiösen oder anderer Praktiken,
aber es gibt nur wenige historische Berichte über Völkermord bei
Stammesgesellschaften. Vielleicht kämpft man gegen einen anderen Stamm,
aber man rottet ihn nicht vollständig aus. Denn letzten Endes sind die anderen
Stämme doch nützlich, denn sie stellen andere Dinge her und man kann mit
ihnen Tauschhandel treiben. Sie sind genetisch verschieden, also garantieren
die Heiraten untereinander (die meist bei zeremoniellen Anlässen oder als
Teil der Handelsgeschäfte vollzogen werden) einen starken Genpool. Und,
vielleicht am wichtigsten, dadurch daß sie die »anderen« sind, kann der
eigene Stamm seine Identität als »wir« bewahren.
Obwohl die Konflikte zwischen Stämmen gelegentlich zu Todesfällen führen
können, sterben dabei nur selten viele Menschen, und bei den meisten
Stämmen, die Anthropologen im Laufe der Jahre untersucht haben, führen
solche Konflikte gewöhnlich überhaupt nicht zum Tod. Die Funktion der
Konflikte besteht vielmehr darin, die Grenzen und den einzigartigen Charakter
des »Wir« der jeweiligen Stämme zu stärken und zu bewahren. Insofern
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
162/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
dienen sie dem Überleben beider Stämme.
Die Struktur einer städtischen und
staatlichen Kultur
Vor ungefähr 7000 Jahren entstanden die ersten politisch organisierten
Stadtstaaten. Seitdem haben sie systematisch und methodisch fast alle Reste
der Stammeskulturen, mit denen sie in Berührung kamen, ausgelöscht. Dieser
Prozeß ist mittlerweile nahezu beendet: In unserem Jahrhundert sind mehr
Stammesgesellschaften ausgerottet worden als je zuvor. Allein in Brasilien
wurden zwischen 1900 und 1950 siebenundachtzig Stämme ausgelöscht, und
heute sind nur noch ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung in
Stammesgemeinschaften organisiert.
[243]
Die Geschichte, die unsere Kultur sich selbst über die Zerstörung der Stämme
erzählt, besagt, daß die Primitiven zwangsläufig den Preis des Fortschritts
bezahlen müssen. Darwin und Thomas Huxley sind implizit davon
ausgegangen, daß das Sterben der Stämme ein natürlicher Prozeß war, der
zeigte, daß die soziale Organisation der Städte und Staaten den
Stammesgesellschaften automatisch überlegen war. Die Stammesvölker
waren »primitiv«, während wir »fortgeschritten« sind, und deshalb führt die
natürliche Auslese dazu, daß die Stämme früher oder später verschwinden.
Dasselbe ist mit Tausenden von Pflanzen- und Tierarten in der Vergangenheit
geschehen: Was nicht überlebensfähig war, wurde ausgelöscht, und die Welt
ist dadurch angeblich besser geworden.
Doch nun erkennen wir allmählich die Schwachpunkte der hierarchischen
Struktur von Städten und Staaten.
1. Weil
Städte/Staaten
hierarchisch
organisiert
sind,
ergibt
sich
zwangsläufig eine Konzentration der Macht. In einer jüngeren Kultur (und
das gilt für 99 Prozent dessen, was uns geblieben ist) führt diese
Entwicklung zu einer Konzentration des Reichtums und zur Existenz von
Habenichtsen.
2. Weil wir in diese Art hierarchischer Organisation eingebunden sind,
nehmen wir an, daß die gesamte Natur hierarchisch aufgebaut ist und
daß wir an der Spitze der Hierarchie stehen. Diese Annahme läßt es
vernünftig erscheinen, daß wir den Rest der Welt, der »den Menschen
unterlegen ist«, verderben und zerstören.
3. Das Resultat dieser strukturellen Annahmen besteht darin, daß die
Weltbevölkerung
längst
die
Zahl
überschritten
hat,
die
noch
umweltverträglich wäre, daß wir unsere Atmosphäre geschädigt, unsere
Nahrung und unser Wasser verschmutzt und gefährdet haben und daß
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[244]
163/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wir Krankheitserreger produzieren, die für die Menschheit tödlicher sind
als alles, was unsere Vorfahren sich auch nur annähernd vorstellen
konnten.
4. Städte und Staaten hatten immer eine Geschichte, die vom Aufstieg
über eine (relativ) kurze Periode der Herrschaft zum Untergang führte.
Im Gegensatz zu den Eigenschaften der Stammesgesellschaften zeichnen
sich Städte und Staaten aus durch:
1. politische Herrschaft
2. Hierarchien: eindeutig autoritäre Strukturen
3. Handel und Eroberung
4. Absorption der Identität anderer Kulturen
5. Völkermord durch Kriege gegen andere
Politische Herrschaft
Während Städte, Staaten, Nationen und Königreiche für sich selbst politische
Unabhängigkeit in Anspruch nehmen, gibt es auf der Ebene der einzelnen
Bürger und Familien keine Unabhängigkeit. Die lokalen Einheiten der
Familien und Gemeinden unterstehen der übergeordneten politischen Einheit
von Städten und Staaten. Das schafft eine Geisteshaltung von Herrschaft und
Hierarchie, die sich überall im Geschäftsleben, in den Familien, den örtlichen
Gemeinschaften und den organisierten Religionen äußert, die fast immer auf
eine Weise aus den Städten und Staaten hervorgehen, die deren Zwecken
dient.
Für die Menschen des Westens ist das am offensichtlichsten in den alten
europäischen Königreichen, wo das Land, die Ernte, die Tiere, die Bäume
und sogar die Menschen dem König gehörten – und dieser seine politische
Macht, Soldaten, Polizei, Folterkammern und Gefängnisse einsetzte, um
seinen Untertanen durch Zwang einen Teil ihres Lebens oder ihrer Produkte
abzupressen. (In Europa ist besser bekannt als in Amerika, daß sich dies
sogar bis in die intimsten Augenblicke im Leben eines Menschen erstreckte:
»Das Recht der ersten Nacht« war in Europa 1600 Jahre lang ein üblicher
Tribut, wobei jede Frau, die heiratete, ihre Hochzeitsnacht mit dem König oder
dem örtlichen Fürsten verbringen mußte, ihm ihre Jungfräulichkeit darbrachte
und erst anschließend das Bett mit ihrem Gatten teilen durfte. Diese Praxis
wird im Gilgamesch-Epos erstmals dokumentiert.)
[245]
Die modernen Formen der politischen Unterdrückung sind je nach Land mehr
oder weniger subtil, aber das Prinzip ist immer dasselbe: Die Bürger sind
dazu da, der herrschenden Regierung zu dienen, und müssen dieser
Regierung regelmäßig einen Teil ihres Lebens, ihrer Zeit oder ihres
Reichtums opfern.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
164/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Hierarchische Strukturen
Städte und Staaten sind so organisiert, daß die mächtigsten, aggressivsten
oder reichsten Leute in hohe Positionen aufsteigen, während jene, die über
wenig Macht oder Reichtum verfügen oder keine Bereitschaft zur
Aggressivität zeigen, einen geringen Status und Positionen mit wenig Macht
haben. Diese Art von innerer Sozialstruktur ist der Motor, der Städte und
Staaten zu permanenter Expansion treibt, denn die mächtigsten und reichsten
Individuen sammeln und verbrauchen einen immer größeren Teil der
verfügbaren Ressourcen. Dadurch bleibt für die unteren Schichten immer
weniger, woraus sich der Zwang zum Wachstum ergibt, um Unruhen oder
Aufstände zu vermeiden.
Handel und Eroberung
Wirtschaftlich autarke Städte und Staaten, die mit dem auskommen, was
ihnen in ihrem eigenen Gebiet zur Verfügung steht, sind selten, und wenn es
sie gibt, dann werden sie leicht zum Ziel für die Expansionswünsche der
anderen, die durch Handel oder Eroberungen versuchen, sich immer mehr
anzueignen. Solche Bewegungen haben während der letzten paar
Generationen die politische Landkarte ungefähr ein Dutzend mal verändert.
Wegen ihrer hierarchischen sozialen, politischen und ökonomischen
Strukturen müssen Städte und Staaten oft auf äußere Quellen zurückgreifen,
um ihr weiteres Wachstum zu gewährleisten. Wenn ihre eigenen Ressourcen
erschöpft sind (wie es historisch bei fast allen Städten und Staaten zu
beobachten ist), werden sie zu Angreifern und Eroberern und unterwerfen ihre
Nachbarn. Dieser Prozeß setzt sich immer weiter fort, während die Entfernung
zu den Nachbarn zunehmend größer wird, bis schließlich der gesamte Planet
aufgezehrt ist. Zu diesem Zeitpunkt beginnt das System vielleicht
zusammenzubrechen – genau wie beim Ponzi-Schema oder bei einem
Unternehmen, das sein Startkapital aufgezehrt hat.
[246]
Eine Kultur, die nur durch Eroberungen überleben kann, muß zwangsläufig
zusammenbrechen, wenn die Grenzen der weltweiten Ressourcen erreicht
sind.
Ausbeuterisches Missionieren und »absorbierende«
Identität
Wachstum ist das wichtigste Gebot für Städte und Staaten. Wenn das
Wachstum zum Stillstand kommt, brechen sie oft politisch, sozial und
ökonomisch zusammen oder werden erobert, oder es kommt zum inneren
Machtwechsel durch einen Putsch. Weil Wachstum so wichtig ist, sind
mehrere Methoden der Expansion entwickelt worden.
Die erste Methode besteht darin, daß andere Menschen und ihre Ressourcen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
165/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
absorbiert werden. Sklaven wurden von Afrika nach Europa und Amerika
gebracht; während eine europäische Nation die andere eroberte, brachte sie
ihre neuen »Untertanen« unter ihre Herrschaft. Die amerikanischen
Ureinwohner wurden erobert, und die europäischen und amerikanischen
Städte, Staaten und Nationen eigneten sich deren Ressourcen an. Das
resultierte in Bevölkerungswachstum, einer Erhöhung von Produktivität und
Konsum und einer wachsenden Zahl von Verbrauchern für das, was die Städte
und Staaten produzierten.
[247]
Ein zweiter Wachstumspfad ergibt sich durch Assimilation, wenn Menschen
ihre Stammesidentität zugunsten einer neuen Identität aufgeben. Missionare
überzeugen die Staatsangehörigen[Stammesangehörigen? Anm.d.Tippers],
daß ihre Lebensweise schlecht oder sündig ist, und bieten ihnen die
Möglichkeit, sich der Kultur und Religion der Städte und Staaten
»anzuschließen« (wenn auch nur auf der untersten Stufe der Hierarchie).
Während Stammesgesellschaften niemals missionieren würden (niemals
andere Stämme bitten würden, genauso zu werden wie sie), ist dies ein
Hauptmerkmal der meisten Städte und Staaten und wurde historisch durch die
Drohung mit (und den Vollzug von) Tod, Folter, vollständiger Ausrottung (wie
früher bei den Kreuzzügen, der Inquisition, der Eroberung des amerikanischen
Westens oder heute bei der Versklavung der einheimischen Völker in
Südamerika und Asien) oder ewiger Verdammnis erzwungen.
Krieg mit anderen Städten und Staaten
Weil Städte und Staaten zwangsläufig Wachstum brauchen, um überleben zu
können, kommen sie notwendigerweise in Konflikt mit anderen Städten und
Staaten (oder Stämmen), die über die benötigten Ressourcen verfügen.
Obwohl Städte und Staaten manchmal für eine gewisse Zeit ein dynamisches
Gleichgewicht bewahren können und dadurch stabil wirken (wie
beispielsweise die Vereinigten Staaten und Kanada), zeigt die Geschichte,
daß diese Stabilität insgesamt betrachtet relativ kurzlebig ist. Früher oder
später lebt man über seine Verhältnisse und muß auf die Ressourcen anderer
zurückgreifen. Das kann auf der finanziellen Ebene im Rahmen des Handels
geschehen, wie sich an der Tatsache zeigt, daß über 70 Prozent des
gesamten Obstes in amerikanischen Supermärkten aus Ländern der Dritten
Welt stammt, oder man setzt Waffen ein, um den eigenen Anspruch (oder den
von »Nachbarn« oder »Verbündeten«) auf Land, Menschen und Ressourcen
geltend zu machen, wie wir es im Golfkrieg erlebt haben.
[248]
Wenn Städte und Staaten erst einmal mit Krieg in Berührung gekommen sind,
haben sie nicht mehr viele Möglichkeiten, genauso wie eine Kultur, die mit
Wétiko in Berührung gekommen ist. Überleben können sie typischerweise nur
dadurch, daß sie genauso werden wie ihre Angreifer: Sie müssen lernen,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
166/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
erfolgreich Krieg zu führen.
Die möglichen Ursprünge von Städten
und Staaten
Irgendwann weit zurück in der Vorgeschichte hat ein Stammesoberhaupt das
Weltbild der Stämme verletzt oder ist (in den Augen seines Volkes)
geisteskrank geworden.
Dieser Stammeshäuptling beschloß, die traditionelle Kooperation mit anderen
Stämmen aufzukündigen und ihr Land statt dessen zu erobern und die
Menschen zu versklaven. Um seine eigenen Leute für diese Idee zu gewinnen,
benutzte er vielleicht einen ähnlichen Anreiz wie Kolumbus, indem er seinen
Männern erlaubte, die Frauen der anderen Stämme zu vergewaltigen oder
sogar junge Mädchen als Haus- und Sexsklavinnen zu halten. Vielleicht
wandte er auch die Methode von Pizarro an – der befahl, daß seine Schiffe
bei der Ankunft in Amerika verbrannt werden sollten, damit die Feiglinge nicht
desertieren konnten, was ihm die vollständige und absolute Herrschaft über
seinen Stamm garantierte.
Vielleicht hatte dieser erste Wétiko-Stammesfürst eine Art Rechtfertigung für
sein Verhalten, beispielsweise dadurch, daß ungünstiges Wetter zu
Ernteausfällen oder einem Mangel an Wild führte, so daß seine Leute Hunger
litten. Oder vielleicht überzeugte er sein Volk davon, daß die Götter ihm
diesen schrecklichen Auftrag gegeben hatten. Wie auch immer – er und sein
Stamm überfielen einen Nachbarstamm und eroberten dessen Gebiet.
Krieg und Völkermord waren erfunden.
[249]
Während er das Land des Nachbarstammes eroberte und die dort lebenden
Menschen tötete oder versklavte, entdeckte der Häuptling, daß die
Anwendung von Gewalt gegen andere auch bei seinen eigenen Leuten Angst
vor ihm aufkommen ließ. Aus dieser Angst heraus gaben sie ihm, was er
verlangte, und taten, was er wollte: Sie schlossen sich seiner Killerbande an,
gaben ihm einen Teil ihrer Jagdbeute oder Ernte als Tribut oder überließen
ihm ihre Kinder als Arbeitskräfte oder Soldaten.
Ein auf Herrschaft und Angst basierendes Führungsprinzip war erfunden.
Indem er sich mit Gewalt von jedem Stammesmitglied einen Tribut an Gütern
oder Dienstleistungen sicherte, erhöhte er seine Macht weiter. Nun konnte er
seinen Überfluß mit seinen nächsten Angehörigen teilen, die ihm ihrerseits
halfen, seine Herrschaft über den Stamm zu festigen und zu erhalten.
Reichtum und der Einsatz von Kapital waren erfunden.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
167/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Er sah die Frauen an, die bei den meisten Stämmen einen hohen Status
einnehmen, weil man ihrer Fähigkeit, neues Leben hervorzubringen, großen
Respekt zollt, und ihm wurde klar, daß sie eine Bedrohung für seinen neuen,
auf Herrschaft beruhenden Führungsstil darstellten. Er wies auf ihr
Menstruationsblut, das man über Zehntausende von Jahren heilig gehalten und
in Fruchtbarkeitszeremonien auf die Felder verteilt hatte, und bezeichnete es
als »unrein«.
Er wies auf die Schmerzen, die einige Frauen während der Geburt erlebten,
und erklärte, sein Gott habe ihm gesagt, sie seien eine Strafe. Die Frauen
seien verflucht und Gehilfinnen niederer oder böser Götter. Sie hatten die
Macht, in Männern Verlangen zu wecken, und weil er so genau wußte, wie sehr
Macht korrumpieren kann, beschloß er, die Frauen müßten kontrolliert,
verborgen und beherrscht werden, sie dürften nicht mehr gleichberechtigt sein,
sondern sollten zukünftig als Eigentum der Männer betrachtet werden. Wenn
die Ernten schlecht waren, Menschen an Krankheiten starben oder
Naturkatastrophen hereinbrachen, dann war das die Schuld der Frauen und
ihrer Hexerei.
Sexuelle Herrschaft und die patriarchale Hierarchie waren erfunden.
[250]
Seine Leute blickten in den Nachthimmel und auf die Naturgewalten – Blitz,
Erdbeben und Feuersbrünste – und kamen zu dem Schluß, es gebe eine
Allmacht, die nach eigenem Gutdünken dafür sorge, daß es den Menschen gut
oder schlecht ging. Er sagte seinem Volk, die Götter hätten ihn als ihren
Sprecher erkoren. Er beschwor heilige Namen und Kräfte, und seine
Fähigkeiten als erfolgreicher Krieger wurden als Beweis für den Segen des
mächtigsten Gottes betrachtet. Er verbot seinen Leuten, andere Götter außer
jenem zu verehren, der durch ihn sprach, und sandte Botschafter aus, um die
Menschen, die sich nicht vor dem Gott verneigten, der durch ihn sprach, zu
bekehren oder zu töten. Diejenigen, die bereit waren, seinen Worten zu
glauben, durften sich dem Stamm anschließen, nachdem sie ihm und seinem
Gott Gehorsam geschworen hatten.
Ausbeuterisches und gewaltsames Missionieren waren erfunden.
Wenn man andere Menschen als Herrschaftsobjekte sieht, dauert es nicht
mehr lange, bis man auch die Natur als etwas betrachtet, das beherrscht
werden muß. Statt den bisher üblichen Praktiken einer umweltverträglichen
Landwirtschaft zu folgen, die seinen Stamm über Zehntausende von Jahren
am Leben erhalten hatten, beschloß der Häuptling nun ohne Rücksicht auf die
Konsequenzen, der Erde so viel Nahrung wie möglich abzuringen. Wenn die
Böden ausgelaugt waren, mußte er das Land eines anderen Volkes erobern,
und das konnte er jetzt auch, da er über die Mittel des Völkermords und der
Sklaverei verfügte. Wenn sich irgendwelche Tiere als Nahrungskonkurrenten
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[251]
168/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
für seine Leute erwiesen – Wölfe, die ihre Schafe rissen, kleinere Tiere, die
ihre Pflanzen fraßen, oder sogar Insekten –, dann setzte er alles daran, diese
»Feinde« zu zerstören.
Die Landwirtschaft der verbrannten Erde war erfunden.
Weltweit ist die Stammesgeschichte voll mit Berichten über Banden, die auf
eine dieser Arten geisteskrank wurden, weil sie Hunger hatten oder
machtgierig waren und ihre Nachbarn töteten. Einige Stämme wurden größer
als üblich und konnten Nahrungsvorräte anlegen, wodurch sich Hierarchien von
Reichtum und Macht bildeten. Einige Stämme betrieben die
umweltzerstörerische Landwirtschaft der verbrannten Erde und fielen dadurch
entweder selbst dem Tod zum Opfer oder mußten in andere Gebiete ziehen.
Und viele Stämme glaubten, ihre Götter seien die einzig wahren und alle
anderen hätten entweder weniger Macht oder wären falsche Götter. Doch
keiner dieser abtrünnigen Stämme erhob sich je, um die ganze bekannte Welt
zu erobern.
Das hat damit zu tun, daß noch nie zuvor in der menschlichen Geschichte alle
diese Elemente zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufgetreten waren. Wäre es
so gewesen, dann wären an diesem Punkt die Herrscherzivilisationen auf den
Plan getreten. Doch das geschah erst vor etwa 7000 Jahren, als ein einziger
Mann der erste Herrscher, der erste Missionar, der erste Landwirt nach dem
Prinzip der verbrannten Erde wurde, und weil er all das in sich vereinte, was
bei den Stämmen als drei einzelne Formen von Geisteskrankheit galt, wurde
er der erste Urheber eines Stadtstaates.
Es gibt in der Geschichte Hinweise darauf, daß dieser Mann König
Gilgamesch in den fruchtbaren Gebieten des Mittleren Ostens gewesen sein
könnte. Wahrscheinlich aber war Gilgamesch nur ein Abkömmling jenes
ersten Mannes, der unsere Kultur erfand; Gilgamesch sorgte lediglich für die
Feinabstimmung dieser neuen Synthese sozialer Elemente auf eine Weise,
die es ihm ermöglichte, die ganze damals bekannte Welt zu erobern und ihrer
Wälder zu berauben und darüber seine eigene Geschichte zu schreiben.
[252]
Die Stämme, die Gilgamesch und seinen kulturellen Erben
gegenüberstanden, konnten sich nicht wehren. Sein neues Sozialsystem griff
über auf die Syrer, die Griechen, die Römer, die Hebräer, die Araber, die
Wikinger, die Türken, die Hunnen, die imperialistischen Staaten Europas:
Großbritannien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Portugal, Belgien, Holland,
die »Amerikaner« und »Australier«, die aus Europa kamen, die Inkas, die
Bantu, die Zulu, die Chinesen, die Japaner, die Koreaner, die Brahmanen in
Indien und andere: Jeder Stamm, der sich ihnen in den Weg stellte, wurde
ausgelöscht.
Vielen Stämmen fehlte die zentralistische Machtstruktur, die ihnen eine
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
169/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kriegsführung ermöglicht hätte. Ihnen fehlte die arbeitsteilige Spezialisierung,
die man braucht, um Kriegswaffen herzustellen und ein stehendes Heer zu
unterhalten. Ihnen fehlte die Bereitschaft, jedes mit ihnen konkurrierende
lebende Wesen in ihrer Umgebung zu töten, um ein Maximum an Nahrung zu
erlangen. Ihnen fehlte der Glaube, ihr Gott wolle, daß sie alle anderen töteten,
und würde sie dafür mit Glück segnen.
Sie waren völlig unvorbereitet. Und so flohen sie in immer entlegenere und
weniger produktive Gebiete, bis es schließlich keinen Ort mehr gab, wohin sie
fliehen und wo sie sich verbergen konnten.
Diejenigen, die überlebten, wurden »assimiliert«.
Die Geschichte des Stammes der Toradjas ist ein gutes Beispiel und ziemlich
typisch. Die Holländer hatten die Insel Celebes (heute Sulawesi) erobert, und
dort lebte im Poso-Distrikt ein Bergvolk, das man als die Toradjas
bezeichnete. Sie bauten eine Reissorte an, die wenig Wasser brauchte, und
lebten als Stamm von Jägern und Sammlern. Ihr Wirtschaftssystem kannte
weder Geld noch andere Tauschmittel, abgesehen von Freundlichkeit und
Verpflichtung, und sie brauchten nie zu hungern. Sie waren recht glücklich mit
ihrer Lebensweise, die sie schon Jahrtausende, bevor Holland von den
Römern erobert wurde, gepflegt hatten, und sie zeigten kein besonderes
Interesse daran, Getreide für den Export nach Holland anzubauen oder für die
holländischen Eigentümer der Kaffeeplantagen im Tiefland zu arbeiten.
[253]
Diese Situation war unerträglich für die Holländer, die feststellten, daß unter
solchen Umständen »Entwicklung und Fortschritt ausgeschlossen waren«, und
daß, sofern nicht rasch etwas geschah, diese Stammesgesellschaft
»zwangsläufig auf derselben Stufe« ihres primitiven Lebensstils bleiben
würde.
Also schickte der holländische Gouverneur im Jahre 1892 Missionare, die die
Stammeskultur zerstören sollten. Doch die Sache erwies sich als totaler
Fehlschlag. Selbst das Angebot, die Kinder der Toradjas in der
Missionsschule »kostenlos auszubilden«, reichte nicht aus, den Stamm davon
zu überzeugen, daß er seine Religion und seine Lebensweise aufgeben sollte.
Sie hatten einfach kein Interesse daran, in den Geschäften der Holländer
einzukaufen, Kaffee oder Reis für den Export nach Holland anzubauen oder
den Göttern der Holländer zu dienen. Doch ohne die billige Arbeitskraft der
Einheimischen konnten die holländischen Betriebe in der Gegend nicht den
optimalen Profit erwirtschaften.
Nach dreizehn Jahren eifriger Bemühungen durch die Kirche setzte die
holländische Regierung ihren Plan B in die Tat um. Sie ließ ihre Armee
einmarschieren, und die Toradjas wurden gezwungen, die Berghöhen ihrer
Vorfahren zu verlassen und sich im Tiefland anzusiedeln. Die Männer der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
170/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Toradjas wurden als Zwangsarbeiter beim Straßenbau eingesetzt (man
nannte das »Einberufung«), und dann wurde eine Kopfsteuer auf alle
Staatsangehörigen[Stammesangehörigen? Anm.d.Tippers] erhoben. Um die
Steuer zahlen zu können, mußten die Toradjas auf den Kaffeeplantagen
arbeiten, und im Jahre 1910 waren sie »konvertiert«, schickten ihre Kinder in
die Missionsschule, kauften westliche Kleidung und Geräte, rauchten Tabak,
tranken Alkohol und nahmen den christlichen Glauben an. Obwohl ihre
Sterblichkeitsrate in die Höhe geschnellt war und sie ein gesundes Leben in
Muße, wie es ihre Vorfahren seit zehntausend Jahren geführt hatten, gegen
Hektik und bittere Armut eingetauscht hatten, waren sie nun, wie die
holländische Regierung es ausdrückte, »zivilisiert«.
[254]
Dasselbe Szenario hat sich buchstäblich Tausende Male in Asien, Afrika,
Australien und natürlich in Nord- und Südamerika abgespielt. In einigen Fällen
schicken wohlmeinende Spender sogar Geld, um Programme zur »Rettung
der Heiden« in fernen Ländern zu unterstützen; das geschieht mit
zunehmender Geschwindigkeit in den Dschungelgebieten von Brasilien und
Südostasien, wo »zivilisierte« Interessen die Naturschätze des Dschungels
ausbeuten wollen und dafür die Arbeitskraft der einheimischen Völker
brauchen.
Die dritte und letzte Möglichkeit der Stammesgesellschaften besteht darin zu
kämpfen. Wenn sie nicht fliehen und sich verbergen können und sich der
»Assimilation« verweigern, dann müssen sie sich zum Kampf entschließen.
Dieser Weg ist besonders zerstörerisch, weil sie dazu erst einmal die Kultur
ihrer Feinde übernehmen müssen. Um eine effektive Armee aufzustellen,
braucht man eine hierarchische Sozialstruktur, arbeitsteilige Spezialisierung
und eine auf Herrschaft basierende Führung. Ressourcen müssen in
rasendem Tempo verbraucht werden, was zu einem Verlust an Lebensqualität
und oft zu Hunger und Armut führt. An diesem Punkt, noch bevor der erste
Schuß fällt, hat die ältere Kultur den Krieg schon verloren: Sie ist zu ihrem
eigenen Feind geworden.
[255]
Die Bevölkerung in Stammeskulturen
Wenn wir die Stammesgesellschaften mit den städtischen und staatlichen
Kulturen vergleichen, finden wir ein interessantes Muster. Während das
Bevölkerungswachstum der Städte und Staaten wie das Wachstum von
Krebszellen historisch immer nur durch Hunger und Seuchen kontrolliert wurde
und kontrollierbar war, bleibt die Zahl der Stammesangehörigen oft über
Jahrtausende stabil. Uns ist beigebracht worden, das sei eine Folge
schlechter sanitärer Verhältnisse oder durch Nahrungsmangel, hohe
Kindersterblichkeit und eine geringe Lebenserwartung bedingt.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
171/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Neuere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, daß dies nicht der Fall ist. In
der vor-antibiotischen Ära lebten die Stammesangehörigen durchschnittlich
länger als die Bewohner von Städten und Staaten, und ihre Kindersterblichkeit
war geringer. Außerdem zeigen die Untersuchungen fossiler Funde, daß die
Menschen in Stammesgesellschaften verglichen mit den Bewohnern von
Städten und Staaten generell weniger unter Karies litten, stärkere Knochen
und seltener degenerative Krankheiten hatten. Im Laufe der Jahre haben viele
Paläoanthropologen die landwirtschaftliche Revolution und die Entwicklung
von Städten und Staaten als »Katastrophe für die öffentliche Gesundheit«
bezeichnet.[68]
In seinem Buch The Prehistory of the Mind[69] (Die Vorgeschichte des
Geists) stellt Steven Mithen fest, daß die Forschungsergebnisse eindeutig
bestätigen, daß »… der Beginn des Ackerbaus eine Welle von Infektionen,
eine qualitative Verschlechterung der Ernährung und eine Verringerung der
durchschnittlichen Lebenserwartung mit sich brachte«. Aber warum haben die
Menschen dann überhaupt Ackerbau-Gemeinschaften entwickelt? Mithen hebt
hervor, die Landwirtschaft habe zwar die Lebensqualität verschlechtert, aber
auch dafür gesorgt, »daß einzelne Menschen Gelegenheit bekamen, ihre
soziale Kontrolle und Macht zu sichern«. Unter Hinweis auf Darwins Theorie
der natürlichen Auslese, die davon ausgeht, daß die Evolution häufiger dem
Individuum als der Gruppe nützt, erklärt er: »Wir können tatsächlich feststellen,
daß der Ackerbau nur eine weitere Strategie ist, durch die einige Individuen
Macht erlangen und bewahren.«
[256]
Aber wie haben die Stämme ihr
Bevölkerungswachstum kontrolliert?
Einer der Gründe, warum moderne Menschen, die Bewohner von Städten und
Staaten, bereit sind, die Geschichte der Ausbeuter zu glauben, daß es gut ist,
die Stammesvölker zu »retten«, indem man ihre Kultur zerstört, ist die
Bevölkerungsfrage. Wie kontrollieren die Stämme ihr Bevölkerungswachstum,
wenn nicht durch Kannibalismus, die Tötung Neugeborener, grassierende
Krankheiten oder eine hohe Kindersterblichkeit? Unsere Kultur meint, das
seien ihre Methoden der Bevölkerungskontrolle, aber diese Annahme ist
falsch. Tatsächlich gibt es in modernen Entwicklungsländern wie Mexiko mehr
Infektionskrankheiten, eine höhere Kindersterblichkeit, mehr Selbstmorde,
Morde, Mangelernährung und Hunger als in jeder Stammesgesellschaft, die je
untersucht wurde. Dennoch sind die Bevölkerungszahlen der Stämme
Jahrtausende lang meist relativ stabil geblieben. Wie schaffen sie das?
Niemand weiß es.
In seinem Buch Der Weg der Zerstörung. Stammesvölker und die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
172/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
industrielle Zivilisation[70] hebt John Bodley hervor, daß wir die Art und
Weise, wie Stämme ihr Bevölkerungswachstum kontrollieren, »nicht ganz
verstehen«, daß es sich dabei jedoch eindeutig nicht um irgendeine der oben
erwähnten Methoden handelt. Zahlreiche Ausgrabungen in den Gebieten alter
Stämme haben bis heute keinen Hinweis auf weitverbreitete Kindestötungen
oder auch nur eine höhere Kindersterblichkeit erbracht, als sie heute in den
meisten Ländern der modernen Welt üblich ist. Es gibt einfach kein
nennenswertes Bevölkerungswachstum, und niemand weiß genau warum.
[257]
Eine Theorie besagt, daß die Fruchtbarkeit vom Nahrungsangebot abhängt.
Zwar liegen darüber bisher noch keine Untersuchungen an menschlichen
Populationen vor, aber wir wissen, daß sowohl wilde als auch in
Gefangenschaft lebende Tiere sich stets in dem Ausmaß vermehren, das vom
Nahrungsangebot vorgegeben wird, und dann ihre Fortpflanzung einstellen.
(Fische, die in Aquarien gehalten werden, stellen sogar ihr Körperwachstum
ein, wenn sie die Größe erreicht haben, die zum jeweiligen Aquarium paßt.
Niemand weiß, wie sie das machen.) Möglicherweise gibt es auf der
biologischen und hormonellen Ebene gewisse Rückkoppelungssysteme, die
den Körper darüber informieren, daß es nicht genug Nahrung oder
Lebensraum gibt. Wenn das Nahrungsangebot unter die optimale Schwelle
sinkt, wird das Hormonsystem veranlaßt, weniger Sperma zu produzieren oder
die Beweglichkeit der Spermien zu verringern oder weniger
befruchtungsfähige Eizellen zur Verfügung zu stellen oder sogar weniger
Hormone und Pheromone freizusetzen, die das sexuelle Verlangen anregen.
Eine andere Theorie hat mit dem Ausmaß an körperlicher Bewegung zu tun. In
einer 1997 veröffentlichten Untersuchung[71] wurde festgestellt, daß 57
Prozent der Frauen, die Langläuferinnen waren, unter Amenorrhoe litten, also
keine Menstruationsblutung mehr hatten und vorübergehend unfruchtbar
waren. Während die moderne Medizin diesen Zustand als eine »Krankheit«
von Sportlerinnen betrachtet und versucht, den normalen Zyklus durch
Hormonbehandlungen wieder herzustellen, kann eine solche körperliche
Reaktion in einer natürlichen Umgebung Teil eines empfindlichen
Mechanismus zur Regulierung der Bevölkerungszahl gewesen sein. Wenn in
den letzten fünfhundert Jahren mehr als die Hälfte aller Frauen ständig
unfruchtbar gewesen wären (abwechselnd, je nach dem Ausmaß an
körperlicher Bewegung, wenn sie sich in schlechten Zeiten häufiger an der
Nahrungssuche und Jagd beteiligen mußten), dann wäre es vielleicht nicht zu
der enormen Bevölkerungsexplosion gekommen, die uns heute Sorgen
macht. Ähnlich eine Untersuchung aus dem Jahre 1993[72]: Hier wurde
festgestellt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß eine Frau an Brustkrebs und
Eierstockkrebs erkrankt, sich erhöht, wenn die erste Menstruation früh einsetzt
(sportliche Aktivitäten bei jungen Mädchen sorgen für eine spätere Menarche),
die Wechseljahre erst spät beginnen und, vielleicht am wichtigsten, die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[258]
173/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Menstruation regelmäßig stattfindet. Je häufiger eine Frau menstruiert, so
scheint es, desto häufiger ist sie den Hormonen ausgesetzt, welche diese Art
von Krebs fördern können. Körperlich sehr aktive Frauen haben während ihres
Lebens insgesamt weniger Menstruationszyklen und dadurch seltener einen
hohen Östrogenspiegel.
Eine dritte Theorie besagt, daß Stammesvölker, auch wenn sie gemessen an
unseren Standards technologisch rückständig scheinen, bei Dingen, die ihr
Leben direkt betreffen, vielen modernen Menschen oft weit überlegen sind.
Stammesvölker haben beispielsweise Penizillin schon Jahrtausende vor
seiner »Entdeckung« durch die moderne Wissenschaft zur Zeit des Zweiten
Weltkriegs benutzt. Und schon fünftausend Jahre vor der »Entdeckung« des in
der Eibe enthaltenen Wirkstoffes Taxol im Jahre 1990 haben sie diesen Baum
zur Behandlung von Brustkrebs eingesetzt. Heute weiß man auch, daß viele
Pflanzen Bestandteile enthalten, die sich direkt auf den Östrogenspiegel oder
andere hormonelle Funktionen bei Männern und Frauen auswirken. Die
Früchte des Mönchspfefferbaums (Vitex agnus castus L. – »Keuschlamm«)
beispielsweise wurden jahrtausendelang in Europa verwendet und dann in
Griechenland von den »heidnischen« Medizinfrauen eingesetzt, um den
männlichen Sexualtrieb zu verringern, damit die Fruchtbarkeitsgöttin während
des Festes der Thesmophorien nicht beleidigt wurde und für eine gute Ernte
sorgte. Der Name der Pflanze stammt von hagnos und castus ab, beides
griechische Ausdrücke für Keuschheit. Andere Kräuter wie Rainfarn und
Weinraute sind so wirksame Abtreibungsmittel für »den Morgen danach«, daß
sie in diesem Sinne in den medizinischen Fachbüchern bis in den Anfang
unseres Jahrhunderts beschrieben wurden. Es kann also durchaus sein, daß
Menschen, die sich mit Naturheilmitteln gut auskannten (und das gilt für alle
Stämme, die je untersucht wurden), ihr Wissen darüber benutzt haben, um ihre
Fruchtbarkeit zu kontrollieren.
[259]
Zwei andere Möglichkeiten, die das Bevölkerungswachstum einschränken und
die man in Stammesgesellschaften häufig beobachten kann, sind das Stillen
der Säuglinge und Kleinkinder sowie die Homosexualität.
Für die Frauen der Stämme ist es üblich, ihre Kinder drei bis fünf Jahre lang
zu stillen. Während dieser Zeit produziert der Körper Hormone, die das
Wiedereinsetzen der Menstruation und
Fruchtbarkeit verhindern,
wahrscheinlich um den Körper der Frau vor der Doppelbelastung von Stillen
und erneuter Schwangerschaft zu bewahren. Die Folge ist eine sehr effektive,
aber natürliche Geburtenkontrolle.
Während Kulturen, die eine hohe Geburtenrate fördern – oft, um den
Nachwuchs für riesige Armeen zu sichern –, gewöhnlich religiöse oder
kulturelle Verbote im Hinblick auf homosexuelles Verhalten entwickeln, fehlen
solche Tabus auffallend häufig in Stammesgesellschaften, die nicht dem
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[260]
174/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Zwang unterliegen, immer mehr Kanonenfutter zu produzieren. Wie von Will
Roscoe[73] und Walter Williams[74] in ihren Büchern gut dokumentiert wird,
wurden Schwule und Lesben und ihre homosexuellen Aktivitäten in vielen
älteren Kulturen allgemein akzeptiert und oft sogar gefeiert.
Wenn zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung Formen der Sexualität
praktizieren würden, aus denen kein Nachwuchs hervorgeht, hätte das
ebenfalls einen stabilisierenden Einfluß auf die Bevölkerungszahlen.
Eine letzte Theorie hebt hervor, daß Frauen in den meisten Stammeskulturen
den Männern gleichberechtigt waren. (Sie hatten vielleicht verschiedene
Rollen, aber dabei ging es nicht um Über- oder Unterordnung; im Hinblick auf
die persönliche Macht, den sozialen Status und ihren Beitrag zum
Gemeinschaftsleben waren sie gleichberechtigt.) Innerhalb solcher
Sozialstrukturen haben Frauen mehr Einfluß auf den Fortpflanzungsprozeß,
bestimmen mit, wann und wie Geschlechtsverkehr stattfindet, wann und wie
Methoden der Geburtenkontrolle angewendet werden und so weiter. Eindeutig
sind auch in den USA und in Europa die Geburtenraten in den letzten fünfzig
Jahren in dem Maße gesunken, in dem Frauen mehr Macht erlangt haben,
während in jenen streng katholischen, muslimischen und hinduistischen
Ländern, in denen Frauen einen niedrigen Status haben und über wenig Macht
verfügen, die Überbevölkerung explosive Ausmaße angenommen hat. Das
betrachten manche Experten als Hinweis darauf, daß die bloße
Gesellschaftsstruktur einer Kultur Auswirkungen auf ihre Fähigkeit zur
Kontrolle des Bevölkerungswachstums haben kann. Beim Stamm der Dane in
Indonesien beispielsweise entscheiden sich die meisten Frauen dafür, nach
der Geburt eines Kindes fünf Jahre lang auf jeden Geschlechtsverkehr zu
verzichten. Bei diesem Volk, das über eine sehr komplexe soziale
Organisation verfügt, welche den Frauen die Kontrolle über ihre
Fortpflanzungsfähigkeit überträgt, hat dieses System dazu geführt, daß die
Bevölkerungszahlen fünftausend Jahre lang stabil geblieben sind.
[261]
Ganz gleich, wie sie es schaffen, die Bevölkerungszahlen der Stämme bleiben
auf eine Weise stabil, welche die Verfügbarkeit von Ressourcen auf ihrem
jeweiligen Gebiet widerspiegelt. Wie das gesunde Körpergewebe nehmen
sie, was sie brauchen, und nicht mehr. Das funktioniert wie durch Zauberei,
aber es ist ein Zauber, den man auch bei allen Pflanzen und Tieren in der
Natur findet.
Die Menschen in Städten und Staaten verfügen dagegen über ein ständig
wachsendes Nahrungsangebot, weil sie ihre Umgebung dauernd ausbeuten
und immer neue Länder erobern. Folglich wächst die Bevölkerung hier ohne
Grenzen, bis die Zahlen schließlich durch Hunger oder Seuchen dezimiert
werden. Das ist immer wieder geschehen, seit der erste Stadtstaat in
Mesopotamien eine Hungersnot erlebte, nachdem die Menschen ihre Umwelt
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
175/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
durch das Abholzen der Wälder zerstört hatten.
»Aber unsere Nationen sind so stabil …«
Einige Leser weisen jetzt vielleicht als Ausnahme von der Regel auf Länder in
Europa hin, die ihre Bevölkerungszahlen stabilisiert haben, wie Norwegen,
Deutschland und Italien. Aber auch wenn diese und andere Länder ihr
Bevölkerungswachstum (überwiegend durch Geburtenkontrolle) gestoppt
haben, führen sie doch kein umweltverträgliches Leben.
Wie alle Städte und Staaten der auf Herrschaft basierenden jüngeren Kultur
verbrauchen diese Nationen weit mehr Ressourcen, als sie produzieren.
(Denken Sie daran, daß bei der Förderung von Mineralien oder fossilen
Brennstoffen, die dann verbraucht und zerstört werden, nichts »produziert«
wird.) Auch wenn der Energieverbrauch pro Person in Europa geringer ist als
in den Vereinigten Staaten, leben diese Nationen und Staaten nur deshalb in
relativem Frieden und Wohlstand, weil sie gespeichertes Sonnenlicht
ausbeuten können, das es eines Tages nicht mehr geben wird. Voraussetzung
für ihre relative Stabilität und ihren Wohlstand ist außerdem, daß die
Regierungen ärmerer Länder weiterhin bereit sind, ihnen zu erlauben, ihre
Waren gegen die Arbeitskraft der dort lebenden Menschen einzutauschen und
Mineralien und Öl aus dem Boden unter den Füßen der ehemaligen
Stammesvölker zu holen.
[262]
Obwohl sie im Moment vielleicht stabil wirken, sind alle Regierungen von
Städten und Staaten aus sich heraus – aufgrund der kulturellen Geschichten,
die ihr Fundament bilden – langfristig instabil. Wie ein Tumor oder ein PonziSchema sind sie abhängig vom Wachstum: Wenn ihr Sozialprodukt sinkt,
verfallen sie oft in Anarchie oder greifen ihre Nachbarn an.
Der Grund dafür ist die Zentralisation jener Elemente, auf die es im Leben
ankommt: Nahrung, Energie, Wasser, Hygiene und Medizin. Ihre Geschichte
besagt, daß Zentralisation gut ist, daß die Reichen und Mächtigen guten
Willens sind (zumindest so lange, wie alles funktioniert) und daß es immer
irgendein fernes Land geben wird, wo man billige Arbeitskräfte und natürliche
Ressourcen bekommen kann.
Einige Länder wie Norwegen sind fast stabil. Das Leben ist gut, es gibt kaum
Analphabeten, die Kriminalität ist gering, und Armut kommt selten vor. Aber
ohne das Öl aus der Nordsee wäre Norwegen bald verlassen und verarmt.
[263]
Anarchie oder Stammessystem?
Das klingt vielleicht so, als wollte ich das moderne Stadt- und Staatssystem
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
176/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
demontieren, aber darum geht es hier nicht. Um ein solches Vorhaben in die
Tat umzusetzen, ist die Entwicklung schon viel zu weit fortgeschritten, und die
Erfahrungen mit dem Kommunismus zeigen, daß, wenn eine auf Herrschaft
basierende Kultur ihr wirtschaftliches oder politisches System ändert, die
Leere nur durch eine neue Form von Herrschaft gefüllt wird. Dieses Buch ist
kein Aufruf zur Revolution oder Anarchie.
Ich will hier auch nicht behaupten, das Stammesleben sei ein utopisches Ideal.
Zwar genießen viele Stammesvölker ein bequemes Leben mit viel Muße, aber
es gibt auch andere, deren Dasein voller Schwierigkeiten, Gewalt und Terror
ist. Auch wenn keine Naturgewalt in der Geschichte je das Ausmaß an
Brutalität, Folter und Tod erreicht hat, das die Stämme durch die zivilisierten
Mitglieder der jüngeren Stadt- und Staatskulturen erleiden mußten (und ganz
gewiß hat keine Naturgewalt sie je zuvor ausgelöscht), so bereiten die Launen
der Natur doch vielen ein schweres Leben voller Schmerzen.
Ihr Leben ist umweltverträglich, ja – aber es ist nicht zwangsläufig auch
bequem.
Ich plädiere hier nicht für ein Entweder-Oder, eine Rückkehr zur
Stammesgesellschaft oder eine Zerstörung dessen, was wir als moderne
Zivilisation bezeichnen.
Statt dessen müssen wir vielmehr aufwachen und die kalte, klare Realität
unserer Lage erkennen, in die wir uns selbst gebracht haben, und wir müssen
verstehen, warum die Dinge so sind wie sie sind:
Die auf Herrschaft basierenden Städte und Staaten der jüngeren Kultur
betrachten alles in der Welt als potentielle Nahrung oder als Material für
sich selbst.
Sie werden wachsen und alle Ressourcen verbrauchen, bis nichts mehr
übrig ist, und dann wird unsere Kultur und unser Wirtschaftssystem
zusammenbrechen, und zurück bleiben Milliarden hungernder
[264]
Menschen, vergiftete Erde, Luft, Wasser und Millionen ausgestorbener
Arten.
Wenn wir einiges von den Lehren und vom Lebensstil unserer Vorfahren
annehmen – die mindestens hunderttausend Jahre lang ein
ausgeglichenes Leben auf diesem Planeten führten –, dann können wir
eine Richtungsänderung bewirken und wenigstens für einen Teil des
Planeten eine auf Dauer angelegte, umweltverträgliche und lebenswerte
Zukunft schaffen.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
177/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Aber was ist mit Darwin
und dem Recht des Stärkeren?
[265]
Daß unsere Verfassung dem Kongreß die
Entscheidung über Krieg und Frieden
überträgt, hat meines Erachtens folgende
Gründe: Könige haben ihre Völk er immer in
Kriege geführt und waren dadurch maßgeblich
für
die
Armut der
breiten
Massen
verantwortlich, wobei sie im allgemeinen, wenn
nicht immer, vorgaben, alles geschehe zum
Besten
des
Volk es.
Unsere
verfassungsgebende Versammlung war der
Ansicht, dies sei die drück endste aller
k öniglichen Tyranneien, und deshalb legte sie
in der Verfassung fest, daß k ein einzelner
Mensch über die Macht verfügen sollte, uns
dieser Tyrannei auszusetzen.
Abraham Lincoln
Das
Treffen
[mit
dem
iranischen
Außenminister vor dem Golfk rieg] sicherte
uns die Unterstützung des Kongresses für
etwas, zu dem der Präsident längst fest
entschlossen war. … Ich denk e, wir hätten in
jedem Fall weitergemacht … sogar wenn wir
die Abstimmung verloren hätten. … Ich
ak zeptiere nicht, daß ich die Zustimmung des
Kongresses brauche.
James Baker, ehemaliger amerikanischer Außenminister,
über den Beginn des Golfkriegs
Ein Argument, das alle Leute (besonders, wie ich festgestellt habe, alle
Gastgeber von Talkshows) vorbringen, wenn es um die Ideen geht, die in
diesem Buch vorgestellt werden, lautet: Wenn die Lebensweise der
Stammesgesellschaften so gut war, wieso haben wir sie dann erobert?
Bedeutet nicht, »Sieger« zu sein, daß man »überlegen« ist?
Es gibt darauf eine einfache Gegenfrage: »War Hitlers Lebensweise jener der
Franzosen und der Polen überlegen?«
Die klassische Geschichte der Eroberung Amerikas durch die Europäer
besagt, daß wir entweder riesige »ungenutzte« Areale vorfanden, mit denen
die unwissenden Wilden nichts anzufangen wußten, oder daß wir sie
»eroberten«, weil wir klüger und zivilisierter waren und deshalb über
Technologien wie Gewehre verfügten, die uns den Sieg garantierten.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[266]
178/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Tatsächlich ist jedoch keine dieser Sichtweisen zutreffend, wie man in
Dutzenden früherer und auch zeitgenössischer historischer Aufzeichnungen
nachlesen kann. Es gab mindestens zwei Versuche, die »Gebiete der
Wilden« zu erobern oder zu besiedeln, die erfolgreich verhindert wurden,
bevor sich die Pilgerväter 1620 niederließen. Selbst mit überlegenen Waffen
verfügten die Europäer nicht über die nötigen Fähigkeiten, die es ihnen
erlaubt hätten, den Wettbewerb mit den amerikanischen Ureinwohnern
erfolgreich zu bestehen. Wie bei den Inkas waren es vielmehr Krankheiten, die
es uns ermöglichten, Nordamerika zu besiedeln, eine Tatsache, welche die
meisten Schulbücher bei ihrer Darstellung der Geschichte merkwürdigerweise
übersehen, obwohl sie in vielen anderen Texten, die nicht vom Staat Texas
überprüft werden müssen, gut dokumentiert ist.
Europäer wie der »schwer von Pockennarben gezeichnete« George
Washington waren den Pocken jahrhundertelang ausgesetzt, und diejenigen,
die den »Schwarzen Tod« überlebt hatten, verfügten genetisch über eine
starke Widerstandskraft gegen diese Krankheit. Obwohl Pocken,
Windpocken, Grippe, Pest und Hepatitis unter Europäern weit verbreitet
waren, führten sie nur relativ selten zum Tod.
Ganz anders war die Situation bei den amerikanischen Ureinwohnern. Wo
Europäer auch hinkamen, starben die amerikanischen Ureinwohner zu
Hunderttausenden oder gar Millionen. (Nach Schätzungen, die William
McNeill[75] zitiert, betrug die Zahl der amerikanischen Ureinwohner zu Beginn
der aggressiven Kolonisierung Nordamerikas durch die Europäer etwa 100
Millionen Menschen. Heute dagegen leben nur noch weniger als eine Million
reinrassiger Nachfahren dieser Leute.)
[267]
In den letzten drei Jahren, bevor die Pilgerväter in Massachusetts landeten,
hatten die Ureinwohner häufig Kontakt mit holländischen, französischen und
britischen Fischern und Händlern gehabt. Diese hatten eine Seuche –
wahrscheinlich die Pocken – unter den Eingeborenen verbreitet,
unbeabsichtigt zwar, aber so gründlich, daß im Jahre 1620, als die Pilgerväter
landeten, nach Berichten von Robert Cushman, einem britischen
Augenzeugen, weniger als fünf Prozent der amerikanischen Ureinwohner
überlebt hatten. Ganze Dörfer waren ausgelöscht, der Boden mit Schädeln
und Knochen bedeckt, und die wenigen Überlebenden waren in den meisten
Fällen westwärts geflohen, wo sie die Seuche weiter verbreiteten.
Der damalige Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, John Winthrop,
bezeichnete die Tatsache, daß 90 bis 95 Prozent der Ureinwohner von New
England durch Krankheit dahingerafft worden waren, als ein »wunderbares«
Zeichen Gottes. 1634 schrieb er in einem Brief an einen Freund in England:
»Was die Eingeborenen in dieser Gegend anbetrifft, so hat Gott sie derart
heimgesucht, daß der größte Teil von ihnen in einem Gebiet von 300
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
179/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Quadratmeilen von den Pocken dahingerafft wurde, die immer noch unter
ihnen grassieren. Nachdem Gott auf diese Weise unseren Anspruch auf
diesen Ort bestätigte, haben sich die weniger als 50 verbliebenen
[Eingeborenen] unter unseren Schutz gestellt …«
Als die Europäer westwärts zogen und die Konflikte zwischen ihnen und den
Ureinwohnern im folgenden Jahrzehnt erneut aufflammten, schrieb der
puritanische Geistliche Increase Mather: »Gott beendete die Kontroverse
damit, daß er den Indianern die Pocken schickte. Ganze Städte wurden
ausgelöscht, und an manchen Orten überlebte nicht eine einzige Seele.«
Schließlich verfolgten Seuchen die amerikanischen Ureinwohner von Florida
bis Maine, von Massachusetts bis Kalifornien und »bereiteten den Weg« für
die Kolonisierung Amerikas durch die Europäer. Der Pilgervater William
Bradford, Autor des Buches On Plymouth Plantation, schrieb 1632 über ein
Indianerdorf: »… denn es gefiel Gott, diesen Indianern eine tödliche Krankheit
zu schicken, an der über 950 der 1000 Einwohner starben, und viele Leichen
lagen verwesend am Boden, weil sie nicht begraben werden konnten.«
[268]
Wie Charles Darwin 1839 schrieb: »Wohin die Europäer ihren Fuß setzen,
scheint der Tod die Ureinwohner zu verfolgen.«
Gleichwohl ist die Darwinsche Sicht vom »Überleben des Stärkeren« (wobei
man die Seuchen passenderweise übersehen hat) zum Mittelpunkt der
Geschichten geworden, die wir uns darüber erzählen, wie die Welt funktioniert.
Doch die Tatsache, daß wir in der jüngsten Vergangenheit überlebt haben,
sagt nichts darüber aus, ob wir auch in einer beispiellosen Zukunft überleben
werden.
Um uns das klarzumachen, brauchen wir nur an die Tausende von Arten zu
denken, die lange Zeit überlebt haben, bevor sie in diesem Jahrhundert
ausgerottet wurden. Um die Zukunft vorherzusagen, reicht es nicht, sich auf die
Vergangenheit zu verlassen – wir müssen einen Blick in die Zukunft werfen.
Bei Stammesgesellschaften ist Kooperation der höchste Wert. Sie war
alltägliche Praxis im Stammesleben. Sie wurde auch den Europäern
angeboten, als die ersten von ihnen landeten, und die Stämme halfen ihnen,
Getreide anzupflanzen und die ersten Winter zu überstehen.
Die Irokesen zeigten sich kooperativ gegenüber James Madison, als sie ihm
erlaubten, an ihren Versammlungen teilzunehmen, wo er von dem tausend
Jahre alten großen verbindlichen Gesetz der Irokesen-Konföderation erfuhr,
das schon vor Kolumbus existiert hatte und das die Nation der Irokesen bis
heute befolgt. Madison griff ihre Idee eines Regierungssystems mit
eingebauten Kontrollmechanismen, einer Trennung von Judikative und
Exekutive und gewählten Volksvertretern auf und diskutierte sie mit Benjamin
Franklin und Thomas Jefferson. Die drei brachten diese Ideen in die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[269]
180/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Verfassung der Vereinigten Staaten ein. Franklin, Jefferson und James
Madison schrieben ausführlich darüber und luden 42 Mitglieder der IrokesenKonföderation ein, 1754 am Albany Plan of Union teilzunehmen, wo der erste
Versuch einer repräsentativen Demokratie erörtert wurde. Franklin sagte
später in einer Rede vor dem Albany Congress: »Es wäre eine seltsame
Sache … wenn sechs Nationen unwissender Wilder fähig sein sollten, eine
solche Union zu bilden und sie so zu führen, daß sie Jahrhunderte überdauert
und unauflösbar wirkt, aber zehn oder zwölf englische Kolonien dazu nicht in
der Lage wären.«
Die frühen Siedler waren jedoch der Meinung, sie wüßten besser als die
Irokesen, wie man eine Regierung bildet. Zwar folgten sie der Idee einer
Legislative mit zwei Kammern, eines höchsten Gerichtshofes und klar
definierter Machtgrenzen für die Zentralregierung, wie es bei den Irokesen
schon seit Jahrtausenden üblich war, aber die Siedler hatten immer noch eine
Vorliebe für die Monarchie: George Washington, der sich erfolglos dafür
einsetzte, er, der Präsident, solle als »Seine Hoheit« angeredet werden,
gehörte zu denen, die darauf drängten, unser Regierungssystem um einen
»starken Mann«, einen Ersatzkönig zu erweitern.
Und fast alle Siedler waren sich einig, daß das System der Irokesen, wo die
(meist männlichen) Abgeordneten ausschließlich von den Frauen der Stämme
gewählt wurden (die auch die alleinige Macht hatten, die Männer ihrer Ämter
zu entheben), ein Fehler war. Die Siedler änderten das Verfahren
dahingehend, daß nur Männer eine solche Entscheidung treffen durften.
Außerdem beschlossen sie, die bis heute fortbestehende Regel der Irokesen
zu ignorieren, daß die gewählten Repräsentanten alle Entscheidungen von
»Bedeutung« (Kriegspläne, Veränderung nationaler Grenzen, Veränderung
der Beziehungen zu anderen Stämmen etc.) der örtlichen Wählerschaft zur
Diskussion und Entscheidung vorlegen mußten. Statt dessen schufen sie das
System, das wir jetzt haben, wo solche Entscheidungen täglich ohne
Rücksprache mit der Wählerschaft getroffen werden.
[270]
Im Gegensatz zu den Stammesgesellschaften gilt als höchster Wert bei uns
nicht Kooperation, sondern Macht: Macht von Göttern über Menschen. Macht
einer Gruppe von Männern über eine andere Gruppe. Macht von Männern über
Frauen. Macht über Eigentum (wem gehört was, und wer darf es nicht haben).
Macht von Menschen über die Natur. Macht.
Und so ist es kaum überraschend, daß eine Kultur, in der Macht über allem
steht, eine andere Kultur auslöschen konnte, deren höchster Wert Kooperation
war. Aber bedeutet das automatisch, daß die Kultur der Macht die bessere
ist? Oder daß sie auf Dauer überleben wird? Oder auch nur, daß sie ebenso
wie die kooperativen Kulturen hunderttausend Jahre überleben wird?
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
181/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Vielleicht haben die Neodarwinisten recht, daß jene Zivilisationen, die
überleben, die überlegenen sind. Aber der Kampf ums Überleben ist eine
Saga, deren Ende noch offen ist, und die menschliche Geschichte ist ein
Experiment, dessen bisherige Ergebnisse belegen, daß die auf Macht
basierenden Kulturen sich immer selbst zerstört haben.
Denken Sie daran, daß nach Zehntausenden von Jahren relativ friedlicher
Koexistenz sich eine kleine Gruppe Mesopotamier plötzlich erhob und
beschloß, Macht und Herrschaft über alle Menschen und Dinge auszuüben.
Sie gewannen ihre Kriege und wuchsen an Zahl und glaubten, ihre
Expansionskraft beweise ihre Überlegenheit, die Richtigkeit ihrer Ansichten
und die Segnungen ihrer Zivilisation.
Aber dann folgten Zusammenbruch und Untergang.
Aus der Asche ihrer Begräbnisfeuer, nachdem Hunger und Seuchen und die
von ihnen hinterlassenen Verwüstungen allmählich in Vergessenheit gerieten,
wagte eine andere Gruppe einen neuen Versuch, und eine weitere Zivilisation
entstand. Auch sie ging unter. Und es folgten wieder und wieder andere: die
Mesopotamier, die Griechen, die Römer, die Hunnen, die Osmanen, die
Inkas, die Azteken.
[271]
Wird die heutige Inkarnation des kulturellen, politischen und ökonomischen
Systems, das im wesentlichen auf Macht beruht, ebenfalls untergehen?
Werden die Stammesgesellschaften die einzigen Überlebenden sein?
Ist es möglich, daß den Sanftmütigen tatsächlich die Erde gehören wird?
Wenn die Zeichen, die wir um uns herum sehen, richtig sind, dann mag es
wohl sein, daß die Neodarwinisten recht haben – aber sie bezeichnen die
falsche Kultur als die »überlegene«, zumindest im Hinblick auf die Fähigkeit,
langfristig zu überleben.
[273]
Teil III
Was können wir dagegen tun?
Früher wußte die gesamte Menschheit, wie man im Einklang mit der Natur
und umweltverträglich lebt, und einige Menschen wissen das auch heute noch.
Aber in jüngster Vergangenheit, nach mehr als fünftausend Generationen der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
182/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kooperation, hat sich das Herrschaftsprinzip eingeschlichen, sich wie eine
Grippeepidemie weltweit ausgebreitet und den ganzen Planeten innerhalb von
zweihundert Generationen infiziert.
Moderne Gesellschaften sind ernsthaft davon überzeugt, daß die Ausrichtung
auf Konsum und geschickte, für uns vorteilhafte Manipulationen der »Maschine
Natur« zu einem besseren Leben führen. Trotz überwältigender Beweise des
Gegenteils werden diese beiden Dogmen immer noch als Heilsweg
angepriesen.
So verkündete beispielsweise im Oktober 1997 die amerikanische
Holzindustrie gemeinsam mit Newt Gingrich, daß die Freigabe weiterer
Waldgebiete aus Staatsbesitz (besonders in Alaska) zur kommerziellen
Rodung »ein Beitrag zur Verringerung der Kohlenstoff-Emissionen sei«, weil
die Bäume zu Papier und Häusern verarbeitet und dadurch den Kohlenstoff
»stabilisieren« würden. Offensichtlich hatten sie nicht einmal über den
Tellerrand der Jahreswende hinausgedacht: Papier und Häuser atmen kein
Kohlendioxid ein und keinen Sauerstoff aus, schaffen keinen neuen
Mutterboden, verhindern keine Erosion und stabilisieren nicht den
Wasserkreislauf. Auf dem Altar kurzfristiger Profitgier verehren wir den
Konsum als falschen Gott, plündern die Welt, setzen die Zukunft unserer
Kinder aufs Spiel, und sogar hochgebildete Menschen begreifen nicht, wie
oder warum das geschieht.
Aber selbst angesichts der enormen und rasch anwachsenden Schäden, die
wir dem Planeten und sogar unserer eigenen Art (unter anderem durch
Umweltverschmutzung) zufügen, gibt es die Möglichkeit des Wandels. Der
David eines neuen Lebensstils steht dem Goliath der Politiker und Konzerne
gegenüber, und der kleine Stein der alten Geschichten könnte die jüngere
Kultur durchaus an der Stirn treffen und dann auf eine Weise, die eine neue
Welt entstehen läßt, globale Kreise ziehen.
[274]
In diesem Buch ist viel darüber geschrieben worden, wie schlecht die Dinge
stehen, wie katastrophal sie sich entwickeln könnten (obwohl dieses Buch im
Vergleich zu einigen anderen noch optimistisch ist), und warum wir an diesen
Punkt in der Geschichte der Welt und der menschlichen Rasse gekommen
sind. Ich habe diese Fragen ausführlich behandelt, weil es dabei wirklich um
eine Geschichte geht, die fünf- bis zehntausend Jahre umfaßt. Wenn wir auf
eine bessere Zukunft hinarbeiten wollen, brauchen wir ein klares und
greifbares Bild der Vergangenheit.
Doch nun wollen wir uns der Zukunft zuwenden. Die Antworten sind in vieler
Hinsicht sehr einfach und direkt – wenn wir erst einmal die Lügen und
Verzerrungen der Vergangenheit durchschaut haben und es schaffen, den
ständigen Trommelwirbel einer der Herrschaft und Ausbeutung geweihten
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
183/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Kultur zu ignorieren. Mit offenen Augen und Ohren und einem sicheren Instinkt
für das, was funktioniert und warum, können wir uns nun in eine Welt begeben,
die durchaus – zumindest an vielen Orten – ein Platz der Hoffnung und des
Glücks für unsere Kinder sein kann.
Es gibt bestimmte Dinge, die getan werden können – die Sie persönlich tun
können –, die wir alle tun können. Bei den meisten handelt es sich um
einfache Kleinigkeiten, die damit zu tun haben, wie wir denken und sehen und
hören und fühlen. Einige Maßnahmen sind umfangreicher und dynamischer.
Alles beginnt mit einem Menschen, der versteht, wie die Dinge sind, wie sie
so wurden und daß es Alternativen gibt. Eben jetzt sind Sie dieser Mensch,
und später können Sie Ihr Verständnis an andere weitergeben, und diese
wieder an andere und so fort …
[275]
In Teil III dieses Buches geht es um die Hoffnung auf eine warme, positive
Zukunft. Sie werden Werkzeuge und Techniken kennenlernen, wie Sie Ihre
Welt innerlich und äußerlich verändern können. Die Themen sind
folgendermaßen gegliedert:
Wie wir uns selbst verändern können
Es gibt ein »morphogenetisches Feld«, über das wir alle miteinander
verbunden sind – der Biologe Rupert Sheldrake hat es identifiziert, und
C. G. Jung hat es als das »kollektive Unbewußte« bezeichnet – und in
dem jede individuelle Veränderung unseres Denkens, Lebens und
Handelns Resonanzen in der Welt erzeugt.
Auf diese Weise können wir neue »Geschichten« entwickeln und damit
beginnen, unsere Vorstellungen von dem, was im Leben geschieht, zu
verändern.
Der wichtigste Teil der persönlichen Transformation – der zur planetaren
Transformation führt und/oder die Samen für eine bessere Zukunft sät –
besteht darin, daß wir vollkommen lebendig werden, hellwach sind und
unsere Umgebung und das allgegenwärtige Göttliche bewußt
wahrnehmen.
Wie wir unsere Technologien verändern
Wir können jetzt damit anfangen, mit Hilfe unserer noch vorhandenen
Ölreserven neue Lösungen für das Energieproblem zu entwickeln.
Sowohl im Interesse der planetaren Transformation als auch im
Interesse unseres eigenen Überlebens in möglicherweise schweren
Zeiten können wir lernen, von Stromkonzernen und anderen großen
Unternehmen unabhängig zu werden.
Umweltschutz ist etwas, womit wir alle jetzt beginnen können (oft nicht im
konventionellen Sinn) und womit wir dazu beitragen können, das
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
184/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Ausmaß der Umweltzerstörung zu verringern.
Wie wir unser Denken und die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse
verändern können
Die beste Nachricht ist die, daß die Wissenschaft – die bisher offenbar
[276]
mit zur Zerstörung des Planeten beigetragen hat – uns nun zeigt und
sagt, wie buchstäblich alles, was existiert, miteinander verbunden ist und
bewußt ist, und daß unsere Gedanken und sogar unsere kleinsten
Aktivitäten tatsächlich etwas ändern.
Wir können viele dieser Lektionen einfach dadurch lernen, daß wir wieder
Zugang zum Wissen unserer Vorfahren finden
Unsere Vorfahren führten ein Leben der »spirituellen Ökologie« und
gingen dabei von der Vorstellung aus, daß die gesamte Schöpfung
heilig ist.
Sie lehrten und lehren immer noch bestimmte Methoden, wie wir zum
Leben erwachen können.
Wir können eine bessere Zukunft schaffen, indem wir funktionierende
Gemeinschaften entwickeln
Tausende bilden eine neue Generation von »Stämmen« – kleine
»zielgerichtete Gemeinschaften«, in denen die Menschen füreinander
sorgen und umweltverträglich leben.
Diese Gemeinschaften sind Quellen des Lichts bei der Transformation
des Planeten und zugleich Orte von oft außergewöhnlicher
Lebensqualität.
Sie können sich einer solchen Gemeinschaft anschließen oder selbst
eine gründen, wenn Sie deren Funktionsweise verstehen.
Jeder von uns stammt von Menschen ab, die in kleinen Gruppen lebten,
füreinander sorgten und ihre Bedürfnisse auf umweltverträgliche Weise
befriedigten. Wir haben viel zu lernen – oder besser gesagt, es gibt viel,
woran wir uns erinnern müssen.
[277]
Die neue Wissenschaft
Jesus sprach: »Ich bin das Licht, das über
allem steht. Ich bin das All. Das All ist aus
mir
hervorgegangen
und
zu
mir
zurück gek ehrt. Spalte Holz, und ich bin da.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
185/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Hebe einen Stein auf, und du wirst mich
finden.«
Evangelium des Thomas, Vers 77[76]
Unser
Leben ist in hohem Maße ein Produkt der Wissenschaft. Die
Vorstellung, man könnte sich dem vollständig verweigern, einfach alles hinter
sich lassen und zu einer Art Stammesleben zurückkehren, wie es vor
Hunderten und Tausenden von Jahren praktiziert wurde, ist eine Illusion. Das
ist nicht möglich und wäre wahrscheinlich nicht einmal wünschenswert.
Immerhin haben uns die modernen Technologien einige – viele – Vorteile zu
bieten.
Was wir jedoch tun müssen, ist, die Wissenschaft aus der richtigen
Perspektive zu betrachten.
Wie müssen wir die Welt oder sogar das ganze Universum sehen?
Unsere jüngere Kultur folgt der reduktionistischen, atomistischen Perspektive
von Aristoteles, Newton, Descartes und anderen, die davon ausgehen, daß
die Welt einfach eine Maschine ist. Sie besteht zwar aus einer Vielzahl
ineinandergreifender Teile, aber sie ist trotzdem keine[eine? Anm.d.Tippers]
Maschine. Jeder Teil, so heißt es, kann letztlich auf seine einzelnen Elemente
reduziert werden, und wenn sie beschädigt sind, kann man sie reparieren.
Als mein Auto letzte Woche bei einem Unfall beschädigt wurde, haben wir es
in die Werkstatt gebracht, um einige Teile ersetzen zu lassen. Es wurde
auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, und wenn ich es heute
aus der Werkstatt abhole, erwarte ich, daß es wieder genauso funktioniert wie
vorher. Vielleicht läuft es sogar besser, weil die Mechaniker auch eine
Inspektion gemacht und alles wieder richtig eingestellt haben.
[278]
Aber kann man diese Vorstellung wirklich auf natürliche Abläufe übertragen?
Wenn wir uns in der Welt umsehen, dann finden wir nicht Maschinen, sondern
Lebewesen. Bäume, Blumen, Insekten, Vögel, Säugetiere, Menschen. Wie
viele Studenten der modernen Medizin habe auch ich einmal geglaubt, wir alle
seien maschinenartig und würden wie ein Auto nach der Reparatur wieder
richtig funktionieren.
Als ich 14 war, habe ich während des Sommersemesters an der Michigan
State University Biochemie studiert. Mein Laborpartner und ich entschieden
uns für ein ehrgeiziges Projekt: Wir wollten eine Zelle abtöten und wieder zum
Leben erwecken.
Wir wählten eine Wasserpflanze, deren Zellen so groß waren, daß man den
Zellkern erkennen konnte, und entfernten das Kernmaterial aus mehreren
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
186/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Zellen. Dann injizierten wir in den Zellkern einer lebenden Zelle einen Wirkstoff,
der die DNS der Zelle in freie Nukleinsäuren aufspalten konnte. Anschließend
injizierten wir einen zweiten Wirkstoff, der die Wirkung des ersten
neutralisierte, und versuchten dann, in denselben Zellkern die DNS zu
injizieren, die wir zuvor aus anderen Zellen entnommen hatten.
Unser Experiment war insofern erfolgreich, als es uns zeigte, daß man eine
tote Zelle nicht wieder lebendig machen kann.
Ungeachtet der Schöpfung des Dr. Frankenstein gibt es einen bedeutsamen
Unterschied zwischen Maschinen und Lebewesen.
Beide sind so komplex, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Ein Haufen von Einzelteilen und ein fertig montiertes Auto sind ziemlich
verschieden, auch wenn es sich um dieselben Teile handelt. Der Unterschied
besteht in der Organisation der Teile, dem System oder der Struktur, zu der
sie angeordnet sind.
[279]
Ganz ähnlich verfügen auch Lebewesen über eine Struktur, die ihre
Einzigartigkeit ausmacht. Beispielsweise wird eine in ihre Teile zerlegte Kuh
nicht muhen oder sich bewegen. Doch bevor sie zerlegt wurde, gab es diese
einzigartige Struktur, die das betreffende Lebewesen zur Kuh machte. Der
Unterschied zwischen einem Lebewesen und einer Maschine ist demnach
nicht strukturell bedingt.
Der Unterschied besteht darin, daß man eine Maschine anhalten,
auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann, und danach ist es
wieder dieselbe Maschine. Das gilt nicht für eine Pflanze oder ein Tier. Wenn
der Lebensvorgang einmal gestoppt wurde, kann man ihn nicht wieder in
Gang setzen.
Zweifellos gibt es Leute, die nun argumentieren werden, daß wir einfach noch
nicht herausgefunden haben, wie man das Leben wieder in Gang setzt. So
beruht beispielsweise die Kryogenik-Bewegung[77] auf der simplen Annahme,
daß wir eines Tages wissen werden, wie man den Lebensvorgang wieder
reaktiviert. Aber das ist reiner Glaube; es gibt keine wissenschaftlichen
Hinweise, daß die Sache wirklich funktionieren könnte.
Alle bisherigen Erkenntnisse zeigen deutlich, daß es einen fundamentalen
Unterschied zwischen einem lebenden Menschen und einem Leichnam gibt,
und dieser Unterschied läßt sich in keiner Weise vergleichen mit einem
fahrenden Auto und einem Auto, das am Straßenrand geparkt ist. Das hängt
damit zusammen, daß eine Maschine nach einem bestimmten System oder
einer Matrix konstruiert ist. Eine Pflanze oder ein Tier ist dagegen auf eine
sehr geheimnisvolle Weise organisiert, die wir vielleicht nie ganz verstehen
werden, und wenn ein solches Lebewesen stirbt, dann hat es mehr »verloren«
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
187/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
als nur seine Organisation.
Viele Wissenschaftler ignorieren jedoch lieber die Tatsache, daß wir nicht
verstehen, wie Lebewesen organisiert sind. Die moderne Medizin versucht,
den Körper und Geist des Menschen auf seinen Maschinenstatus zu
reduzieren, und stellt dabei immer wieder fest, daß die vermeintliche
Maschine wesentlich komplexer ist als ursprünglich angenommen. Das
unzureichend verstandene Zusammenspiel zwischen Körper und Geist ist
dabei nur ein Beispiel, das die Ärzte seit Hippokrates verwirrt hat.
[280]
So haben wir also diesen Unterschied zwischen Maschinen und Lebewesen:
Erstere kann man auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, während
letztere von einer unbekannten Essenz in Schwingung versetzt werden, die wir
als »Leben« bezeichnen und die bei dem Versuch, das Lebewesen in seine
Einzelteile zu zerlegen, für immer verschwindet.
Das bringt uns zurück zu der Frage, wie wir die Welt und das Universum, in
das sie eingebettet ist, betrachten sollten. Wenn wir uns die natürliche Welt um
uns herum ansehen, sehen wir dann Maschinen? Sind die Bäume und
Pflanzen unbelebte Strukturen von Mineralien und Energie? Sind die Tiere
reine Ansammlungen von Organen und Teilen? Sind die empfindlichen
Lebenssysteme der Ozeane, des Landes und der Atmosphäre Maschinen,
die man anhalten und dann wieder neu starten kann, indem man einfach die
erforderlichen Chemikalien und Aminosäuren hineinkippt?
Das Weltbild des ersten Menschen
Das Leben auf dem Lande bringt einem manche interessante Erkenntnis.
Letztes Jahr traf ich eine indianische Medizinfrau. Sie sagte, wenn sie in den
Wald oder über die Felder gehe, dann sehe sie nicht nur Bäume und Pflanzen
und Tiere, sondern sie sehe deren Geister und höre und fühle ihr Bewußtsein.
Die Bäume erzählten ihr über ihr Leben, ihre Schmerzen und Freuden, die
Pflanzen erzählten ihr, welche von ihnen die Menschen heilen und welche
ihnen schaden können. Die Tiere gaben ihr Anweisungen, wie man in
Harmonie mit dem Land lebt, und das Land selbst sprach zu ihr mit einer
erkennbar weiblichen Stimme.
[281]
»Und auf diese Weise haben die Ureinwohner die Lebewesen in diesem
Land seit Ewigkeiten gesehen«, sagte sie. »Ihr Weißen wart blind, als ihr hier
angekommen seid, und ihr seid immer noch blind.«
Zunächst interpretierte ich ihre Worte im Sinne der atomistischen Sicht der
»weißen Europäer«. Sie übertrug menschliche Eigenschaften auf
Nichtmenschliches, projizierte ihre eigenen Gedanken und Wünsche auf
andere Lebewesen. Sie hörte sie nicht wirklich, sondern sprach nur in
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
188/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Metaphern, obwohl sie fest behauptet hatte, sie meine es wörtlich. Sie
interpretierte Naturphänomene falsch, indem sie beispielsweise dachte, ein
Baum nicke oder deute auf etwas hin, wenn sich die Zweige einfach im Wind
bewegten, oder sie interpretierte das normale Revierverhalten eines Vogels
als den Versuch persönlicher Kommunikation.
Aber dann erkannte ich, daß ich genau das tat, was ich ihr unterstellt hatte: Ich
projizierte meine eigene Sicht der Dinge auf ihre Aussagen. Wenn die
westliche Wissenschaft alte Völker untersucht und mit dieser Art von Analyse
beginnt, dann ist jedes einzelne Stück davon genausosehr eine Projektion, ein
Dogma, das Spiegelbild eines Glaubenssystems, wie wir es umgekehrt im
Hinblick auf die andere Seite behaupten.
Also ging ich hinaus in die Wälder um unser Haus in Vermont.
»Tragt ihr bewußtes Leben in euch?« fragte ich leise und sah auf die
Ahornbäume und die Fichten. Sie wiegten sich sanft im Wind, in der Ferne
begann ein Vogel zu singen, und ich konnte den frischen Duft der feuchten
Erde riechen.
Ich fragte mich, ob der gesamte Wald mir vielleicht antworten würde: »Wir sind
lebendig«, aber statt dessen übermittelte mir jede einzelne Lebensform, die
ich betrachtete, das starke Gefühl individueller Lebendigkeit. Jeder Baum, der
Vogel und das Streifenhörnchen, die Erde unter meinen Füßen, in der es von
Mikroorganismen nur so wimmelte, sie alle schienen mir ihre individuelle
Lebendigkeit zu versichern. Wie die einzelnen Musiker in einem
Symphonieorchester spielten sie zusammen, um einen wunderbaren Klang
hervorzubringen.
[282]
Ich hob meine Hände mit den Handflächen nach außen und stellte mir vor, wie
mein Leben mit dem des Waldes um mich herum verschmolz, und als ich das
Leben der Erde berührte, erfüllte mich ein Prickeln.
Das ist eine andere Art von Wissenschaft – die Wissenschaft der ersten
Menschen, die das Leben auf dem Planeten erblickten. Als Jack Forbes, der
als erster über Wétiko schrieb, mir sagte: »Die Ureinwohner glauben nicht
unbedingt, daß nur Menschen reden können«, spürte ich einen direkten
Kontakt mit einem alten Wissen, etwas, das bei unserem Versuch, die ganze
Welt in unsere Vorstellung von einer Maschine zu pressen, verlorengegangen
ist und nun im Verborgenen liegt. So wie unsere jüngere Kultur sich zeitweise
nicht vorstellen konnte, daß die Erde eine Kugel ist, weil das nicht mit unserer
Wirklichkeit übereinstimmte, so haben wir auch viel von dem alten, wertvollen
Wissen abgelehnt, weil es nicht in unser kartesianisches Weltbild paßte.
Versuchen Sie es selbst. Legen Sie das Buch aus der Hand, gehen Sie
hinaus in die Natur und versuchen Sie, mit den Pflanzen und Tieren zu
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
189/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sprechen und sie zu spüren. Finden Sie in Ihrem eigenen Inneren den Ort, an
dem Sie die Gegenwart des Lebens wahrnehmen können und von dem aus
Sie die Hand nach anderen Lebensformen, nach dem gesamten Leben,
ausstrecken können. Von diesem Ort aus, an dem Sie alles Leben als heilig
erkennen, können Sie dann anfangen, darüber nachzudenken, was Sie tun
können, um eine lebenswerte und umweltverträgliche Zukunft zu schaffen.
[283]
Die Physik entdeckt das Bewußtsein
Die Physiker betonen gerne, daß die Physik die erste Disziplin dessen war,
was wir als moderne Wissenschaft bezeichnen. Als in der Medizin immer noch
Vorstellungen von Geistern, die in Körper eindringen, vorherrschten und die
Astronomie noch nicht von der Astrologie unterschieden wurde, schuf
Aristoteles die Grundlagen der modernen Physik, als er begann, nach der
letzten Natur der Dinge zu fragen. Die Dinge bestanden aus kleineren Dingen,
die wiederum aus kleineren Dingen bestanden – bis man schließlich zum
kleinsten Ding gelangte, von dem Aristoteles annahm, es sei das Atom.
Die Physik hatte immer eine Leitfunktion für die anderen Wissenschaften, weil
jede andere Wissenschaft sich mit einem Aspekt der »Wirklichkeit«
beschäftigt, während die Physik das behandelt, was diese Wirklichkeit – in
ihrem tiefsten Kern – ist. Chemie ist ohne Physik nicht zu verstehen; Biologie
ist ohne Chemie nicht denkbar; Medizin oder Genetik oder
Agrarwissenschaften sind ohne Biologie unvorstellbar. Jede Wissenschaft
baut letztlich auf den Grundlagen der Physik auf.
Und ganz ähnlich ist auch der Kern des wissenschaftlichen Weltbildes und der
wissenschaftlichen Methodologie aus dem Studium der Physik
hervorgegangen. Die Physik – die Untersuchung des innersten Kerns der
Wirklichkeit – hat immer alle anderen Wissenschaften geleitet.
Das ist bis heute so geblieben. Heute, so scheint es, sind die anderen
Wissenschaften entweder mit hängender Zunge dabei, die Physik einzuholen,
oder sie zittern vor den Konsequenzen der jüngsten physikalischen
Entdeckungen. Die gute Nachricht für uns lautet heute: Die Entdeckungen der
Physik zeigen, daß wir weit stärker mit dem Rest des Universums verbunden
sind, als unsere Kultur uns glauben machen wollte.
Die Wissenschaft hat in einem sehr realen Sinne erst kürzlich den Stand der
Erkenntnisse erreicht, welche die älteren Kulturen unseren Vorfahren seit jeher
vermittelt haben.
[284]
Denken Sie beispielsweise an ein simples Elektron. Nach der Entdeckung
der Elektronen haben wir zunächst angenommen, sie seien winzig kleine
Teilchen, die um den Atomkern kreisen, der seinerseits aus Protonen und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
190/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Neutronen besteht. Die Umlaufbahnen der Elektronen um den Atomkern
schienen schichtweise angeordnet zu sein, und das am häufigsten verwendete
Modell war das Sonnensystem, in dem die Elektronen wie Planeten um den
der Sonne entsprechenden Zellkern[Atomkern? Anm.d.Tippers] kreisen.
Den Beweis dafür fand man, als deForest und andere herausfanden, wie man
einen Draht (eine »Kathode«) erhitzt, um eine Wolke von Elektronen zu
erzeugen, und dann eine positive elektrische Ladung benutzt, um daraus einen
Strahl zu erzeugen und diesen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das
flimmernde Bild auf dem Schirm Ihres Fernsehgerätes wird durch einen Strom
von Elektronenteilchen erzeugt, welche auf Phosphoratome an der Innenseite
des Bildschirms treffen und diese zum Glühen bringen. Das ist eine
Kathodenstrahlröhre.
Aber dann versuchten Wissenschaftler eines Tages, einen Strom von
Elektronenteilchen gegen eine Metallwand mit zwei Schlitzen zu lenken, die
vor einer mit Phosphor überzogenen Glasscheibe stand. Was sich dabei
ereignete, schockierte sie und stellte die Welt der Physik auf den Kopf.
Wenn die Elektronen Teilchen waren, dann hätte der Strahl durch die beiden
Schlitze dringen müssen, und die Elektronen hätten wie rasch fliegende
Sandkörner auf der Phosphorschicht zwei schlitzartige leuchtende Stellen
erzeugen müssen. Doch statt dessen verwandelten sich die Elektronen von
Teilchen in Wellen, strömten durch die Schlitze wie Licht oder Schall und
erzeugten ein Muster aus kleinen, sich überlappenden Wellen, als ob man
zwei Kieselsteine in einen Teich geworfen hätte.
»Das ist unmöglich!« rief die wissenschaftliche Welt – bis die Untersuchung
Dutzende Male auf Dutzende unterschiedliche Weisen wiederholt worden war.
[285]
Das Erstaunen wuchs, als verschiedene Folgeexperimente zeigten, daß die
Elektronen »wählen« konnten, ob sie sich wie eine Welle oder wie ein
Teilchen verhalten wollten – es sei denn, sie wurden beobachtet: In diesem
Fall verhielten sie sich wie Teilchen.
Ohne Beobachter existieren Elektronen (und wie wir inzwischen wissen, auch
alles andere) nur als mathematische Möglichkeit, als Potential, ähnlich wie
eine Filmrolle im Kino auch nur eine »potentielle Film-Realität« darstellt. Nur
wenn jemand zuschaut – wenn es einen lebenden Beobachter gibt –, klettern
die Elektronen aus ihrer Filmdose und zeigen sich auf der Leinwand unserer
Wirklichkeit als Teilchen.
In gewisser Weise ist das wie in der Geschichte von König Midas, der sich
wünschte, alles, was er berührte, solle sich in Gold verwandeln. Ganz ähnlich,
so glauben viele Physiker nun, verwandelt sich alles, was wir ansehen, in die
von uns wahrgenommene Wirklichkeit (auch wenn unsere »Wirklichkeit«,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
191/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
anders als bei Midas, sich wieder in Wahrscheinlichkeiten auflöst, wenn wir
nicht hinsehen). In einem der besten Bücher, das für Laien über dieses Thema
geschrieben wurde, Das holographische Universum [78], zitiert der Autor
Michael Talbot den Physiker Nick Herbert, der gesagt hat, diese neue
Erkenntnis habe ihn dazu gebracht zu denken, alles hinter ihm sei »eine
extrem vieldeutige und unaufhörlich fließende Quantensuppe«, die, wenn er
sich herumdreht und hinschaut, scheinbar nahtlos zur materiellen Realität
werde.
Aber woher kommt diese »Suppe«, und woraus besteht sie?
Bei einem weiteren Experiment fanden die Wissenschaftler heraus, daß, wenn
sie ein subatomares Teilchen in zwei Stücke spalteten, diese beiden Hälften
in entgegengesetzte Richtungen in den Raum hinausflogen, wobei jede wie
ein Baseball rotierte. Als die Physiker jedoch eine der beiden
Elektronenhälften durch einen Schlitz schickten, der die Richtung des Spin,
der Drehung um die eigene Achse, veränderte, stellten sie fest, daß die
andere Hälfte – die sich zu diesem Zeitpunkt Meilen entfernt befand –
unverzüglich ebenfalls ihre Drehrichtung änderte, damit die Bewegung wieder
mit ihrem modifizierten Gegenstück übereinstimmte. Das Experiment war
sorgfältig und geschickt so angelegt worden, daß keine Kommunikation
zwischen den beiden Teilchen stattfinden konnte.
[286]
Auch diesmal waren die Wissenschaftler wieder entgeistert. Das zweite
Teilchen hatte seine Drehrichtung nicht mit einer gewissen Verzögerung
geändert, die ausgereicht hätte, um die Information über das veränderte
Verhalten des Gegenstücks mit Lichtgeschwindigkeit zu übertragen, sondern
die Veränderung war unverzüglich eingetreten – schneller als mit
Lichtgeschwindigkeit.
Die Schlußfolgerungen waren schwindelerregend. Wenn Sie beispielsweise
mit jemandem sprechen wollten, der sich auf einem fünf Millionen Lichtjahre
entfernten Stern befindet, und für die Kommunikation einen Lichtstrahl
benutzen wollten, dann würden zwischen dem Zeitpunkt, an dem Sie Ihr Signal
senden, und dem Zeitpunkt, an dem die andere Person es empfängt, fünf
Millionen Jahre vergehen. Eine solche Kommunikation scheint im Rahmen
einer normalen menschlichen Lebensspanne kaum praktikabel. Selbst wenn
ein Stern nur fünfzig Lichtjahre entfernt wäre (ungefähr die geringste
Entfernung, die es gibt), wäre das Verfahren außerordentlich mühsam.
Wenn es aber einen Stern irgendwo dazwischen gäbe, der Teilchen mit einem
Spin aussenden würde (wie es die meisten Sterne und besonders NeutronenSterne tun), dann wäre eine unverzügliche Kommunikation möglich – als ob
man innerhalb der Stadt telefonieren würde (im Grunde sogar schneller, weil
das Telefon immer noch Elektronen verwenden muß, die sich etwas unterhalb
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
192/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
der Lichtgeschwindigkeit bewegen). Theoretisch müssen wir nur einen Strom
von Teilchen, die aus Partikelhälften aus dem Inneren des Sterns bestehen,
modulieren (ihren Spin verändern), und die Person auf der anderen Seite
eines unvorstellbar riesigen Raumes könnte die Veränderungen der jeweiligen
Gegenstücke unverzüglich wahrnehmen.
[287]
Zunächst erschien das alles natürlich vollkommen unmöglich. Eins von
Einsteins Grundprinzipien – der Gregorianische Gesang der Physik – besagt,
daß sich nichts schneller bewegen kann als mit Lichtgeschwindigkeit. Eine mit
Lichtgeschwindigkeit ausgesandte Botschaft zu einem fünf Millionen Lichtjahre
entfernten Stern ist fünf Millionen Jahre unterwegs. 1935 veröffentlichte Albert
Einstein zusammen mit zwei Kollegen einen Artikel, in dem hervorgehoben
wurde, es gebe zwar Beweise dafür, daß irgend etwas sich offensichtlich
schneller als das Licht bewege, aber mathematisch sei das dennoch
ausgeschlossen. Es sei ein Paradoxon. Und so wurde (und wird) es als das
Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox (EPR) bezeichnet.
Der dänische Physiker Niels Bohr wandte jedoch ein, Einstein, Podolsky und
Rosen würden einen fundamentalen Fehler bei ihren Annahmen über die
untersuchten Teilchen machen. Sie nähmen an, so sagte Bohr, daß die
Elektronenhälften Dinge seien, daß sie voneinander getrennt seien und
jeweils unabhängig voneinander existieren würden. Was wäre, so fragte Bohr,
wenn zwei Teilchen – auch wenn sie Millionen von Meilen voneinander entfernt
seien – Bestandteile derselben größeren Einheit wären, zwei Komponenten
eines gespaltenen Teilchens, die sich selbst nicht als getrennt empfinden
würden. Und was wäre, da sie ja beide Teil eines Ganzen seien, wenn eine
Kraft, die auf das eine einwirke, folglich im selben Augenblick genauso auf
das andere einwirken würde?
Als wiederholte Experimente die Beweise dafür lieferten, daß Bohr
wahrscheinlich recht hatte, wurden seine Interpretation der Einsteinschen
Berechnungen und seine Kommentare dazu als die Kopenhagener
Interpretation bekannt, und die von ihm beschriebenen Phänomene
bezeichnete man als nicht-lokale Phänomene oder Nicht-Lokalität. Sie
gelten heute für viele Experten als fundamentales Prinzip der Quantenphysik –
obwohl daraus folgt, daß Raum und Zeit völlig anders sind, als wir ursprünglich
angenommen haben. Sie sind mehr eine Vorstellung in einer Art von
universellem Geist als eine materielle Realität in einer irgendwie gearteten
universellen Realität.
[288]
In neuerer Zeit hat Rupert Sheldrake[79] dargestellt, wie sich
Verhaltensweisen von Tieren oft auf merkwürdige Weise überregional
ausbreiten. Als in den dreißiger Jahren in England eine bestimmte Anzahl von
Vögeln gelernt hatte, die Metallfolienverschlüsse von Milchflaschen zu öffnen,
taten das plötzlich die Vögel überall in Europa. Die Geschwindigkeit, mit der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
193/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sich dieses Verhalten ausbreitete, schloß jede Möglichkeit aus, daß die Vögel
so weite Strecken zurückgelegt haben könnten, um es im direkten Kontakt
voneinander zu lernen, und der Ärmelkanal bildete eine weitere Barriere, da
es sich hier nicht um Zugvögel, sondern um Meisen handelte.
Bewußtsein, so lautet die Schlußfolgerung aus der neuen Physik, bringt das
Universum hervor, und Bewußtsein ist nicht an einen bestimmten Ort
gebunden. Eine mögliche Interpretation ist die, daß das Universum aus
Bewußtsein besteht … und aus nichts anderem.
Dieses Phänomen der unverzüglichen Übermittlung von Informationen aus
weiter Ferne, das Sheldrake als morphische Resonanz bezeichnet, legt den
Schluß nahe, daß Menschen sich auf ähnliche Weise verhalten könnten wie
die subatomaren Partikel von Einstein und Bohr. Wenn genug Menschen
etwas Neues gelernt haben, gibt es plötzlich eine Art Quantensprung, eine
Resonanz im menschlichen morphischen Feld, und jeder verfügt nun über die
neue Information. Es gibt zahllose Beispiele dafür, von der Geschwindigkeit,
mit der Witze sich im Land verbreiten, bis zu der Art und Weise, wie sich
Kulturen ohne einen erkennbaren Plan entwickeln.
[289]
Wir verändern täglich unsere Welt
Vor dreißig Jahren verbrachte ich ein paar Tage mit einem abtrünnigen SufiLehrer in San Francisco. Er beschrieb seine Vorstellung von Reinkarnation,
die mir als interessante metaphorische Analogie dazu erscheint, wie
morphische Resonanz und Nicht-Lokalität dazu führen, daß wir alle ständig die
Welt verändern.
Wenn wir sterben, so sagte er, löst sich unser Bewußtsein auf und wird ein
Bestandteil dessen, was er als »kosmische Suppe« bezeichnete. All unsere
Gedanken, Träume, Ängste, Erfahrungen und was sonst noch zu unserem
individuellen Bewußtsein gehört, fließen in den Suppentopf und bilden ein
»riesiges kosmisches Gulasch, in dem sich jeder mit jedem vermischt«. Wenn
dann ein neues Baby geboren wird, greift der »kosmische Koch« nach seiner
Schöpfkelle, taucht sie in den kosmischen Suppentopf und holt genug Suppe
heraus, um damit den Körper und die Seele eines Menschen zu füllen. Diese
Suppe wird dann in das neue Menschenkind gegossen.
Es war eine interessante Vorstellung, über deren Gültigkeit ich jedoch keine
feste Meinung habe. Was mir aber besonders gefällt, ist der Sinn, den er
daraus abgeleitet hat. »Weil wir alle aus derselben Suppe hervorgegangen
sind«, sagte er, »sind wir alle verpflichtet, die Suppe glücklicher, leichter und
wohlschmeckender zu machen. Alles, was wir denken und tun, wird schließlich
ein Teil der Suppe sein und auf diese Weise in einen unserer Nachfahren
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
194/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
gegossen werden.« Insofern sind alle unsere Handlungen, Gedanken und
Worte wichtig – sogar die scheinbar bedeutungslosesten.
Wenn wir uns jedoch die Arbeiten von Einstein, Bohr und Sheldrake ansehen,
dann stellt sich die Frage: Warum sollen wir warten, bis wir sterben, um dieser
Suppe etwas hinzuzufügen?
[290]
Von der Physik über die Psychologie bis zum gesunden Menschenverstand
finden wir überall Belege dafür, daß unser Handeln hier und heute, dieser
Augenblick, in dem Sie dieses Buch lesen, alles und jeden Teil der
Schöpfung beeinflußt.
Praktizieren Sie kleine Akte anonymer
Barmherzigkeit
Wo sollen wir also beginnen?
In der Bergpredigt hob Jesus hervor, daß wir unsere »guten Werke« tun
sollten, ohne daß andere Menschen davon erfahren. Das ist gar nicht so
einfach: Sie müssen ständig nach entsprechenden Gelegenheiten Ausschau
halten.
Viele Leute fühlen sich angesichts der enormen Probleme, denen die Welt
gegenübersteht, deprimiert, überwältigt und apathisch. Oft geben sie dann auf.
Aber es liegt eine große spirituelle Kraft in kleinen Akten der Barmherzigkeit.
Ihr Echo reicht weiter, als die meisten Leute meinen, und es sorgt dafür, daß
die Luft von einer »morphischen Resonanz« erfüllt wird – auf eine Weise, die
kulturell ansteckend wirkt –, und so geschehen die Millionen kleiner Schritte,
die weltweit unternommen werden müssen, um unseren Planeten und die
Menschheit zu retten.
Wir haben das immer wieder festgestellt durch die Art und Weise, wie
Modeerscheinungen um sich greifen, Witze um die Welt gehen und ein
bestimmtes Bewußtsein sich ausbreitet. Auf einer gewissen Ebene sind wir
alle miteinander verbunden. Wenn Sie das Leben eines anderen Geschöpfes
retten – und sei es nur ein Wurm oder ein Unkraut –, dann erfüllen sie[Sie?
Anm.d.Tipp.] die Luft mit der Schwingung dieses Aktes der Lebensrettung.
Kleine Taten der Barmherzigkeit gehören zu den am stärksten
transformierenden Handlungen, die ein Mensch vollbringen kann, und
wahrscheinlich haben Jesus und die anderen Lehrer und Propheten vor ihm
deshalb immer wieder so großen Wert darauf gelegt.
[291]
Ein indianischer Geschichtenerzähler und Lehrer vom Stamm der Cree
erzählte mir: »Meine Tradition lehrt, daß wir jeden Morgen, wenn die Sonne
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
195/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
aufgeht, von unserem Schöpfer vier Aufgaben für den Tag gestellt bekommen.
Als erstes muß ich heute mindestens eine Sache von Bedeutung lernen.
Zweitens muß ich einen anderen Menschen mindestens eine Sache von
Bedeutung lehren. Drittens muß ich etwas für einen anderen Menschen tun,
und zwar am besten so, daß dieser andere es nicht einmal bemerkt. Und
viertens muß ich alle Lebewesen mit Respekt behandeln. Dadurch werden
diese Dinge in der Welt verbreitet.«
In den meisten der Salem-Kinderdörfer (Gemeinschaften für mißbrauchte
Kinder überall in der Welt, die erstmals von Gottfried Müller 1957 eingerichtet
wurden) gibt es Pferdeställe mit Reitpferden. Ich hatte schon seit Jahren
gewußt, daß es in Stadtsteinach, dem deutschen Salem-Hauptquartier, Pferde
gab: Ich hatte sie beim Dressurreiten beobachtet, hatte sie gefüttert, war jeden
Abend nach dem Essen im Salem-Gästehaus mit meinem Mentor Gottfried
Müller zu den Ställen gegangen und hatte ihnen Äpfel gebracht. Aber ich hatte
zunächst nicht gewußt, wo diese Pferde hergekommen waren.
Ich erfuhr ihre Geschichte erst später, weil Herr Müller nicht gerne über seine
»guten Taten« spricht. Er hatte an einem Bahnhof gestanden und beobachtet,
wie ein Zug einfuhr, der Pferde aus der Tschechoslowakei für eine deutsche
Wurstfabrik brachte. Als er die Pferde sah, erkundigte er sich, ob es möglich
wäre, einige von ihnen zu »retten«. Die Wurstfirma erklärte sich bereit, ihm
einige Pferde zu verkaufen, und das waren die ersten Pferde von Salem.
Ich hatte mich oft gefragt, wieso die Pferde in den Salem-Dörfern
offensichtlich eine so große Anziehungskraft auf die Kinder wie auf die
Besucher ausübten. Nun glaube ich, daß es vielleicht damit zusammenhängt,
wie Gottfried Müller ihr Leben in aller Stille rettete.
[292]
Im Oktober 1997 saß ich in Stadtsteinach mit Herrn Müller beim Frühstück. Als
standhafter »unabhängiger Christ« (er ist nicht bereit, einer organisierten
Religionsgemeinschaft beizutreten), der christliche und jüdische Metaphern
schätzt, sagte er: »Ich weiß, daß auf der Waage von Gut und Böse die Seite
von Schmerz, Qual und Übel ein starkes Übergewicht hat. Die Geschichte von
Hiob berichtet darüber, wie viele verschiedene Kräfte das Böse hat, um
Kriege anzuzetteln, Schmerzen auszulösen, Menschen leiden zu lassen oder
sogar scheinbare Wunder hervorzubringen. Aber eine Fähigkeit hat der Satan
nicht. Sie ist uns allein vorbehalten. Und weil er diese Fähigkeit nicht hat,
bedeutet sie, selbst wenn wir sie nur im Kleinen anwenden, ein großes
Gewicht auf der Waagschale für das Gute in der Welt.«
»Und welche Fähigkeit ist das?« fragte ich.
»Barmherzigkeit«, sagte er. Gemeint sind damit kleine Akte des Mitgefühls.
»Und wie Jesus in der Bergpredigt über die Witwe, die einen Pfennig
spendete, erklärte, sind es oft die kleinsten und geheimsten Handlungen, die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
196/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
den lautesten Donner in der spirituellen Welt hervorbringen.«
Unser Handeln, unsere Worte und sogar unsere Gedanken haben mächtige
Auswirkungen auf die spirituelle und die reale Welt, ganz gleich, ob andere
davon wissen oder nicht. Wir alle sind wie kleine Transformatoren, die das in
die Welt ausstrahlen, was sie im Augenblick sind. Deshalb sind Klöster und
Meditationszentren und die Salem-Gemeinschaften überall in der Welt so
wichtig: Sie sind spirituelle Leuchtfeuer, und sie strahlen ihr spirituelles Licht
hinaus in die Nicht-Lokalität, in das morphische Feld der realen Welt.
So überwältigend die Probleme der Welt auch scheinen mögen, Sie bewirken
tatsächlich etwas, sogar wenn niemand je erfährt, was Sie getan haben. So
konnte
beispielsweise
durch
wissenschaftlich
kontrollierte
Doppelblindversuche in Experimenten an der Harvard University
nachgewiesen werden, daß Gebete die Heilung beschleunigen, selbst wenn
die Betenden und die Menschen, für deren Heilung sie beten, sich überhaupt
nicht kennen, sich nie getroffen haben und in unterschiedlichen Teilen der Welt
leben.
[293]
Und, einen Schritt über das Gebet hinaus, denken Sie daran, wie kraftvoll Sie
dabei helfen könnten, die Welt zu transformieren, wenn Sie sich direkt mit der
Quelle verbinden würden, aus der das gesamte Feld der Realität
hervorgeht …
Verbinden Sie sich wieder direkt mit G-tt
Die meisten großen Weltreligionen haben ihren Ursprung in
Stammesgemeinschaften, und diese Stämme hatten ihr eigenes morphisches
Feld. Juden sprechen immer noch von den alten »zwölf Stämmen«, und Jesus
sagte vieles, was in völligem Widerspruch zu den Städten und Staaten des
damaligen Römerreiches stand, aber durchaus sinnvoll war, wenn man sich
vorstellt, daß die Menschen dieser Zeit entscheiden mußten, ob sie nach Art
der Stämme oder in Städten und Staaten leben wollten. Noch sinnvoller
erscheinen seine Aussagen, wenn man sie durch die Brille der Quantenphysik
betrachtet. Auch im Hinduismus und Buddhismus lassen sich leicht ähnliche
Wurzeln und Lehren finden.
Aber die Sekten, die aus all diesen Religionen hervorgegangen sind, wurden
von den hierarchischen Machtstrukturen der Städte und Staaten und ihrer auf
Herrschaft ausgerichteten Geisteshaltung verseucht und durchdrungen. Ihre
wesentlichen und ursprünglichen Wahrheiten sind verlorengegangen.
Gottfried Müller sagte einmal zu mir: »Wir brauchen ein neues Christentum,
weil wir so viele Kirchen verloren haben. Sie lehren nicht mehr die Worte Jesu,
sondern interpretieren sie nur noch.«
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
197/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Aber wie Ihnen jeder Mystiker und jeder Mensch, der eine echte religiöse
Erfahrung gemacht hat, sagen kann, gibt es in unseren religiösen Traditionen
einen wahren Kern voller Kraft und Schönheit und Liebe: einen Punkt der
Nicht-Lokalität, den die Buddhisten als »jenseits von jenseits« bezeichnen. Er
ist in der Vergangenheit zahllose Male berührt worden, und einige von denen,
die ihn erreichten, haben uns Aufzeichnungen darüber hinterlassen. Unser
Bewußtsein ist Teil eines größeren Bewußtseins – oder es kann sich damit
verbinden –, das alles Leben und die gesamte Schöpfung durchdringt.
[294]
Diese Intelligenz bringt nicht nur die gesamte Schöpfung hervor: Ich glaube,
sie ist die gesamte Schöpfung.
Als solche steht sie jenseits aller Namen, jenseits kleinlicher Erwägungen von
Ritualen und Dogmen, jenseits aller Vorlieben. Sie ist. »Ich bin der ich bin«,
sagte sie zu Moses. »Sei still und erkenne mich.«
Millionen von Menschen haben die Hierarchie durchbrochen und diesen
namenlosen G-tt direkt berührt, direkt die Intelligenz des Universums erfahren,
die Kraft der Liebe gespürt und anschließend die Welt mit neuen Augen
gesehen.
Die frühen Christen nahmen wörtlich, was Jesus sagte, höchstwahrscheinlich,
weil sie den G-tt, den er beschrieb, direkt erlebt hatten. »Ihr seid die Söhne Gttes.« »Was ich getan habe, werdet ihr auch tun.« »Das Königreich des
Himmels ist in euch.« »Sorgt euch nicht um den morgigen Tag.« »Vergebt,
was vergangen ist.« »Betet im Geheimen statt in der Öffentlichkeit.«
»Niemand soll von euren guten Taten wissen.« »Sammelt keine Reichtümer,
und wenn ihr es getan habt, dann verschenkt euer Hab und Gut.« »Hortet
keine Nahrung in Scheunen.« »Gebt jedem, der euch bittet.«
In der Legende heißt es, daß fast alle ursprünglichen Jünger Jesu entsetzliche
Tode gestorben sind – in siedendes Öl geworfen, kopfüber gekreuzigt, die
Haut vom Körper gezogen, den Löwen zum Fraß vorgeworfen –, weil sie seine
Lebensweise der älteren Stammeskulturen übernommen hatten. Sie waren
Feinde der damaligen Regierungen, unter anderem deshalb, weil sie sich
weigerten, an ausbeuterischen Systemen teilzunehmen: Sie teilten ihren
Besitz mit anderen, hatten wenig Geld oder andere Tauschmittel und
bemühten sich verzweifelt darum, die auf Herrschaft basierende Welt, die
damals vom römischen Stadtstaat regiert wurde, zu verändern. Sie erlagen
nie der Geisteskrankheit der Herrscher, und nie griffen sie zu Schwertern und
Speeren, um gegen die heidnischen Feinde aus Rom zu kämpfen. Auch
versuchten sie nie, um jeden Preis in der wirtschaftlichen und politischen
Hierarchie der sie umgebenden Kultur aufzusteigen. Jesus geißelte klar die
hierarchische, herrschaftsbezogene Mentalität der Über- und Unterordnung,
als er sagte: »Aber laßt euch von niemandem Rabbi [Priester] nennen«, und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[295]
198/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
»Nennt keinen Mann auf Erden euren ›Vater‹«, und »Auch sollt ihr euch nicht
als Meister anreden lassen«, und »Wer groß sein will unter euch, der sei euer
Diener. Wer sich erhöht, soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt,
soll erhöht werden«.
So erkennen wir jetzt, daß die Wissenschaft etwas beweist, dessen Existenz
sie bisher glaubte, widerlegen zu können: die Lebendigkeit des Universums
und die Verbundenheit aller Dinge. Indem wir uns von den Störungen und
Ablenkungen unserer von Konzernen beherrschten Kultur zurückziehen und
uns auf das Göttliche in unserem eigenen Inneren und in der Natur einstellen,
können wir die Kraft und den Sinn und die tiefe Bedeutung des Lebens
erkennen. Von dieser Position ausgehend, aus dieser neuen Perspektive
sehen wir, daß die auf Herrschaft gegründete Lebensform des Wétiko
Ausdruck einer Geisteskrankheit ist, und wenn genügend Leute das
herausgefunden haben, werden wir uns von dem zerstörerischen Weg, auf
dem sich die Menschheit jetzt befindet, abwenden.
Aber wie viele Menschen müssen erst zu dieser Erkenntnis kommen?
[296]
In einem Flugblatt, das ich kürzlich von einer Organisation erhielt, die sich
einfach »Nur Liebe setzt sich durch« nennt, heißt es, daß 80 000 ausreichen.
Die Organisation schlägt vor, daß die Menschen auf jedes negative Ereignis –
persönlich oder weltweit – so reagieren sollten, daß sie sich innerlich immer
wieder sagen: »Nur Liebe setzt sich durch«. Als ich Victor Grey, der die
Bücher Web Without A Weaver und The Laser of Intent geschrieben hat und
Mitglied der Organisation ist, fragte, wie man auf diese Zahl gekommen sei,
schrieb er mir: »Die Physiker sagen uns, daß nach den Gesetzen der
Wellenmechanik die Intensität (jeder Art) von Wellen, die phasengleich
schwingen, das Quadrat aus der Summe der Wellen ist. Mit anderen Worten:
Zwei phasengleiche Wellen sind viermal so stark wie eine Welle, zehn Wellen
sind hundertmal so stark etc. Da Gedanken eine Form von Energie sind und
jede Energie als Welle in Erscheinung tritt, gehen wir davon aus, daß 80 000
Menschen, die alle dasselbe denken, unsere gemeinsame Wirklichkeit mit
einer Kraft beeinflussen können, welche der jener 6,4 Milliarden (80 000 mal
80 000) entspricht, die um die Jahrtausendwende unseren Planeten bevölkern
werden und zufällige, chaotische Gedanken ausstrahlen. Deshalb werden
80 000 Menschen, die alle ausschließlich an die Liebe glauben, genug sein,
um die planetare Wirklichkeit zu verändern.«
Könnte das stimmen? Untersuchungen, die von Anhängern der
Transzendentalen Meditation durchgeführt wurden, haben wiederholt gezeigt,
daß die Kriminalitätsrate in einer Stadt plötzlich fiel, wenn dort ein bestimmter
Prozentsatz von Meditierenden erreicht war. (Sieben Prozent ist die am
häufigsten genannte Zahl, aber manche Gruppen behaupten sogar, ein
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
199/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Prozent sei ausreichend.)
Unabhängig von konkreten Zahlen gibt es jedenfalls einen synergistischen
Effekt bei menschlichen Interaktionen. Je mehr Menschen etwas Bestimmtes
denken oder bestimmte Überzeugungen vertreten, desto mehr Leuten wird es
leichtfallen, sich dieser Meinung anzuschließen. Je mehr Akte der
Barmherzigkeit geübt werden, desto mehr Leute werden geneigt sein, sich
barmherzig zu verhalten. Je mehr Menschen umkehren und nach Frieden und
Göttlichkeit suchen, desto mehr Frieden und Göttlichkeit wird man finden
können.
[297]
[298]
Wir brauchen neue Weltbilder,
um die Welt zu verändern
Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht
umk ehret und werdet wie die Kinder, so werdet
ihr nicht ins Himmelreich k ommen. Wer nun
sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der
Größte im Himmelreich.
Jesus, zitiert nach Matthäus 18
Es gibt Menschen, die sprechen von Methankristallen auf dem Grund des
Ozeans, von kalter Fusion oder von der Wasserstofftechnologie als Lösung für
die Energieprobleme der Zukunft. »Wenn das Öl zur Neige geht, dann müssen
wir uns eben nach einer anderen Energiequelle umsehen«, sagen sie.
Und damit haben sie vielleicht sogar recht – aber selbst wenn: Diese
»Lösungen« können das Unvermeidliche bestenfalls hinauszögern, und
schlimmstenfalls führen sie zu einer Katastrophe, denn sie basieren immer
noch auf derselben Geschichte, dem Mythos, das Ziel der Menschheit bestehe
darin, die Erde zu beherrschen und zu erobern, Konsum sei ein hoher und
positiver Wert und Bevölkerungswachstum sei notwendig und gut.
Selbst wenn uns unbegrenzte Mengen an Energie zur Verfügung stünden, so
gäbe es doch eine Grenze für die Zahl der Menschen, welche die Erde ohne
Schwierigkeiten ernähren kann, und das massenhafte Artensterben und die
Umweltvergiftung zeigen uns, daß diese Grenze schon erreicht ist. Selbst
wenn wir auf den Mars oder auf den Mond auswandern könnten: Solange
unsere Kultur auf den Ideen von Konsum, Herrschaft und unbegrenztem
Bevölkerungswachstum basiert, werden wir früher oder später gegen jene
Mauer rennen, an der alle jüngeren Kulturen in der Geschichte gescheitert
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[299]
200/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sind.
Was wir brauchen, sind völlig neue Lebensweisen, und wenn wir sie nicht
freiwillig annehmen, dann werden wir oder unsere Kinder schließlich dazu
gezwungen sein, und das wahrscheinlich unter großen Schmerzen und
Schwierigkeiten.
Um den notwendigen Umschwung herbeizuführen, brauchen wir neue
Geschichten, sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen
Ebene.
Die Kultur, in die wir hineingeboren wurden, die Rolle, die wir innerhalb dieser
Kultur spielen, unsere Stellung innerhalb der eigenen Familie, unsere Rasse,
unser Geschlecht, unser sozialer Status und unsere finanziellen Verhältnisse:
All diese Dinge haben Einfluß auf die Geschichten, die wir uns selbst erzählen
und die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit definieren und beschreiben.
Weil jene Geschichten aus dem Denken hervorgehen, sind sie vollkommen
individuell und unterscheiden sich geringfügig von Mensch zu Mensch. Und sie
sind so mächtige und starke Vermittler unserer Lebenserfahrung, daß sie uns
glücklich oder traurig, stark oder schwach, krank oder gesund machen
können. Sie verändern unsere Hirnströme und unsere Nervenfunktionen von
einem Moment zum nächsten.
Stellen Sie sich beispielsweise zwei Personen vor, die auf dem Jahrmarkt
eine Fahrt mit der Achterbahn machen wollen:
Bill schaut auf die Achterbahn und sagt sich, daß ihm die Fahrt Spaß machen
wird. Seine innere Geschichte ist die, daß das Auf und Ab spannend sein
wird, daß das Tempo und der Fahrtwind ihn beleben werden und daß er die
ganze Sache genießen wird. Aufgrund dieser inneren Einstellung wird Bills
Gehirn während der Fahrt mit der Achterbahn Endorphine und andere
Botenstoffe ausschütten, die ihm das Gefühl von Vergnügen und Freude
vermitteln. Sein gesamtes Nervensystem reagiert in einer positiven und
gesunden Weise auf die Fahrt, und danach fühlt er sich belebt, glücklich und
entspannt – so als hätte er ein »Runner's High«, das typische Hochgefühl
eines Langstreckenläufers. Der Gesamteffekt sieht so aus, daß sein
Immunsystem positiv beeinflußt wird und daß er nach der Fahrt körperlich und
geistig gesünder ist als vorher.
[300]
Sam sagt sich dagegen, daß eine Fahrt in den Wagen, die über die
Achterbahn abwärts schießen und sich dann in eine scharfe Kurve legen,
gefährlich ist. In diesen Dingern sind schon Menschen gestorben, denkt er und
erinnert sich an die Geschichten, die er im Laufe der Jahre darüber gelesen
hat, wie Wagen entgleist sind oder wie jemand durch den Streß einen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
201/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Schlaganfall oder einen Herzinfarkt bekommen hat. Wenn Sam nun einsteigt,
sorgt sein Gehirn dafür, daß seine endokrinen Drüsen Cortisol, Adrenalin und
viele andere Hormone ausschütten, die dem Körper Streß, Kampf und Flucht
signalisieren. Nach der Fahrt hat er viele wichtige Nährstoffe verbraucht, um
mit dem Streß fertigzuwerden, sein Verdauungssystem ist beeinträchtigt, sein
Blutdruck ist in schwindelnder Höhe, sein Herz rast, und die körperliche und
nervliche Belastung kann sogar zu einem dauerhaften Schaden führen.
Welch ein Unterschied zwischen den Geschichten, die Bill und Sam sich
jeweils selbst über dieselbe Fahrt mit der Achterbahn erzählt haben!
Im größeren Zusammenhang unseres Lebens begleiten und beeinflussen uns
die kulturellen Geschichten über das, was wirklich und was unwirklich ist, von
unserer Geburt an, und sie werden nur selten hinterfragt.
So haben beispielsweise Europäer jahrhundertelang in Nordamerika gelebt,
bevor eine größere Zahl von Menschen ernsthaft die kulturelle Geschichte in
Frage gestellt hat, daß es gut und richtig sei, Sklaven zu besitzen. Schließlich
wird Sklaverei in der Bibel nicht verurteilt, und die Praxis der Sklavenhaltung
geht zumindest bis auf Gilgamesch zurück, diese alte Über-Kultur, welche die
älteste und einflußreichste unserer modernen kulturellen Geschichten darstellt.
[301]
Weil die übergeordnete Kultur der »kolonialen amerikanischen Normalität«
Afrikaner als »Untermenschen«[80] definierte und Leute wie Jefferson,
Washington und Madison in diese kulturelle Geschichte hineingeboren
wurden, haben nur wenige sie je in Frage gestellt. Die Verhältnisse waren
eben so, das war die Alltagswirklichkeit.
Das herrschende Weltbild kann verändert
werden und wird verändert: Dann ändert
sich auch die Wirklichkeit
Noch vor zwei Generationen galt Rassentrennung im größten Teil der
amerikanischen Gesellschaft als normal und vernünftig. Die Geschichte,
welche die weiße Bevölkerung sich in den fünfziger, vierziger und dreißiger
Jahren (und davor) erzählte, war die, daß Schwarze im Vergleich zu Weißen
minderwertig seien und daß deshalb eine Trennung erforderlich sei. Viele
Weiße sagten sich, diese Rassentrennung sei eine Wohltat für die Schwarzen,
es sei den Schwarzen lieber so, und außerdem entspreche es den
Naturgesetzen und den Lehren der Bibel.
Die Geschichte von den »minderwertigen« Schwarzen wurde in den USA zum
ersten Mal ernsthaft in Frage gestellt, als in den fünfziger Jahren die
Bürgerrechtsbewegung aufkam und Menschen wie Rosa Parks und Martin
Luther King jr. das weiße Establishment derart herausforderten, daß ein
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[302]
202/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Festhalten an dieser Geschichte immer schwieriger wurde. Als genügend
Leute die neue Geschichte glaubten, kam es zu einem kulturellen Wandel, und
die Geschichten von der Gleichheit und Gleichberechtigung schwarzer und
weißer Menschen übernahmen die Vorherrschaft.
Natürlich gibt es bei jedem kulturellen Wandel stets die ewig Gestrigen, die an
den alten Geschichten festhalten. In Deutschland gibt es immer noch Leute,
die glauben, Hitler habe recht gehabt. Und es gibt immer noch weiße
Amerikaner (und sogar einige schwarze), die sich für eine Rassentrennung
einsetzen. Aber weil es sich hier um Minderheiten handelt, bezeichnet man
Menschen, die solche Geschichten in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen, als
Mitglieder von Subkulturen, und sie werden oft als Rassisten gebrandmarkt.
1935 hatten sie noch als »gute Amerikaner« gegolten, deren Einstellung von
gesellschaftlich anerkannten Persönlichkeiten wie Charles Lindbergh (der
Hitler öffentlich bewunderte) und Henry Ford (der eine offen antisemitische
Zeitung herausgab) geteilt wurde.
Worauf es ankommt, ist die Tatsache, daß unsere gesamte Wahrnehmung
der Realität, der metaphorische Boden, auf dem wir stehen, unsere innere
Sicherheit und unsere
Lebenspläne
aus solchen Geschichten
zusammengesetzt sind, die sich im Laufe der Zeit ändern können und sich
auch tatsächlich wandeln.
Wenn ein kultureller Umschwung einsetzt, dann gelten die Repräsentanten der
neuen Geschichten zunächst als komische Käuze, Spinner oder Verrückte.
Auch Hitler wurde anfangs ausgelacht. Die Gouverneure der Südstaaten
setzten in den sechziger Jahren Wasserwerfer und Polizeihunde gegen
Schwarze ein, die für ihre Bürgerrechte demonstrierten. Die ersten Christen
wurden von den Römern den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Vor dem
Unabhängigkeitskrieg wurden Washington und Jefferson in der britischen
Presse und von weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung als
Außenseiter und Störenfriede bezeichnet.
Doch die Geschichten verändern sich, wenn eine bestimmte kritische Masse
erreicht wird. C. G. Jung hat spekuliert, daß dieser Vorgang mit dem
kollektiven Unbewußten zusammenhängt; Rupert Sheldrake[81] bezeichnet
den Prozeß als »morphische Resonanz«. In seinem Buch Virus of the
Mind[82] nennt Richard Brodie diese neuen kulturellen Geschichten Memes
und erklärt, wenn sie ausreichend »infektiös« seien, dann würden die neuen
Memes allmählich eine ganze Kultur anstecken und Teil des gemeinsamen
Weltbildes dieser Kultur werden. In der Folge würde sich die Kultur selbst
gemeinsam mit den Menschen verändern.
[303]
Untersuchen wir also noch einige weitere der neuen und doch alten
Geschichten …
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
203/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
[304]
Das Heilige berühren
Dann sah ich, daß die Mauer nie dagewesen
war, daß das »Unerhörte« genau das ist, was
sich hier ereignet, nicht irgend etwas irgendwo
anders, daß das »Opfer« hier und jetzt
stattfindet, immer und überall – »hingegeben«
als das, was Gott Sich Selbst in meinem
Inneren von Sich Selbst schenk t.
Dag Hammarskjöld (1905–1961)
Generalsekretär der Vereinten Nationen von 1953–1961
Eintragung in sein persönliches Tagebuch, 1954
Ich erinnere mich noch an den Sommer, als ich fünf Jahre alt war. Meine
Eltern hatten vor kurzem eine Hängematte gekauft und sie im Garten
aufgehängt. Darin lag ich nun an einem klaren, sonnigen Nachmittag. Der
Himmel leuchtete tiefblau mit zarten, dünnen Wolken, und ich roch das
frischgemähte Gras. Ich spürte, wie sich die Seile der Hängematte durch mein
T-Shirt gegen meinen Rücken drückten und sich unterhalb meiner Shorts
gegen meine nackten Beine preßten, und ich hörte das melodische Singen
der Vögel in den Bäumen, die den Garten umgaben. Einer der Vögel
wiederholte immer aufs neue einen Ruf, der aus drei Tönen bestand, während
die anderen dazwischen zirpten.
Ich starrte in den Himmel und bemerkte dabei die kleinen Flecken in meinem
Gesichtsfeld, die hüpften, wenn ich meine Augen bewegte, und langsam zur
Ruhe kamen, wenn ich auf einen bestimmten Teil einer Wolke blickte. Es ging
ein leichter Wind, und ich hörte, wie er durch die Blätter des alten
Ahornbaumes rauschte, der ungefähr zehn Meter von mir entfernt stand. Die
Hängematte schaukelte ganz sachte, eine sanfte, beruhigende Bewegung, bei
der sich der Himmel leicht von einer Seite zur anderen neigte.
Ich atmete tief ein und stellte fest, daß der Himmel dabei scheinbar heller
wurde; ich roch den Duft der blühenden Rosen, der Stockmalven und der
anderen Blumen am Rande des Gartens, der sich mit dem frischgewaschenen
Duft des Kissenbezugs auf dem Kissen unter meinem Kopf vermischte. Ich
hatte meine Finger über dem Bauch verschränkt und spürte die Wärme der
Sonne auf meinen nackten Armen und Beinen und im Gesicht.
[305]
Als ich meinen Kopf nach links wandte, sah ich, daß etwa drei Meter neben
mir rosafarbene, weiße und gelbe Stockmalven blühten, die über anderthalb
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
204/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Meter hoch standen. Die dicken weißen Staubgefäße brachen aus
wachsartigen bunten Blütenblättern hervor, und Bienen und Hummeln trudelten
gemächlich von Blüte zu Blüte, um Pollen zu sammeln. Ihr Summen klang, als
wollten sie ihre Freude darüber ausdrücken, daß sie Pollen fanden.
Während ich die pinkfarbenen Blüten betrachtete, die zu den Staubgefäßen
hin immer blasser und schließlich ganz weiß wurden, bemerkte ich, wie sich
der Gesang der Vögel mit der Drehung meines Kopfes verändert hatte, spürte
nun die volle Wärme des Sonnenlichts auf meiner rechten Gesichtshälfte und
wurde von einem Gefühl des absoluten Jetzt überwältigt. Ich erkannte, daß die
Blumen lebten, daß die Bienen, die Bäume und die Vögel lebten und daß ich
selbst lebte. Die Luft war kristallklar, und ich bemerkte den leeren Raum
zwischen mir und den Blumen, die Entfernung zwischen mir und dem Gras,
dem Nachbarhaus und dem Baum. Sogar der leere Raum vibrierte vor Leben.
»Wow«, sagte ich leise, hörte dann den Klang meiner eigenen Stimme, und
das war ein weiteres Wunder, das mich aufs neue völlig erstaunte.
Es war ein ganz normaler Augenblick, doch er war erfüllt von spiritueller
Energie.
In ihren einfachsten und kompliziertesten Formen ist dies eine Art der
Meditation, die zu den mächtigsten gehört, ein Berühren der Gegenwart des
Lebens selbst.
Einstein hat geschrieben, daß Vergangenheit und Gegenwart nur geistige
Vorstellungen sind, die keine endgültige Realität haben. Alles, was existiert
und geschieht, existiert und ereignet sich nur in einem immerwährenden Jetzt,
und dieses Jetzt ist die einzige Zeit, die es gibt.
[306]
Einstein hat auch gesagt, daß er nur selten die Dinge intellektuell durchdacht,
sondern die wichtigsten Erkenntnisse meist in einer blitzartigen Einsicht
gewonnen hat, in Momente intuitiven Wissens. Sowohl in seiner Vorstellung
von der Zeit als auch in der Beschreibung, wie er neue Erkenntnisse gewann,
hat er eine Form der Meditation dargestellt.
Ein Blick in die Vergangenheit
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, auf die Jahre, die Sie auf diesem
Planeten verbracht haben, Jahr für Jahr und Jahrzehnt für Jahrzehnt, dann
werden Sie wahrscheinlich feststellen, daß diese Zeit ein weites, graues Meer
der Erinnerung bildet, das einige kristallklare Augenblicke mit lebhaften
Bildern aus der Vergangenheit enthält.
Solche Bilder scheinen oft die Folge einer Überempfindlichkeit zu sein:
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
205/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Warum erinnere ich mich mein Leben lang an diesen Nachmittag in der
Hängematte? Oder daran, wie ich 1973 in New York City die Straße
entlanggegangen bin, oder mit 16 Jahren an einem Teich gesessen habe, im
siebten Schuljahr im Klassenzimmer saß und bei Miss Hemmer
Biologieunterricht hatte?
Was ist so besonders daran? Warum sind diese Erinnerungen sehr viel
lebhafter und klarer als die »wirklich wichtigen« Dinge, die Dinge, an die ich
mich erinnern wollte, wie man beispielsweise quadratische Gleichungen
berechnet, oder wie der Reporter heißt, mit dem ich mich in einer Stunde
treffe, oder wie ich zu dem Ort finde, wo ich eine Rede halten muß?
Manchmal ist es vollkommen vernünftig, bestimmte Ereignisse in unserer
Erinnerung festzuhalten: Wer würde schon seine Hochzeit vergessen, die
Geburt seiner Kinder oder den ersten Schultag?
[307]
Aber die vernünftigen Erinnerungen und jene, die auf einer Art
Überempfindlichkeit zu beruhen scheinen, haben etwas gemeinsam, und
diese Gemeinsamkeit ist der Kern des meditativen Zustandes: das, was ich
als Gegenwart bezeichne.
Wenn Sie sich irgendeine dieser Erinnerungen noch einmal genau ansehen,
dann werden Sie feststellen, daß die Gemeinsamkeit darin besteht, daß diese
bestimmte Erinnerung in einem Augenblick in ihr[Ihr, A.d.T.] Gehirn eingeprägt
wurde, in dem sie[Sie] keine inneren Selbstgespräche geführt haben. Sie
haben an nichts gedacht, sich über nichts Sorgen gemacht, sich nichts
vorgestellt, nichts verglichen oder beurteilt: Sie waren einfach da. Sie hatten
alle Geschichten beiseite gelegt und waren eins mit ihrem[Ihrem] Erleben.
Als ich in der Hängematte lag, die Sonne auf meiner Haut spürte, die Vögel
und den Wind hörte und das Leben in den Blumen sah, war ich so erschüttert
über die Vitalität und Realität und Lebendigkeit des Ganzen, daß ich für einen
Moment aufhörte zu denken und die Situation einfach wahrnahm. Ich war da, in
diesem Augenblick.
Dieses Gefühl der Gegenwart ist der Kern jeder meditativen und mystischen
Erfahrung. Es ist die Zeit, in der wir nicht denken, sondern leben und
wahrnehmen.
Ankunft in der Gegenwart
Verschiedene Menschen erreichen diesen Zustand auf verschiedenen
Wegen, aber alle Methoden haben die Wirkung, daß sie den Denkapparat
ausschalten, was unserem wahren Bewußtsein erlaubt, aufzuwachen, sich
umzublicken und die Welt zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken und zu
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
206/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
riechen.
Der heilige Johannes vom Kreuz beispielsweise ist auf einem besonders
schweren Weg zu dieser Erfahrung gelangt.
[308]
1542 in Fontiveros in Kastilien geboren, war er der Sohn eines armen
Webers, der gezwungen worden war, vom Judentum zum römischen
Katholizismus überzutreten. Sein Vater starb, als Juan noch sehr jung war, und
das Kind half seiner Mutter beim Betteln und bei der Arbeit am Webstuhl. Als
er etwa 21 Jahre alt war, trat er in den katholischen Karmeliterorden ein und
nannte sich von nun an Juan de Santo Matías.
Kurz darauf lernte er die spanische Mystikerin Teresa von Avila[83] kennen,
die versuchte, den Karmeliterorden zu reformieren und ihn weg von dem
Pomp und Glanz und von der Macht der Kirche hin zu den Gelübden der Armut
und Barmherzigkeit zu führen. Sie war damals in ihren fünfziger Jahren und
gewann
die
Unterstützung
des
jungen
Mannes
für
ihre
Reformationsbestrebungen.
Weil er Teresa unterstützte, wurde Juan von der Kirche gefangengenommen
und verbrachte ein Jahr in einer Zelle, die aus einem umgebauten
Kleiderschrank bestand. Er war die meiste Zeit ohne Tageslicht und konnte
nicht aufrecht stehen. Sechs Monate lang durfte er sich weder waschen noch
die Kleider wechseln, obwohl er voller Läuse und Flöhe war, und während der
ersten sechs Monate seiner Gefangenschaft wurde er den »zirkulären
Disziplinarmaßnahmen« der Kirche unterzogen.
Täglich holte man ihn aus seinem Kleiderschrank und zog ihm das Hemd aus.
Dann wurden Brotkanten, eine Tasse Wasser und gelegentlich eine Sardine
vor ihn auf den Boden gelegt, und während er niederkniete, um zu essen, ging
eine Gruppe von Mönchen im Kreis um ihn herum und peitschte seinen
Rücken mit Lederbändern und Holzstöcken. Sie zogen ihm so oft die Haut
vom Rücken und von den Schultern und brachen ihm bisweilen auch die
Schulter und die Rippen, daß er für den Rest seines Lebens ein Krüppel war.
[309]
Nach sechs Monaten wurde er nur noch einmal pro Woche ausgepeitscht, weil
er sonst durch den Blutverlust gestorben wäre. Ein neuer Gefängniswärter
erbarmte sich seiner, gab ihm Papier und eine Feder und erlaubte ihm, die
Schranktür so weit zu öffnen, daß genügend Licht zum Schreiben in die
Kammer fiel. Während dieser Zeit verfaßte er einige seiner grundlegenden
und einsichtsvollsten Werke wie Geistlicher Gesang, Die dunkle Nacht und
Die Quelle.
Lesen Sie den folgenden Vers aus seinem Gedicht Glosa a lo divino[84] (Ins
Geistliche übertragene Glosa), in dem er beschreibt, wie er selbst in seinen
Momenten tiefster Finsternis von einer göttlichen Macht berührt (»gestützt«)
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
207/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wurde:
Beistandslos und mit Beistand,
ohne Licht und im Finstern lebend,
bin ich dran, mich gänzlich zu verzehren.
Meine Seele ist losgelöst
von jedem geschaffenen Ding,
und über sich selbst erhoben,
und in einem köstlichen Leben,
allein auf ihren Gott gestützt.
Deshalb wird man schon sagen,
was ich am meisten schätze,
daß meine Seele sich nun sieht
beistandslos und mit Beistand.
Johannes nutzte Entsagung und Schmerz als Werkzeuge, um seinen
denkenden Verstand auszuschalten. An diesem stillen Ort – über den er
ausführlich in Die dunkle Nacht schrieb – lernte er die Liebe, das Licht und
die Gegenwart G-ttes kennen. Das war seine Form der Meditation.
[310]
Wenn wir verstehen, daß dies – das Auffinden eines stillen Ortes, wo das
Denken endet und das Bewußtsein beginnt – das wichtigste Ziel der
Meditation darstellt, dann ist es einfacher, die verschiedenen Formen der
Meditation zu verstehen und zu praktizieren.
Nahezu jede spirituelle Tradition auf Erden hat eine Art von meditativer Praxis
entwickelt, und sie alle verfolgen dieselbe Absicht. Weil jede Praxis ihre
Wurzeln in der Kultur und den Annahmen und Traditionen einer bestimmten
Zeit und eines bestimmten Ortes auf der Welt hat, hat auch jede ihre eigene
Essenz und Energie.
Zwar erklären Ihnen viele Bücher und Lehrer, daß es bei der Meditation darum
geht, Ihren Blutdruck zu senken, Ihre überreizten Nerven zu beruhigen oder Ihre
Gesundheit zu verbessern, aber all das sind lediglich Nebenwirkungen. Viele
Untersuchungen bestätigen, daß sie tatsächlich stattfinden, und die Meditation
kann ein mächtiges Werkzeug der körperlichen oder emotionalen Heilung
sein: Doch das ist nicht der Punkt, auf den es dabei wirklich ankommt.
Die wahre Kraft der Meditation – und der wahre Gund für die Meditation – liegt
darin, zu diesem gegenwärtigen Augenblick zu erwachen. Und von da aus –
vom Berühren der Kraft des Lebens im Hier und Jetzt – können wir die
Fähigkeit erlangen, uns selbst und andere auf eine Weise zu verwandeln,
welche die Welt transformieren kann und wird.
Diese scheinbar sehr persönliche Arbeit gehört im Grunde zu den wichtigsten
Aktivitäten, die wir unternehmen können, um die Welt zu retten, weil wir in dem
Maße, wie wir uns in der Gegenwart verankern, die persönliche Macht
gewinnen, Veränderungen hervorzubringen. Zugleich erlangen wir eine
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
208/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
spirituelle Stärke, die wir ausstrahlen – die solide und reale Spiritualität,
welche die Stammesvölker seit Jahrtausenden kennen und nutzen.
Es ist ein erstaunlicher Gedanke, daß wir die Welt verändern können, indem
wir uns selbst verändern, indem wir lernen, anders zu denken, zu leben und
jeden Augenblick wahrzunehmen, aber das war die Kernbotschaft nahezu aller
Religionen in der Geschichte, von den ältesten und ursprünglichsten bis zu den
modernsten und neuesten. Wir können die Welt verändern und retten, indem
wir uns selbst verändern. Und dieser Prozeß beginnt damit, daß wir zur Kraft
des Lebens im gegenwärtigen Augenblick erwachen und darin die Gegenwart
unseres Schöpfers und aller Schöpfung finden.
[311]
[312]
Lernen Sie, Gewahrsam zu schaffen
Millionen von Menschen sind wach genug, um
k örperlich zu arbeiten. Aber nur einer in einer
Million ist wach genug, um seinen Verstand
wirk sam einzusetzen, und nur einer unter
hundert Millionen ist wach genug, um ein
poetisches oder göttliches Leben zu führen.
Wach zu sein heißt, lebendig zu sein.
Ich bin noch nie einem Menschen begegnet,
der vollk ommen wach war. Wie hätte ich ihm
ins Gesicht sehen k önnen?
Henry David Thoreau, Walden
Die
meisten von uns gehen durchs tägliche Leben, fahren die Straße
entlang, sitzen im Büro oder gehen im Haus herum, ohne eine Verbindung zur
natürlichen Welt zu haben. Wir denken an die Vergangenheit oder an die
Zukunft, machen uns Sorgen über irgendwelche Probleme oder Aufgaben,
bereiten uns darauf vor, den Herausforderungen und Pflichten des Tages
nachzukommen oder ihnen zu entgehen. In einem gewissen Sinne sind wir
nicht lebendig: Die Erfahrung, lebendig zu sein, ist kein normaler Bestandteil
unseres täglichen Lebens.
Viele Menschen in modernen Gesellschaften erfahren die Wirklichkeit des
Lebens und der Lebendigkeit am intensivsten, wenn sie sich draußen in der
freien Natur aufhalten. Je außergewöhnlicher und beeindruckender der Anblick
der Natur ist (Wasserfälle, Berge, Schluchten, Zedernwälder, das Meer), desto
stärker empfinden viele Menschen die spirituelle Wirklichkeit.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
209/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Aber das ist eine seltene Erfahrung, die wir nur gelegentlich machen. Wäre es
nicht großartig, wenn wir dieses Gefühl von Wunder und Ehrfurcht und
Verbundenheit jederzeit empfinden könnten?
Die Kogi-Indianer in der kolumbianischen Sierra Madre haben eine Technik
entwickelt, mit deren Hilfe das möglich ist. Das ist zwar nicht die Methode, die
ich hier empfehlen will (ein paar Seiten weiter beschreibe ich Ihnen einen
weniger drastischen Weg), aber wir sehen daran, welche kulturelle Bedeutung
es hat, wenn es in einer Gesellschaft Mitglieder gibt, die ihre spirituelle Arbeit
als real und wesentlich empfinden, statt sich selbst nur als Interpreten eines
offenbarten Gesetzes zu empfinden oder als Statthalter, die Macht über eine
Gemeinde haben. Dies ist die Geschichte, wie ein Stamm gelernt hat, stets
wenigstens einen Menschen in der eigenen Mitte zu haben, der die ihn
umgebenden Zeichen des Göttlichen immer lebhaft wahrnimmt.
[313]
Die Priester der Kogi erfahren durch Weissagung, wann eine »Hohe Seele« –
ein Mensch, dem es bestimmt ist, selbst Priester zu sein – innerhalb des
Stammes geboren werden soll. Kurz nach der Geburt bringen sie dieses Kind
in eine abgelegene Höhle, wo es von seiner Mutter alle paar Stunden gefüttert
und versorgt wird. Es sieht gerade genug Tageslicht, daß sich seine Augen
entwickeln können, und seine Ohren vernehmen nur die Geräusche im Inneren
der Höhle. Wenn das Kind heranwächst, übernimmt eine Gruppe von KogiPriestern, die als die Mamas[85] bezeichnet werden, die weitere Versorgung,
und sie fangen an, dem kleinen Jungen zu beschreiben, was er sehen, hören
und fühlen wird, wenn er schließlich zum ersten Mal aus der Höhle heraustritt
und der Welt dort draußen gegenübersteht.
Sie erzählen ihm Geschichten über die Große Mutter, die in ihrem Glauben als
die Schöpferin der Neun Welten gilt, und von ihnen erfährt er, daß diese
spezielle Welt, in der wir leben, ungeheuer groß und schön und vielfältig ist.
Der Junge, der nur das Dämmerlicht im Inneren der Höhle und gelegentlichen
Kerzenschein kennt, kann sich nur vorstellen, wie es »dort draußen« sein mag.
Er fragt sich, wie ein Baum oder ein Berg wohl aussieht, wie Moos auf Felsen
wachsen kann, und wie es sich wohl anfühlt, wenn die Sonne der Großen
Mutter seinen Körper wärmt.
[314]
Wenn der Junge in die Pubertät kommt, wird er im Rahmen eines großen
Rituals aus der Höhle herausgeführt und darf zum ersten Mal die Welt sehen.
Welch ein Schock! Dieses Staunen! Er sieht ein Blatt in allen Einzelheiten –
wie konnte die Große Mutter so etwas schaffen? Er sieht die Berge in der
Ferne – wie kann es sein, daß etwas so groß ist? Und dann die Bäume und
die Blumen und die Tiere und die Vögel: Er blickt sich um, lauscht auf die
Geräusche der Welt, fühlt zum ersten Mal im Leben die Sonne auf seiner Haut,
und das Gefühl von Ehrfurcht und Entzücken und Dankbarkeit ist so gewaltig,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
210/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
daß der Junge meist erschüttert und voller Ehrfurcht vor der majestätischen
Schöpfung der Großen Mutter auf die Knie fällt.
Für den Rest seines Lebens wird er jedesmal, wenn er die Augen öffnet, aufs
neue sehen, wie kunstvoll die Schöpferin die Welt gestaltet hat, und er wird
dabei stets von Freude, Ehrfurcht und Respekt vor ihrer Gestaltungskraft
überwältigt sein.
Weil er die Welt auf so einzigartige Weise sieht, spielt er innerhalb seines
Stammes eine entscheidende Rolle.
Er ist derjenige, der den Stamm immer wieder an das Göttliche erinnert, er
verkörpert die Verbindung zur spirituellen Welt, und er ist das Gewissen des
Stammes, falls irgend jemand auf die Idee kommen sollte, etwas tun zu wollen,
was der wunderbaren Schöpfung der Großen Mutter Schaden zufügen könnte.
Viele moderne Menschen kommen dieser Empfindung am nächsten, wenn sie
in die Weite des nächtlichen Sternenhimmels schauen, aber dieser Anblick
gehört heute längst nicht mehr zu den alltäglichen Erfahrungen der meisten
Leute.
Erinnern Sie sich daran, wie Sie als Kind an einem warmen oder auch kühlen
Abend draußen gestanden, allein und voller Ehrfurcht in die Tiefe des
Universums geschaut und dort Tausende und Abertausende funkelnder
Lichtpunkte gesehen haben? Jeder einzelne ist eine Sonne, so wie unsere,
und hat vielleicht Planeten, die ihn umkreisen. Ihre Entfernungen sind für uns
unvorstellbar, und weit hinter dem am schwächsten schimmernden
entferntesten Stern können wir erkennen, daß es noch Milliarden und
Abermilliarden weiterer gibt.
[315]
Denken Sie einen Moment an diese Zeit zurück, sehen Sie, was Sie damals
sahen, fühlen Sie, was Sie damals fühlten und hören Sie, was Sie damals
hörten.
Und wenn nun die Erinnerungsbilder zu einem Ende kommen, blicken Sie von
diesem Buch auf und sehen Sie sich dort um, wo Sie jetzt sind.
Es gibt ein Geheimnis, das fast nur Physiker und Astronomen kennen: Sie
haben damals das Licht eines toten Sterns gesehen (und sehen es auch
heute, wenn Sie in den Nachthimmel schauen).
Als unser Universum entstand, war der gesamte Raum von subatomaren
Teilchen erfüllt. Als Folge der Schwerkraft und im Laufe von Jahrmillionen sind
diese Teilchen zu Wasserstoffatomen geronnen, welche den Raum mit Gas
füllten. Damals war Wasserstoff das einzig existierende Element.
Die Schwerkraft zog Wolken von Wasserstoff zueinander hin, ließ sie in sich
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
211/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
zusammenfallen und durch den Druck sehr heiß werden. Diese Hitze
»entzündete« die Wolken mit dem Feuer der Kernfusion, und so sind die
Sterne entstanden.
Tief im Herzen eines dieser frühen Sterne führte die Kernfusion dazu, daß
zwei Wasserstoffatome sich zu einem Heliumatom verbanden, wodurch das
zweite Element entstand, während die Kernreaktion gleichzeitig riesige
Mengen von Hitze und Licht freisetzte. Der dabei entstehende Druck war
riesig, doch der Prozeß hörte an dieser Stelle nicht auf. Heliumatome
verbrannten und fusionierten zu größeren, schwereren Atomen, und jedes
Element, das wir vom Periodensystem kennen, kam so zustande und erfüllte
das Innere des Sterns – Eisen, Kohlenstoff, Gold, Bor, Sauerstoff, Neon,
Argon, Stickstoff, Kalzium, Kalium und Dutzende anderer.
[316]
Während sich dieser Prozeß fortsetzte, wurde das Innere des Sterns durch die
neuen Elemente schwer und begann abzukühlen, wodurch sich die Farbe des
Sterns ins Rote veränderte und sein Äußeres sich auszudehnen begann. Das
war der erste Schritt in den Tod jenes weit entfernten Sterns, dessen
Überbleibsel aus dem feurigen Kern Sie in Ihren Händen halten in Form
dieses Buches.
Während der nächsten paar hundert Millionen Jahre dehnte sich der Stern
weiter aus bis zu einem kritischen Punkt, wo er sich nicht länger
zusammenhalten konnte, und explodierte, wobei die Materie aus seinem
Inneren über Milliarden von Meilen durch den Raum geschleudert wurde und
fast alles zerstörte, was sich in der Nähe befand. Dieser Vorgang, den man
als Supernova bezeichnet, signalisiert den Tod eines Sterns.
Und nicht nur das. Der Stern mußte sterben, damit er uns erreichen konnte.
Nachdem der Stern explodiert war, wurde ein Teil der Materie, die in den
Raum hinausgeschleudert worden war, durch die Schwerkraft
zusammengezogen, wodurch sich riesige Materieklumpen bildeten. Die
größeren dieser Klumpen wurden zu dem, was wir als Planeten bezeichnen,
und begannen, sich langsam abzukühlen (unsere Erde brauchte dazu offenbar
ungefähr vier Milliarden Jahre). Bei ihrem Flug durch den Raum wurden die
meisten Planeten von der Schwerkraft anderer, noch lebender und brennender
Sterne angezogen und begannen, diese zu umkreisen. Von ihrer neuen Sonne
empfingen sie Wärme, welche den Prozeß der Photosynthese in Gang setzte
und zu dem Leben führte, das wir um uns herum sehen, wobei die Elemente,
die durch den Tod eines weit entfernten Sterns geschaffen wurden, sich in
pflanzliche und tierische Materie verwandelten.
Erinnern Sie sich an das ehrfürchtige Staunen, mit dem Sie vor so langer Zeit
in den nächtlichen Sternenhimmel geblickt haben? Erinnern Sie sich, wie
ehrfurchtgebietend und fern diese Sterne Ihnen erschienen und für wie
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[317]
212/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
unmöglich Sie es hielten, einen von ihnen aus der Nähe zu sehen oder ihn
materiell zu berühren?
Wenn Sie sich nun in Ihrem Zimmer umsehen, wird Ihnen klar, daß alles, was
Sie sehen, aus der Materie besteht, die im Herzen eines Sterns entstanden
ist, beim Tod dieses Sterns in den schwarzen, leeren Raum
hinausgeschleudert wurde und zu dem geworden ist, was wir als den Planeten
Erde und alles, was sich darauf und darin befindet, bezeichnen.
Nicht nur die Materie um Sie herum besteht aus Sternenstoff, sondern auch
Sie selbst. Es gibt keine einzige Zelle in Ihrem Körper, die nicht aus der
Materie besteht, die zunächst im Herzen und dann durch den Tod eines fernen
und nun ausgelöschten Sterns gebildet wurde.
Wie der junge Kogi-Priester, der jedesmal, wenn er in die Welt blickt, die
Hand der göttlichen Schöpferin sieht – einer Kraft und Macht, die unser aller
Vorstellungsvermögen übersteigt –, können auch Sie die Hand Gottes
erkennen, einfach indem Sie sich umsehen, indem Sie die Seiten dieses
Buches berühren (das ebenfalls aus Sternenstoff gemacht ist), indem Sie die
Geräusche in Ihrem Zimmer wahrnehmen (welche durch die Schwingungen
von Sternenstoff entstehen, wobei die Schallwellen durch den Sternenstoff der
Luft zum Sternenstoff Ihres Trommelfells geleitet werden).
Wenn Sie diese Übung im Verlauf dieses Tages oder Abends noch ein
paarmal wiederholen und dann morgen aufs neue praktizieren, werden Sie
feststellen, daß sich Ihre Sicht der Dinge, Ihre Perspektive, verändert.
Das ist ein weiterer Schritt, um Ihre Augen zu öffnen. Andere werden folgen.
[318]
Lektionen eines Mönchs
Sie haben den Ausdruck »Zivilisation«
verwendet,
der
eine
Sammlung
von
Abstrak tionen, Symbolen und Konventionen
meint. Die Erfahrung spielt dabei meist eine
untergeordnete Rolle. Emotionen werden nicht
direk t wahrgenommen; Ideen werden realer als
die wirk lichen Dinge.
Jack Vance, The Gray Prince
Der beste Weg, die Welt zu erneuern, besteht darin, daß man bei sich selbst
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
213/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
und der eigenen inneren Welt anfängt.
Daran wurde ich erinnert, als ich an einem völlig unerwarteten Ort eine völlig
unerwartete Begegnung mit einer seltenen Seele hatte, die zu einem
geschätzten Freund wurde.
1985 war ich Hauptreferent auf einer dreitägigen Konferenz, die von American
Express und der holländischen Fluglinie KLM für Leute aus der Reisebranche
veranstaltet wurde. Sie fand in einem wunderschönen Hotel in der Innenstadt
von Amsterdam statt, und nach einer meiner stundenlangen Präsentationen
über Kommunikationsfähigkeiten waren einige hundert Teilnehmer und
verschiedene der Referenten vom holländischen Fremdenverkehrsverein zu
einem Galadinner eingeladen worden.
Als ich den großen Ballsaal betrat, in dem zwei- oder dreihundert Leute an
runden Tischen saßen, sah ich an einem entfernten Tisch einen orientalisch
aussehenden Mann, neben dem noch ein Platz frei war. Er winkte mich herbei,
sprang auf und stellte sich als Doktor George Than vor.
George war ungefähr dreißig Zentimeter kleiner als ich und etwa 30 Jahre
älter, obwohl ich eher angenommen hätte, daß er in den Vierzigern statt in den
Sechzigern war. George erzählte mir, er stamme ursprünglich aus Burma, und
er hatte das breite Gesicht und die dunkle Haut der meisten Burmesen. Er
sprach und gestikulierte elegant und ausdrucksvoll wie jemand von königlicher
Abstammung oder mit einer diplomatischen Ausbildung. Sein schwarzes Haar
mit einigen grauen Strähnen war seitlich gescheitelt, und bei seinem warmen
Lächeln schien sich jeder Muskel in seinem Gesicht zu bewegen.
[319]
Ich mochte ihn auf den ersten Blick, aber es war mehr als nur das. Ich hatte bei
ihm ein etwas seltsames Gefühl, das ich nur selten empfinde, wenn ich
jemanden kennenlerne. Ich hatte das Gefühl, daß er geerdet war. Er wirkte so
präsent, so in sich ruhend und vermittelte so sehr den Eindruck von »Ich bin
hier, und es ist jetzt«, daß meine Erinnerung an ihn dadurch zu einem
leuchtenden, lebhaften Bild wird, während der Rest des Raumes eher im
Halbdunkel und ein wenig abseits zu liegen scheint.
Abgesehen davon, daß ich ihn sofort mochte, war ich mir sicher, daß ich ihn
von irgendwoher kannte. Ich war so überzeugt davon, daß ich sagte: »Wo
haben wir uns schon einmal gesehen, George?«
Er lachte, blickte mir direkt in die Augen und meinte ganz sachlich: »Vielleicht
waren wir als Mönche zusammen, vor langer, langer Zeit.«
Wir verbrachten während der restlichen Konferenz viel Zeit miteinander,
redeten und streiften gemeinsam durch Amsterdam. Georges Frau Nancy
betrieb ein Reisebüro, und so hatte er sie zu dieser Konferenz begleitet. Er
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
214/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
selbst war Urologe und praktizierte in Salinas, Kalifornien. Gleich nach dem
Zweiten Weltkrieg hatte er seinen medizinischen Doktorgrad erworben und
war als Arzt in den Vereinigten Staaten zugelassen worden. Kurz darauf hatte
sein Schwager, der bis vor kurzem Präsident von Burma war, ihn in den
Auswärtigen Dienst seines Landes berufen.
»Eines Tages wachte ich in London auf«, erzählte mir George, »und mir war
klar, daß ich eigentlich kein Diplomat sein wollte. Ich wollte Medizin
praktizieren. Also ging ich zu meinem Schwager und bat ihn um die
Entlassung. Aber er wollte mich nicht gehen lassen: Er sagte, falls ich das
Land verlassen sollte, würde er mich zur Persona non grata erklären und mich
aus Burma verbannen, weil ich zu viele Staatsgeheimnisse kannte. Also
begab ich mich nach Thailand und ging in ein Kloster.«
[320]
George ging ins Kloster Wat Sri Chong in Lampong, Thailand, und begann,
Satipatthana (von sati = Achtsamkeit und patthana = Grundlagen) zu lernen.
Sein Lehrer war ein Mann namens Uwaing, der sich nach Bodaw Uwaing,
einer legendären Gestalt des Thai-Buddhismus, nannte.
Die Begegnung mit George war für mich eine wichtige Mahnung, daß wir
wach und auf den gegenwärtigen Augenblick konzentriert sein müssen. Er
praktizierte täglich die Meditation, die er im Kloster gelernt hatte, sowie
zusätzlich T'ai Chi, eine Art von Bewegungsmeditation.
Ein paar Jahre später, zwei Wochen, bevor George 65 Jahre alt wurde, rief
ich ihn an und fragte ihn nach seinen Plänen für seinen Geburtstag. »Ich habe
keine«, sagte er, »aber ich würde gerne irgendwohin gehen und meditieren.
Kommst du mit?«
Ich flog nach San Francisco, holte George an seinem Geburtstag ab, und
gemeinsam fuhren wir durch Zedern- und Eukalyptuswälder zum Mont
Tamalpais nördlich von San Francisco zu einer Stelle, von der aus man über
den Pazifischen Ozean sehen kann. Dort saßen wir und praktizierten seine
Satipatthana- und Vipassana-Meditationen, während die Sonne erst
karmesinrot und dann feuerrot wurde und im Meer versank. Es war ein
wunderbarer Tag.
Im Januar 1997 rief George mich an; es war das erste Gespräch nach zwei
oder drei Jahren. »Ich habe Leber- und Gallenblasenkrebs«, sagte er,
»inoperabel. Aber ich bin jetzt 74 Jahre alt, und vielleicht wächst der Tumor ja
nur langsam.«
Die Nachricht schockierte mich, und ich buchte sofort einen Flug nach San
Francisco.
George hatte einen »guten Tag«, wie Nancy meinte. Er konnte das Bett
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[321]
215/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
verlassen und herumgehen. Ja, er hüpfte sogar fast, so aufgeregt war er, daß
ich nach Salinas gekommen war, um ihn zu besuchen. »Es ist so gut, daß du
gekommen bist«, sagte er mehrfach.
Da sein Zustand ernst war, waren auch seine erwachsenen Kinder und
Verwandten aus London gekommen, und so begaben wir uns zum
Mittagessen in ein japanisches Restaurant.
Während ich dort am Tisch saß, grünen Tee trank und Miso-Suppe schlürfte,
fragte ich George, wie er jetzt den größten Teil seiner Zeit verbringe.
»Ich verbringe mehr und mehr Zeit in der Leere«, sagte er lächelnd.
»In der Leere?«
»Normalerweise richte ich bei der Meditation meine Aufmerksamkeit auf den
gegenwärtigen Augenblick, auf die bewußte Wahrnehmung. Kennst du diesen
Ort?«
»Hier und jetzt«, erwiderte ich.
»Genau«, sagte er. »In dem Moment, wo ein Gedanke aufkommt« – er
schnippte mit den Fingern – »paff, ist es vorbei, und du bist aus der
Gegenwart in den Gedanken gerutscht. Also praktiziere ich gewöhnlich
Satipatthana, die bewußte Achtsamkeit. Einfach da sein, die Dinge nicht
beurteilen, nicht über sie nachdenken, sondern einfach hier sein.«
»Wie hast du das ursprünglich gelernt?« fragte ich.
»In Wat Sri Chong hatte ich eine kleine Höhle, in der ich jeden Nachmittag
saß. Mein Lehrer hatte mich angewiesen, einfach da zu sein, dort zu sitzen
und meine Atemzüge zu zählen. Er hatte mir aber gesagt, ich solle nie weiter
als bis vier zählen, weil die meisten Leute ihre Aufmerksamkeit nicht vier
Atemzüge lang auf etwas konzentrieren können. Also zähle ich vier Atemzüge
und beginne dann wieder bei eins.«
Ich berichtete ihm, daß, als ich anfing, Zazen zu lernen, die Sitzmeditation des
Zen, mein Roshi (Lehrer) mir gesagt hatte, ich solle zehn Atemzüge zählen.
Das veranlaßte George zu einem Riesengelächter.
[322]
»Wenn du volle zehn Atemzüge bei deinem Atem bleiben kannst, dann stehst
du kurz vor der Erleuchtung. Ich würde einem Anfänger nie eine so lange Zeit
empfehlen.«
»Und was ist passiert, als du dort gesessen und einfach deine Atemzüge
gezählt hast?«
»Nun, zunächst tauchten natürlich alle möglichen Gedanken auf. Immer und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
216/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
immer wieder. Gedanken an dies und das, an die Höhle und das Kloster, mein
Heimatland und seine Regierung, was es zum Mittagessen geben würde, alles
mögliche. Dann dachte ich an meinen Atem und an meinen Körper.« Er
lächelte. »Das ist besonders schwer zu vermeiden.«
»Und dann?«
»Schließlich, nachdem das ein paar Wochen so gegangen war, setzte ich
mich eines Tages nach dem Mittagessen hin, und als um sechs Uhr der Gong
zum Abendessen rief, hatte ich das Gefühl, als seien nur ein paar Minuten
vergangen. Die Zeit verging so schnell, weil ich einfach im Hier und Jetzt war.«
»Glaubst du, daß die Zeit mit einer anderen Geschwindigkeit vergeht, wenn
Menschen auf diese Weise meditieren?« fragte ich.
George zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Bei mir ist das jedenfalls so.
Vielleicht gibt es ja auch in Wirklichkeit gar keine Zeit; vielleicht ist die Zeit nur
ein Konstrukt unseres Gehirns, etwas, das wir uns einbilden, um dieses von
jenem unterscheiden zu können. Aber wenn man so sitzt und ganz in der
Gegenwart lebt, dann gibt es keine Zeit. Nur das Jetzt.«
»Und das hast du jahrelang getan?« fragte ich.
Er wies mit einem Eßstäbchen auf mich. »Ich tue es immer noch, viele Male
am Tag. Aber ich habe seit damals mehr und mehr gelernt, dieses Gefühl des
Jetzt in meinen Alltag zu integrieren, in meine Arbeit als Arzt, in alles, was ich
tue. Das ist die eigentliche Bedeutung von Satipatthana, mit bewußter
Achtsamkeit zu leben. Der Teil, bei dem man sitzt, ist nur Meditation, die oft
Vipassana genannt wird, aber der wirklich mächtige Teil ist Satipatthana oder
Leben in bewußter Achtsamkeit. Ob du nun ißt, die Straße entlang gehst, eine
Operation durchführst oder mit deinen Angehörigen sprichst. Du mußt dich
immer selbst beobachten. Und dann beobachtest du dich dabei, wie du dich
selbst beobachtest. Und allmählich kommst du jenem Ort immer näher.«
[323]
»Und was ist mit der Leere, in der du nun soviel Zeit verbringst?«
»Oft, wenn ich mit geschlossenen Augen meditiere«, sagte er, »gleite ich in
die Leere. Das ist nicht etwa ein nicht existierender Ort, sondern es ist der AllOrt, aus dem das Universum hervorgegangen ist. Und wenn ich da
hineingleite, werde ich eins mit dem Universum. Das ist eine ganz
außergewöhnliche Erfahrung, und während ich nun dem Ende meines Lebens
näher komme, stelle ich fest, daß ich immer mehr dort hingezogen werde.«
»Wie machst du das? Wie könnte ein Anfänger dort hingelangen?«
George zuckte mit den Schultern, steckte sich ein Stück Tofu in den Mund und
kaute einen Moment bedächtig darauf herum, als sei dieser Akt des Kauens
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
217/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
das Wichtigste, was er je getan hätte. Dann antwortete er: »Ich würde
vorschlagen, daß es jeder auf seine Weise versucht. Wenn jemand ein
besonders ausgeprägtes Tastempfinden hat, sollte er einen Rosenkranz oder
eine Mala benutzen. Wenn jemand besonders sensibel auf Klänge reagiert,
sollte er ein Mantra benutzen, beispielsweise Om oder Amen oder den
Namen eines Heiligen, dem er sich besonders verbunden fühlt. Wenn jemand
vorwiegend visuell veranlagt ist, dann sollte er einen Heiligen visualisieren
oder sich Christus vorstellen, wenn er ein Christ ist, oder einen Lehrer, der
nicht mehr auf dieser Erde weilt.«
»Wie wäre es mit einer Kerze?« fragte ich, weil ich daran dachte, was mein
alter Mentor Hamid Bey im Koptentempel in Kairo gelernt hatte.
Er nickte. »Das würde bei einem visuell veranlagten Menschen funktionieren.
Oder auch ein Mandala. Am wichtigsten ist es, daß sich jeder etwas aussucht,
das bei ihm funktioniert, etwas, das ihm gefällt und womit er sich wohl fühlt.
Diese Leute, die behaupten, daß nur ein Weg zum Ziel führt, und daß jeder
diesem speziellen Weg folgen muß, ignorieren einfach, daß die Menschen
unterschiedlich sind. Es gibt viele Wege und viele Methoden.«
[324]
»Und was macht man mit den Klängen, den Perlen oder Bildern, die man sich
vorstellt?«
»Man bleibt dabei«, erwiderte er. »Einige Lehrer sagen, daß man aufrecht
sitzen muß, mit gerader Wirbelsäule und all das. Aber ich kann das jetzt nicht
mehr, weil meine Leber zu weh tut, wenn ich eine von diesen Haltungen
einnehme, und ein alter Mann wie ich hat vielleicht Arthritis oder andere
körperliche Beschwerden, die ihm zu schaffen machen, wenn er versucht,
aufrecht zu sitzen.« Er versuchte, seinen Körper in eine der vorgeschriebenen
Haltungen zu bringen, und zuckte zusammen. »Diese Dinge sind nicht so
wichtig. Ich lege mich jetzt immer im Bett auf den Rücken und arbeite mit dem
Rosenkranz, den mir mein Lehrer vor fast fünfzig Jahren gegeben hat, bevor er
starb. Damit gelange ich an einen Ort der Aufrichtigkeit, der Konzentration,
der inneren Sammlung.«
»Unterscheidet sich das von der bewußten Achtsamkeit, von Satipatthana?
Es scheint das genaue Gegenteil zu sein, eine Art von Nicht-Sammlung.«
»Nein«, sagte George. »Erst muß man lernen, sich zu sammeln, sich zu
konzentrieren. Das kann man mit Hilfe des Rosenkranzes, eines Klanges oder
einer Visualisierung. Und dann, wenn man Satipatthana praktiziert, nutzt man
diese Kraft der inneren Sammlung, um sich auf den gegenwärtigen
Augenblick zu konzentrieren. Zunächst muß man also lernen, sich innerlich zu
sammeln.«
»Und die Leere?«
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
218/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
»Nun«, sagte er mit einem schwachen Lächeln, »wenn ich mich früher
konzentriert habe, bin ich einfach völlig darin aufgegangen, die Perlen oder
den Klang oder die Vision wahrzunehmen. Aber jetzt stelle ich oft fest, daß ich
sozusagen darüber hinaus gehe. Ich bin dann jenseits der Wahrnehmung –
und sogar jenseits des Jenseits. Und wenn ich an diesen Ort gelange, dann
befinde ich mich in der Leere. Ich weiß nicht, wie ich es weiter beschreiben
könnte, außer daß es ganz wunderbar und sehr machtvoll ist. Dann nehme ich
diese Erfahrung mit zurück in meinen Alltag, und das gibt mir Kraft.«
[325]
Der beste Weg, die Welt zu erneuern, besteht darin, daß Sie mit sich selbst
und Ihrer inneren Welt beginnen. Ich bitte Sie dringend, mit den von George
beschriebenen Meditationsformen zu experimentieren.
Die meisten Leute glauben beispielsweise, daß sie »die Welt wahrnehmen«.
Wir sehen, was wir sehen, hören, was wir hören, fühlen, was wir fühlen,
schmecken und riechen, was es zu schmecken und zu riechen gibt. Aber in
Wirklichkeit können nur sehr wenige Menschen mit ihren Sinnen die
Wirklichkeit wahrnehmen.
Statt dessen beginnen wir sofort, von allem, was wir mit unseren Sinnen
aufnehmen, Begriffe zu bilden, indem wir alles in unserem eigenen Kopf mit
uns selbst diskutieren, so wie ich es im Abschnitt »Wie und warum wir
Geschichten konstruieren« beschrieben habe. Dieser innere Dialog, bei dem
es primär darum geht, zu beurteilen, zu bewerten, zu vergleichen und zu
assoziieren, entfernt uns einen Schritt von der sinnlichen Wirklichkeit, die uns
umgibt. Und doch denken wir, das sei die Realität. Wir merken nicht einmal,
daß alles schon einen Schritt weiter ist, bevor es in unsere Gedanken gelangt.
Wenn Ihnen das zu abstrakt oder belehrend vorkommt, dann versuchen Sie es
doch einmal mit diesem einfachen Experiment, das dem gleicht, zu dem ich
Sie einige Kapitel zuvor aufgefordert habe, damit Sie den Lärm in Ihrem Kopf
hören können.
Nachdem Sie diesen Absatz gelesen haben, legen Sie das Buch für einen
Moment beiseite und blicken Sie sich um. Lauschen Sie den Geräuschen, die
Sie hören können, nehmen Sie die Empfindungen auf Ihrer Haut und in Ihrem
Körper wahr, und dann sehen Sie, was Sie sehen. Und versuchen Sie, das
alles nicht mit sich selbst in Ihrem Kopf zu diskutieren. Wenn Sie den Zustand
»keine Worte im Kopf« auch nur drei Sekunden lang aufrechterhalten und
dabei vollkommen »hier« sein können, eins mit den sinnlichen
Wahrnehmungen der Welt um Sie herum, dann sind Sie besser als die
meisten Meditationsanfänger. Wenn Sie länger als ein oder zwei Minuten in
diesem Zustand der reinen sinnlichen Wahrnehmung bleiben können, dann
haben Sie den Geisteszustand erreicht, über den der inzwischen verstorbene,
zeitgenössische christliche Mönch Thomas Merton oft gelehrt und geschrieben
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[326]
219/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
hat.
Was also geschieht, ist, daß wir ständig hin und her flattern zwischen der
sinnlichen Wahrnehmung der Welt und der inneren Erörterung dieser
Sinneswahrnehmungen mit uns selbst. Dieses Debattieren zieht uns weg von
der realen Welt, von der Erfahrung des Lebens und versetzt uns in unser
individuelles Bewußtsein, wo wir denken, beurteilen und vergleichen.
In diesem denkenden Bereich unseres Bewußtseins verbringen wir den
größten Teil unseres Lebens. Und die Art, wie wir auf die Welt um uns herum
reagieren – die Art der inneren Konversation mit uns selbst –, basiert auf den
Geschichten, die wir uns selbst über die »Realität« erzählen. Wenn wir jedoch
dieses Geplapper, die Bewertungen und Beurteilungen abstellen, dann
können wir die Geschichten fallenlassen und einen Augenblick der
Wirklichkeit erfahren, einen Augenblick des heiligen Jetzt.
Finden Sie Ihren Weg – mit Hilfe von Klängen, sensorischen Wahrnehmungen
oder Visualisierungen – und lernen Sie, das »Jetzt« zu erfahren. Sitzen Sie
still da, hören und sehen und fühlen Sie einfach – lassen Sie das innere
Geplapper verstummen – zehn oder zwanzig Minuten am Tag. Da Sie und ich
und alle anderen Lebewesen miteinander verbunden sind, werden Ihre
Meditationen sich positiv auf Sie selbst und Ihre Realität auswirken und
positive Wellen der Veränderung durch die Welt senden …
[327]
Den Frauen wieder die Macht
übertragen
Wir haben jetzt die Geschichte der Frauen
vom Paradies
bis zum neunzehnten
Jahrhundert verfolgt und dabei während dieser
ganzen Zeit nichts als das Klirren ihrer
Fesseln gehört.
Lady Jane Wilde (1821–1896)
Ein Freund, der Psychiater mit einer Ausbildung in Neurochemie ist, hat mir
einmal scherzhaft
Testosteron.«[86]
gesagt: »Die
gefährlichste
Droge
der Welt
ist
Die Geschichte scheint zu bestätigen, daß er recht hat.
Ausführliche Untersuchungen »prähistorischer« Kulturen, wie sie von Riane
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
220/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Eisler und anderen durchgeführt wurden, sind zu dem Ergebnis gekommen,
daß die Frauen in nahezu allen älteren Kulturen den Männern gleichberechtigt
waren und in einigen Fällen sogar die alleinige Verantwortung trugen. Eine
Theorie führt als Grund dafür an, daß allein Frauen neues Leben in die Welt
bringen können, und es ist durchaus möglich, daß die Menschen die
Grundlagen der Genetik erst zu verstehen begonnen haben, als sie ihre
Existenz als Jäger und Sammler aufgaben und zu Hirten und Bauern wurden.
Die Frauen spielten die Hauptrolle, weil sie das Leben selbst kontrollierten,
indem sie es in ihrem Körper heranwachsen ließen.
Als aber schließlich in der Anfangszeit des Hirtendaseins allen klar war, daß
die Männer dabei eine wichtige Funktion hatten, rissen einige Männer die
Macht an sich, sorgten dafür, daß nicht mehr weibliche, sondern männliche
Götter verehrt wurden, und übernahmen die Kontrolle über die Fruchtbarkeit
der Frauen ebenso, wie sie die Fruchtbarkeit der Felder oder einer
Schafherde kontrollierten. Die Männer übernahmen die Macht.
[328]
Zur gleichen Zeit begann das testosterongesteuerte Verhalten die Anfänge
unserer jüngeren Kultur zu beherrschen: Aggression, Wettbewerb, Herrschaft,
Krieg.
Als die europäischen Missionare den Kindern der australischen Ureinwohner,
die als Jäger und Sammler lebten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das
Fußballspielen beibrachten, spielten die Kinder so lange, bis beide Seiten
gleich viele Tore geschossen hatten. Dann war das Spiel nach ihrem
Verständnis zu Ende, und das machte die britischen Missionare fassungslos.
Sie brauchten über ein Jahr, um die Kinder der Aborigines zu überzeugen,
daß es Gewinner und Verlierer geben sollte. Die Kinder lebten in einer
matrilinearen Gesellschaft, in der Kooperation den höchsten Wert darstellte;
die Engländer dagegen kamen aus einer patriarchalen Gesellschaft, die auf
dem Herrschaftsprinzip basierte.
Die Irokesen hatten diesen grundlegenden Zusammenhang schon vor mehr
als tausend Jahren herausgefunden: In den meisten Fällen oblag die
Entscheidung allein den Frauen des Stammes. Infolgedessen wurden
Entscheidungen, welche die Beziehungen zu anderen Stämmen betrafen,
meist unter dem Aspekt »Was ist am besten für unsere Kinder?« getroffen,
ohne daß es dabei einen Sieger geben mußte oder daß Stolz, Macht oder
Eroberung eine Rolle spielten.
Ähnliches gilt in bezug auf das Problem der Überbevölkerung: In fast jeder
Nation der Welt, in der Frauen von Männern beherrscht, wie Vieh oder Sachen
behandelt, ausgebeutet und kontrolliert werden, explodieren die
Bevölkerungszahlen. In diesen Ländern treffen die Männer die
Entscheidungen, und einer der männlichen Werte lautet, »viele Söhne zu
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
221/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
haben und die größte Armee aufstellen zu können« (und natürlich heißt ein
anderer weitverbreiteter Wert, »jederzeit und mit jeder beliebigen Frau Sex
haben zu können«).
[329]
In Nationen jedoch, in denen die Frauen relativ gleichberechtigt sind und im
gleichen Maße wie Männer Zugang zur Macht haben, sind die Geburtenraten
sehr viel niedriger und das Bevölkerungswachstum tendiert oft gegen Null, wie
es in vielen nordeuropäischen Ländern der Fall ist. Diese Gleichung geht in
fast jedem Land der Welt auf: Männerherrschaft ist identisch mit
Bevölkerungsexplosion; die relative Gleichberechtigung der Frauen entspricht
umweltverträglichen Bevölkerungszahlen.
Insofern könnte man sagen, daß die Frauenrechtsbewegung in Wirklichkeit
eine Menschenrechtsbewegung ist.
Also besteht eine weitere Lösung für unsere Probleme darin, den Frauen in
allen gesellschaftlichen Bereichen wieder mehr Macht zu übertragen, also in
sozialen, familiären,
religiösen, militärischen
und
geschäftlichen
Angelegenheiten.
[330]
Das Geheimnis des »Genug«
Denn ich habe gelernt, mir genügen zu
lassen, wie ich's finde.
Paulus, Brief an die Philipper, 4, 11
Zunächst die Wahrheit: Wenn man nackt ist, friert und Hunger hat, und
jemand gibt einem Obdach, Kleidung und Nahrung, dann geht es einem
besser. Das Lebensnotwendige zu haben, bedeutet eine qualitative
Veränderung im Leben, und man könnte sogar behaupten, daß man sich
dadurch »glücklich« fühlt. Wir fühlen uns dann behaglich und sicher. Unser
inneres Befinden – unser Geisteszustand und das emotionale Gefühl von
Wohlbefinden – hat sich durch diese äußeren Veränderungen der materiellen
Umstände verbessert, ein Ergebnis der Tatsache, daß man bestimmte Dinge
angesammelt hat.
Wir wollen diesen Zustand als den »Punkt des Genug« bezeichnen. Er
repräsentiert den Punkt der Sicherheit, wo das eigene Leben und die
materielle Existenz nicht gefährdet sind.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
222/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Nun die Lüge oder der Mythos: Wenn eine bestimmte Menge an materiellem
Besitz uns glücklich macht, dann wird die doppelte Menge uns doppelt so
glücklich machen, die zehnfache Menge wird uns zehnmal so glücklich
machen, und so geht es ohne Ende weiter.
Wenn diese Logik stimmen würde, dann müßten die Superreichen wie Prinz
Charles oder Donald Trump oder König Fahd in einem Zustand permanenter
Glückseligkeit leben. »Gier ist gut«, das so oft wiederholte Mantra der
Reagan-Ära, drückte den religiösen und moralischen Aspekt dieses Mythos
aus. Mehr ist besser. Wer mit den meisten Spielsachen stirbt, ist der Sieger.
Viele Amerikaner haben während der großen Weltwirtschaftskrise erkannt,
daß »mehr ist besser« ein Mythos ist. Die Großmutter meiner Frau, die jetzt
schon über neunzig ist und immer noch genügsam, aber behaglich lebt, besaß
damals mit ihrer Familie einen Bauernhof und konnte fast alle materiellen
Bedürfnisse der Familie befriedigen, indem sie selbst die nötigen
Nahrungsmittel anbaute, mit Holz heizte und die Kleidung selbst herstellte.
Recycling war keine Modeerscheinung und diente auch nicht dem
Umweltschutz, sondern es war überlebensnotwendig und bequem. Heute, auf
ihre alten Tage, hat unsere Großmutter durch Investmentanlagen und den
Verkauf der Farm genug Geld, um sich ein ziemlich extravagantes Leben
leisten zu können, aber sie bestellt weiterhin jedes Jahr zwei Kleider aus dem
Sears-Katalog, sammelt Regenwasser, um ihre wunderschönen langen Haare
zu waschen, schreibt Gedichte und hat Spaß daran, ihre eigenen Mahlzeiten
aus Resten zu kochen. Sie hat den Mythos als das erkannt, was er war, und
hat sich bis heute nicht davon beeindrucken lassen.
[331]
Einige Leute haben in der Weltwirtschaftskrise natürlich so schwere Narben
davongetragen, daß sie in die entgegengesetzte Richtung gingen und sich
diesem Mythos vollständig hingaben. Legendär sind beispielsweise die
Exzesse von Howard Hughes – ebenso wie die schmerzliche Realität, daß
sein nahezu grenzenloser Reichtum ihn doch nie glücklich machte.
Auf ähnliche Weise ist der Mythos zur Kernüberzeugung in den USA, im
größten Teil Europas und in den meisten Entwicklungsländern geworden. Die
Werbung fordert Kinder und Erwachsene auf, Dinge zu kaufen, die sie nicht
brauchen, und verspricht Glückseligkeit. Oft ist die Werbebotschaft »Kauf
dies, und du wirst glücklicher sein« so aufdringlich, daß sie auf einen
Menschen, der für den Mythos sensibilisiert ist, bestürzend wirkt. Vergiß den
»Punkt des Genug«, sagen diese Anbieter: Dieses Produkt oder diese
Dienstleistung ist das einzige, was dir letztlich die Erfüllung bringt.
[332]
Was Reichtum bedeutet
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
223/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Doch wir alle – sowohl diejenigen, die meinen, »genug« sei eine
anspruchslose Ebene von Behaglichkeit, als auch die anderen, die sich nach
großem Reichtum sehnen – sind Spiegelbilder unserer Kultur. So wie wir nicht
über die Luft nachdenken, die wir atmen, so vergessen wir auch leicht, daß wir
Mitglieder einer einzigartigen Kultur sind, die von ihren eigenen Annahmen
ausgeht. Diese jüngere Kultur basiert auf einer einfachen Ökonomie: Wir
produzieren Waren oder Dienstleistungen, die für andere von Wert sind, und
dann tauschen wir sie gegen das ein, was die anderen produzieren und was
wir brauchen oder haben wollen. Geld ist lediglich aufgekommen, um den
Tauschhandel zu vereinfachen, aber das ist die fundamentale Gleichung. Die
Vorstellung von Reichtum als Maßstab für den Besitz von Waren oder Geld ist
ein untrennbarer Bestandteil dieser Kulturen, und insofern könnte man sagen,
daß all diese verschiedenen Kulturen in der ganzen Welt eigentlich nur
Variationen eines einzigen Themas darstellen, verschiedene Muster, die aus
demselben Faden gewoben sind.
Der Reichtum der Sicherheit
Obwohl sie inzwischen nur noch ein Prozent der Weltbevölkerung
ausmachen – eine Folge des fünftausend Jahre andauernden Völkermordes,
den unsere weltweit herrschende jüngere Kultur verübt hat –, leben immer
noch Menschen auf der Erde, die den älteren Kulturen angehören. Außerdem
gibt es auch noch Menschen, die ihrer den älteren Kulturen entsprechenden
Lebensweise erst vor kurzem beraubt wurden – so wie viele der
amerikanischen Ureinwohner – und sich sehr wohl an diesen Lebensstil
erinnern, auch wenn sie ihn selbst nicht mehr praktizieren.
In diesen älteren Kulturen ist die Vorstellung »mehr ist besser« unbekannt. Die
Aussage »Gier ist gut« ist für sie die Haltung eines Geisteskranken. Für sie ist
es beispielsweise obszön zu essen, wenn jemand anders in der Nähe Hunger
hat.
[333]
Diese Werte und Verhaltensnormen unterscheiden sich erheblich von denen,
die wir heutzutage in unserer Welt sehen. Aber warum?
Der Grund ist einfach: Sicherheit ist ihr Reichtum, nicht Güter oder
Dienstleistungen.
In älteren Kulturen besteht das Ziel der ganzen Gemeinschaft darin, daß jedes
einzelne Mitglied den »Punkt des Genug« erreicht. Wenn dieser Zustand
erreicht und gesichert ist, sind die Leute frei, ihren persönlichen Interessen
und Vergnügungen nachzugehen. Der Schamane kann sich dann in Trance
versetzen, der Töpfer noch mehr elegante Töpfe formen, der
Geschichtenerzähler denkt sich neue Geschichten aus, und die Eltern spielen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
224/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
mit ihren Kindern und bringen ihnen bei, wie man erfolgreich lebt.
Aber sind sie nicht bitterarm?
Weil die Menschen in den älteren Kulturen gewöhnlich zusammenarbeiten, um
so viel Nahrung, Obdach, Kleidung und Behaglichkeit zu schaffen, daß der
»Punkt des Genug« erreicht wird, und ihre Aufmerksamkeit dann anderen,
interessanteren Dingen zuwenden (etwa »Spaß haben« oder Spiritualität),
halten sie uns Mitglieder der jüngeren Kulturen für arm.
Ich erinnere mich daran, wie ich ein paar Tage mit einem indianischen Heiler
verbracht habe, von dem ich ein besonderes Ritual der amerikanischen
Ureinwohner lernte, das ich geheimzuhalten versprochen habe. Er lebte in
einem Wohnwagen in der Wüste, in einem Reservat, wo es nichts außer
Büschen, Kakteen und Staub gab. Seinem Auto, einem Chevy aus den
siebziger Jahren, fehlten mehrere Karosserieteile, und er bekam als
Bezahlung für seine Heilungszeremonien von den Einheimischen Nahrung,
Benzin, Kleidung und so ziemlich alles, was er sonst noch brauchte. Seine
Einnahmen an Bargeld betrugen wahrscheinlich weniger als 500 Dollar im
Jahr, und der Geldwert seiner sonstigen Einkünfte belief sich wahrscheinlich
auf weniger als 5000 Dollar. Nach allen Maßstäben der westlichen Kultur war
dieser Mann so arm, wie man in Amerika nur sein kann – es reichte gerade
zum Überleben. Und das galt genauso für die anderen 200 oder 300 Familien,
die im Umkreis von zwanzig Meilen lebten und zum selben Stamm gehörten:
Sie alle waren »arm«.
[334]
Und doch hatte der Heiler Dinge, die den meisten meiner Bekannten, die in
Atlanta in ihren 200 000-Dollar-Vorstadthäusern lebten, völlig fehlten.
Wenn er krank wurde, dann sorgte jemand für ihn. Wenn er Nahrung oder
Kleidung brauchte, dann bekam er sie. Wenn er Probleme hatte, dann war
jemand bei ihm. Wenn sein einziges Kind etwas brauchte, dann
materialisierte sich das stets irgendwie aus der örtlichen Gemeinschaft. Er
wußte, daß ihn im Alter jemand aufnehmen würde. Wenn er sein Heim verlor,
dann würden andere ihm helfen, ein neues zu bauen oder zu finden. Was ihm
auch immer zustieß, es war so, als würde es der gesamten Gemeinschaft
zustoßen.
Als wir einander näher kennenlernten und ich auch andere Bewohner seiner
kleinen »Stadt« traf, entdeckte ich, daß seine Reichtümer an Sicherheit und
Unterstützung von seinen Nachbarn nicht nur ihm als dem Heiler der
Gemeinschaft vorbehalten waren. Jeder Bewohner der »Stadt« kam in ihren
Genuß, von den Jungs, die als Schreiner Gelegenheitsarbeiten in der 112
Meilen entfernten Stadt der Weißen verrichteten, bis zu den Trunkenbolden
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
225/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
der Gemeinschaft. Jeder hatte diese Sicherheit von der Wiege bis zum Grab,
das Maximum dessen, wofür die Stammesmitglieder sorgen konnten.
[335]
Unsere Armut
Nach der Rückkehr von meiner ersten Reise nach New Mexico traf ich mich
zum Abendessen mit einem Freund, der als erfolgreicher Anwalt für eine
große Kanzlei in Atlanta arbeitete.
»Was passiert, wenn du deinen Job verlierst?« fragte ich ihn.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich würde wahrscheinlich einen anderen finden.«
»Und wenn die Situation auf dem Arbeitsmarkt schlecht wäre? Wenn es
beispielsweise eine Rezession oder eine große Wirtschaftskrise gäbe? Oder
wenn du deinen Job verlieren würdest, weil du einen wichtigen Fall in den
Sand gesetzt hättest?«
Er blickte sorgenvoll auf seinen Teller mit Spaghetti und starrte auf die
verworrenen Nudelfäden, als könne er seine Zukunft darin sehen. »Ich weiß
nicht«, sagte er leise. »Als erstes würde ich wahrscheinlich mein Haus
verlieren. Die Hypothekenzahlungen, Versicherungen und Steuern belaufen
sich auf mehr als zweitausend Dollar im Monat. Und das Auto kostet noch
einmal fünfhundert.«
»Und wenn du krank würdest?« fragte ich weiter. »Wenn du ernsthaft krank
würdest?«
Er blickte von seinem Teller auf. »Du meinst ohne die Krankenversicherung
von meinem Arbeitgeber?«
»Ja.«
»Ich würde sterben«, sagte er. »Ich habe einen Kollegen, der verbringt die
meiste Zeit damit, Versicherungsgesellschaften vor Gericht zu vertreten, die
alles daran setzen, für die Versicherten im Krankheitsfall nicht zahlen zu
müssen. Sie forsten dann die Versicherungsanträge durch, um zu sehen, ob
der Versicherte irgend etwas nicht angegeben hat, beispielsweise eine
Vorerkrankung oder die Tatsache, daß er von einer anderen
Versicherungsgesellschaft einmal abgelehnt worden ist. Wenn sie so etwas in
den Unterlagen finden, dann wird der Versicherte rausgeworfen. Ich weiß von
mehreren Fällen, in denen Leute gestorben sind, die durchaus noch heute
leben könnten, wenn sie das Geld für die medizinische Behandlung gehabt
hätten.«
[336]
»Und wenn du alt wirst?«
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
226/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
»Dann bekomme ich meine Betriebsrente.«
»Und wenn die Firma dich um deine Einlagen betrügen würde, oder wenn
alles in Aktien angelegt wäre, und es käme zu einem Börsenkrach?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich müßte auf der Straße leben oder bei meinen
Kindern in der Garage, vorausgesetzt, sie könnten es sich leisten, mich
aufzunehmen. Ich wäre jedenfalls übel dran.«
Mehr noch als seine Worte verrieten sein Tonfall und seine Augen, wie groß
seine Unsicherheit war. Wenn sein Arbeitgeber in Schwierigkeiten geriet, war
auch seine Existenz gefährdet. Er hing – so wie auch ich damals – am
seidenen Faden von Schulden und Arbeitseinkommen und der Hoffnung, daß
die Regierung es irgendwie schaffen würde, das finanzielle Kartenhaus des
Landes vor dem Einsturz zu bewahren, wie schon so oft während der letzten
Jahrhunderte.
»Wenn du einen Wunsch frei hättest«, fragte ich ihn, »was würdest du dir
wünschen?«
»Das ist einfach«, antwortete er lächelnd. »Mehr Zeit. Der Tag hat nicht genug
Stunden, und ich fühle mich wie in einer permanenten Tretmühle. Ich habe nie
genug Zeit für meine Kinder, meine Frau, unsere Familie und die Freunde
oder auch nur, um ein gutes Buch zu lesen. Drei Abende in der Woche bringe
ich mir Arbeit mit nach Hause, und ich weiß jetzt schon, wenn ich eines Tages
als Partner in die Kanzlei aufgenommen werde, dann muß ich das an fünf oder
vielleicht sogar an sieben Abenden in der Woche tun. Ich habe einfach
zuwenig Zeit.«
Inmitten seines Reichtums an materiellem Besitz – ein schönes Haus mit
eleganten Teppichen und Möbeln, ein neuer Mercedes, edle Anzüge – litt
mein Freund unter einer Armut, die typisch für die jüngeren Kulturen ist: einem
Mangel an Spiritualität, an Zeit, an Sicherheit und Unterstützung. Sein Leben
hatte kein sicheres Fundament und schien, abgesehen von dem Ziel, die
nächste Einkommensstufe und die damit verbundenen Annehmlichkeiten zu
erreichen, nur wenig Sinn zu haben.
[337]
Wie mein indianischer Mentor über mich sagte: »Junge, du meinst zwar, du
wärst reich, aber in Wirklichkeit bist du unvorstellbar arm.«
Wir müssen also als Kultur wieder herausfinden, wo der »Punkt des Genug«
liegt, sowohl materiell als auch spirituell. Wenn wir diesen Punkt finden,
werden wir unendlich viel reicher sein.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
227/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Respekt vor anderen Kulturen und
Gemeinschaften
[338]
Siehe, dir
gefällt Weisheit,
die im
Verborgenen liegt, und im Geheimen tust du
mir Weisheit k und.
Psalm 51, 8
Im
Zusammenhang mit den vielen »Regenbogen«-Bewegungen in den
Vereinigten Staaten und anderswo, die alle Menschen als »Teil unserer
Familie« bezeichnen, mögen die folgenden Ausführungen ketzerisch klingen,
aber das ist keineswegs beabsichtigt:
Im Stammesleben gelten kulturelle und rassische Unterschiede als absolut
vernünftig und natürlich.
Es gibt viele Stimmen, von den Führern der Black Muslims bis zu zahllosen
Stämmen amerikanischer Ureinwohner, die erklären: »Wir wollen uns gar
nicht in eure Kultur integrieren – wir wollen unsere eigene einzigartige Kultur.«
Die am weitesten verbreitete Reaktion auf solche Stimmen besteht darin, sie
als rassistisch oder elitär zu bezeichnen.
Aber ist es in irgendeiner Weise weniger rassistisch oder elitär, wenn eine
kulturelle Gruppe zu anderen sagt: »Gebt eure alte Lebensweise auf, eure
althergebrachten oder modernen Traditionen, eure einzigartige Sprache und
Religion, und schließt euch unserer Gesellschaft an«? In vieler Hinsicht ist der
Ruf nach »Integration« in modernen Gesellschaften nichts weiter als eine
freundliche Maske, welche sich die herrschende jüngere Kultur der Städte und
Staaten vor das verzerrte Gesicht hält, nachdem sie so viele Jahre so hart
daran gearbeitet hat, die eingeborenen Völker und ihre Traditionen in aller
Welt zu zerstören. Es ist eine Art zwangsweiser kultureller Bekehrung.
Viele Menschen sind sich dessen überhaupt nicht bewußt, weil es ein Teil der
heute herrschenden Geschichte ist – so sind die Dinge eben, und etwas
anderes kennen wir nicht. Aber achten Sie darauf, diese Haltung enthält die
unausgesprochene Botschaft: »Wir geben euch gerne die Möglichkeit, euch in
unsere Kultur zu integrieren, weil sie soviel besser ist als eure.«
[339]
Während kulturelle Vielfalt bei den herkömmlichen Städten und Staaten kein
Thema ist, war sie für das Überleben der Stämme stets wesentlich.
Jedes System wird durch den Verlust der Vielfalt verletzlicher. Wälder, die aus
nur einer einzigen Baumart bestehen, werden leicht ein Opfer von
Schädlingen. Monokulturen auf den Feldern reagieren überempfindlich auf
Temperatur- und Feuchtigkeitsveränderungen. Stromnetze, die nur aus einer
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
228/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
einzigen Quelle gespeist werden, sind besonders anfällig für Störungen oder
brechen zusammen, wenn das Kraftwerk ausfällt oder ein Unfall geschieht.
Ganz ähnlich ist die Situation auch in menschlichen Gesellschaften: Wir
müssen uns klarmachen, daß Stammesgesellschaften eine wichtige Rolle im
menschlichen Ökosystem spielen. Sie sind nicht nur dazu da, den
»zivilisierten« Einwohnern der Städte und Staaten zu zeigen, welche
Dschungelpflanzen vielleicht Krebs heilen können: Ihr Fortbestand ist
notwendig, um die kulturelle und genetische Vielfalt der Menschheit zu
bewahren.
Stammesgesellschaften haben kaum eine Möglichkeit, sich gegen das
räuberische Verhalten der Städte und Staaten und ihrer Wilderer zu wehren.
Sie werden weltweit gnadenlos ausgerottet, und jene, auf die heute keine
Kopfgelder mehr ausgesetzt und keine organisierten Jagden mehr
veranstaltet werden, müssen wie Viehherden in Reservaten leben, wo sie
westliche Nahrung, Kleidung und »Arbeitsmöglichkeiten« erhalten. Viele
verlieren ihr ursprüngliches Wissen, ihre Fertigkeiten und ihre Spiritualität im
Austausch gegen die modernen Glaubensbekenntnisse des Konsumdenkens,
des Fernsehens und der organisierten Religionen.
»Leben und leben lassen« ist ein Grundsatz, der in Stammesgesellschaften
gilt, nicht jedoch in Städten und Staaten. Verschieden Stämme haben
unterschiedliche Werte und Lebensweisen, wobei einige völlig anders sind als
unsere eigenen. Sie sehen anders aus, verhalten sich anders und sprechen
sogar anders. Sie praktizieren andere Religionen, essen andere Nahrung,
bauen andere Behausungen und Schlafplätze und tragen andere Kleidung.
[340]
Aus ihrer Sicht ist das eine gute Sache.
Aber aus der Sicht der Städte und Staaten ist die fortgesetzte regulierende
Einflußnahme der US-Regierung auf die religiöse Praxis der amerikanischen
Ureinwohner[87] ebenfalls eine gute Sache. Amerikanische Ureinwohner, die
sich am »amerikanischen« Wertesystem orientieren und von den Waren
abhängig sind, welche die Konzerne herstellen, denken an das Geld, das wir
ihnen für ihr Land und seine Bodenschätze anbieten können. Sie sind leicht zu
manipulieren und auszubeuten. Laß sie ein Kasino bauen, sagen die
Ausbeuter der amerikanischen Ureinwohner, und sie werden unsere Werte
übernehmen, sich in unsere Kultur einfügen und uns nicht mehr belästigen.
Diese Situation verspricht nichts Gutes für das Überleben der
Stammesgesellschaften. Die Geschichte des Bureau of Indian Affairs (BIA)
zeigt deutlich, daß diese Institution den Stämmen nicht hilft, ihre Identität und
Kultur zu bewahren, sondern vielmehr darauf hinarbeitet, sie in unsere Kultur
zu integrieren, damit wir sie als Arbeiter ausbeuten oder ihres Eigentums
berauben können. Selbst die scheinbar positiven BIA-Programme wie
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
229/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
indianische Schulen sind letztlich ein Beitrag zur kulturellen Zerstörung.
Eine Kernidee der Stammesgesellschaften ist der Respekt vor anderen
Stämmen. Das bedeutet nicht, daß man sie mögen oder sich ihnen
gegenüber unbedingt freundlich verhalten muß. Aber man respektiert ihre
Einzigartigkeit, ihre Traditionen und ihr Recht auf ihre jeweilige Lebensweise.
Und man versucht nicht, sie zur eigenen Lebensweise zu bekehren.
[341]
Wenn wir erkennen, daß es falsch ist, anderen unsere Produkte, unsere
Lebensweise oder sonst etwas aufzuzwingen, einfach weil es von Mangel an
Respekt vor ihrer Lebensweise zeugt, dann kann diese für jüngere Kulturen
typische Herrschaft des Menschen über andere Menschen beendet werden.
Oscar Wilde hat einmal erklärt: »Solange man Krieg als etwas Unerhörtes
betrachtet, wird er immer seine Faszination haben. Erst wenn man ihn als
vulgär ansieht, wird er nicht mehr populär sein.« Ähnlich gilt: Wenn wir
feststellen, daß die Art des ökonomischen und kulturellen Imperialismus, den
unsere Kultur im Namen des »freien Handels« und der »Modernisierung«
betreibt, vulgär ist und die Gesundheit der menschlichen Gemeinschaft
zerstört, werden wir vielleicht fähig sein, die fortgesetzte Ausbeutung und
Zerstörung der Ressourcen und der Menschen in der Dritten Welt zu beenden.
Die Grenze müßte schon dort gezogen werden, wo man nur daran denkt,
irgend jemandem irgend etwas aufzuzwingen. Andere Menschen haben das
Recht auf ihr Land und ihren eigenen Lebensstil, ganz gleich wie bizarr oder
abwegig er uns erscheinen mag. Und daraus folgt natürlich auch, daß wir das
Recht auf unseren Lebensstil haben, so seltsam er den anderen erscheinen
mag. Wenn jedoch der eine oder andere Lebensstil auf Herrschaft und
Eroberung basiert oder mit gewaltsamen Bekehrungsversuchen einhergeht,
dann ist das eine Grenzverletzung.
[342]
Respekt vor dem Sabbat für das Land und
vor den Erlaßjahren
Der Begriff »umweltverträgliches Wachstum« wird zur Zeit sehr gerne benutzt,
von Umweltgruppen ebenso wie von Konzernvertretern. Wachstum ist so lange
möglich, wie es etwas gibt, in das man hineinwachsen kann, und Ressourcen
vorhanden sind, die dieses Wachstum antreiben. Aber was geschieht, wenn
wir an die Grenzen des Wachstumsrahmens stoßen? Wie kann Wachstum
dann noch möglich sein?
In seinem Buch Wirtschaft jenseits von Wachstum untersucht der
Weltbankökonom Herman Daly diese Frage eingehend. Er erläutert, daß
»umweltverträgliches Wachstum« keine Option mehr ist, wenn Nationen oder
die Weltbevölkerung als Ganzes an einen Punkt gelangt sind, wo der größte
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
230/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Teil des Raumes, in den man hineinwachsen kann, ausgefüllt ist, und wenn die
Energiereserven oder andere natürliche Ressourcen knapp werden – an
diesem Punkt wird umweltverträgliches Leben entscheidend.
Während die meisten Zivilisationen von Städten und Staaten in der
Geschichte sich schließlich selbst zerstört haben, gibt es zumindest eine, von
der wir wissen, daß sie ein System des Ausgleichs entwickelt hat, das dazu
beitragen konnte, einige der dem Stadt- und Staatsmodell innewohnenden
strukturellen Probleme zu überwinden. Während niemand mehr die Götter der
Sumerer, Griechen oder Römer verehrt – ihre Zivilisationen sind
untergegangen –, wird der Gott der Hebräer immer noch auf die eine oder
andere Weise von den Angehörigen dreier großer Weltreligionen verehrt. Und
es waren die Hebräer, die alten Juden, die in ihr gesellschaftliches
Wertesystem bestimmte Formen des Ausgleichs eingebaut hatten.
Bei den Juden waren das der Sabbat und die Erlaßjahre. Die meisten Leute
kennen den Sabbat – den Tag der Ruhe. Aber im Alten Testament umfaßte
dieser Begriff sehr viel mehr. In jedem siebten Jahr gebührte auch dem Land
eine Ruhepause, und es durfte nichts angebaut werden. (Diese Praxis und
andere Teile des Ausgleichsystems werden von manchen Leuten in Israel
heute noch befolgt.) Auf diese Weise bekam der Boden eine Pause und
konnte seine Fruchtbarkeit wiedererlangen, so daß vor Tausenden von Jahren
die Grundlagen für eine »umweltverträgliche« Landwirtschaft hergestellt
wurden.
[343]
Ein weiteres strukturelles Problem von Städten und Staaten ist die
Ansammlung von Reichtum in den politisch und ökonomisch herrschenden
Klassen. Daly geht davon aus, daß, wenn das Verhältnis zwischen den
reichsten und den ärmsten Mitgliedern einer Gesellschaft irgendwo zwischen
10:1 und 20:1 liegt, diese Gesellschaft instabil wird. Das Verhältnis von 10:1
gilt beispielsweise in der amerikanischen Armee und im Verwaltungsdienst:
Der höchstbezahlte General verdient ungefähr zehn mal so viel wie ein kleiner
Verwaltungsangestellter. In den Universitäten sieht es ähnlich aus, auch wenn
das Verhältnis zwischen dem Universitätspräsidenten und dem am
schlechtesten bezahlten Pförtner hier oft an 20:1 herankommt. Nach den
amerikanischen Erfahrungen mit den Räuberbaronen, die vor und nach der
Jahrhundertwende unvorstellbare Reichtümer (und die damit einhergehende
politische Macht) angehäuft hatten, wurde unser Steuersystem so gestaltet,
daß derart große Einkommensdifferenzen gar nicht mehr aufkommen sollten.
Während der längsten Zeit dieses Jahrhunderts lagen die höchsten
Steuersätze in den Vereinigten Staaten um 90 Prozent. Das hat in vieler
Hinsicht sozial stabilisierend gewirkt, aber diese Stabilität ist in der ReaganÄra zusammengebrochen, denn seither sind die Reichen sehr viel reicher und
die Armen sehr viel ärmer geworden.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
231/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Die alten Hebräyer verfügten jedoch über ein System, mit dem sie in
regelmäßigen Abständen die soziale Stabilität wiederherstellen konnten, ohne
dabei auf eine Besteuerung zurückgreifen zu müssen (die oft nur zu einer
grenzenlosen Aufblähung des Regierungsapparates führt). Dieses System
bestand aus sogenannten Erlaßjahren, die jeweils nach einem Zyklus von
sieben mal sieben Jahren in Kraft traten. Alle fünfzig Jahre wurden sämtliche
Schulden erlassen, Sklaven erhielten ihre Freiheit zurück, und das Verhältnis
zwischen Arm und Reich wurde ausgeglichen. Was in den vorangegangenen
49 Jahren angesammelt worden war, wurde in der Gemeinschaft verteilt, und
das Ergebnis war die einzig stabile Stadt- und Staatsstruktur, die gleich nach
den Zeiten von Gilgamesch entstanden ist und bis heute überlebt hat.
[344]
Es gab auch noch andere levitische Systeme, die einen Hauch von
Stammesverhältnissen in den Stadt- und Staatsstrukturen der jüdischen
Nation bewahrten: Der König konnte keine extremen Reichtümer ansammeln,
die Gemeinschaft sorgte für die Witwen und Waisen, und Einnahmen konnte
man nur aus Arbeit, aber nicht aus Kapital erzielen – es war ungesetzlich,
Zinsen zu erheben.
Auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß irgendwelche dieser Regelungen in
absehbarer Zeit in unserer Welt oder in unserem Land eingeführt werden, so
sind dies doch faszinierende Denkanstöße für Leute, die sich für neue Formen
des Gemeinschaftslebens interessieren. Sie haben den Test der Zeit
bestanden und können sich auch als nützliche Ansätze erweisen, falls unsere
Gesellschaft eines Tages so weit zusammenbrechen sollte, daß grundlegende
strukturelle Neuordnungen erforderlich werden.
Der Reichtum alter Kulturen
In Stammesgesellschaften ist der Begriff des Reichtums – soweit wir wissen –
nahezu unbekannt. Gestern abend war ich bei einer Veranstaltung, auf der
Geoffrey O'Connors neuer Dokumentarfilm Amazon Journal vorgeführt wurde,
und ich hatte Gelegenheit, in einer Buchhandlung in Santa Monica mit ihm zu
sprechen. In dieser Dokumentation zeigt O'Connor, wie zahllose
brasilianische Regierungsvertreter, Goldgräber und andere ihre Invasion in die
Regenwälder der Kayapo-Indianer am Amazonas mit der Aussage
rechtfertigen, die Indianer seien »primitiv« und »arm«. Das ist eine
Denkweise, die im Grunde ausdrücken will, daß wir den Leuten helfen, wenn
wir ihnen ihr Gold und ihr Holz abnehmen und ihnen im Austausch dafür
Nahrung, Gewehre, Fernseher und andere Dinge geben, die sie brauchen, um
»modern« zu werden.
[345]
Weil unsere Gesellschaft auf der Ansammlung von Gütern basiert (und von
Geld, welches die Fähigkeit zum Kauf von Gütern repräsentiert), kommen wir
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
232/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
beim Anblick der an materiellen Gütern armen Kayapo leicht auf die Idee, sie
seien arme Menschen.
Doch ihre Stammes-Ökonomie hatte – zumindest vor der Ankunft des weißen
Mannes – eine andere Grundlage als unser Wirtschaftssystem. Reich war bei
ihnen nicht derjenige, der die meisten Dinge besaß oder die Grundlagen des
Überlebens wie Nahrungsmittel unter seiner Kontrolle hatte, sondern Reichtum
bezog sich auf die Fähigkeit des gesamten Stammes, sich als Ganzes zu
erhalten und dafür zu sorgen, daß jedes Stammesmitglied individuell die
Gelegenheit hatte, täglich die heilige Gegenwart des Schöpfers durch die
Schöpfung selbst zu erfahren. Jedes einzelne Stammesmitglied hatte die
Aufgabe, jedes andere Mitglied zu unterstützen. Statt Reichtum an materiellen
Dingen zu produzieren, schafft der Stamm für seine Mitglieder den Reichtum
der Sicherheit und Geborgenheit und ein Umfeld, in dem es möglich ist, mit
dem Heiligen in Berührung zu kommen.
Auf den ersten Blick sind Sicherheit und Geborgenheit für den amerikanischen
oder westeuropäischen Mittelklasse-Durchschnittsbürger vielleicht keine
große Sache, aber jene Hälfte der Weltbevölkerung, die mit einem Gegenwert
von weniger als zwei Dollar täglich zu überleben versucht, versteht sehr wohl,
was das bedeutet. Und sogar Mittelklasse-Amerikaner verstehen es
zumindest in ihrem Unterbewußtsein: Wir sehnen uns nach Sicherheit und
Geborgenheit. Denn wie Abraham Maslow, der Begründer der
humanistischen Psychologie, in den fünfziger Jahren hervorhob, sind
Sicherheit und Geborgenheit fundamentale menschliche Bedürfnisse. Sobald
sie befriedigt sind, werden die Leute automatisch danach streben, die
höchsten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, welche darin bestehen,
das Heilige zu erfahren; Maslow hat das Selbstverwirklichung genannt.
Maslow hat jedoch auch festgestellt, daß die meisten Menschen in unserer
modernen Welt sich ständig so unsicher fühlen, daß sie niemals zur
Selbstverwirklichung finden (oder auch nur danach streben können).
[346]
Das hängt damit zusammen, daß wir in unserer jüngeren Kultur Sicherheit und
Geborgenheit mit der Ansammlung von Reichtum in Form von materiellen
Dingen und Geld gleichsetzen. Doch selbst wenn jemand in diesem Sinne
reich ist, bedeutet das nicht zwangsläufig, daß er sich sicher fühlt; im Grunde
ist der unsichere Reiche fast schon ein Klischee. Und viele Angehörige der
Mittelklasse gehen jeden Abend mit der unterschwelligen Angst ins Bett, daß
ihr Arbeitgeber sie am nächsten Tag entlassen könnte, daß die Wirtschaft
vielleicht zusammenbricht oder ein Familienmitglied so krank werden könnte,
daß sie darüber erst ihre Ersparnisse verlieren und am Ende ihr Haus und
ihren gesamten Lebensstil aufgeben müssen. Bei dem Versuch, sich
Sicherheit zu verschaffen oder ihren Ängsten zu entkommen, opfern sie ihre
Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und werden statt dessen zu
Workaholics, Fernsehsüchtigen oder religiösen Fanatikern.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
233/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Aber für ein Mitglied der Kayapo (bevor sie Kontakt mit Weißen hatten) oder
einer anderen Stammesgesellschaft, die noch nicht der jüngeren Kultur zum
Opfer gefallen ist, gibt es den Begriff der Unsicherheit überhaupt nicht. Das
Stammesleben gewährleistet Sicherheit von der Wiege bis zum Grab. Das ist
der innerste Daseinsgrund des Stammes. Es ist einfach selbstverständlich,
daß jedes Mitglied so sicher und geborgen ist wie der ganze Stamm und daß
der Stamm täglich dafür arbeitet, daß alle seine Mitglieder sich sicher und
geborgen fühlen können: junge und alte Menschen, schwache und starke,
gesunde und kranke. Das ist die ursprüngliche Ware, der wesentliche
»Reichtum« der Menschen in älteren Kulturen: Sicherheit und Geborgenheit
während des gesamten Lebens.
[347]
Aber Sicherheit, Geborgenheit und das Umfeld, das sie für den täglichen
Kontakt mit dem Heiligen schaffen, sind unsichtbar. Wenn die Eroberer der
jüngeren Kulturen den Stammesvölkern der älteren Kulturen begegnen, dann
sehen sie unterschiedslos nur den Mangel an materiellen Gütern und
unterstellen deshalb, daß diese Menschen »arm« oder »primitiv« sind oder
»noch in der Steinzeit leben«. Tatsächlich jedoch sind die meisten älteren
Kulturen im Hinblick auf das, was wirklich wichtig ist, um spirituell, mental,
emotional und sogar körperlich gesunde Menschen hervorzubringen,
wesentlich reicher, als die Bürger der jüngeren Kulturen es sich überhaupt
vorstellen können.[88]
Dies ist also ein weiterer Weg, eine Gemeinschaft aufzubauen, die sich selbst
erhält und funktioniert: Die Hauptaufgabe der Gemeinschaft muß darin
bestehen, Sicherheit und Geborgenheit für alle ihre Mitglieder zu
gewährleisten und ein Umfeld zu schaffen, in dem jeder täglich mit dem
Heiligen in Berührung kommen kann.
Genau so, wie es die Stammeskulturen mehr als hunderttausend Jahre lang
getan haben …
[348]
Dem Krieg gegen das Leben
abschwören
In der Kunst des Lebens ist der Mensch wenig
erfindungsreich, aber in bezug auf den Tod
übertrifft er die Natur selbst und bringt mit
Hilfe von Chemie und Maschinen die
schwersten Seuchen, Pest und Hungersnot
hervor.
George Bernard Shaw (1856–1950)
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
234/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Unsere auf Herrschaft basierende Kultur ist in vieler Hinsicht ein Todeskult.
Unsere Führer und Meinungsmacher scheinen den Krieg zu lieben. Sie
benutzen diesen Ausdruck, um Aktionen zu beschreiben, die wir für gut halten,
beispielsweise »Krieg gegen die Armut«, »Kampf gegen das
Analphabetentum« oder »Krieg gegen Drogen«. Ironischerweise hat uns der
Krieg gegen die Insekten in den letzten vierzig Jahren faktisch eine Zunahme
der durch Insekten verursachten Ernteverluste beschert. Unser mit Antibiotika
geführter Krieg gegen Bakterien hat uns neue und enorm ansteckende Arten
von leicht übertragbaren, weitverbreiteten und mittlerweile tödlichen
Krankheitserregern beschert. Und selbstverständlich haben die Kriege unter
den Menschen zahllosen Generationen seit den Anfängen unserer
kriegerischen Zivilisationen vor siebentausend Jahren unbeschreiblich viele
Tote und entsetzliche Zerstörungen gebracht.
Meines Erachtens hatte Oscar Wilde absolut recht: Krieg ist vulgär. Die
ständige Glorifizierung des Tötens durch Nationalismus, Medien und die
herrschende Kultur im allgemeinen garantiert uns für die Zukunft nur noch mehr
Schmerzen und menschliches Leiden. Der Mythos des Kriegshelden ist im
Osten wie im Westen untrennbar mit der industriellen Kultur verbunden. Dieser
Mythos hat dafür gesorgt, daß Hitler die Unterstützung der deutschen
Bevölkerung für den Einmarsch in die Nachbarstaaten gewinnen konnte. Er
hat den japanischen Ministerpräsidenten Tojo Hideki in die Lage versetzt,
dasselbe bei seinem Krieg gegen China zu tun. Dieser kulturelle Mythos hat
sichergestellt, daß die »Pioniere«, die »den Westen erobert haben«, von den
Amerikanern (und anderen Nationen) in einem romantischen Licht gesehen
werden.
[349]
Gegen den Krieg kann man nicht kämpfen: Man kann nur erkennen, wie vulgär
er ist, und sich – wie die Schoschonen vor zehntausend Jahren – dafür
entscheiden, ihm den Rücken zu kehren.
Irgendwann im Laufe ihrer Entwicklung kam unsere Kultur auf die Idee, alles
auf diesem Planeten existiere nur für uns. Ungeachtet der Tatsache, daß im
Wald viele andere Lebewesen, von Säugetieren über Echsen bis zu Vögeln
und Insekten leben mögen: Weil die Welt für uns geschaffen wurde, können wir
diesen Wald roden und die Erde in Ackerland zum Anbau von Nahrung für die
Menschen verwandeln.
Diese Einstellung und der Kriegsmythos sind untrennbar miteinander
verbunden: Wenn Lebewesen irgendeiner anderen, nicht-menschlichen Art mit
unserer jüngeren Kultur um Nahrung oder den Raum zum Anbau von Nahrung
konkurrieren, dann löschen wir sie aus.
Auf der anderen Seite der menschlichen Kultur stehen Leute, die davon
ausgehen, daß andere Lebensformen dasselbe Anrecht auf die Erde haben
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
235/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wie wir Menschen. Die Kulturen dieser Völker entsprechen gewöhnlich den
zuvor erwähnten kooperativen Stammesgesellschaften, und so, wie sie mit
anderen Menschen kooperieren, arbeiten sie auch mit der Natur zusammen.
Zwar dürfen sie mit anderen Lebensformen um Nahrung konkurrieren (und tun
das auch), aber sie zerstören ihre Konkurrenten nicht. Wie Daniel Quinn es in
Ismael[89] so elegant ausdrückt, ist diese Vorstellung, daß »du konkurrieren,
aber deine Konkurrenten nicht zerstören darfst«, eins der grundlegenden
Naturgesetze. Von wenigen Ausnahmen abgesehen konkurrieren Tiere und
Pflanzen miteinander um Nahrung und Sonnenenergie, aber sie haben es
nicht darauf abgesehen, andere Arten im Rahmen dieses Wettbewerbs
auszulöschen.
[350]
Diese Idee des Wettbewerbs – als Alternative zu Krieg und Völkermord – ist
etwas, das wir dringend in unsere kulturellen Vorstellungen einbeziehen
müssen. Diese Entwicklung beginnt mit einer kritischen Masse von Menschen,
welche die Bedeutung dieser Idee erkennen und verstehen und mit anderen
darüber sprechen. Während wir erkennen und miteinander reden und
verändern, beginnen wir, die Menschheit und die Welt zu verändern.
Wir können damit im Kleinen beginnen – beispielsweise indem wir unseren
Garten ökologisch bewirtschaften und dabei mit Insekten und dem Unkraut um
unsere Nahrung konkurrieren, ohne diese anderen Lebensformen auszurotten.
In größeren Zusammenhängen können wir dasselbe Prinzip auf der
ökonomischen Ebene praktizieren, indem wir möglichst bei Geschäften am
Ort kaufen und so zum Aufbau einer lokalen Gemeinschaft beitragen.
Ich war bei einer Rede, die Bill McKibben am Milbrook College in Vermont
hielt. Er hat den Studienanfängern dort erklärt, wie er sich für das Überleben
kleiner Fachgeschäfte einsetzt: Wenn ein Geschäft mehrere Filialen hat, dann
kauft er dort nicht ein.
Welch eine elegante Form des Verzichts auf den ökonomischen
»Konkurrenzkampf«, der so viele kleine Familienunternehmen und regionale
Wirtschaftszweige überall in der Welt zerstört hat! Soweit mir das möglich ist,
folge ich seinem Beispiel, und ich empfehle Ihnen, ebenfalls darüber
nachzudenken.
Und auf der höchsten Ebene können wir mit dazu beitragen, kooperative
Wirtschaftsunternehmen und Gemeinden zu schaffen, die nach diesem Prinzip
arbeiten, den Regierenden diese Vorstellungen näherzubringen und die Idee
durch Wort und Schrift zu verbreiten.
[351]
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
236/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Sehen Sie in das Gesicht G-ttes
Wenn wir alles ausgeschöpft haben, was
Wirtschaft, Politik , Geselligk eit und so weiter
uns bieten k önnen – und wenn wir dann
festgestellt haben, daß nichts davon uns
letztlich befriedigt oder von Dauer ist – was
bleibt? Die Natur bleibt.
Walt Whitman (1819–1892)
Eine der obersten Regeln im Stammesleben lautet, daß die Menschen von
ihrer Umwelt abhängig sind. Als die Städte und Staaten geschaffen wurden,
half uns die von Menschen gestaltete Umwelt der Häuser und Straßen, unsere
heilige Verbindung mit der Erde und allen lebenden Geschöpfen zu
vergessen. Wir hatten die Vorstellung, unser Lebensunterhalt komme aus der
künstlichen Umgebung der Stadt, und so verlagerten wir unsere Gottesdienste
aus der Kathedrale der Natur in Gebäude, die von Menschenhand errichtet
worden waren. Schließlich wurde unser Mangel an spiritueller Verbindung zur
Natur so eklatant, daß die jüngeren Kulturen zu der Ansicht gelangten, die
natürliche Welt sei böse oder »heidnisch«. Jahrhundertelang wurden
Menschen, die das Göttliche draußen in der Natur verehrten, von Juden,
Christen, Moslems, Hindus und anderen Vertretern jüngerer Kulturen und ihrer
Religionen erbarmungslos gejagt und getötet.
Die Folgen der Umweltzerstörung veranlassen uns, der so lange
vernachlässigten und als Feind unterdrückten Natur ins Gesicht zu sehen. Es
wird Zeit, daß wir anderen Lebensformen das gleiche Lebensrecht auf diesem
Planeten zuerkennen. Sie sind in der Geschichte der Erde unsere älteren
Schwestern und Brüder; sie sind unauflöslich mit uns verbunden und unsere
Lebensquelle.
Mein Mentor Gottfried Müller fragte mich einmal: »Thomas, willst du wissen,
wie man G-tt in die Augen sieht?«
[352]
»Natürlich«, antwortete ich.
»Dann schau in die Augen irgendeines anderen Lebewesens«, sagte er.
»Dort in den Augen einer Katze oder eines Hundes, einer Fliege oder eines
Fisches, eines Freundes oder eines Feindes siehst du in die Augen G-ttes.«
Bei einer anderen Gelegenheit erzählte er mir: »Mein Lehrer Abram Poljak
sagte oft, wenn du einen Grashalm segnest, dann wird dich das gesamte Gras
segnen, wenn du einen Baum segnest, dann werden dich alle Bäume segnen.
Aber sie zu segnen bedeutet auch, ihnen zu danken, sie zu respektieren und
zu lieben; es reicht nicht, nur zu sagen: ›Sei gesegnet.‹«
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
237/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Nicht nur die Menschheit hat das angeborene Recht auf ihre einzigartige
Existenz, gewährt von dem Naturgesetz, daß Vielfalt alles Leben stärkt:
Dieses Recht gilt genauso für jedes andere Lebewesen auf Erden. Wenn
Holzfäller beispielsweise die Bäume als heilige Lebewesen betrachten
würden, dann wären umfangreiche Rodungen und die Zerstörung nicht
erneuerbarer alter Wälder nicht etwa eine »unangenehme Notwendigkeit«,
sondern eine blasphemische Obszönität.
Während der ersten 194 000 der 200 000 Jahre währenden
Menschheitsgeschichte haben die Menschen die Welt und ihre lebendigen
Geschöpfe als heilige Wesen betrachtet, die beseelt waren oder einen Geist
hatten. Jemand, der dieser Welt ständig Schaden zufügte, galt als
geisteskrank und wurde aus dem Stamm ausgeschlossen. Die
Stammesmitglieder erkannten, daß dieser Mensch die Welt seiner
Kindeskinder zerstörte, und so etwas war völlig undenkbar und verrückt.
Die alten Völker hatten verstanden: Wenn du deine Mutter (Erde) trittst, dann
tritt sie zurück. Sie legt sich nicht auf den Rücken und ergibt sich in ihren Tod.
Hält die Welt menschliches Leben für wichtiger als einen Baum oder einen
Fuchs? Sind dem Wald Menschen »lieber« als Rehwild? Gedeiht der Ozean
als Folge unserer Gegenwart? Ist der Planet gesünder geworden, weil wir ihn
in den letzten siebentausend Jahren seit dem Aufkommen der Städte und
Staaten bewohnt haben?
[353]
Nur die Arroganz der auf Herrschaft basierenden jüngeren Kultur der Städte
und Staaten konnte die Idee hervorbringen, daß alles auf diesem Planeten und
in der Geschichte dieses Universums sich nur um die eigene Lebenszeit dreht
und nicht darüber hinausreicht. Hier begegnet uns aufs neue die Doktrin des
»Manifest Destiny«: Weil wir stehlen, töten und erobern konnten, stand
irgendein Gott auf unserer Seite und hatte in der Tat schon vorher
beschlossen, daß es so sein sollte. Wir müssen uns statt dessen wieder mit
der Vorstellung unserer fernen Vorfahren vertraut machen, daß alles Leben
heilig ist.
Sie können über diese Vorstellung mit anderen Menschen sprechen. Erzählen
Sie ihnen davon: Sagen Sie einem Freund oder einer Freundin, wenn er oder
sie in die Augen eines anderen Lebewesens schaue, dann schaue er/sie in
die Augen des Schöpfers. Welch eine erstaunliche – und mächtige –
Vorstellung. Die andere Person kann durch diese Erfahrung verändert werden
und dann wieder selbst mit anderen Menschen darüber sprechen. Und so
beginnen wir, die Welt zu verändern.
Für manche Leute reicht es nicht aus, das Göttliche oder die Möglichkeit der
Gegenwart G-ttes im täglichen Leben zu sehen: Sie müssen es verstehen. Ich
weiß – aus meiner persönlichen Erfahrung –, daß ein intellektuell orientierter
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
238/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Mensch in dem Moment verwandelt ist, wo er versteht, daß das Weltbild der
älteren Kulturen wissenschaftlich mehr Gültigkeit besitzt als unseres. Diese
Verwandlung beginnt, wenn wir verstehen, »wie die Dinge funktionieren«. Aus
diesem Verständnis heraus wird unsere Vorstellung, daß die gesamte
Schöpfung ein Teil von uns ist und wir ein Teil der Schöpfung sind – und daß
deshalb alles heilig ist und einen Wert hat –, zur Gewißheit werden.
[354]
Technologie anders nutzen
Wir k önnen unsere DNS nicht betrügen. Wir
k önnen die Photosynthese nicht umgehen.
Wir k önnen nicht sagen: »Das Phytoplank ton
interessiert mich einen Dreck .« All diese
winzigen
Mechanismen
bilden
die
Voraussetzungen für das Leben auf unserem
Planeten. Zu sagen, daß wir uns nichts daraus
machen, bedeutet buchstäblich, daß »wir den
Tod wählen«.
Barbara Ward (1914–1981), Who Speak s for Earth?
In den
ersten Kapiteln dieses Buches habe ich dargestellt, wie unser
Lebensstil und die gesamte weltweite moderne Zivilisation nur möglich ist,
weil wir sehr rasch eine 300 Millionen Jahre alte, nicht erneuerbare Ressource
verbrauchen: gespeichertes Sonnenlicht, vor allem in Form von Öl, aber auch
als Kohle und Gas. Ich habe auch Zahlen zitiert, die nahelegen, daß diese
Vorräte – bei gleichbleibendem Verbrauch – noch während der Lebenszeit
unserer Kinder zur Neige gehen werden.
Doch die Art und Weise, wie das wahrscheinlich geschehen wird, ist nicht so
simpel. Wir werden nicht etwa eines Tages aufwachen und uns in einer Welt
mit leeren Tanksäulen und am Boden stehenden Flugzeugen wiederfinden.
Vielmehr wird es so sein, daß der Ölpreis bei zunehmender Verknappung
steigt. Dieser Ölpreisanstieg wird sich auf die Preise aller Produkte
auswirken, die aus Öl hergestellt werden – von Kunststoffen über die
verschiedensten Gegenstände des täglichen Gebrauchs bis zur Nahrung, die
wir essen, und die mit Hilfe von dieselbetriebenen Landmaschinen hergestellt
und mit dieselbetriebenen Lastwagen und Zügen transportiert wird. Das wird
genauso wie während der Ölkrise in den siebziger Jahren, als die Ölpreise
vorübergehend in die Höhe schossen, zu einer Wirtschaftskrise führen, die
Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinanderklaffen lassen und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[355]
239/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
das Sozialgefüge in allen Ländern der Welt belasten. Es ist keineswegs
unwahrscheinlich, daß wir dabei Zustände wie während der großen
Weltwirtschaftskrise erleben werden, und wenn man bedenkt, daß auf der Welt
heute dreimal so viele Menschen wie in den dreißiger Jahren leben, dann
könnte die Situation sogar weitaus schlimmer als damals werden. Einige
Zukunftsforscher prognostizieren »Öl-Kriege« und globale Konflikte um das
Eigentum an Energiequellen.
Ganz gleich, wie die Entwicklung bei einer Ölverknappung im einzelnen
verlaufen mag, so viel steht fest: Die Menschen werden gezwungen sein, ihren
Ölverbrauch zu reduzieren. Aus diesem Grund ist die Vorhersage, daß wir in
vierzig Jahren kein Öl mehr haben werden, unrealistisch. Statt dessen werden
in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten, wenn die Ölquellen weltweit
auszutrocknen beginnen oder die Ölförderländer beschließen, ihre letzten
Reserven zu horten, steigende Ölpreise die Verbraucher und die Nationen zu
einem sparsameren Umgang mit dem Öl zwingen.
Das Öl nutzen, um kein Öl mehr zu
verbrauchen
Solange wir dazu noch Gelegenheit haben, sollten wir deshalb die
vorhandenen Energiequellen einsetzen, um erneuerbare Alternativen zu
entwickeln. Gegenwärtig setzen Wirtschaft und Politik auf das Öl. Aber wir
verwenden es im Sinne eines »Einwegartikels« – wir verbrennen es, und das
wars. Der Energieträger ist verschwunden und kann keinen weiteren Nutzen
stiften.
Das ist genau die Art von Fehler, die Dwight D. Eisenhower meinte, als er
sagte, der Bau von Kriegswaffen sei Diebstahl an unseren Kindern: Er bezog
sich darauf, daß Militärausgaben ebenfalls für »Einwegartikel« verwendet
werden. Wenn die Regierung Steuergelder einsetzt, um eine Gewehrkugel
(oder einen Panzer oder eine Rakete) herzustellen, dann führt diese Ausgabe
zu einer kurzfristigen Anregung der Wirtschaft.
[356]
Irgend jemand wird eingestellt, um die Kugel herzustellen, irgend jemand
anders hat das Blei gefördert und geschmolzen und so weiter. Es kommt zu
einem kurzfristigen Wirtschaftsaufschwung, weil Arbeitsplätze geschaffen und
Material gefördert, veredelt und von der Industrie verarbeitet wird. Wir haben
diese kurzfristigen ökonomischen Effekte von Militärausgaben während des
Zweiten Weltkriegs beobachtet, während des Korea-Kriegs, des
Vietnamkriegs und in der Zeit, als die Reagan-Regierung Milliarden und
Abermilliarden in den »Krieg der Sterne« investierte.
Das Problem dabei ist jedoch folgendes: Wenn das Geld einmal ausgegeben
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
240/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
und die betreffende Arbeit beendet ist, laufen wir vor eine Wand. Das einzige,
wozu man militärische Ausrüstungen benutzen kann (ökonomisch, nicht
politisch), ist ihre eigene Zerstörung. Wenn eine Kugel abgefeuert ist, dann ist
sie weg. Das Pulver, das dabei verbrannt wurde, und das Blei, das nun im
Körper eines Menschen steckt, kann nicht mehr produktiv genutzt werden.
Wenn ein Panzer oder ein Bomber oder eine Rakete eingesetzt worden sind,
produzieren sie keinen gesamtwirtschaftlichen Zusatzgewinn. (Natürlich gibt
es ökonomische Sekundäreffekte, wenn die Arbeiter, die die Bombe gebaut
haben, ihren Lohn ausgeben, aber diese sind geringfügig im Vergleich zu
jenen Effekten, die entstehen würden, wenn die Bombe selbst »produktiv«
wäre.)
Würde man jedoch dasselbe Geld und dieselben Ressourcen einsetzen, um
einen Lastwagen für den zivilen Gebrauch herzustellen, dann nähme dieser
Lastwagen während der Jahre, in denen er benutzt werden kann, am
Wirtschaftsleben teil, würde den Handel fördern und jeden Tag einen
wertvollen ökonomischen Beitrag leisten.
Der Bau eines Bombers bedeutet, Geld für einen »Einwegartikel«
auszugeben, so als würde man dieses Geld in einem Loch vergraben. Der
Bau eines zivilen Flugzeugs schafft dagegen ein Wirtschaftsgut, das mehrere
Jahrzehnte lang Arbeitsplätze und Transportmöglichkeiten für Tausende von
Menschen gewährt.
[357]
Besonders wichtig sind solche Produkte, die beim Gebrauch gegenwärtiges
Sonnenlicht einfangen und in eine Energieart verwandeln können, durch die
sich fossile Brennstoffe ersetzen lassen. Solche Produkte haben ein dauerhaft
nützliches und produktives Leben, und sie können zugleich unseren künftigen
Verbrauch an fossilen Brennstoffen reduzieren.
So gesehen könnte man sagen, daß wir damit Kapital auf unser Energiekonto
einzahlen, statt ihm einfach Energie zu entziehen. Solarkollektoren,
Windenergiesysteme, Wasserkraftwerke und Systeme zur Produktion und
Speicherung von Wasserstoff: All das sind Möglichkeiten, wie wir unseren
gegenwärtigen Ölverbrauch mehr als Investition in die Zukunft nutzen können.
Wenn wir als Gesellschaft beginnen, unsere Reserven an fossilen
Brennstoffen klug einzusetzen, um unseren zukünftigen Bedarf an fossilen
Brennstoffen zur Produktion von Wärme und Elektrizität zu reduzieren, dann
können die Folgen der Ölverknappung abgemildert werden. Gleichzeitig
würden wir unseren Ölverbrauch in dem Maße verringern, wie diese
alternativen Energiesysteme ans Netz gehen.
Letztlich muß sich diese Entwicklung landesweit und weltweit vollziehen, doch
sie beginnt schon jetzt im Kleinen, wenn einzelne Familien oder ländliche
Gemeinschaften überall in der Welt diesen Weg einschlagen.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
241/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Hier in Vermont ist Elektrizität ziemlich billig; die Kilowattstunde kostet
ungefähr neun Cent – das heißt, für diesen Preis kann man im Haus zehn
Glühbirnen mit einer Leistung von jeweils 100 Watt eine Stunde brennen
lassen. Aber so kann es nicht mehr lange weitergehen.
[358]
Energieversorgung abseits der großen
Netze
Es gibt in den Vereinigten Staaten einen wachsenden Trend hin zu eigenen
Generatoren. Den Anfang machten vor einigen Jahrzehnten vor allem
Menschen, die in ziemlich abgelegenen Gegenden lebten, wo es gar nicht
möglich oder zu teuer war, sich mit Strom aus dem lokalen Netz zu versorgen.
In den letzten zwanzig Jahren sind nun effiziente und preiswerte Wind-,
Wasser- und Solargeneratoren auf den Markt gekommen, die sich auch für
Individualhaushalte eignen, und von dieser Möglichkeit machen nun immer
mehr Leute Gebrauch, die ihre Unabhängigkeit zu schätzen wissen, sich über
Zuverlässigkeit oder die Kosten der zukünftigen Elektrizitätsversorgung
Gedanken machen oder Bedenken im Hinblick auf die ökologischen
Auswirkungen der großen Elektrizitätskonzerne haben.
Für die meisten Menschen der industrialisierten Welt, die in Vorstädten oder
ländlichen Gegenden leben, ist es technologisch jetzt möglich, sich zu Hause
mit Strom aus eigenen Generatoren zu versorgen. Die japanische Firma
Sanyo stellt Solargeneratoren in Form von Dachabdeckungen und
Fensterscheiben her, und in vielen Teilen der Welt können auf dem Dach oder
im Garten angebrachte Windgeneratoren das Haus mit Strom versorgen. Die
Kosten für Solarstrom sind von über dreißig Dollar pro Kilowattstunde im
Jahre 1975 auf weniger als 30 Cent pro Kilowattstunde im Jahre 1996
gefallen, eine Preissenkung um das Hundertfache, wobei man annimmt, daß
der heutige Preis in den nächsten fünf Jahren noch einmal um das Zehnfache
sinken wird. Auch Batterien zum Speichern der Energie und Konverter werden
immer billiger, und Wasserstoffzellen (die gegenwärtig nur von Astronauten
benutzt werden)
sind
eine
vielversprechende
Entwicklung
zur
Energiespeicherung, da Wasserstoff leicht erzeugt werden kann, indem man
elektrischen Strom durch Wasser leitet.
Zur Not könnten auch viele Haushalte ihre eigene Nahrung anbauen.
Viertausend Quadratmeter gutes Ackerland reichen aus, um 45 000 Pfund
Tomaten oder etwa 36 000 Pfund Kartoffeln pro Jahr zu erzeugen. In vielen
Teilen der Welt (besonders in den Kleinstädten vieler europäischer Nationen)
ist es Mode, in einer Ecke des Gartens Gemüse anzubauen, welches dann oft
einen beachtlichen Teil des Nahrungsbedarfs der Familie deckt. Viele
Amerikaner können sich noch daran erinnern, daß das während der
Weltwirtschaftskrise und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs auch
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[359]
242/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
hierzulande üblich war (diese Gemüsegärten wurden als »Gärten des Sieges«
bezeichnet).
Inzwischen sind auch verschiedene Wasseraufbereitungssysteme entwickelt
worden, die über handbetriebene Umkehrosmosefilter verfügen und fast
überall eingesetzt werden können, um Regenwasser und Grundwasser zu
entgiften.
Die Idee, sich »vom Netz abzukoppeln«, ist vor allem in ländlichen Gegenden
und bei Menschen beliebt, die eine negative Einstellung zur Regierung haben.
Insofern wird dieser Lebensstil bisher nur von einer kleinen Minderheit
praktiziert. Doch könnte die dezentrale Versorgung mit Energie, Nahrung und
Wasser durchaus eine Schlüsselrolle dabei spielen, wie wir die kommende
Zeit der Ölverknappung überstehen, ohne im Chaos zu versinken.
Die Aussichten sind vielversprechend, denn 1990 hat eine Untersuchung der
amerikanischen Regierung ergeben, daß erneuerbare Energiequellen (Sonne,
Wind, Wasser, Biomasse) mehr als 70 Prozent des nationalen
Energiebedarfs decken könnten. Allein in Kalifornien produzieren jetzt schon
über 15 000 Windgeneratoren genug Elektrizität, um theoretisch die Stadt
San Francisco mit Licht zu versorgen.
Die Regierung subventioniert jedoch überwiegend die großen Stromerzeuger,
die Energie aus Öl und Kohle gewinnen; sie erhalten genügend öffentliche
Mittel, um die Gesetzgebung zu beeinflussen. Aus Sorge darüber, daß
zukünftige Generationen von schwindenden Ölvorräten abhängig sein könnten,
hat Jimmy Carter Subventionen für kleine Energieerzeuger eingeführt, die
einem neuen Industriezweig zum Durchbruch verhalfen, dann jedoch unter dem
Druck der großen Ölkonzerne als eine der ersten Amtshandlungen von Ronald
Reagan wieder abgeschafft wurden, so daß die junge Solarindustrie eines
plötzlichen Todes starb. Mittlerweile sind kleine Restbestände jener Industrie
unter großen Mühen wieder zum Leben erwacht, und es gibt immer mehr
Leute, die im kleinen Rahmen mit Solar-, Wind- oder Wasserkraft
experimentieren.
[360]
Auch wenn die großangelegte Zentralisierung ökonomisch zweckmäßig
erscheint, ist sie es letzten Endes nicht. Zentralisierte, hierarchische
Strukturen sind durch ihren Aufbau immer weniger stabil als kleine, dezentrale
Basisorganisationen. Von monolithischen Systemen profitieren vor allem
diejenigen, die sie kontrollieren, aber den Konsumenten bieten sie letzten
Endes nichts als fortdauernde Abhängigkeit.
In einer Geschichte, die daran erinnert, wie amerikanische Konzerne
heutzutage den Ländern der Dritten Welt ihre Ressourcen wegnehmen, um sie
ihnen dann als fertig verarbeitete Waren wieder zu verkaufen (und dabei die
Landwirtschaft unter ihre Kontrolle bringen, indem sie den bäuerlichen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
243/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Familienbetrieben ihre Existenzgrundlage entziehen), benutzte Mahatma
Gandhi das Bild eines einfachen Spinnrades, eines handgearbeiteten
Werkzeugs, mit dessen Hilfe man aus Wolle oder Baumwolle Fäden herstellen
kann, als Symbol seiner nationalen Bewegung gegen die Briten. Damals
hatten die Briten angeordnet, daß alle Tuchmanufakturen in Indien ihre Arbeit
einstellen mußten, während sie billige indische Baumwolle nach England
verschifften, wo britische Arbeiter daraus Kleidungsstücke herstellten. Auf
diese Weise wurden Arbeitsplätze für die englischen Bürger geschaffen –
eine populäre Maßnahme in den ländlichen Regionen Englands,
hochprofitabel für die Eigentümer der betreffenden Fabriken und politisch
vorteilhaft für die britische Regierung –, aber es verschärfte die Armut in
Indien, wo die Bevölkerung nun gezwungen war, hohe Preise für die aus
England importierte Kleidung zu zahlen, die man noch wenige Jahre zuvor
selbst kostengünstig hergestellt hatte.
[361]
Gandhi hielt eine Rückkehr zu kleinen, lokalen Wirtschaftseinheiten für besser
als zentralisierte Strukturen und schlug vor, daß die Familien oder im
äußersten Fall die Dörfer ihre eigene Baumwolle anbauen, verspinnen und zu
Kleidungsstücken für sich selbst verarbeiten sollten. Er ging seinerseits mit
gutem Beispiel voran und stellte seine eigenen schlichten Kleidungsstücke in
Handarbeit her, und schon bald war das Symbol des Spinnrades ein
mächtiges Emblem des Wandels in ganz Indien und zugleich das inoffizielle
Logo seiner Unabhängigkeitsbewegung.
Gandhi wußte nur zu gut, daß Menschen freier und unabhängiger sind, wenn
sie ihre eigene Nahrung anbauen und sich selbst mit Wärme und Licht
versorgen können. Und noch wichtiger ist, daß sie in der Regel effizienter mit
diesen Ressourcen umgehen, weil sie so vertraut damit und ihren Quellen so
nah sind. Wenn sie ihr eigenes Licht sehen, ihre eigene Nahrung essen und
ihre eigene Wärme spüren, dann kennen sie meist sehr genau die Bedeutung
dieser lebenswichtigen Grundlagen ihrer Existenz, und eben dieses Wissen
fehlt vielen Leuten, die »am Netz« leben. Aus diesem Wissen heraus geht
man sparsamer mit den Ressourcen um, die man mit soviel Mühe und Sorgfalt
aus seiner eigenen, direkten Umgebung gewonnen hat.
Energie sparen
Als wir im Mai 1997 nach Vermont zogen, entdeckten wir schon bald einen
der einzigartigen Aspekte des Landlebens an einem Berghang:
Stromausfälle.
In unserem ersten Monat hier waren wir drei Tage ohne Strom. Die
Einheimischen sagten uns, normalerweise sei es nicht so schlimm – das
Wetter war ungewöhnlich schlecht gewesen –, aber ungeachtet dessen lernten
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[362]
244/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wir schnell, wie man ein Notaggregat benutzt, das Haus mit Kerzen und
Öllampen beleuchtet und welchen Wert batteriebetriebene Radios und
Computer haben.
Ich habe bei dieser Gelegenheit gelernt, wie verschwenderisch ich eigentlich
mit Elektrizität umgehe – und wie relativ einfach es ist, Energie zu sparen. Und
wenn wir Energie sparen, brauchen wir weniger Energie zu erzeugen.
Dadurch wird es noch einfacher, sich vom Netz unabhängig zu machen.
Denken Sie beispielsweise an die Raumbeleuchtung: Erst seit etwa hundert
Jahren haben wir die Vorstellung, daß der gesamte Raum beleuchtet sein
muß, wenn man sich darin aufhält. Vorher gab es immer nur eine
»Teilbeleuchtung«: eine Leselampe, in der Walfett oder Pflanzenöl verbrannt
wurde, oder Kerzen aus Bienenwachs, um die man herumsaß und sich
unterhielt. Auf diese Weise wurde nur sehr wenig Energie verbraucht –
höchstens die Menge, die einer Glühbirne von zehn oder 20 Watt entspricht.
Viele Leute stellen auch fest, daß es sehr befriedigend ist, effizient mit
Energie umzugehen. Man kann mit dem Rad statt mit dem Auto fahren; man
kann Verpackungen aufheben und wiederverwenden, Essensreste auf den
Kompost geben, gebrauchte Kleidung kaufen oder alte Stücke reparieren; je
besser man ein Haus isoliert, desto weniger Brennstoff braucht man, und
wenn man sein Auto gut pflegt, läuft es auch nach 200 000 Meilen noch
hervorragend.
Ein genügsames Leben vermittelt einem das Gefühl von Fähigkeit und
Unabhängigkeit. In den letzten Jahren haben sogar Verbraucher- und
Frauenmagazine Sparsamkeit als modernen Lebensstil angepriesen.
Gleichwohl haben viele Menschen eine nörgelnde Stimme im Hinterkopf,
vielleicht ein Echo der Reagan-Jahre, daß freiwilliger Verzicht auf Konsum,
Wachstum, Wettbewerb, materielle Güter und Herrschaft irgendwie das
Eingeständnis des eigenen Versagens bedeutet. Könnte das zutreffen? Im
Gegenteil, es ist ein Akt der Selbsterhaltung und kennzeichnet ein höchst
erfolgreiches Verhalten.
[363]
Schalten Sie den Fernseher ab
Wenn wir etwas schnüffeln oder schluck en
k önnten, das für fünf oder sechs Stunden am
Tag unsere individuelle Einsamk eit aufheben,
uns mit unseren Mitmenschen in glühender
Zuneigung verbinden und dafür sorgen würde,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
245/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
daß uns das Leben in all seinen Aspek ten
nicht nur lebenswert erscheint, sondern von
göttlicher Schönheit und Bedeutung, und wenn
diese himmlische, weltverändernde Droge uns
am nächsten Morgen mit einem k laren Kopf
aufwachen ließe und unsere Gesundheit nicht
zerstören würde, dann, so scheint mir, wären
all unsere Probleme (und nicht nur das eine
k leine Problem, ein neues Vergnügen zu
entdeck en) vollständig gelöst, und die Erde
würde ein Paradies werden.
Aldoux Huxley (1894–1963)
Irgend etwas hat die soziale Entwicklung unserer Gesellschaft ins Stocken
gebracht und dazu geführt, daß die meisten Leute – in fast allen modernen
Zivilisationen – in einem jugendlich unreifen Bewußtseinszustand verharren.
Das scheint eine Hauptursache dafür zu sein, warum die Menschen von heute
fähig sind, ihre Umwelt im Interesse kurzfristiger Gewinne zu ruinieren, obwohl
die meisten wissen, daß sie ihre eigene und die Zukunft ihrer Kinder
zerstören. Es ist eine Frage der inneren Verbindung zum Leben und der
Reife.
Durch mein Zusammensein mit amerikanischen Ureinwohnern und
Stammesvölkern in anderen Teilen der Welt habe ich Menschen
kennengelernt, die ein Leben führen, das täglich und ständig sinnvoll ist. Das
war eine außerordentliche Erkenntnis, ein echter Schock für mich, denn ich
war in einer Kultur aufgewachsen, die mir von frühester Kindheit an erzählt
hatte, unsere Lebensweise sei die beste, die freieste und die glücklichste.
Meine Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen haben mich davon
überzeugt, daß unsere spirituelle Bindungslosigkeit anfing, als unsere jüngere
Kultur die Verbindung zur Natur verloren hat. (Eine Metapher dafür ist die
Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden.) Als wir beschlossen,
die Menschheit vom Rest der Schöpfung abzuspalten, schufen wir ein tiefes
und grundlegendes Schisma. Als wir beschlossen, die Welt existiere nur für
uns, von uns getrennt, und es sei unsere heilige Pflicht, sie zu beherrschen und
zu unterwerfen, verloren wir die Verbindung zu genau der Kraft und dem Geist,
denen wir unser Leben verdanken.
[364]
Und so sehen wir heute Menschen, die den Kontakt zu ihrer Spiritualität
verloren haben, die in Kisten leben und in Kisten umherfahren, vielleicht einmal
im Jahr »in die Natur« hinausgehen, um eine Andeutung dessen zu erleben,
was einst die tägliche Erfahrung der Menschen war. Diese Leute versuchen zu
fliehen. Sie sitzen in ihren Wohnungen und Häusern in den Städten und
Vorstädten und fühlen sich elend, ohne zu wissen warum, sie empfinden
Ängste und Schmerzen, die nicht durch Medikamente, Drogen, Fernsehen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
246/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
oder ärztliche Behandlung gelindert werden können, weil sie an einer
Krankheit der Seele und nicht des Geistes leiden: Sie haben die Verbindung
verloren.
Diese Bindungslosigkeit hat dazu geführt, daß die in unserer Welt
herrschende Kultur in ihrer Entwicklung steckengeblieben ist, stärker
beschäftigt mit »ich« und »jetzt« als damit, Verwalter der Zukunft zu sein,
wogegen die Menschen der älteren Kultur im Leben von Tag zu Tag den
eigentlichen Sinn ihres Daseins erkannten.
Wenn
die
Menschen
heranwachsen,
durchlaufen
sie
viele
Entwicklungsstadien. Ein neugeborenes Baby ist völlig auf sich selbst
bezogen und nimmt nichts außer seiner eigenen unmittelbaren Erfahrung
wahr. Ab einem bestimmten Alter wird es sich zunehmend seiner Umgebung
bewußt und erkennt die Rolle, die es darin spielt. Irgendwann wird dem Baby
klar, daß etwas auch dann existieren kann, wenn es nicht zu sehen ist,
beispielsweise ein Spielzeug unter der Decke oder die Mutter, die sich im
Nebenzimmer befindet. Ab einem bestimmten Alter können Kinder für sich
selbst sorgen und sind nicht mehr davon abhängig, daß andere (ihre Eltern)
alles für sie tun. Tennager werden sich der sozialen Strukturen unter
Gleichaltrigen bewußt, können als Babysitter Verantwortung übernehmen und
so weiter.
[365]
Teil dieser Entwicklung zu mehr Reife ist die Änderung der Perspektive von
einer »Ich«-Orientierung zu einem »Wir«-Gefühl – einer Verantwortung für
andere.
Das war in älteren Kulturen nie ein Problem: Sämtliche Traditionen stärkten
immer wieder die Beziehungen des Menschen zu seiner Umgebung und die
gegenseitige Verantwortung zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft.
Aber in unserer jüngeren Kultur gibt es hier zwei Probleme. Erstens ziehen wir
bei der Entscheidung, für wen wir uns verantwortlich fühlen, oft einen sehr
engen Kreis um uns, indem wir sagen: »Ich bin nur verantwortlich für die
Menschen, mit denen ich eine enge, direkte Beziehung habe. Alle anderen
sind auf sich selbst gestellt.« Oft schließt diese Sicht die überraschend
kindliche Überzeugung ein, daß irgend jemand anders (die »unsichtbaren
Eltern«) für alles Sonstige zu sorgen hat: »Irgendwo ist irgend jemand für den
Planeten verantwortlich – nicht ich.« Mit zunehmender Reife sollten wir in eine
effektivere Weltsicht hineinwachsen. Aber es sieht so aus, als würde das in
den jüngeren Kulturen meist nicht funktionieren.[90]
Das zweite Problem ist sogar noch gravierender: Unsere jüngere Kultur bleibt
zunehmend in einem unreifen Entwicklungsstadium stecken, in dem man
behauptet: »Ich bin der Mittelpunkt des Universums, nur ich bin wichtig.« In
dieser Lebensphase verschwendet das Kind nicht den geringsten Gedanken
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[366]
247/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
an die Zukunft, sondern jeder Wunsch muß sofort erfüllt werden.
Warum erweckt unsere Kultur den Eindruck, als würde sie sich zunehmend
zurückentwickeln – zunehmend unreifer werden?
Die fundamentalste »unreife« kulturelle Vorstellung – »Du bist der wichtigste
Mensch auf der Welt« – wird uns täglich vom Fernsehen, dem hauptsächlichen
Sprachrohr unserer Kultur, zugerufen. Die permanente Verstärkung dieser
unreifen Botschaft sorgt dafür, daß unsere Kultur unreif bleibt, erzieht unsere
Kinder zur Unreife und verhindert, daß wir selbst reifer werden.
Der Grund für die Hartnäckigkeit und Intensität dieser Botschaften ist einfach:
Wenn Menschen sich wie Kinder benehmen und darauf bestehen, daß jedes
Bedürfnis sofort befriedigt wird, dann sind sie die idealen Konsumenten.
Nur wenn wir die Botschaften abschalten, können wir allmählich reifer
werden – und das geschieht in unserer Kultur nur selten.
Die Dinge, die unsere Augen und Ohren gefangennehmen, sind die Dinge,
die uns bewegen. Das ist keine Überraschung, und um das zu erkennen, muß
man kein mit allen Wassern gewaschener Werbefachmann sein. Aber in dem
Maße, wie die Werbung immer geschickter und effektiver wurde, erreichte sie
ihr Ziel immer besser. »Seht nur, was ihr alles haben könnt«, lautet die
Botschaft, die sie den Menschen vermittelt, »seht nur, wie euer Leben besser
und angenehmer sein kann«.
Und so wurde die Konsumideologie geboren – die Vorstellung, daß man sein
Leben dadurch verbessern kann, daß man bestimmte Dinge kauft –, und das
Fernsehen hat diese Haltung so verstärkt, daß sie zu einem
kulturverzehrenden Monster wurde. Für die Konzerne und die Absatzförderung
in einer »ich-zentrierten« Welt funktioniert dieses System großartig, aber es
lenkt die Menschen völlig von der reiferen Haltung ab, bei der es darum geht,
das Leben für uns alle zu verbessern.
In vielerlei Hinsicht ist die Konsumideologie zur alles beherrschenden Religion
der modernen jüngeren Kultur geworden. Sie hat sogar die Kirchen schon
weitgehend erfaßt, indem sie ihre heiligen Feste in Konsumorgien verwandelt
hat, und heutzutage suchen weitaus mehr Menschen ihr Glück im Kauf neuer
»Dinge« als in der Teilnahme an den Ritualen irgendeiner anderen
organisierten Religion.
[367]
Ich habe zwar nichts gegen die Teilnahme an den modernen Formen des
Handels, aber was ich immer und immer wieder beobachte, ist eine
qualitative Veränderung bei Erwachsenen wie auch bei Kindern, wenn sie das
Fernsehgerät aus ihrem Heim verbannen. Es wird ruhiger im Haus, die
Menschen finden eher zu ihrer Mitte, zu ihren Wurzeln, und die wirkliche Welt
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
248/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
wird wahrgenommen.
Schalten Sie den Fernseher ab, und setzen Sie sich statt dessen täglich zehn
oder fünfzehn Minuten ruhig hin. Nehmen Sie sich außerdem ein paar Minuten
Zeit, um nach draußen zu gehen. Ihr Leben wird sich zum besseren verändern,
und damit leisten Sie einen Beitrag zur Heilung unseres Planeten.
[368]
Der moderne Stamm: die
Zweckgemeinschaft
Die Gemeinschaft stagniert ohne die Impulse
des Individuums. Die Impulse sterben ab
ohne die Sympathie der Gemeinschaft.
William James
Der
Ausdruck »Stammessystem« hat in der gegenwärtig weltweit
vorherrschenden Kultur oft einen negativen Beigeschmack. Die Bücher, die in
den letzten hundert Jahren erschienen sind – einschließlich anthropologischer
Texte – und die Western, die von den dreißiger bis zu den sechziger Jahren in
Hollywood gedreht worden sind, kennzeichnen das Stammesleben generell
als etwas, das für »primitive« Menschen typisch ist. Solche Definitionen
stammen aus der Weltsicht der herrschenden jüngeren Kultur unserer Städte
und Staaten, die alle sozialen Systeme unter dem Gesichtspunkt autoritärer
Hierarchien betrachtet.
Umweltverträglich lebende Stammesgesellschaften haben in der
Vergangenheit jedoch nie Menschen ausgerottet, die anders lebten. Auch
haben sie nicht versucht, sie zu ihrem eigenen Lebensstil zu »bekehren«,
sondern vielmehr erkannt, daß verschiedene Menschen auch verschiedene
Abstammungen, Lebensstile, Religionen und Lebensweisen haben. In der
Welt der Stämme können Gruppen von Menschen nahe beieinander leben,
miteinander Handel treiben und kooperieren oder sogar Konflikte austragen
und dabei doch ihre einzigartige Identität bewahren. Wir brauchen heute eine
Lebensweise, die menschliche Unterschiede auf genau diese Art zur Kenntnis
nimmt.
Damit sie Stämme bleiben, einigen sich Stämme darüber, auf ein Verhalten
zu verzichten, bei dem die eine Gruppe die andere ausbeutet, versklavt,
erobert oder tötet. Sie erkennen, daß ein solches Verhalten in einen
Teufelskreis der Gewalt führt, dem man letzten Endes selbst zum Opfer fällt.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[369]
249/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Stämme verhalten sich im allgemeinen so, als seien sie alle ein Teil dieser
Welt und dieses Lebens, und eben deshalb haben sie sich historisch darauf
geeinigt, ihre jeweils einzigartige Identität zu bewahren, welche ihrerseits die
menschliche Vielfalt fördert.
Stämme und Gemeinschaften
Die kleinste Stammeseinheit ist die Familie. Viele Stämme, die in Gegenden
wie der Kalahari-Wüste leben, bestehen überhaupt nur aus einer einzigen
Großfamilie, zu der etwa ein Dutzend Menschen gehören. In der westlichen
Gesellschaft gibt es einige Familien, deren Organisation irgendwie an einen
Stamm erinnert: Die Kennedys sind in Amerika ein wohlbekanntes Beispiel,
auch wenn bei ihnen vielleicht manches im argen liegt. Aber zumindest haben
sie ein gewisses »Wir-Gefühl«. Die eigene Familie als Stamm zu betrachten
fördert die Identität, die Stärke, die Zähigkeit und das so entscheidende
Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Doch heutzutage haben sich viele Menschen dafür entschieden, die
Familienkultur (in der es wichtig ist, zusammen zu sein und Gemeinsamkeit zu
erfahren) der »Konsumkultur« zu opfern. Bei verheirateten Paaren sind beide
Partner erwerbstätig, damit sie sich ein größeres Haus und ein neueres Auto
leisten können, obwohl ein kleineres Haus und ein bescheideneres Auto den
Eltern Gelegenheit geben würden, mehr Zeit miteinander und mit den Kindern
zu Hause zu verbringen. Sie opfern wichtige Rituale der familiären Bindung,
die bis in die Stammeszeiten zurückreichen wie beispielsweise gemeinsame
Mahlzeiten oder ausgiebige Familiengespräche, um statt dessen ein paar
Stunden vor dem Fernseher zu verbringen, wo Sendungen ausgestrahlt
werden, die von Konzernen finanziert und produziert werden.
Doch inzwischen entscheiden sich immer mehr Menschen dafür, einfacher zu
leben, weniger Zeit für die von unserer Herrschaftskultur bestimmte
Geschäftswelt (und ihren hauptsächlichen Förderer, das Fernsehen)
aufzuwenden und die dadurch gewonnene Energie statt dessen der eigenen
Familie zu widmen – in einem sehr realen Sinne ihrem eigenen Stamm.
[370]
Es ist durchaus möglich, sich aus der Hektik des vom Fernsehen, vom
Konsum und von den Massenmedien gespeisten »Mehr, mehr, mehr«
zurückzuziehen und das eigene Bewußtsein und Verhalten zu ändern. Ein Weg
besteht darin, sämtliche Familienmitglieder auf eine direktere Weise in die
täglichen Lebensnotwendigkeiten einzubeziehen. Dadurch kann jeder sehen
und fühlen, was die eigenen Mühen beispielsweise mit der Nahrung, die alle
essen, und mit der Wärme, die alle im Haus genießen, zu tun haben.
Es gibt unter bewußten Menschen einen zunehmenden Trend, irgendwo
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
250/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
hinzuziehen, wo man um das Haus herum genug Land hat, um einen Teil der
eigenen Nahrung anzubauen, und wo genügend Bäume stehen, um das Haus
mit stets nachwachsendem Holz heizen zu können. Man kann sich in der
näheren Umgebung eine Trinkwasserquelle suchen, einen eigenen
Stromgenerator in Betrieb nehmen, einen Keller anlegen und Nahrungsvorräte
für den Winter einlagern. Menschen, die behutsamer mit der Erde umgehen
wollen, entscheiden sich jetzt immer öfter, als eine Art Familienstamm zu
leben.
Zweckgemeinschaften
Der nächste Schritt führt von den Familienstämmen zu solchen, die ein
gemeinsames Interesse haben.
Sie setzen sich aus Menschen zusammen, die in einem bestimmten Gebiet
leben, ihre Nahrung teilen, sich gemeinsam mit Energie versorgen und
zusammenarbeiten, um Lebensräume zu schaffen. Beispiele für solche
»sekundären« Stämme finden wir im Leben der amerikanischen Ureinwohner
und auch in den Geschichten der Europäer, die sich im amerikanischen
Westen angesiedelt haben. Sie haben Gemeinschaften gebildet, die das
Überleben aller Mitglieder gewährleisten sollten, und deshalb ein gewisses
Maß an Sicherheit und Stabilität erlangt.
[371]
Abgesehen von der Überlebensfrage geht es bei einer Gemeinschaft um zwei
wichtige Aspekte: Sicherheit und menschliche Beziehungen. Das waren die
Grundlagen der Gemeinschaft, seit die ersten Urmenschen Feuerstellen[91]
gebaut und sich darum versammelt haben, weil sie hofften, daß die magische
Wärme sie vor bösen Geistern schützen und Tiger und Bären abhalten würde.
Vor Jahren hat Sigmund Freud darauf hingewiesen, daß jede Ansammlung
von Menschen, sei es ein Unternehmen, eine Gemeinde oder sogar eine
Nation, sich letzten Endes zu einer familienähnlichen Struktur entwickeln
würde. Es tauchen Vaterfiguren auf, Geschwisterrivalitäten werden erkennbar,
und die Menschen finden innerhalb der Gemeinschaft Nischen und Rollen für
sich selbst, die oft denen entsprechen, welche sie in ihrer eigenen Familie
hatten: der böse Junge, das süße Kind, der kleine Professor, die Fürsorgliche,
der Anstifter etc. Freud zeigte überdies, daß, wenn die Inhaber der Elternrollen
in ihrer Funktion versagen (wie es in Hitler-Deutschland geschah), die
gesamte Familie (in diesem Fall die deutsche Nation) ebenfalls ihre Funktion
nicht mehr korrekt erfüllt.[92]
Wenn man sich klarmacht, daß sich diese familienähnlichen Verhältnisse in
allen Gemeinschaften, unabhängig von ihrer Größe, entwickeln, dann besteht
ein erster wichtiger Schritt beim Aufbau einer Gemeinschaft darin, eine
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[372]
251/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
fürsorgliche, sichere und funktionale Gemeinschaftsstruktur zu schaffen.
Mit dieser Struktur haben die Menschen seit über hunderttausend Jahren
experimentiert. Was sich dabei als höchst funktional, stabil und
umweltverträglich herausgestellt hat, ist eine dezentrale, gleichberechtigte,
demokratische Gemeinschaft in Form von kleinen Stammeseinheiten, wie es
sie bei den Schoschonen und anderen Ureinwohnern überall auf der Welt gibt.
Durch die sorgfältige Auswahl von Führern, die schon bewiesen haben, daß
sie für andere sorgen können – indem sie nicht dauernd für sich selbst die
Trommeln schlagen oder irgendwelche neurotischen Pläne verfolgen, sondern
fähig sind, immer wieder zu geben, ohne viel zurückzubekommen –, haben die
Stammesgemeinschaften traditionell sowohl das »Elternmodell« für die
Gemeinschaft bereitgestellt als auch dafür gesorgt, daß die Menschen sich
sicher genug fühlen, um sich ohne Zögern oder Furcht ganz und gar auf die
Gemeinschaft einlassen zu können.
Diese Älteren oder Führungspersönlichkeiten sind der Kern der Gemeinschaft
und verkörpern das gesamte Wissen des Stammes. Sie führen die Gruppe in
bestimmten Bereichen, weil sie in den betreffenden Fragen über besondere
Kenntnisse oder Erfahrungen verfügen. Indem wir unsere Älteren verlieren (oft
an Pflegeheime) und besonders, indem wir den Kontakt zu ihnen durch viele
Stunden vor dem von Konzernen und ihrer Werbung bestimmten Fernseher
ersetzen, haben wir einen unglaublichen Schatz an Weisheit und Kenntnissen
verloren. Wenn wir in unseren neu gestalteten Gemeinschaften die Weisheit
der Erfahrung wieder zu schätzen lernen, können wir uns dieses Wissen
wieder zugänglich machen.
Die »Führerschaft« der Stammesälteren ist kein Synonym für Macht wie in
den hierarchischen jüngeren Kulturen: Sie entspricht eher dem, was wir als
»Verantwortlichkeit« bezeichnen. Ohne solche eindrucksvollen und
sorgsamen Führer würden menschliche Gemeinschaften zwangsläufig
zerfallen. Wenn die Elternfiguren fehlen, sich abseits halten, nicht ansprechbar
sind, allzu streng und kritisch sind oder ihre Macht mißbrauchen, dann kränkelt
die Gemeinschaft oft wie ein Baum, der von innen her verfault, und bricht am
Ende zusammen.
[373]
Wenn die Mitglieder das Gefühl haben, daß die Gemeinschaft eine Farce ist,
daß sie einem Zweck dient, der nicht ihren Bedürfnissen entspricht
(beispielsweise, ihnen etwas zu verkaufen, sie zu kontrollieren oder irgendwie
auszubeuten), dann bricht ebenfalls alles auseinander, denn niemand ist mehr
motiviert, die Straßen sauberzuhalten und die Häuser zu streichen, oder die
Leute benehmen sich in anderer Hinsicht destruktiv. Das traurige Ergebnis
sehen wir in unseren Großstädten, aber genauso in vielen kleinen Städten und
Kommunen, vor allem dort, wo das traditionelle Gemeinschaftsleben dadurch
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
252/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
ersetzt wird, daß die Menschen stundenlang in ihren Wohnungen vor dem
Fernseher sitzen.
Aber die Bedeutung kleiner Gemeinschaften nimmt überall in der Welt zu. Und
auch die Zahl derer, die nicht mehr »am Netz hängen«, wächst, und diese
Menschen haben vielleicht noch einen größeren Einfluß, weil sie
Unabhängigkeit und das Prinzip der Selbstversorgung verkörpern. Allein durch
ihre Existenz strahlen sie diese Ideen in den Äther hinaus, in das kollektive
Unbewußte, in das, was Rupert Sheldrake als morphisches Feld bezeichnet.
Sie werden unabhängig von der Macht der Konzerne und von politischen
Interessen, die unsere auf Herrschaft basierende jüngere Kultur regieren,
definieren und widerspiegeln. Und sie leben fernab der großen Städte, welche
am deutlichsten die spirituelle Bindungslosigkeit unserer Stadt- und
Staatskultur verkörpern.
Manche Leute lehnen kleine, »stammesähnliche« Gemeinschaften ab, weil sie
ihrer Meinung nach manchmal wie ein Kult oder eine Sekte zelebriert werden.
Kulte sind Seelen-Diebe, sie üben eine geistige Kontrolle aus, die individuelle
Initiativen im Keim erstickt und nicht nur die Handlungen, sondern auch die
Gedanken der Mitglieder zu überwachen versucht. Ich teile absolut die
Meinung, daß solche Gruppen lediglich eine andere Form der Herrschaft
darstellen, die wir unbedingt vermeiden müssen. Eine einfache Faustregel
lautet, sich von jeder Person oder Gruppe fernzuhalten, die behauptet, sie
allein habe den Weg zur Göttlichkeit, Erlösung und Erleuchtung, zum Glück, zur
Freiheit oder zur Erkenntnis gepachtet. Das ist Kennzeichen eines Kultes oder
einer sektenähnlichen Gruppierung, was besonders dann deutlich wird, wenn
eine einzelne Person oder ein Führer in der Organisation oder Gemeinschaft
vorgibt, er oder sie sei das »Tor zum Göttlichen«.
[374]
Aber wenn man sich vor solchen Gruppen hütet, verfügen kleine, unabhängige
Selbstversorger-Gemeinschaften über die größten Fähigkeiten, die normalen
Konjunkturzyklen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft zu überleben, und
noch besser sind ihre Chancen, größere Katastrophen zu überstehen, die
vielleicht auf uns zukommen, wenn die Ölvorräte zur Neige gehen. Ländliche
Gemeinschaften von den Mormonen in Utah bis zu den Amish in Pennsylvania
(ganz gleich, was man von ihren religiösen Vorstellungen halten mag) haben
die Weltwirtschaftskrise, die Kriege und die Launen des Wetters und der
Wirtschaft ziemlich gut überstanden, weil sie alles miteinander teilen und
zusammenhalten.
Holen Sie sich Unterstützung und
Informationen von der wachsenden
Community-Bewegung
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
253/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Viele Leute erfinden heute das Gemeinschaftsleben neu. Sie sind Teil einer
Bewegung, die seit den achtziger Jahren dramatisch wächst. Sie kaufen
gemeinsam mit ein paar anderen Familien ein Stück Land und bilden eine
kleine Stammesgemeinschaft. Einige geben ihrer Gemeinschaft sogar einen
Stammesnamen und definieren ihren Zweck und ihre Absichten sowie die
Unterschiede zu und die Gemeinsamkeiten mit anderen Stämmen.[93]
[375]
Es ist nicht überraschend, daß viele Angehörige dieser Bewegung ihre
Erfahrungen bereitwillig weitergeben. Das kann anderen, die gerade den
Schritt in ein solches Gemeinschaftsleben wagen wollen, eine große Hilfe
sein. Aus Büchern, von Mentoren und in Kursen, die jetzt überall in der Welt
von Gemeinschaften angeboten werden, kann man lernen, wie die Pioniere
und die Ureinwohner ihre Nahrung im Wald und auf den Feldern gefunden
haben.
Aktuelle Bücher wie Famine and Survival in America (Hungersnöte und
Überleben in Amerika) von Howard Ruff und die rasche Vermehrung von
Leuten, die vom »Millennium-Fieber« erfaßt sind und behaupten, zur
Jahrtausendwende stehe uns das Ende der Welt bevor, sorgen ebenfalls
dafür, daß wir uns bewußter mit solchen Fragen auseinandersetzen, obwohl
ihr Tonfall oft so schrill ist, daß er die Menschen eher abschreckt. Jedenfalls
werden solche Veröffentlichungen gewöhnlich nicht vom Durchschnittsbürger
gelesen: Viele – die meisten – Leute sind so damit beschäftigt, ihren
gegenwärtigen Lebensstandard zu genießen, daß sie sich eine andere
Lebensweise gar nicht vorstellen können. Sie lieben ihre Städte und
verschwenden nicht den geringsten Gedanken daran, wie sehr sie davon
abhängig sind, daß Lastwagen die Nahrung in die Supermärkte bringen. Sie
betrachten ihre Nachbarn als Quelle der Anregung und Unterhaltung, nicht als
potentielle Konkurrenten um knappe Ressourcen, die sie sein würden, wenn
es in den Supermärkten nichts mehr zu kaufen gäbe und die Städte sich in
makabere Dschungel aus futuristischen Filmen verwandeln würden. Ihre Sicht
der Welt ist für die gegenwärtigen Bedingungen korrekt, zumindest in den
reichen Städten des Westens, und sie wird es zweifellos auch noch eine
Zeitlang bleiben. Schließlich gab es in der Vergangenheit immer wieder
Leute, die behaupteten, das Ende der Welt stehe vor der Tür, ohne daß ihre
düsteren Prophezeiungen je eingetreten wären.
[376]
Auf der anderen Seite prüfen viele Menschen jetzt erneut die Möglichkeiten
eines unabhängigen Lebens in kleinen, stammesähnlichen Gemeinschaften,
und dabei geht es ihnen nicht nur darum, sich auf schlechte Zeiten
vorzubereiten, sondern sie wollen hier und heute die Vorteile dieser
Lebensform genießen. Sie bilden kleine Kooperativen und ziehen aufs Land
oder organisieren solche Gruppen sogar in der Stadt, wenn sie dort über
genügend Grund und Boden verfügen, um ihre Nahrung selbst anbauen zu
können. Diese Community-Bewegung wächst weltweit so schnell, daß man
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
254/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
schon entsprechende Bücher, Magazine und Leitfäden bekommen kann.[94]
Es ist populär, die »utopischen Gemeinschaften« zu verspotten, vor allem in
ökologischen Fachbüchern, aber solche sozialen Einheiten können auf Erfolge
zurückblicken – und sie haben schwere Zeiten besonders gut überstanden.
Von den frühen amerikanischen Kleinstädten über Kommunen, die von
Vermont bis nach Kalifornien und nach Bali verstreut sind, von den
israelischen Kibbuzim bis zu den Stämmen der Ureinwohner überall auf der
Welt funktionieren stammesähnlich organisierte Gemeinschaften tatsächlich.
[377]
Ein Besuch bei einer
»Zweckgemeinschaft«
Eine moderne Version des Stammeslebens bezeichnet man heute als
Zweckgemeinschaft. Oft sind sie als kleine Kooperativen organisiert, wo das
Land allen gemeinsam gehört, aber die einzelnen Familien ihre eigenen
Häuser und auch »Anteile« an der größeren Kommune besitzen. Wenn
jemand austreten und wegziehen will, verkauft er seine Anteile und Gebäude
wieder an die Gemeinschaft; wenn jemand Mitglied werden will, muß der
Antrag von der gesamten Kooperative geprüft und gebilligt werden. Das
Communities Directory enthält ein ausführliches Verzeichnis solcher
Gemeinschaften in der ganzen Welt, aber auch zahlreiche Kapitel darüber,
wie man seine eigene Gemeinschaft aufbauen kann.
Als Louise und ich im Sommer 1997 dieses Buch lasen, stellten wir fest, daß
es eine solche Gemeinschaft ganz in unserer Nähe gibt. Sie wurde vor
mehreren Jahrzehnten von Leuten gegründet, die sich nach einer neuen
Lebensweise sehnten und sie erfolgreich entwickelten. Wir nahmen Kontakt
mit ihnen auf, vereinbarten einen Besuchstermin und fuhren am ersten
Maiwochenende hin, um uns einen persönlichen Eindruck zu verschaffen.
Quarry Hill ist die älteste Zweckgemeinschaft in Vermont, vor fünfzig Jahren
als Zuflucht für Schriftsteller und Künstler gegründet von Irving und Barbara
Fiske, deren gemeinsames Ziel eine gewaltfreie Kindererziehung war. Die
sechziger Jahre brachten Veränderungen, ebenso wie Irvings Faszination für
die Schriften von William Blake und anderen Philosophen und Mystikern, und
heute gibt es dort 26 Häuser auf über 80 Hektar Land in einer atemberaubend
schönen Berggegend. Die Gemeinschaft betreibt außerdem eine
Privatschule, in der die gemeinsamen Erziehungsvorstellungen praktiziert
werden. Louise und ich verbrachten den ganzen Tag in Quarry Hill, sahen uns
das Land und die Häuser an, lernten die Leute kennen und hörten ihren
Geschichten zu.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
255/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
»Zu den Dingen, die mir hier am besten gefallen, gehört das Gefühl von
Sicherheit«, sagte Judy Geller, die seit zwanzig Jahren in der Kommune lebt
und die dortige Schule leitet. »Die Leute hier akzeptieren dich, so wie du bist.
Du kannst unbesorgt du selbst sein.«
[378]
Quarry Hill ist zwar die älteste Zweckgemeinschaft in Vermont, aber
keineswegs die einzige. Es gibt in diesem Staat noch ungefähr ein Dutzend
anderer, und landesweit werden über 500 im Communities Directory
aufgeführt, wobei die Herausgeber betonen, daß mehrere hundert weiterer
Gemeinschaften darum gebeten hätten, ihre Adresse nicht in das Verzeichnis
aufzunehmen (wahrscheinlich weil sie keine freien Plätze mehr haben), so daß
man davon ausgehen kann, daß es in Nordamerika mindestens tausend
solcher Gemeinschaften gibt.
Ihre Strukturen sind keineswegs identisch, und in den meisten Fällen handelt
es sich nicht um Kommunen, bei denen das persönliche Eigentum mehr oder
weniger zugunsten von Gemeinschaftseigentum aufgegeben wird. Die Basis
aller Gemeinschaften bildet eine Gruppe von Leuten, die sich entschieden
haben, zu einem bestimmten Zweck zusammenzuleben. Dabei kann es sich
um politische Aktivitäten, Umweltschutzmaßnahmen, spirituelle Ziele oder
gemeinsames Musizieren handeln, aber auch um den Betrieb von
Gesundheits-, Seminar- oder Konferenzzentren.
Es gibt den Mythos, die gegenwärtige Zweckgemeinschaft sei ein
Überbleibsel des Hippie-Lebensstils der sechziger Jahre, oder diese
Gemeinschaften seien mit dem Aufkommen der »Reagonomics« und der
Yuppies allesamt ausgestorben. Aber das ist wirklich nur ein Mythos.
Zweckgemeinschaften existieren schon so lange wie die Menschheit, und
nach meinen Erfahrungen erinnern sie in ihrer gegenwärtigen Form in keiner
Weise an die alten Hippie-Kommunen.
Jedes Wohnviertel oder auch jedes Mehrfamilienhaus in einer kleinen oder
größeren Stadt ist eine Gemeinschaft. Die Leute haben sich, meist aufgrund
von Lebensqualität, Status, ökonomischer Notwendigkeit, wegen der Nähe zur
Familie oder aus Bequemlichkeit entschieden, hier zu leben. Aber in diesen
Gemeinschaften gibt es keine Struktur, die festlegt, wer dort wohnen darf: Wer
das nötige Geld hat, kann sich ein Haus kaufen oder eine Wohnung mieten.
[379]
In einer Zweckgemeinschaft dagegen geht es nicht nur um einen Platz zum
Leben, sondern das gemeinsame Ziel wirkt meist als erster Filter, der dafür
sorgt, daß sich nur Leute mit ähnlichen Vorstellungen um die Mitgliedschaft
bewerben. Während man heutzutage in einem Wohnviertel oder einer
Stadtwohnung jahrelang leben kann, ohne sich je mit seinen Nachbarn zu
einem gemeinsamen Essen zu treffen, ist eine derartige Isolation in einer gut
funktionierenden Zweckgemeinschaft fast unvorstellbar.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
256/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Die Schattenseite des Verfahrens, mit dem Gemeinschaften neue Mitglieder
auswählen, liegt darin, daß die Gruppe zu homogen werden kann. Selbst wenn
man davon ausgeht, daß Dinge wie Rassismus in solchen Gemeinschaften
kein Problem darstellen, herrscht doch die Tendenz vor, sich unbeabsichtigt
eher für Gleichheit als für Vielfalt zu entscheiden. Mehrere Bewohner von
Quarry Hill haben im Gespräch mit mir jedenfalls betont, wie wichtig ihnen die
Vielfalt ist, und daß sie mit zu den Elementen gehört, die ihre Gemeinschaft
stark machen. In Quarry Hill leben Schwarze und Weiße, Amerikaner,
Deutsche und sogar ein Neuseeländer, Menschen aller Altersgruppen von
einem Jahr bis zu 80 Jahren. Wenn man eine Gemeinschaft aufbauen will, ist
es wahrscheinlich wichtig, diesen Aspekt zu bedenken.
Zweckgemeinschaften entwickeln sich gewöhnlich aus einer der vier
folgenden Wurzeln:
Genetik
Das ist die Basis der traditionellen Stammesgemeinschaft – jeder ist Mitglied
einer Großfamilie. Dies ist die hauptsächliche Art von Gemeinschaft, wie man
sie bei den eingeborenen Völkern überall in der Welt findet, und das
buchstäblich seit Millionen von Jahren. Während diese Art von Gemeinschaft
unter den Ureinwohnern recht verbreitet ist (es gibt beispielsweise mehr als
400 verschiedene Stämme von Ureinwohnern in Nordamerika), findet man sie
innerhalb der bunt zusammengewürfelten Zweckgemeinschaften eher selten.
Das kann sich jedoch auf natürliche Weise im Laufe der Zeit verändern: Die
Oneida-Gemeinschaft im Staat New York wurde 1848 gegründet, und hier
leben (unter anderen) nun die Urenkel und Ur-Urenkel der Menschen, die sich
damals zusammengeschlossen haben. Auch in Quarry Hill wohnen heute
schon die Kinder und Enkel der ehemaligen Gründer und ersten Mitglieder.
[380]
Zu den Vorzügen einer genetischen Gemeinschaft gehört ein Gefühl von
Kontinuität und Verbundenheit mit den eigenen Vorfahren. Das führt zu
Respekt vor den Älteren und den Kindern: Die Älteren verkörpern das Wissen
der Vergangenheit, und die Kinder sind die Zukunft. Ich war als Referent auf
einer Konferenz, die die University of Oklahoma für amerikanische
Ureinwohner veranstaltet hat (ich war einer von nur fünf oder sechs Weißen
unter mehr als vierhundert indianischen Teilnehmern und Referenten), und
während der Eröffnungszeremonie wurden die Älteren gebeten, nach vorn zu
kommen und der Versammlung ihren Segen zu geben. Vierundvierzig
grauhaarige Männer und Frauen traten vor, und einer von ihnen leitete das
Gebet in seiner Muttersprache. Dann wurde der Mann, der die meisten Älteren
zu diesem Treffen gebracht hatte, dafür geehrt, daß er ihre Anwesenheit
ermöglicht hatte.
Alle Teilnehmer und Referenten, die sich während dieser Konferenz
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
257/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
vorstellten, nannten zusätzlich zu ihrem Namen auch den Stamm, dem sie
angehörten (und gewöhnlich auch ihren »indianischen Namen« in ihrer
Muttersprache). Diese Identitäten sind für amerikanische Ureinwohner real
und solide und bedeutsam. Ein Kiowa würde genausowenig daran denken,
ein Navajo oder ein Cree zu werden, wie ein Bär in der Wildnis daran denken
würde, sich wie ein Biber zu benehmen. So wie sich die Tiere an ihre
natürliche Umgebung anpassen und unterschiedliche Lebensweisen
entwickeln, so haben auch viele der amerikanischen Ureinwohner bestimmte
Vorstellungen von ihrer Identität und ihren Lebenszielen, und sie wissen tief in
ihrem Inneren, daß die »Unterschiede zwischen den Menschen« ihr Gutes
haben.
[381]
Im modernen Amerika wird diese Vorstellung gerne als »rassistisch«
bezeichnet. Als Malcolm X über Menschen afrikanischer Abstammung sprach,
die ihr eigenes Identitätsgefühl, ihre eigenen Rituale und ihre eigene Kultur
pflegen statt einfach zu versuchen, ein Teil der »weißen Kultur« zu werden,
wurde er von vielen Leuten, Schwarzen und Weißen, als Rassist
gebrandmarkt. Die Bezeichnung »Rassist« wird weitgehend definiert durch
die Überzeugung weißer Separatisten, daß die Rassen getrennt leben und
sich nicht vermischen sollten. Der Grund, warum der Ausdruck für uns negativ
besetzt ist und warum diese Form der Rassentrennung im modernen Amerika
oft so katastrophale Folgen hat, liegt in unserer Herrschaftskultur, in den
kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die Rassentrennung praktiziert
wird.
In den älteren Kulturen der amerikanischen Ureinwohner (kooperative
Kulturen) sind Stammesunterschiede und genetische Unterschiede völlig
akzeptabel (ja sogar erwünscht), und jeder darf und soll seine eigene Identität
bewahren, weil diese Unterschiede nichts mit Überordnung, Unterordnung
oder Macht zu tun haben, sondern die Vielfalt fördern. Im Gegensatz dazu
resultiert der Rassismus unserer modernen Gegenwartsgesellschaft aus der
Geisteshaltung der jüngeren Kultur, daß »die einen oben und die anderen
unten stehen«, und das bedeutet für Menschen, die über genetisch
begründete Stammesgesellschaften sprechen wollen, ein sehr reales
ethisches und kulturelles Dilemma. Die Stammesstrukturen der
amerikanischen Ureinwohner (die von einigen Vertretern weißer Kulturen als
»rassistisch« bezeichnet werden) funktionieren für die Ureinwohner selbst
meist gut, weil diese sich im Hinblick auf die Unterschiede zwischen
Stämmen, Rassen und Abstammungen an den Vorstellungen der älteren
Kulturen orientieren. Für sie geht es dabei um unterschiedliche Fähigkeiten,
etwas Neues in eine größere Kultur einzubringen, und die Idee, daß Menschen
verschiedene Traditionen, religiöse Praktiken und Lebensweisen haben, ist
nicht nur akzeptabel, sondern eine gute Sache.
[382]
Unsere jüngere Kultur ist eine, die alles aufsaugt, sich alles einverleibt, was ihr
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
258/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
begegnet (wie Malcolm X festgestellt hat), und alles und jeden nicht nur für sich
selbst, sondern vor allem für ihre Herrschenden benutzt. Deshalb heißt es in
einer ihrer wichtigsten Geschichten, »das, was anders ist als wir, ist
schlecht« – ganz gleich, wie hübsch unsere Kultur diese Geschichten in
Ausdrücken wie »der große Schmelztiegel« oder »Regenbogenkultur«
einzukleiden versucht. Tatsache ist, daß Amerika (und viel vom Rest der Welt)
nun wieder neue Stammesstrukturen entwickelt, und ein großer Teil dieses
Prozesses vollzieht sich entlang rassischer Trennungslinien und mit tragischen
Konsequenzen.
Der Grund für diese schlecht funktionierende, fragmentarische und oft mit
Gewalt verbundene Wiedereinführung von Stammesstrukturen liegt darin, daß
unsere jüngere Kultur die Stämme, aus denen die Schwarzen, die Weißen und
die Latinos (unter anderen) hervorgegangen sind, vor langer Zeit zerstört hat,
so daß es für diese Menschen keinen Anknüpfungspunkt mehr gibt, von dem
aus sie konstruktive und bedeutsame Stammesrituale und Zeremonien
wiederbeleben könnten. Das Ergebnis sieht man am deutlichsten bei den
Banden (Stämmen) in den Innenstädten, aber es zeigt sich auch in unserer
gesamten Gesellschaft.
Daß die Menschen ein Bedürfnis nach diesem Gefühl von Stammesidentität
haben, sieht man an vielen Beispielen, wozu meines Erachtens auch die NewAge-Bewegung gehört, die sich fast ausschließlich aus Weißen
zusammensetzt, die ihre Stammesverbindungen vor Jahrtausenden verloren
haben, als die Römer, die Osmanen, die Hunnen und andere mehrfach durch
Europa zogen und die Stammesvölker ausrotteten oder assimilierten.
[383]
Im Paganismus, Wicca-Kult, Animismus und in Dutzenden anderer kleiner
Ableger begegnen uns Versuche (von edel bis lächerlich), die Rituale der
Druiden, Kelten, Nordmänner und anderer alter Stämme wiederzubeleben und
sie den heutigen, aber nun ihrer Stammeswurzeln beraubten Nachfahren
dieser Stämme nahezubringen. Das Problem dabei: Die Zerstörung dieser
Stämme war so vollständig (ich habe schon erwähnt, wie Caesar
beispielsweise die Kelten und die Druiden ausgerottet hat und wie die
Stammesvölker überall in Europa und anderswo über tausend Jahre hinweg
zwangsweise zum Christentum bekehrt wurden), daß nur noch wenig für einen
Neubeginn übriggeblieben ist. Heute lebt niemand mehr, der sich an die
Sprache der Kelten erinnert, an ihre Traditionen und ihre Lebensweise, ihre
Schöpfungsgeschichte, ihre heiligen Zeremonien und Rituale. Die Verbindung
ist vollständig abgerissen, bis zu dem Punkt, an dem die römischen Eroberer
ihre heiligen Orte ausfindig gemacht und zerstört haben.
Ein heißes Thema auf der erwähnten Konferenz der amerikanischen
Ureinwohner war die Frage, was die Ureinwohner tun sollten, wenn sie von
Weißen um Antworten auf spirituelle Fragen gebeten würden. Ich habe an
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
259/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
einem Workshop teilgenommen, wo diese Frage sehr kontrovers diskutiert
wurde: Die eine Seite sagte, die Indianer hätten »der Welt gegenüber eine
Verpflichtung«, ihr Wissen über die Organisation und Funktionsweise von
Stammesgesellschaften sowie über Spiritualität, welche die Erde respektiert,
weiterzugeben. Die andere Seite vertrat dagegen die Ansicht, diese
»mörderischen Anglos« hätten schon einmal »ihr Bestes getan, uns alle
umzubringen«, und die amerikanischen Ureinwohner sollten sich von »diesen
geisteskranken Weißen« so weit wie möglich fernhalten und sie »sich
gegenseitig umbringen lassen, so wie sie es mit uns versucht haben«.
Einer der Befürworter der Position, die amerikanischen Ureinwohner sollten
den Weißen beibringen, wie man Stammesgesellschaften organisiert, sagte:
»Unter den Weißen haben nur die Juden noch ein Gefühl von
Stammeszugehörigkeit. Sie haben immer noch ihre Stammesrituale, ihre
heiligen Stätten und Sakralgegenstände, und sie haben immer noch ein
Gespür für Blutsverwandtschaft. Der Rest hat die eigene Stammesidentität
verloren und beneidet die Juden um das, was sie sich bewahrt haben, was
auch der Grund dafür ist, daß es unter den Weißen und Schwarzen soviel
Antisemitismus gibt.« Das ist ein interessanter, wenn auch übermäßig
vereinfachter Gedanke: Die Menschen brauchen Stammesrituale und ein
Gefühl der Verbundenheit mit ihren genetischen Stammeswurzeln. Jene
Stämme, die eher der älteren, auf Kooperation basierenden Kultur angehören
als der jüngeren hierarchischen, auf Herrschaft basierenden (es gibt
beispielsweise keinen jüdischen Papst), haben bessere Überlebenschancen
(sogar angesichts der Verfolgung), ohne daß sie dabei Zuflucht zur Gewalt
nehmen oder Abweichlern mit ewiger Verdammnis drohen müßten.
[384]
Gleichwohl ist der Schaden entstanden. Ich weiß nicht mehr, wie meine
norwegischen, walisischen und keltischen Vorfahren 20 000 Jahre lang als
Stämme gelebt haben, und auch die Menschen, die heute in den ehemaligen
Stammesgebieten leben, wissen es nicht mehr. Wenn wir also heute eine
Gemeinschaft gründen wollten und in einer Anzeige nach »Norwegern und
Kelten« suchen würden, wäre das im besten Fall sinnlos und im schlimmsten
Fall rassistisch. Die meisten Mitglieder unserer jüngeren Kultur, die versuchen
wollen, nach der Art älterer Kultur zu leben, müssen einen der anderen
traditionellen Wege beschreiten, die zur Entwicklung von Gemeinschaften
führen.
Charismatische Führung und gemeinsame Visionen
Historisch hat dieser Aspekt zur Gründung der meisten nicht auf
Blutsverwandtschaft beruhenden Zweckgemeinschaften geführt: Irgend
jemand hat eine Idee, die andere für gut halten, und die Gründerpersönlichkeit
hat zugleich mit dieser Idee das Charisma und die Führungseigenschaften,
die andere motivieren, sich ihm anzuschließen. In mancher Hinsicht gleichen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[385]
260/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
die Anfänge einer Gemeinschaft den frühen Stadien einer Religion; und in der
Tat sind viele moderne Religionen so entstanden, daß sich eine Gemeinde
um einen starken Führer gebildet hat (oder um die Erinnerung an eine starke
Führungspersönlichkeit und einen ebenfalls starken »Nachfolger«). Obwohl es
einige Religionen geben mag, die nicht auf diese Weise entstanden sind, fällt
mir keine ein: Von den »Weltreligionen« wie Judentum, Islam, Buddhismus,
Christentum und so weiter bis zu den Gemeinschaften, die daraus
hervorgegangen sind wie etwa Mormonen, Methodisten und Sufis, haben alle,
die mir in den Sinn kommen, auf diese Weise angefangen. Und genauso, wie
viele Religionen wieder verschwunden sind, besonders die extremeren
Ableger der großen Religionen, haben sich auch viele Gemeinschaften wieder
aufgelöst. Die Gründe sind gewöhnlich dieselben: Der Führer hat aufgegeben,
ist weggezogen oder gestorben.
Es scheint, daß jene Gemeinschaften, denen der Übergang von einer starken
Führungspersönlichkeit zu einer starken Gemeinschaft gelingt, diejenigen
sind, in denen der Führer es zugelassen hat, daß die Macht innerhalb der
Gemeinschaft delegiert wurde, und zugleich das Vermächtnis einer Vision
hinterlassen hat, welche die Menschen bereitwillig und begeistert mit in die
Zukunft nehmen.
Im Hinblick auf diesen Zusammenhang und die Fragen von Macht und
Kontrolle, die damit verbunden sind, schrieb Don Calhoun, der Ehemann der
Quarry-Hill-Mitbegründerin Barbara Fiske und Philosoph der Gemeinschaft, in
seinem Buch Spirituality and Community[95] die folgenden Worte, die er und
Barbara bei unserem Besuch in Quarry Hill zitierten:
»Wie alle intimen Beziehungen müssen auch Gemeinschaften einen Weg finden,
sowohl persönliche Nähe als auch Individualität zu gewähren. Eine Gefahr liegt
darin, daß Individualisten, die sich auf der Flucht vor sozialen Repressionen von
freiwilligen Gemeinschaften angezogen fühlen, so darauf fixiert sind, »ihren eigenen
Weg zu gehen«, daß die ganze Gemeinschaft in Anarchie versinkt. Auf der anderen
Seite besteht die Gefahr, daß die Gemeinschaft so darauf besteht, alles und jeden
dem gemeinsamen Ziel unterzuordnen, daß darüber jede persönliche Individualität
verlorengeht.«
[386]
Die Lösung, die Don und andere im Laufe der Jahre entwickelt haben, besteht
in einer gemeinsamen Vision, die besagt, daß das Individuum sowohl größer
als auch kleiner ist als die Gemeinschaft, und daß jeder daran arbeitet, dem
anderen in einem ökologischen Gleichgewicht zu dienen, das individuelles
Wachstum fördert und gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl festigt, welches
ein so wesentliches und ursprüngliches menschliches Bedürfnis ist. Don
schrieb dazu:
»Wie kann man die von mir beschriebenen Hindernisse nun überwinden und eine
spirituelle Gemeinschaft entwickeln? Ich glaube, das ist innerhalb von
Gemeinschaften nur durch eine transzendente Vision möglich, die jedem Mitglied
das Gefühl vermittelt, daß jeder ein Teil jedes anderen ist – ganz gleich, ob man viel
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
261/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
oder wenig besitzt, mehr oder weniger Initiative zeigt, Mann oder Frau ist, Hetero
oder Homo, Schwarz oder Weiß, Jude oder Christ, Kind, Teenager, Erwachsener
oder älterer Mitbürger – und daß über dieses Einssein hinaus alle zusammen ein
untrennbarer Teil vom Rest des belebten und unbelebten Universums sind. Diese
Vision ist nichts, worauf irgendeine Elite ein Monopol anmelden könnte, sondern
darin drückt sich die Erkenntnis aus, daß, wie die Quaker es nennen, »Gott in
jedem Menschen wohnt«. Nur so kann eine Gemeinschaft zur Gemeinschaft
werden, und die Mitglieder erkennen, daß sie sich selbst retten, indem sie ihre Kraft
dafür einsetzen, den Rest des Universums zu retten.«
Das bedeutet nicht zwangsläufig, daß eine Gemeinschaft spirituell oder
religiös ausgerichtet sein muß, um Erfolg zu haben. Tatsächlich sind nur 35
Prozent der im Communities Directory aufgeführten Gemeinschaften offen
religiös oder spirituell orientiert. Genausowenig bedeutet es, daß unbedingt
ein hierarchisches Führungsprinzip erforderlich ist: Nur neun Prozent
bezeichnen ihre eigene Struktur als hierarchisch oder autoritär, während die
Mehrheit demokratische Strukturen angibt. Aber das Wesen einer gesunden
Gemeinschaft besteht darin, daß sie für die ihr angehörenden Individuen und
Familien sorgt, und das bezeichnet für sich genommen schon eine wichtige
Form von Spiritualität.
[387]
Eine Lebensaufgabe oder ein Lebenswerk
Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als sei das nichts anderes als eine
starke gemeinsame Vision, aber in Wirklichkeit geht man hier noch einen
Schritt weiter. Die erfolgreichsten Gemeinschaften, die ich im Laufe der Jahre
kennengelernt habe, waren jene, die eine gemeinsame Vision in Handlung
umgesetzt haben.
Das reicht von der Lebensaufgabe, zur Erleuchtung zu finden, wie sie in
Meditationszentren praktiziert wird, bis zur Mission eines christlichen
Lebensstils, dem sich die christlichen Gemeinschaften verschrieben haben
(die am schnellsten von allen wachsen). Dazu gehören auch Gemeinschaften,
die sich einer spezifischen Aufgabe verpflichtet fühlen, beispielsweise der
Fürsorge für mißbrauchte Kinder (darum ging es in dem Salem-Kinderdorf,
einer Gemeinschaft, die Louise und ich 1978 gegründet haben). Ich habe
jedenfalls immer wieder festgestellt, daß Arbeit für eine Gemeinschaft wichtig
ist.
Arbeit schweißt die Gemeinschaft zusammen, einfach durch die vereinten
Anstrengungen, den simplen Akt des Handelns als Ausdruck der
gemeinsamen Vision. Sie ist die tägliche Erinnerung, der tägliche Schritt hin
auf das (gewöhnlich in einem einzigen Menschenleben nicht erreichbare) Ziel
der gemeinsamen Vision.
Dazu gibt es auch Parallelen im individuellen Leben. Menschen, denen in ihrer
Arbeit das Gefühl einer Mission oder einer sinnvollen Lebensaufgabe fehlt,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[388]
262/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
treiben oft stumpfsinnig und orientierungslos dahin. Sie fliehen in Drogen,
Fernsehsucht oder Alkohol, werden sexbesessen oder spielsüchtig. Sie fühlen
sich verloren und haben keine Freude mehr am Leben. Und wenn sie am
Ende auf die Vergangenheit zurückblicken, empfinden sie ein tiefes, leeres
Bedauern.
Im Gegensatz dazu sind Menschen, die sich einer Lebensaufgabe verpflichtet
fühlen, glücklicher, motivierter, produktiver, und sie bleiben wahrscheinlich
gesünder – körperlich, emotional, psychologisch und spirituell. Die Bedeutung
dieser Verbindung zwischen der täglichen Arbeit und dem Gefühl einer
Lebensaufgabe ist in Dutzenden – vielleicht sogar Hunderten – von
psychologischen Studien und industriellen Arbeitsplatzanalysen der letzten
fünfzig Jahre immer wieder belegt worden. Darin zeigt sich auch einer der
Kardinalpunkte für die Gründung und den dauerhaften Erfolg von
Gemeinschaften.
Gemeinsame Sorgen ums Überleben
Wie in diesem Buch und vielen anderen dargestellt, stehen die Welt und ihre
Bewohner ernsten Problemen gegenüber. Das hat es natürlich auch früher
schon gegeben. Fast seit den Anfängen der Menschheit – und ganz gewiß in
schwierigen Zeiten – haben sich die Menschen zu Gemeinschaften
zusammengeschlossen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien zu
sichern.
Die Geschichte der Zweckgemeinschaften in den Vereinigten Staaten belegt
das: Der Aufbau solcher Gemeinschaften wurde besonders aktiv während der
Weltwirtschaftskrise betrieben, während der Depression, die dem Bürgerkrieg
folgte, sowie während der sechziger Jahre, als viele junge Menschen glaubten,
ihre Regierung sei verrückt geworden, weil sie 50 000 von ihnen nach
Vietnam in den Tod schickte. Es sieht so aus, als würden wir jetzt eine neue
Welle der Gemeinschaftsgründungen erleben, wahrscheinlich als Folge der
wachsenden Sorge, daß die Situation schwierig werden könnte, und der
Vorstellung, daß man diese Schwierigkeiten gemeinsam besser bewältigt als
allein.
[389]
Solche Gemeinschaften schießen zwar während schlechter Zeiten oft wie
Pilze aus dem Boden, aber sie sind häufig auch die ersten, die wieder
zerfallen. Wenn die Krise vorbei ist, ist ihre gemeinsame Mission beendet,
und sie kommen ins Trudeln und brechen schließlich auseinander. Wenn sie
trotzdem überleben, werden daraus oft kleine Städte, und das
Gemeinschaftsgefühl geht allmählich verloren. Louise und ich haben eine der
bekannteren »Kommunen« besucht, die in den sechziger Jahren aufkamen,
und dabei festgestellt, daß das Land und die Geschäfte kürzlich privatisiert
worden sind (Gemeinschaftseigentum war ursprünglich eins ihrer wichtigsten
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
263/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Markenzeichen). Einige Mitglieder halten sich inzwischen auch nicht mehr an
das früher für alle verbindliche Gebot der vegetarischen Ernährung, und viele
Leute verbringen jetzt die meiste Zeit zu Hause vor dem Fernseher (was früher
verboten war). Louise und ich besuchten das Freilicht-Amphitheater, einst
berühmt für seine Gottesdienste am Sonntagmorgen, und wir stellten fest, daß
außer uns
an diesem Tag
niemand
da
war: Fast alle
Gemeinschaftsaktivitäten, sofern sie nicht mit der Gemeindeverwaltung und
der alljährlichen Gemeinschaftsparty zu tun hatten, waren aufgegeben worden.
In dieser Hinsicht hatte sich die einst blühende Kommune ihrem Wesen nach
in ein Wohnviertel für alternde Hippies verwandelt. Sobald die gemeinsame
Vision auseinanderzubrechen begonnen hatte (als Folge einer
Führungskrise), waren die individuellen Interessen stärker gewesen als das
Gefühl, einer gemeinsamen Mission verpflichtet zu sein, und aus der
Kommune war eine kleine Stadt geworden. In dieser Hinsicht könnte man
sagen, daß sie »erfolgreich« sind, denn sie bilden jetzt eine
»Überlebensgemeinschaft«. Doch wir hatten den Eindruck, daß diese nun
sehr zerbrechlich ist, weil sie ihren Führer und das Gefühl einer gemeinsamen
Mission verloren hat.
[390]
Das ist die Gefahr, wenn man einfach in eine Gemeinschaft hineinspringt,
ohne sich vorher Gedanken über die eigenen Lebensziele und den Sinn und
Zweck der eigenen Existenz gemacht zu haben. Dieselbe Gefahr besteht für
Menschen, die eine Gemeinschaft gründen, wenn sie als Gruppe diesen
Prozeß nicht bewältigen. Wenn das höchste Ziel der Mitglieder einer
Gemeinschaft darin besteht, ein Dach über dem Kopf zu haben, dann könnten
sie genausogut in irgendeiner Vorstadt leben. Andererseits kann eine
Gemeinschaft die Welt verändern, wenn die Mitglieder eine starke
gemeinsame Vision haben, ein Gruppenziel, nach dem sich das alltägliche
Leben und die Arbeit der Gemeinschaft richtet, und wenn innerhalb der
Gruppe gemeinsame Normen und Werte herrschen.
Bedenken Sie, wie sich Ihre Lebensqualität verändern würde, wenn Sie und
ein Dutzend anderer, ähnlich gesinnter Familien sich zusammenschließen und
Ihr Geld zusammenlegen würden, um damit so viel Land zu erwerben, daß es
ausreichen würde, um Ihre eigene Nahrung anzubauen und die Häuser mit
Holz oder Sonnenenergie zu heizen.
Stellen Sie sich nun vor, wie Sie gemeinsam mit den anderen täglich daran
arbeiten, eine selbstgewählte Aufgabe zu erfüllen. Dabei kann es sich um eine
Kleinigkeit handeln, etwa ein gemeinsames Morgengebet, das Kraft ausstrahlt
und den Planeten verändert, oder auch um eine umfangreiche Arbeit wie
beispielsweise die Veröffentlichung von Ratgebern und Handbüchern, die
anderen helfen, ihren Weg zu finden, oder der Betrieb eines
Ausbildungszentrums, das Kurse anbietet, in denen es um Heilung oder
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
264/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Überleben geht, oder irgendeine von Hunderten anderer wichtiger Aufgaben.
Man muß dazu natürlich nicht unbedingt auf dem Land leben. Der Trend zu
Haus- und Wohngemeinschaften ist in Europa mittlerweile weit verbreitet, und
er wird auch in den USA stärker. In Großstädten wie Berlin und New York
kaufen oder mieten Menschen gemeinsam ganze Häuserblocks, um dort in
räumlicher Nähe miteinander zu leben, und oft legen sie auch Dachgärten
oder Parks an. In kleineren oder mittleren Städten ist das noch einfacher, wie
der Erfolg der Ten Stones Community in der Nähe von Burlington, Vermont,
zeigt.
[391]
Das größte Hindernis für jedes Gemeinschaftsleben ist der Würgegriff der
hierarchischen
Unternehmensstrukturen
und
der
entsprechenden
Arbeitsbedingungen, denen die Leute dort ausgesetzt sind. Sie rauben den
Menschen die Lebensenergie durch Bestrebungen, die nur sehr wenig mit
Überleben oder gar Lebensfreude zu tun haben, und wenn die Leute dann
nach der Arbeit heimkommen, sind sie nur noch fähig, sich ein paar Stunden
vom Fernseher berieseln zu lassen, bevor sie ins Bett fallen.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche, dauerhafte
Gemeinschaft besteht darin, daß eine Gruppe von Menschen in gegenseitiger
Abhängigkeit für ihr Überleben und ihren Lebensunterhalt sorgt. Vielleicht
leben und arbeiten sie zusammen (wie die Schausteller auf einem Volksfest,
bei dem ich im Alter von 13 Jahren zwei Wochen mitgearbeitet habe, oder in
der Gemeinschaft für mißbrauchte Kinder, die Louise und ich 1978 in New
Hampshire gegründet haben); oder sie arbeiten zusammen, wohnen und
leben aber völlig getrennt voneinander (wie bei vielen kleinen Unternehmen
oder speziell in Kooperativen); oder sie arbeiten auf eine Weise, daß sie sich
gegenseitig mit Waren und Dienstleistungen versorgen (wie es in den kleinen
amerikanischen Städten vor hundert und mehr Jahren üblich war).
Es reicht nicht aus, nur nahe beieinander zu wohnen; wenn es nur darum geht,
ist aus »der Gemeinschaft, dem Stamm oder der Kleinstadt« eine
»Untereinheit« geworden, egal wie »gleichgesinnt« die betreffenden
Menschen sein mögen. Wie schon gesagt, Gemeinschaftsleben kann man
nicht nur auf dem Land praktizieren; es ist auch ohne weiteres möglich, wenn
man nicht einmal einen festen Wohnsitz hat (wie bei den Roma und Sinti
überall auf der Welt), in der Diaspora oder im eigenen Land (wie bei den
Juden), oder in einer Stadt oder Vorstadt, wo jeder für seinen individuellen
Lebensraum sorgt (wie bei den Kooperativen oder nicht-hierarchisch
strukturierten Unternehmen, die ihren Mitgliedern/Eigentümern einen
Lebensunterhalt sichern).
[392]
Damit die Gemeinschaft funktioniert, muß man nicht einmal auf demselben
Kontinent leben. Ich unterhalte beispielsweise mehrere Foren im Internet, die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
265/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
mir und meinen Mitarbeitern ein Einkommen sichern und für Zehntausende
von Menschen aus aller Welt einen Treffpunkt und eine Gemeinschaft
darstellen. Der »Ort«, an dem diese Gemeinschaften zusammenkommen, ist
absolut virtuell: Das ADD Forum und das New Age Living Forum
beispielsweise existieren nur als elektronische Impulse im Internet, aber wir
haben Mitglieder auf sechs Kontinenten. Wir sind sehr vertraut miteinander,
teilen unsere Freuden und Mißerfolge, trauern um Mitglieder, die wir durch
Unglück oder Krankheit verloren haben, und feiern mit denen, die im Leben
erfolgreich sind. Mehrere Paare, die sich »im Internet« kennengelernt haben,
sind inzwischen verheiratet, und als einer unserer besten Freunde und OnlineGefährten, J.B. Whitwell, kürzlich an Lungenkrebs starb, löste das in unserer
Cyber-Welt Wogen der Trauer aus.
Der Schlüssel zur Gemeinschaft ist also gegenseitige Abhängigkeit –
ökonomisch, im Hinblick auf gemeinsame Lebensbedürfnisse oder auf
emotionale Unterstützung und Freundschaft –, nicht räumliche Nähe. Wenn
räumliche Nähe hinzukommt, dann ergibt sich eine Konstellation, die an
traditionelle Stämme erinnert, aber was einen Stamm wirklich zum Stamm
macht, ist nicht die rassische Identität oder der gemeinsame Lebensraum,
sondern die gegenseitige Abhängigkeit der Mitglieder voneinander.
Das ist an jedem Ort und auf jede erdenkliche Weise möglich.
Viele Leute unternehmen heute schon diese Schritte. Ich sehe darin eine der
größten Hoffnungen für das Überleben und die Erleuchtung der Menschheit,
während wir schwierigen Zeiten des Mangels entgegengehen. Wenn sie
entsprechend strukturiert sind, können solche Gemeinschaften lebenswichtige
soziale und spirituelle Bedürfnisse erfüllen und zugleich die materielle Existenz
(Nahrung, Obdach und manchmal auch Arbeitsplätze) ihrer Mitglieder sichern.
[393]
[394]
Das Alltagsleben und Rituale neu
erfinden
Eine Kultur, die k einen Geschichtenerzähler
mehr hat, wird bald k eine Kultur mehr sein.
Ari Ma'ayan, amerikanischer Ureinwohner vom
Stamm der Muskogee Creek und spiritueller Lehrer
Eins der wichtigsten »Geheimnisse« der alten Völker aus älteren Kulturen,
das wir heute verloren haben, ist das Wissen, wie man ein Ritual oder eine
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
266/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Zeremonie durchführt. Eigentlich ist es nicht ganz richtig zu sagen, daß wir
dieses Wissen »verloren« haben: Vielmehr haben wir unsere Rituale
verändert, uns von Dingen abgewendet, die uns an die Heiligkeit allen Lebens
erinnern, und feiern statt dessen den Konsum, als sei er selbst eine Art
Religion. Als Kultur haben wir das Heilige sowohl aus unserem täglichen
Leben als auch aus unseren »Feiertagen« verbannt, die wir jetzt nur noch als
Freizeit betrachten.
Kein Wunder, würde Thoreau schreiben, denn: »Die meisten Menschen führen
ein Leben der stillen Verzweiflung.« Die meisten Menschen tun das wirklich,
vor allem weil unsere Kultur das Leben selbst, dieses außerordentliche
Geschenk, diese wunderbare Gelegenheit, die Welt zu erfahren, aller Ehrfurcht
und aller Wunder beraubt hat. Die Konzerne sind sogar noch einen Schritt
weitergegangen: Sie haben in die meisten der über 20 000 Werbespots, die
ein durchschnittlicher Amerikaner jährlich sieht, die Botschaft eingebaut, daß
»der Sinn des Lebens« darin besteht zu konsumieren – mehr, besser, neuer,
schneller, eindrucksvoller. Insofern könnte man sagen, daß wir unseren Alltag
nicht nur des Heiligen beraubt haben, sondern wir haben ihn profanisiert: Die
meisten Menschen legen nun täglich ihre Hoffnungen, Ängste und Träume vor
den Altar des »allmächtigen Herrschers« Konsum.[96] Sie hoffen auf ein
besseres Auto, fürchten den Verlust ihres Arbeitsplatzes und träumen von
einem größeren und eindrucksvolleren Haus.
[395]
Rituale verschwinden nicht, sondern
ändern sich nur
Unser Leben ist tatsächlich von Ritualen erfüllt, ob wir es merken oder nicht:
Wir trinken morgens unseren Kaffee, werfen einen Blick ins
Frühstücksfernsehen, lesen die Zeitung, fahren zur Arbeit, machen
Mittagspause, sehen unsere Lieblingssendung im Fernsehen, gehen abends
zu Bett. Für die meisten Leute sind das »unbewußte« Rituale. Wir vollziehen
sie, ohne darüber nachzudenken, ohne zu merken, daß sie einen so großen
Teil unseres Lebens in Anspruch nehmen – daß sie selbst unser Leben
geworden sind.
Die alten Völker und die Menschen, die heute noch in Stammesgesellschaften
leben, benutzen diese normalen Alltagsrituale als Erinnerungshilfen, um sich
immer wieder die außerordentliche spirituelle Kraft des Lebens zu
verdeutlichen. Einen winzigen Rest davon finden wir noch in unserem rituellen
Dankgebet vor dem Essen, aber auch das ist in der modernen Gesellschaft
selten geworden. Als wir eine besondere Zeremonie vorbereiteten, erzählte
mir ein älterer Apache, daß wir beim Holzsammeln im Wald jeden einzelnen
Ast fragen müssen, ob er Teil des Feuers werden möchte, in dem die Steine
für die Schwitzhütte erhitzt werden. Wir müssen auf ihre Antwort lauschen und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
267/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
sie ernst nehmen. Die Äste, die »nein« sagen, müssen wir liegenlassen. Und
das gilt nicht nur beim Sammeln von Feuerholz für eine
Schwitzhüttenzeremonie: Alles, was wir im Laufe des Tages tun, sagte er, sei
eine Gelegenheit zur Kommunikation mit dem Großen Geist, welcher in der
gesamten Schöpfung gegenwärtig sei und durch sie zu uns spreche.
[396]
Wir haben soviel auf dem Altar des Konsums verloren, indem wir glauben, der
Weg zum Glück führe über immer mehr Konsumgüter. Erst vor zwei Wochen
war ich an der Nordostküste zu einem Vortrag und einer Signierstunde in
einem Buchladen
von Barnes
&
Noble. Ich
sprach über
Aufmerksamkeitsstörungen (ein Thema, mit dem ich mich in sechs meiner
Bücher beschäftigt habe) und erläuterte meine Vorschläge und Ideen, wie
Eltern und Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen und anderen
»Lernschwierigkeiten« umgehen können. Als ich nach meinem Vortrag an
einem kleinen Tisch saß und Bücher signierte, kam ein Paar von Anfang
Vierzig auf mich zu. Sie erklärten, sie seien direkt von einem Treffen mit
einem Klienten in der Firma des Ehemannes in den Buchladen gekommen.
Dann sagte die Frau überwiegend zu mir, aber auch zu einem Dutzend
anderer Eltern, die um den Tisch herumstanden, etwas, das in meiner Brust
einen scharfen Schmerz auslöste:
»Sie wissen, daß die meisten Leute ein Ferienhaus und ein Boot haben und
jedes Jahr eine Kreuzfahrt unternehmen?« Ich nickte, ohne zu wissen, worauf
sie hinauswollte. In ihrer Stimme klangen Ärger und eine schmerzliche
Bitterkeit mit, so wie bei einem Menschen, der das Gefühl hat, vom Leben
unfair behandelt zu werden. »Nun ja, Billy ist unser Boot, unsere Kreuzfahrt und
unser Sommerhaus«, sagte sie. »Er hat eine Aufmerksamkeitsstörung und
kam deshalb in der Schule nicht zurecht. Also haben wir ihn ins Internat
geschickt, wo er ausgerissen ist und dann von der Polizei aufgegriffen wurde.
In der Untersuchungshaft hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Wärter,
von dem er behauptete, er habe versucht, ihn zu vergewaltigen, und nun ist er
wegen Körperverletzung verurteilt worden. Dabei ist er erst 16 und schon ein
jugendlicher Straftäter. Wir haben einem Anwalt dreitausend Dollar gezahlt,
damit das Gericht die Strafe zur Bewährung aussetzt, und jetzt befindet er sich
in einem psychiatrischen Kinderkrankenhaus. Das alles kostet uns – abzüglich
dessen, was die Versicherung übernimmt – mehr als ein Boot oder ein
Sommerhaus, und ich sehe noch kein Ende, bis er 18 ist und auf eigenen
Füßen steht. Aber bis dahin könnten wir pleite sein.«
[397]
Ihre Stimme war voller Wut und Schmerz, und ich sah diese Gefühle auch in
den Augen ihres Mannes, als er zustimmend nickte. Ihr Kind, so glaubten die
Eheleute, hatte sie der Segnungen beraubt, die ihre Gesellschaft ihnen
versprochen hatte. Ihr Sohn hatte sie um ihre Chancen gebracht, glücklich zu
sein. Er hatte sie um ihre Lebensziele betrogen, auf die sie so viele Jahre lang
so hart hingearbeitet hatten.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
268/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Nach ihren Vorstellungen bestanden die heiligsten und bedeutsamsten Rituale
des Lebens darin, ihre Freizeit im Ferienhaus zu verbringen, mit dem Boot auf
den See hinauszufahren und jährlich eine Kreuzfahrt zu unternehmen. Ich
konnte sie nur ansehen und sagen: »Ich hoffe, Ihr Sohn übersteht diese
Erfahrung unbeschadet. Psychiatrische Kliniken können für Kinder eine sehr
schlimme Sache sein.«
»Oh, er wird es überstehen«, sagte der Vater. »Er hat ja noch sein ganzes
Leben vor sich. Ich weiß nur nicht, ob wir es überstehen werden.«
Ich sah die zwölf oder dreizehn Elternpaare an, die im Kreis um uns
herumstanden und darauf warteten, daß ich ihre Bücher signierte, und
ungefähr die Hälfte von ihnen nickte zustimmend. Auch sie waren in Sorge,
daß die »Störung« ihrer Kinder sie jenes Glücks berauben könnte, das die
Konsumideologie ihnen ihr Leben lang versprochen hatte.
Vor vier Tagen war ich in Deutschland bei meinem Mentor und Freund
Gottfried Müller. Wir gingen auf seinem Lieblingsweg durch den Wald – er
nennt ihn seinen »Weg des Propheten« –, und er zeigte mir einen Baum, der
vom Abhang heraufwuchs. Seine Wurzeln hatten sich um einen Haufen Steine
geschlungen, rauhes Braun, das sich vom dunklen Grau des Granits abhob.
»Sieh nur, wie die Wurzeln sich ihren Weg gebahnt haben«, sagte er.
»Dahinter steckt ein Leben, eine Intelligenz, eine geistige Kraft.«
[398]
Er berührte den Baum mit seiner Hand und sagte: »Danke für dein Leben, daß
du hier bist und mein Leben besser machst.«
Auch ich berührte den Baum und sprach ein stilles Gebet.
Ein paar Schritte weiter blieb er stehen und zeigte auf die jetzt zu Beginn des
Winters kahlen Bäume, welche die Berge auf der anderen Seite des Tals
bedeckten. Ein paar hundert Meter unter uns tanzte und gurgelte die Steinach.
Die Luft roch nach Schnee, und die Kälte kitzelte in meiner Nase. »Wir können
das alles sehen, Thomas«, sagte er. »Du kannst den Fluß hören und die kalte
Luft fühlen.« Tränen traten in seine Augen: Mit seinen 84 Jahren sprach er jetzt
oft davon, daß er bald »gehen müsse«. »Das Leben ist solch eine kostbare
und seltene Gabe«, sagte er. »Denk nur an all die Menschen, die gelebt
haben und heute nicht mehr sind. Was würden sie darum geben, hier zu
stehen und diese Luft zu atmen? Das Leben ist ein solches G-ttesgeschenk.«
Für Gottfried Müller ist das Ritual des Alltagslebens, wie für viele Menschen
der älteren Kulturen, erfüllt von Dingen und Situationen, die ihn an die
Heiligkeit des Lebens erinnern. In diesen Augenblicken empfangen wir – in
vollem Umfang – das Glück und den Sinn des Lebens, welche die Konsumund-Konzern-Religion der jüngeren Kultur uns täglich tausendmal verspricht
und doch nie wirklich gewähren kann.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
269/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Sinnvolle Rituale
Zusätzlich zu den Alltagsritualen – den »normalen« Ritualen – gibt es auch
solche, die wir bewußt und mit einer bestimmten Absicht vollziehen. Dazu
gehören Hochzeiten, der Besuch der Kirche oder Synagoge und die Riten des
Übergangs.
Fast jede menschliche Gesellschaft hatte solche Rituale, Zeremonien des
Übergangs, welche die Meilensteine des Lebens markieren. Doch in unserer
modernen Gesellschaft sind auch sie weitgehend verlorengegangen, oder sie
haben sich in »Konsumorgien« verwandelt, geleitet von den Konzern-Priestern
wie Hochzeitsberatern, präsentiert in Abteilungen für Weihnachtsgeschenke in
den großen Kaufhäusern oder zelebriert als Fototermin mit dem Nikolaus.
[399]
Das wirkt sich besonders verheerend auf unsere Kinder aus: Die
jahreszeitlichen Übergangsriten oder die Riten des Eintritts in das
Erwachsenenalter sind ein Echo aus menschheitsgeschichtlich uralten
Epochen, und sie haben eine enorme Bedeutung im Leben. Der
Schulabschluß und die Einberufung zum Militär sind fast das einzige, was
davon für die meisten Kinder geblieben ist, und selbst das gilt zunehmend als
»keine große Sache«. In religiösen Familien feiert man noch die Kommunion,
Konfirmation oder Bar Mizwa, aber auch das sind nur noch »Überbleibsel«.
Bei der ungestümen Jagd nach einem »besseren Leben«, die ohne Rücksicht
auf unsere historischen kulturellen Rituale zu einer Explosion von
Doppelverdiener-Familien geführt hat, sind sie eher die Ausnahme als die
Regel.
Aber unsere Kinder brauchen ihre Übergangsriten: Nach Angaben des US
Center for Health Statistics hat sich die Zahl der Selbstmorde bei
Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren in der Zeit zwischen 1970 und
1990 verdoppelt. Selbstmord und Mord sind für ein Drittel aller Todesfälle
unter amerikanischen Teenagern verantwortlich.
Rituale sind in vieler Hinsicht ein wichtiger Teil des »Klebstoffs«, der eine
Kultur, Gesellschaft, Familie oder Beziehung zusammenhält. In der modernen
Gesellschaft werden wir Zeugen, wie unsere Rituale immer schneller zerfallen,
wobei das Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen wird. Es gibt in unseren
Institutionen einige Führer, die sich bei Ritualen unbehaglich fühlen und
deshalb meinen, man müßte sie »aufbrechen«. Andere haben es einfach nur
eilig, nach Hause zu kommen und ihre Lieblings-Fernsehshow zu sehen. Ein
Freund schickte mir, nachdem er den ersten Entwurf dieses Kapitels gelesen
hatte, eine E-Mail, in der er schrieb:
»Ich schätze, es ist kein Zufall, daß
nachgedacht habe, daß Rituale (sogar
einmal waren. Heute abend ist meine
Organisation eingeführt worden. Als du
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[400]
ich ausgerechnet heute abend darüber
weltliche) nicht mehr das sind, was sie
Tochter in der Schule in eine wichtige
und ich in ihrem Alter waren, hätte der
270/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Redner wahrscheinlich über die Werte gesprochen, welche die Kinder, die hier
geehrt wurden, verkörperten, aber dieser Redner verschwendete das erste Viertel
seiner Redezeit damit, daß er sich über die Kinder lustig machte, indem er über
Teenager sprach, die »nicht ganz das Wahre« sind. Ich weiß, das ist nicht die Art
von Ritual, die du meinst (wenn du über Religion und Kultur schreibst), aber ich
denke, es gibt doch eine Gemeinsamkeit – unsere wachsende Unfähigkeit zu
erkennen, was wichtig ist.«
In meinem Buch The Prophet's Way habe ich beschrieben, wie ich Zeuge
eines Übergangsrituals für ein Apachen-Mädchen war, das in die
Gemeinschaft der erwachsenen Frauen aufgenommen wurde. Es handelt sich
dabei um ein Ritual, das seit Jahrhunderten so praktiziert wird und das dieses
Mädchen offenkundig verwandelte. Ähnliche Rituale sind Bestandteile aller
älteren Kulturen, mit denen ich mich beschäftigt habe.
Ich habe an Trommelzeremonien teilgenommen, an Gesprächskreisen,
Schwitzhüttenzeremonien und anderen Ritualen amerikanischer und
afrikanischer Ureinwohner, sowohl in Amerika als auch in Afrika. Eins der
unter amerikanischen Ureinwohnern am weitesten verbreiteten Rituale ist der
Gesprächskreis, wobei ein heiliger Gegenstand (ein Stock, eine Adlerfeder
oder irgend etwas anderes) von einer Person zur nächsten weitergegeben
wird. Nur derjenige, der den Gegenstand gerade in der Hand hält, darf
sprechen, und bei den meisten Indianerstämmen vermeiden die anderen
Mitglieder des Kreises respektvoll jeglichen Augenkontakt mit dem Sprecher,
um sich besser auf seine Worte konzentrieren zu können. Der Gegenstand
wird im Kreis weitergereicht, und niemand unterbricht den Vorgang oder
reagiert auch nur auf die Bemerkungen oder Fragen der anderen, bis er selbst
an der Reihe ist. Wenn jemand dem Sprecher nachdrücklich zustimmt, dann
wird er vielleicht leise brummen oder ein anderes wohlwollendes Geräusch
von sich geben, aber das ist auch schon die Grenze. Jeder, der an die Reihe
kommt zu sprechen, beginnt damit, daß er sich bedankt: bei seinem Schöpfer
für sein Dasein, bei seinen Eltern für ihr Leben, bei den anderen im Kreis für
ihr Zuhören und ihre Anwesenheit. Erst dann redet er über das, was ihn
gedanklich beschäftigt. Ein solcher ritueller Gesprächskreis ist eine
außergewöhnliche und sehr verbindende Erfahrung, bei der man sich in
Geduld und Respekt üben kann.
[401]
Die alten Völker wußten, wie wichtig Rituale sind, und sie füllten ihr Leben
damit. Auf diese Weise sorgten sie einerseits für vorhersagbare Ereignisse in
einer unsicheren Welt und erinnerten sich andererseits ständig selbst daran,
daß diese Welt von der heiligen Gegenwart der Gottheit erfüllt war.
Dave deBronkart, einer der Herausgeber dieses Buches, hat erwähnt, er habe
im Konfirmationsunterricht gelernt: »Ein Sakrament ist ein äußeres und
sichtbares Zeichen einer inneren und spirituellen Gnade.« Rituale sind nicht
nur eine Art Schauspiel: Sie können tatsächlich bewirken, daß man
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
271/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Erfahrungen verinnerlicht. Dave hat hinzugefügt: »Rituale und Zeremonien sind
gemeinsame Erfahrungen, die zu Schwingungen werden, welche uns heute
alle verbinden und über die Generationen hinweg in Resonanz zu unseren
Vorfahren stehen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß eine
unterdrückerische Regierung, wenn sie eine Kultur auslöschen will, deren
Zeremonien verbietet … und wenn die Zeremonien heimlich weiter praktiziert
werden, kann diese Kultur wieder auferstehen, nachdem die Unterdrücker
verschwunden sind.«
[402]
Rituale neu erfinden
Sie können Rituale und Zeremonien wieder in Ihr Leben zurückbringen und
werden dann als Resultat eine sofortige Veränderung Ihrer Lebensqualität
feststellen. Diese Rituale und Zeremonien können sich von Zeit zu Zeit
verändern, man kann sie völlig neu erfinden oder von alten Völkern
übernehmen.
Meine Frau und ich setzen uns beispielsweise jeden Morgen ein paar Minuten
hin und meditieren. Häufig gehen wir zu einem Altar, den Herr Müller im Wald
in der Nähe unseres Hauses gebaut hat, und beten dort. Oft sprechen wir ein
Dankgebet vor den Mahlzeiten, und wenn wir zum Abendessen ein Glas
Rotwein trinken, sagen wir ein besonderes Gebet, das uns an Jesu Blut und
an die Opfer erinnert, die er für uns gebracht hat. Wir praktizieren am Freitag
abend eine Art von Sabbatzeremonie, die wir von Herrn Müller gelernt haben
(und die er von seinem Mentor gelernt hat), und wir nehmen uns den Samstag
möglichst frei, nutzen ihn zur Entspannung, zum Lesen und Reden und für
ausgedehnte Waldspaziergänge. Wenn wir morgens aufwachen, geben wir
uns vor dem Aufstehen gegenseitig besondere Zuwendung, kuscheln im Bett,
reden über den bevorstehenden Tag und versichern uns unserer Liebe
füreinander. All dies sind Rituale, die wir mit Absicht entwickelt haben und
durch die wir die Gegenwart des Heiligen erkennen.
Gemeinsam mit unseren Freunden experimentieren wir mit Gesprächskreisen
und anderen Zeremonien. Wir denken auch darüber nach, Leute zu
Meditationswochen in unser Haus einzuladen (wenn ich irgendwann einmal
nicht mehr soviel auf Reisen bin), so wie wir es vor Jahren in Michigan und
New Hampshire getan haben, und wir wollen mehr heilige Rituale in unsere
Gartenarbeit und ins Kräutersammeln einbauen.
Auch Sie können Ihre eigenen Rituale und Zeremonien entwickeln. Nach den
ersten mühsamen Wochen werden sie zu einem selbstverständlichen Teil
Ihres Alltags und erfüllen dennoch weiterhin den Zweck, Sie an das Heilige zu
erinnern.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[403]
272/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Wenn Sie in einer Gemeinschaft leben, kann diese eine Art Überbau schaffen,
durch den es noch leichter wird, sich an die Rituale zu halten, und durch den
ihre Bedeutung und ihre Wirkung noch weiter wachsen können. Ich habe
einmal einen Sabbat in einer chassidischen Gemeinde in Jerusalem
verbracht: Die ausführlichen Rituale waren beeindruckend und sehr machtvoll.
In den ersten Jahren unseres New England Salem-Kinderdorfes (bevor ein
Sozialarbeiter sich dagegen wehrte, daß wir »zu religiös« waren und der
Staat von uns verlangte, darauf zu verzichten) läutete Großvater Irving jeden
Morgen gegen neun Uhr und jeden Nachmittag gegen drei Uhr die Glocke.
Die Erwachsenen (und gelegentlich auch ein Kind), die mitmachen wollten,
versammelten sich in meinem Büro, um eine Viertelstunde lang still zu beten
und zu meditieren, wobei wir am Ende einen Kreis bildeten, uns an den
Händen hielten und das »Vaterunser« beteten. Gemeinschaften, die sich zu
einem bestimmten Zweck zusammengeschlossen haben – beispielsweise um
andere zu heilen oder den Planeten zu retten, und ganz gewiß die religiösen
Gemeinschaften –, finden viele Möglichkeiten, um Rituale mühelos und ganz
natürlich in ihren Alltag einzubauen.
In diesen Ritualen, im Dankgebet vor der Mahlzeit oder dem täglichen
Waldspaziergang – oder auch wenn man in der Vorstadt nur die Straße
entlanggeht und dabei das Gras, die Büsche und die Bäume wahrnimmt –
erneuern wir unsere Verbindungen zu unseren Vorfahren. Indem wir das tun,
bringen wir ihre Weisheit, ihre umweltverträgliche Lebensweise, ihre Weltsicht
in unsere Gegenwart und unsere Zukunft – und wir können sie dann mit
anderen Menschen teilen. Darin liegt vielleicht die größte Chance, unsere
jüngere Kultur zu transformieren.
[404]
Wir haben viel zu lernen – und noch
mehr, woran wir uns erinnern müssen
Unsere Vorfahren wußten etwas, das wir
anscheinend vergessen haben.
Albert Einstein
W ir haben unseren Weg in diesem Buch damit begonnen, daß wir in einen
dichten, dunklen Wald eingetaucht sind. Wir haben festgestellt, in welche
Situation wir uns gebracht haben und was in absehbarer Zeit auf uns und
unsere Kinder zukommen wird. Wir leben ständig »über unsere Verhältnisse«
und sind dadurch in eine bedrohliche Abhängigkeit von unterirdisch
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
273/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
gespeichertem Sonnenlicht (und anderen begrenzten Ressourcen) geraten,
die bald zur Neige gehen werden. Wir treiben Raubbau an der Erde und töten
dabei unsere Mitgeschöpfe.
Dann haben wir zurückgeblickt und festgestellt, auf welche Weise wir in diese
Situation gekommen sind. Wir haben erkannt, welche zentrale,
weltverändernde Bedeutung die Geschichten haben, die wir uns selbst
erzählen; die lange und gewöhnlich ehrenhafte Geschichte vom
umweltverträglichen Lebensstil unserer Vorfahren, die der älteren Kultur
angehörten – sie hatten in der Regel keine derartigen Probleme –, und dann
der Wechsel, der erst vor relativ kurzer Zeit vollzogen wurde, hin zu den
jüngeren Kulturen, zum Wétiko der auf Herrschaft basierenden Städte und
Staaten.
Es wird keine angenehme Zeit sein, wenn die Ölvorräte zur Neige gehen. Von
den Sumerern angefangen, ist die Situation immer unangenehm geworden,
wenn einer auf Wachstum angelegten Kultur die Energie ausging. Aber es ist
möglich zu überleben, es zu einem wie auch immer gearteten neuen Leben
auf der anderen Seite zu schaffen. Die Chancen stehen nicht schlecht, daß
andere Energiequellen das Öl ersetzen können. Die große Gefahr liegt jedoch
darin, daß diese neuen Energiequellen – wenn sie, wie es für die jüngere
Kultur typisch ist, lediglich dazu benutzt werden, die Zahl der Menschen auf
diesem Planeten noch weiter zu erhöhen, noch mehr konkurrierende Arten
auszurotten, noch mehr Ressourcen zu plündern, noch mehr Kriege
gegeneinander und gegen die Umwelt anzuzetteln – unseren Untergang noch
nachdrücklicher besiegeln werden als der bloße Verlust unserer fossilen
Brennstoffe.
[405]
Unsere Energiequellen sind nicht so wichtig wie unser Weltbild, das in unserer
Kultur verankert ist. Dieses Weltbild müssen wir ändern, und zwar schnell und
gründlich.
Die gute Nachricht lautet, daß wir keine neue Kultur oder Lebensweise
erfinden müssen. Es gibt viel zu lernen und viel, woran wir uns erinnern
müssen – die Art und Weise unserer Vorfahren, die lange, bevor wir geboren
wurden, ein umweltverträgliches Leben führten. Ihr Lebensstil war unabhängig
von irgendwelchen Energievorräten, weil ihm eine Verbindung zu allem
anderen Leben innewohnte, die ihm eine außerordentliche Flexibilität verlieh.
Diese Flexibilität steht auch uns noch zur Verfügung, und sie läßt sich sogar in
unsere »moderne« Welt integrieren.
In der hunderttausend Jahre währenden Geschichte der Menschheit haben
etwa 5000 Generationen gelebt. Fast während der ganzen Zeit galt unseren
Vorfahren die gesamte Schöpfung als heilig, und sie behandelten sowohl die
Natur als auch ihre Mitmenschen mit Respekt und Verehrung. Nur in den
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
274/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
letzten paar hundert Generationen sind wir von diesem Weg abgewichen.
Auch Sie stammen von Tausenden von Elterngenerationen ab, die
umweltverträglich lebten, gut genug, um schließlich Ihnen das Leben zu
schenken. Die DNS in Ihren Zellen stammt von eben jenen Menschen.
Stellen Sie sich eine Kette von 5000 Müttern vor, die im Laufe vieler
Jahrtausende Ihre Vorfahren und schließlich Sie zur Welt gebracht haben – die
Kette reicht zurück bis zu den Stammesgesellschaften und nach vorn bis zu
Ihnen selbst.
[406]
Die Fähigkeit unserer Vorfahren, alles Leben zu respektieren – die
Gegenwart G-ttes, die göttliche Intelligenz in allen Lebewesen und sogar im
scheinbar unbelebten Universum zu spüren –, liegt genauso in den Genen, die
Ihre in Stammesgesellschaften lebenden Vorfahren Ihnen mitgegeben haben,
wie der Instinkt, eine Gemeinschaft zu bilden und in harmonischer Kooperation
zusammenzuleben. Die anthropologischen Forschungsergebnisse zeigen uns,
daß der Psychologe Abraham Maslow recht hatte mit seiner Hypothese, daß
der Mensch von Natur aus gut ist und instinktiv das Göttliche sucht, und daß er
nur dann Störungen entwickelt, wenn er in einer kranken Kultur aufwächst, die
gewalttätige und zerstörerische Menschen hervorbringt.
Die hunderttausend Jahre währende menschliche Geschichte – und die heute
noch lebenden »primitiven« Menschen – sagen uns, daß das »herkömmliche
Wissen«, daß »der Mensch von Natur aus böse und herrschsüchtig ist«, nicht
der Wahrheit entspricht, daß es sich hier lediglich um eine für unsere Kultur
typische Krankheit handelt, die gemessen an der langen Geschichte der
menschlichen Rasse erst vor kurzer Zeit aufgetreten ist. Wir alle sind vielmehr
mit dem angeborenen Wissen zur Welt gekommen, daß die gesamte
Schöpfung göttlich ist, mit der angeborenen Ehrfurcht vor dieser Schöpfung,
und unsere ersten und grundlegenden Instinkte sind Mitgefühl und Liebe.
Wenn Sie sich jetzt in diesen gegenwärtigen Augenblick versetzen, sich
umsehen und erkennen, daß die gesamte Welt vor Leben vibriert, wenn Sie
fühlen, wie diese Energie von der Schöpfung ausstrahlt und sich als Liebe in
Ihr Herz ergießt, dann stellen Sie – in diesem Augenblick – die Verbindung zu
der althergebrachten Lebensweise und ihrem heiligen Weltbild her.
Von dieser Verbindung aus – diesem Ankerplatz im heiligen Hier und Jetzt –
können Sie die Lebenskraft berühren sowie sich selbst transformieren und
damit auch die anderen Menschen in Ihrer Umgebung. Diese transformieren
wiederum andere Menschen, mit denen sie in Berührung kommen, und durch
die Kraft der Lebensenergie berühren wir gemeinsam jeden Menschen und
jedes lebende Wesen auf diesem Planeten. Während Sie Ihr Weltbild
ändern – und so beginnen, kleine, anonyme Akte der Barmherzigkeit und des
Mitgefühls zu praktizieren, Ihre Lebensweise und Ihr Verhältnis zum Konsum zu
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[407]
275/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
verändern, Ihre Rituale mit Spiritualität zu erfüllen –, wird sich Ihr Leben auf
leichte und natürliche Weise verwandeln und neue Sichtweisen und
Handlungsformen hervorbringen, die wir jetzt brauchen, wenn die letzten
Stunden des gespeicherten Sonnenlichts anbrechen.
Durch diesen einfachen, praktischen, täglichen Vorgang beginnen wir, die
Welt zu retten.
[408]
Nachwort
Sie haben gerade eins der wichtigsten Bücher gelesen, die Sie je in Ihrem
Leben lesen werden.
Und weil Sie dieses außergewöhnliche Buch bis hierhin gelesen haben,
gehören Sie zu den Menschen, auf die es ankommt. Sie sind einer von denen,
die eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung unserer Zukunft auf diesem
Planeten spielen. Vielleicht haben Sie sich selbst noch nicht in dieser neuen
Rolle gesehen, aber wenn Sie bis hierher gekommen sind, dann ist sie Ihnen
damit aufgetragen worden.
Auf diese Art funktioniert das Leben und das Universum. Auf diese Weise
spricht Gott mit uns allen. Zunächst werden wir mit Daten und Fakten
konfrontiert – eine Mitteilung. Dann werden wir aufgefordert, gedrängt oder
gezwungen, die Informationen aufzunehmen, die Mitteilung zu empfangen. Und
schließlich entscheiden wir, wer wir in bezug auf diese Mitteilung sind.
Das ist es, was Sie jetzt gerade tun. Sie entscheiden, wer Sie wirklich sind in
bezug auf diese unglaublich wichtige Information, die Sie gerade
aufgenommen haben. Und nun, ganz gleich, wie Ihre Entscheidung ausfällt,
werden Sie eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung unserer Zukunft auf der
Erde spielen.
Wenn Sie beschließen, diese Information zu ignorieren, werden Sie eine
bestimmte Art von Zukunft mitgestalten. Wenn Sie beschließen, entsprechend
zu handeln, werden Sie eine andere Art von Zukunft mitgestalten.
Sie können sich dieser Rolle nicht verweigern. Sie wissen zuviel. Als ich
dieses Buch gelesen hatte, wußte ich, daß mein Leben nie wieder so sein
würde wie zuvor. Ich konnte mich selbst als Teil des Problems oder als Teil
der Lösung sehen, aber ich konnte nicht mehr vorgeben, das alles hätte nichts
mit mir zu tun.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
[409]
276/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Irgendwo in der Mitte des Buches haben Sie sich vielleicht gesagt: »Ich
erkenne das Problem. Ich verstehe die Zusammenhänge. Aber was kann ich
tun?« Jetzt, nachdem Sie das Buch zu Ende gelesen haben, ist diese Frage
hoffentlich beantwortet. Aber es gibt noch eine weitere Frage, die für alle
denkenden Menschen sofort folgen muß: »Kann das funktionieren?«
Ich bin hier, um Ihnen zu sagen: »Es kann.« Aber viel – alles – wird davon
abhängen, ob Sie daran glauben, daß es funktionieren kann, ob Sie wissen
und ob Sie wollen, daß es funktioniert.
Wir befinden uns jetzt in einem Prozeß, den Barbara Marx Hubbard als
»bewußte Evolution« bezeichnet. Wir erschaffen uns selbst neu auf diesem
Planeten mit jeder Entscheidung, die wir hier und jetzt treffen, und wir tun das –
vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit (und besonders,
nachdem wir dieses Buch gelesen haben) – im vollen Bewußtsein dessen,
was wir schaffen und wie.
Ich bitte Sie von ganzem Herzen, dieses Buch nicht wegzulegen, ohne daraus
persönliche Konsequenzen zu ziehen. Thom Hartmann hat Ihnen hier einen
Aktionsplan vorgestellt. Er hat Ihnen Werkzeuge in die Hand gegeben, mit
denen Sie hier und jetzt anfangen können, an der Veränderung unseres
kollektiven Bewußtseins mitzuwirken und eine neue »Geschichte« zu
schreiben, die den Motor der menschlichen Erfahrung mit neuer Energie
versorgt.
Wenn Sie nicht glauben, daß ein einzelner Mensch viel bewirken kann – genug
tun kann –, um echte Veränderungen herbeizuführen, dann bitte ich Sie
dringend, ein anderes von Thoms Büchern zu lesen: The Prophet's Way.
Besorgen Sie es sich jetzt. Lesen Sie es sofort. Es wird Sie inspirieren und in
Aufregung versetzen. Denn es belegt konkret, was ein einzelner Mensch tun
kann, und es wird Ihnen eine neue Entschlossenheit verleihen, Ihre
rechtmäßige Rolle bei der Gestaltung unserer Zukunft zu übernehmen.
[410]
Was dieses Buch hier betrifft: Zitieren Sie es überall. Kaufen Sie zehn
Exemplare und verschenken Sie sie. Lassen Sie diesen Aufruf nicht ungehört
verhallen.
Vielleicht fühlen Sie sich wie ein Rufer in der Wüste, aber es ist Ihre Stimme,
auf die wir gewartet haben. Ihr Votum ist maßgebend. Sie sind der
entscheidende Faktor. Wir erreichen die kritische Masse, wenn wir Sie
erreichen – und wenn Sie beschließen, andere zu erreichen – mit der
einfachen Botschaft dieses Buches: Wir sind alle eins.
Lassen Sie uns endlich handeln, in unser aller bestem Interesse. Dann wird
die Sonne noch einen weiteren Tag scheinen, und dann noch einen, und das
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
277/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Leben wird nicht nur weitergehen, sondern zu seinem höchsten Ausdruck
finden, zu seinem höchsten Ruhm, zu seiner größten Freude. Können wir
unseren Kindern dieses Geschenk machen?
Bitte sagen Sie ja.
Neale Donald Walsch
Ashland, Oregon
April 1998
[411]
Literaturempfehlungen
Nachdem sie die erste Ausgabe dieses Buches gelesen hatten, haben mich viele Leute um
Literaturhinweise gebeten. Die folgende Liste ist keineswegs vollständig, aber sie ist ein
Anfang. Sie wird für spätere Auflagen weiter vervollständigt und aktualisiert.
Diese Liste ist jedoch keine ausführliche Bibliographie: Achten Sie auf die Fußnoten im Text,
wo im Zusammenhang mit entsprechenden Zitaten auf weitere ausgezeichnete Bücher
hingewiesen wird. Hier zunächst nur eine subjektive Auswahl von Büchern, die ich persönlich
für wichtig oder nützlich halte, und die zusätzlich zu den im Text zitierten Büchern für das
Thema von Bedeutung sind.
Weitere Informationen bekommen Sie auch bei den in der Danksagung erwähnten drei
Organisationen, wenn Sie sich direkt an sie wenden oder die betreffenden Webseiten
aufsuchen. Außerdem können Sie sich auch mit mir schriftlich in Verbindung setzen über
Mythical Books, 41 Northfield St, Montpelier, VT 05602, USA, oder über die E-Mail-Adresse:
[email protected]
Thom Hartmann
Adams, Patch und Mylander, Maureen: Gesundheit. Oberursel: ZwölfZwölf, 1997
Bagdikian, Ben: The Media Monopoly. Boston: Beacon Press, o.J.
Barker, Rodney: Killeralgen. Eine Reportage. Bern: Scherz Verlag, 1999
Black Elck [Elk ? A.d.T.]: Schamane der Lak ota, Hrsg.: William S. Lyon, Bern. O.W.
Barth, 1998
Brown, Lester R.: Who Will Feed China? New York: W.W. Norton, 1995
Brown, Lester, Christopher Flavin und Sandra Postel: Saving the Planet. New York:
W.W. Norton, 1991
Bruchac, Joseph: Dawn Land. Golden Colorado: Fulcum Publishing, 1993
Cohen, Alan: Deep Breath of Life. Carlsbad, CA: Hay House, 1996
Communities (Magazin), Hrsg. Communities Magazine, Alpha Farm, Deadwood, OR
97430, USA
Communities Directory, Hrsg. Fellowship For International Community, PO Box 814,
Langley, WA 98260, USA
Daly, Herman E.: Wirtschaft jenseits des Wachstums. Salzburg: A. Pustet, 1998
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
278/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Dass, Ram: Sei jetzt und hier. Berlin: Sadhana, 6. Aufl. 1996
Diamond, Jared: Guns, Germs, and Steel. New York: W.W. Norton, 1999
Ehrlich, Paul und Anne: Population Explosion. New York: Touchstone Books, 1991
[412]
Eisler, Riane: The Chalice and the Blade. London: HarperCollins, 1987
Evola, Julius: Revolte gegen die moderne Welt. Arun, 3. Aufl. 1997
Farb, Peter: Man's Rise to Civilization: The cultural asscent[ascent?] of the
idians[indians?] of North America. Bantam Books, 1978
Fikes, Jay: Ruben Snak e, Your Humble Serpent. Clear Light Publishing, 1995
Forbes, Jack: Kolumbus und andere Kannibalen. Die indianische Sicht der Dinge.
Hammer Verlag, 1992
Funk, Robert W.: Honest to Jesus. Harper San Francisco, 1997
Garrett, Laurie: Die k ommenden Plagen. Neue Krank heiten in einer gefährdeten Welt.
Fischer Verlag, 1996
Gelbspan, Ross: Der Klima-GAU. Erdöl, Macht und Politik . Gerling Akad., 1998
Goswami, Amit, Richard E. Reed, Maggie Goswami: Das bewußte Universum. Wie
Bewußtsein die materielle Welt erschafft. Lüchow, 1995
Gowdy, John, Hrsg.: Limited Wants, Unlimited Means. Island Press, 1997
Hammarskjöld, Dag: Mark ings. o.O., o.J.
Hammerschlag, Carl A. und Howard D. Silverman: Healing Ceremonies. Perigee
Books, 1997
Hubbard, Barbara Marx: Conscious Evolution. Novato, CA: New World Library, 1997
Johannes vom Kreuz: Die dunk le Nacht. Einsiedeln: Johannes-Verlag, 4. Aufl. 1992
Korten, David C.: When Corporations Rule the World. Kumarian Press, 1995
Lappé, Marc: Break out. Sierra Club Books for Children, 1995
Larsen, Stephen: Shaman's Doorway. Rochester, Vermont: Inner Traditions, Int., 1998
Leakey, Richard und Roger Lewin: Die sechste Auslöschung. Über die Zuk unft der
Menschheit. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1996
Lee, Richard und Irven DeVore: Kalahari Hunter-Gatherers, AoExcel, 1998
Little, Charles: The Dying of the Trees. New York: Penguin Books, 1995
Loewen, James W.: Lies My Teacher Told Me. New York: Touchstone Books, 1996
Mails, Thomas: Hopi Survival Kit. New York: Penguin Books, 1997
Mander und Goldsmith: The Case Against the Global Economy. Sierra Club Books for
Children, 1997
Mander, Jerry: In the Absence of the Sacred. Sierra Club Books for Children, 1997
Mason, Jim: An Unnatural Order. Continuum Pub. Corp., 1997
McKenna, Terence: Speisen der Götter. Die Suche nach dem ursprünglichen Baum
der Weisheit. Die grüne Kraft, 1996
McKenna, Terence: True Hallucinations. London: HarperCollins, 1994
[413]
McKibben, Bill: The End of Nature. Anchor Books, 1990
Merton, Thomas: Asiatisches Tagebuch. Düsseldorf: Benziger Verlag, 1987
Pearce, Joseph Chilton: Der nächste Schritt der Menschheit. Die neurologischen und
biologischen Grundlagen für die volle Entfaltung des menschlichen Potentials.
Freiamt: Arbor, 2. Aufl. 1996
Post, van der, Laurens: Heart of the Hunter. New York: Harcourt Brau, 1980
Postman, Neil: Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung
der Gesellschaft. Fischer, 1992
Potts, Rick: Humanities Descent. New York: Avon Books, 1997
Quinn, Daniel: Ismael. München: Goldmann, 1996
Rhodes, Richard: Tödliche Mahlzeit. BSE: Eine schleichende Epidemie bedroht die
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
279/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Menschheit. Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1998
Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zuk unft. Frankfurt a.M.: Campus, 4.
Aufl. 1996
Robbins, John: Ernährung für ein neues Jahrtausend. Nietsch, 1995
Roszak, Theodore: The Voice of the Earth. New York: Touchstone Press
Sahlins, Marshall: Stone Age Economics. o.O., o.J.
Shaffer, Carolyn und Anundsen, Kristin: Creating Communities Anywhere. New York:
Tarcher/Putnam Publishers, 1993
Talbot, Michael: Das holographische Universum. Die Welt in neuer Dimension.
München: Knaur, 1994
Theobald, Robert: Rework ing Success. New Society Pub., 1997
Thomas, Elizabeth Marshall: Harmless People. Vintage Books, 1989
Tobias, Michael: World War III. Santa Fe, NM, Bear & Co., 1994
Tollifson, Joan: Im Auge des Sturms. Erfahrungen einer Zen-Schülerin. Frankfurt a.M.:
Wolfgang Krüger, 1999
Tudge, Colin: The Time Before History. New York: Touchstone Books, 1996
Turnball, Colin M.: The Forest People. New York: Touchstone Books, 1987
Walsch, Neale Donald: Gespräche mit Gott, Band 3: Kosmische Weisheit. München:
Goldmann, 1999
Williamson, Marianne: The Healing of America. New York: Simon & Schuster, 1997
Wink, Walter: Powers That Be. Galilee, 1999
Wolfe, Art: Tribes.o.O., 1997
[414]
Danksagung
Obwohl mir die meisten Ideen zu diesem Buch schon seit Jahren durch den
Kopf gehen (die Leser meiner früheren Bücher werden sie wiedererkennen),
haben mir verschiedene Leute geholfen, sie in den letzten Jahren deutlicher
herauszuarbeiten. Dies gilt besonders für Professor Jack D. Forbes von der
University of California in Davis, der so freundlich war, mich persönlich zu
empfangen, mir viele E-Mails zu beantworten und mich bei meiner Arbeit zu
ermutigen. Andere, die meine Welt eher aus der Ferne durch ihre eigenen
Veröffentlichungen verändert haben, sind Ross Gelbspan, Bill McKibben,
Charles Little, Joseph Chilton Pearce, Dan Millman, Daniel Quinn, Riane
Eisler, Lester R. Brown, Paul und Anne Ehrlich, Michael Tobias, Rupert
Sheldrake, Jerry Mander, Richard Bandler, Alan Cohen, Patch Adams,
Theodore Roszak, John Robbins, Terence McKenna, James Lee Burke und
Jack Vance. Ihnen allen schulde ich großen Dank für ihre Arbeit und die
Gedanken, die sie veröffentlicht haben.
Meine Verleger, Lektoren und Helfer bei diesem Buch – Dave deBronkart,
Kyle Roderick, Brad Walrod, Jerome Lipani und Gwynne Fisher – haben
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
280/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Unschätzbares geleistet. Dank an Hal und Shelley Cohen, daß sie so ein guter
Resonanzboden und so gute Freunde sind, an Jack und Norma Vance für ihre
Ermutigung und dafür, daß sie ein Beispiel geben, was echter Einsatz beim
Schreiben bedeutet, sowie an Rita Curtis, Tammy Nye, Adam Cohen, Rob
Call, Karen Cross, Ellen Lafferty, Susan Reich, Tim Underwood und Charlie
Winton. Mein tiefer Dank gilt meinem Herausgeber Peter Guzzardi und
Harmony Books, dem das Thema wichtig genug war, um dieses Buch einer
breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sowie meinen Agenten Bill
Gladstone und Stephen Corrick, die sich sehr dafür eingesetzt haben, die
Veröffentlichung zu ermöglichen. Besonders dankbar bin ich Gerhard
Riemann, der Übersetzerin und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Verlagsgruppe Bertelsmann, die mit großer Sorgfalt die deutsche Ausgabe
des Buches erstellt haben, um es auch den Leserinnen und Lesern in
Deutschland zugänglich zu machen, einem Land, in dem ich einige Zeit gelebt
habe und für das ich eine tiefe Zuneigung empfinde. Ihnen allen gilt mein
aufrichtiger Dank.
[415]
Die wichtigsten Einflüsse, die zu diesem Buch geführt haben, stammen von
meinen Eltern, Carl und Jean Hartmann, meiner Frau Louise Hartmann,
meinen Kindern Kindra, Justin und Kerith Hartmann und meinem langjährigen
Mentor Gottfried Müller. Ihnen schulde ich nicht nur mein Leben, sondern auch
meine Lebensqualität, für die ich zutiefst dankbar bin.
Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank den Gründern und Mitarbeitern
des Worldwatch Institute[97], von Cultural Survival[98] und Earth Save[99] für
die enorm wichtige Arbeit, die sie durch ihre Aufzeichnungen über den
Zustand unseres Planeten und praktische Lösungsvorschläge zur
Verbesserung der Situation leisten.
Fußnoten
[1] Armageddon (hebr.; nach Offenb. Joh. 16, 16) ist der mythische Ort,
an dem die bösen Geister die Könige der gesamten Erde für einen
großen Krieg versammeln; (politische) Katastrophe. (A.d.Ü.)
[2] Die einzige Ausnahme bilden Bakterien und andere Organismen,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
281/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
die tief auf dem Meeresgrund leben und ihre Energie aus
Vulkanöffnungen beziehen, die unter dem Wasser liegen. Doch
sogar sie leben letzten Endes von Sonnenenergie: Die vulkanische
Hitze des Erdkerns wurde gespeichert, als sich die Erde aus dem
explodierenden Kern eines Sterns oder einer Sonne gebildet hat.
[3] Während es sich bei Kohle eindeutig um ehemalige
Vegetationsschichten handelt, ist der Ursprung des Öls nicht völlig
geklärt. Die konventionelle Wissenschaft behauptet, es sei ebenfalls
aus pflanzlichen Stoffen entstanden, aber eine andere Theorie, die
der Astronomie-Professor Thomas Gold von der Cornell University
entwickelt hat, geht davon aus, daß Öl in acht bis hundert
Kilometern Tiefe unter der Erdoberfläche von hyperthermophilen
(unter hohen Temperaturen lebenden) Bakterien geschaffen wurde.
Obwohl Golds Theorie – für die viele faszinierende Hinweise
sprechen, wie beispielsweise das Vorhandensein von Helium in
natürlichen Gasvorkommen – bedeuten würde, daß Öl kein
»gespeichertes Sonnenlicht« ist, ändert das nichts an der zentralen
These dieses Buches, denn die Art und Weise, wie die Bakterien
nach Golds Ansicht das Öl geschaffen haben, das wir heute
verbrauchen, bedeutet ebenfalls einen Prozeß, der sich über viele
hundert Millionen Jahre erstreckt hat. Wenn die Vorräte erst einmal
erschöpft sind, dauert es wieder viele hundert Millionen Jahre, um
sie aufzufüllen. (Vgl. T. Gold, »The Deep, Hot Biosphere« in
Proceedings of the National Academy of Sciences, 89, S. 6045–
6049.)
[4] Santa Fe, NM: Bear & Co. Publishers 1994.
[5] Amerikanische Maßeinheit für Erdöl; 1 Barrel = 158,987 Liter
(A.d.Ü.)
[6] In ihrer Studie »The World Oil Supply 1930–2050«.
[7] Norwell, MA, Kluwer Academic Pub.; (Das goldene Jahrhundert des
Erdöls: 1950–2050 – die Erschöpfung einer Ressource).
[8] Deutsche Ausgabe: Der Klima-GAU. Erdöl, Macht und Politik,
Gerling Akad., 1998.
[9] Public Health Reports Jan.–Feb. 1996, U.S. Department of Health
and Human Services.
[10] Barbara J. Culliton, »Drug-resistant TB may be epidemic.« in
Nature, 9/1992.
[11] »The third epidemic – multidrug-resistant tuberculosis.« in Chest,
Jan. 1994.
[12] Barker, Rodney: Killeralgen. Winzige Mikroorganismen verursachen
plötzlich Seuchen unangenehmen Ausmaßes, Scherz, München,
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
282/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
1999.
[13] Tödliche Mahlzeit vom Pulitzer-Preisträger Richard Rhodes ist ein
ausgezeichnetes Buch zu diesem Thema. (Hoffmann und Campe,
Hamburg, 1998).
[14] Ein interessantes Beispiel dafür ist ein Brief, den Amerikas größter
Automobilhersteller kürzlich an Magazine und Zeitungen schickte.
Das Unternehmen bat darum, über alle Artikel vorab informiert zu
werden, damit man entscheiden könne, die Werbung ggf.
zurückzuziehen, wenn man mit einem Beitrag inhaltlich nicht
einverstanden sei. Als Reaktion auf diesen Brief verzichtete Esquire
auf die Veröffentlichung eines geplanten Artikels aus Angst, das
Unternehmen könne dagegen Einwände haben, obwohl es dabei um
das Thema Homosexualität ging, das nicht im geringsten mit Autos
oder Autoherstellern zu tun hatte.
[15] Brief des Kolumbus, zitiert in Eric Williams: Documents of West
Indian History (Port-of-Spain, Trinidad: PNM, 1963) und in Peter
Martyr: De Orbe Novo (1516).
[16] Ein weiteres Problem liegt darin, daß man eine ökologische
Katastrophe
heraufbeschwört,
indem
reine
Monokulturen
aufgeforstet werden. Wenn der gesamte Wald nur aus einer
einzigen Baumart besteht und die Bäume alle gleich alt sind, ist der
Bestand extrem anfällig für Schädlinge wie Raupen, Käfer und Pilze,
was sich am Beispiel zahlloser Wälder in Nordamerika und Europa
gezeigt hat. Mischwälder, in denen die Bäume zudem
unterschiedlich alt sind, erweisen sich als wesentlich robuster.
[17] Associated Press am 25. August 1997, Bericht von Dirk Beveridge.
[18] Benannt wurden sie nach der Stadt Clovis im Osten New Mexicos,
wo man die ersten archäologischen Spuren dieser Kultur entdeckte.
(A.d.Ü.)
[19] Richard Leakey und Roger Lewin: Die sechste Auslöschung. Über
die Zukunft der Menschheit, Frankfurt a. M., S. Fischer, 1996.
[20] Den deutschen Ausdruck »fehlerfreundlich« hat die Biologin
Christine von Weizsäcker geprägt. Er wird hier verwendet, weil er
genau das trifft, was der Autor meint. (A.d.Ü.)
[21] Das
Wort
»riesig«
ist
keine
Übertreibung:
Die
Nahrungsmittelproduktion ist ein viel größeres Geschäft, als die
meisten Leute meinen; es gibt scharfe Kontrollen und wenig
Wettbewerb. So haben beispielsweise zwei Unternehmen, Cargill
und
Continental,
50
Prozent
aller
US-amerikanischen
Getreideexporte des Jahres 1994 kontrolliert. In diesem Jahr
betrugen die US-Getreideexporte 36 Prozent der weltweiten
Weizenexporte, 64 Prozent der Mais-, Gersten-, Hirse- und
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
283/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Haferexporte und 40 Prozent der Sojaexporte.
[22] Salzburg: A. Pustet, (ed. solidarisch leben), 1998.
[23] Offensichtlich haben auch die Berge des Himalaya eine gewisse
Menge Kohlendioxid aus der Atmosphäre gebunden, denn durch sie
kommt ein Teil der oberen Atmosphäre mit Felsen in Berührung,
und dadurch bilden sich kohlenstoffhaltige Gesteine.
[24] Anchor Books, 1990.
[25] New York: Penguin Books, 1995.
[26] New York: Touchstone Books, 1996.
[27] Ich habe den Namen und andere Details verändert, um seine
Identität nicht preiszugeben.
[28] Unter demselben Titel erschien sein Buch bei W. W. Norton, New
York, 1995.
[29] Einige Leute behaupten in diesem Zusammenhang: »Es ging gar
nicht um Öl. Die Soldaten aus dem Irak haben unseren
Verbündeten Kuwait überfallen.« Aber ständig werden unsere
Verbündeten irgendwo in der Welt angegriffen, und ihr Territorium
wird besetzt. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat Amerika
darauf nur dann so hart reagiert, wenn Öl im Spiel war.
[30] In der internationalen Geschäftswelt ist die monatliche oder
vierteljährliche Gewinn- und Verlustrechnung viel wichtiger als
irgendwelche Überlegungen, wie man, bezogen auf die nächsten
vierzig Jahre, umweltverträglich wirtschaften kann. Das haben wir
bei einem Industriezweig nach dem anderen erlebt. Und oft sind
heute nicht mehr Nationen die Zentren von Macht und Reichtum,
sondern Konzerne sind die »neuen Herren«. Unter den weltgrößten
Wirtschaftsmächten steht Indonesien an 23. Stelle, hinter Mitsubishi
(22. Stelle). Dänemark und Thailand kommen erst hinter General
Motors (26. Stelle). Auch Exxon, Hitachi, Toyota, AT&T und Shell
findet man auf den ersten fünfzig Plätzen. Diese Konzerne haben
zunehmend die Macht, die öffentliche Meinung zu manipulieren und
demokratisch gewählten Volksvertretern ihren Willen aufzuzwingen.
[31] Sonnenlicht setzt den Wasserkreislauf in Bewegung, weil die Sonne
Wasser verdunsten läßt, welches dann als Niederschlag wieder zur
Erde zurückkommt. Es sorgt gleichzeitig für die Wärmeenergie, die
Wind entstehen läßt.
[32] Ich habe das persönlich in Bogota, Kolumbien, beobachtet und die
Folgen in Mexiko City und Lima, Peru, gesehen.
[33] Die katholische Kirche verkündete jüngst stolz in einer
Pressemitteilung des Vatikans, 1998 habe die Zahl der Katholiken
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
284/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
weltweit die Schwelle von einer Milliarde überschritten.
[34] Ausführliche und schockierende Einsichten in dieses Problem –
bezogen auf das amerikanische Fernsehen – sind nachzulesen in
The Media Monopoly von Ben Bagdikian (Beacon Press, Boston)
und The FAIR Reader von Naureckas und Jackson (Westview
Press/Harper Collins, New York).
[35] Nähere Einzelheiten können Sie bei Foods & Water, Walden,
Vermont, 1–800–EAT–SAFE, USA erfahren.
[36] 22. Juni 1997, Burlington Free Press.
[37] Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wollte ich hier
darstellen, wie die Vorstände der Medienriesen personell mit den
größten amerikanischen Konzernen verquickt sind; eine
ausführliche Analyse finden Sie bei Ben Bagdikian in seinem Buch
The Media Monopoly.
[38] Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M.:
Fischer. 5. Aufl. 1997.
[39] Ecopsychology, San Francisco: Sierra Club Books, 1995.
[40] Reinbek: Rowohlt Tb, 1993.
[41] Ich habe kürzlich erfahren, daß einige Stämme amerikanischer
Ureinwohner jahrtausendelang Schriftsprachen hatten, während
andere sich hartnäckig weigerten, Worte aufzuschreiben. Die
Apachensprache wurde beispielsweise vor dreißig Jahren erstmals
von einem methodistischen Missionar aufgezeichnet und kodifiziert.
Ein Apache sagte mir: »Es war ein Fehler, das zu tun: Unsere
Sprache ist zu heilig, um aufgeschrieben zu werden.« Es wäre
interessant, die Unterschiede in den persönlichen religiösen
Erfahrungen von Menschen mit und ohne Schriftsprache zu
erforschen. Soviel ich weiß, hat das bisher noch niemand
untersucht.
[42] Verlag Die Grüne Kraft, Ed. Rauschke, 1996.
[43] Glaube an die göttliche Bestimmung des amerikanischen Volkes,
seine Ideale und Lebensformen dem ganzen Kontinent
aufzuprägen, der ganzen Welt ein leuchtendes Beispiel und der
demokratisch-republikanischen Freiheit ein Hort zu sein. (A.d.Ü.)
[44] Dorothy Lee, Freedom and Culture, Prentice Hall publishers, 1959.
[45] Hammer-Verlag, 1992.
[46] Diesen Prozeß stellt Jerry Mander in seinem Buch The Absence of
the Sacred (San Francisco: Sierra Club Books, 1992), umfassend
und brillant in allen Einzelheiten dar.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
285/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
[47] Diese Gesetze bezeichnet man oft als »Gemüse-VerleumdungsGesetze«; Oprah Winfrey wurde bestraft, weil sie dagegen
verstoßen hatte, als sie sich eine verächtliche Bemerkung über
Rindfleisch erlaubte.
[48] Von Donald Bartlett und James Steele, Andrews & McMeel, 1992.
[49] In Afrika beispielsweise zahlte die südafrikanische Regierung zuletzt
1938 eine Prämie für ein Paar Ohren, die von einem !KungBuschmann stammten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Jagen und
Töten von Buschmännern als »Freizeitsport« gegolten und sogar
Jäger aus Europa und den Vereinigten Staaten angezogen.
[50] In: The Chalice and the Blade (Der Kelch und die Klinge), Harper
San Francisco, 1987.
[51] Eine ausgezeichnete Zusammenstellung vieler dieser Geschichten
und zahlreiche weitere Informationen über die amerikanische
Geschichte finden Sie in dem Buch Lies My Teacher Told Me von
James W. Loewen (New York: Touchstone Books, 1996).
[52] Als der spanische Konquistador Pizarro 1514 erstmals auf dem
südamerikanischen Kontinent landete, verlas er (wie alle
spanischen Eroberer einschließlich Kolumbus, als dieser in Haiti an
Land ging) vor den verständnislosen Ureinwohnern, die ihm
Nahrungsmittel und heilige Gegenstände als Geschenke
überreichen wollten, die folgende vorbereitete Proklamation (als
»die Anordnung« bezeichnet): »Ich fordere euch auf, die Kirche als
Herrin und im Namen des Papstes den König als Herrn dieses
Landes anzuerkennen und ihren Abgesandten zu gehorchen. Tut
ihr das nicht, so versichere ich euch, daß ich mit Gottes Hilfe überall
und auf jede Weise Krieg gegen euch führen werde. Und ich werde
euch zu gehorsamen Dienern der Kirche und ihrer Führer machen.
Und ich werde euch, eure Frauen und Kinder gefangennehmen und
zu Sklaven machen. Ich werde euch euer Hab und Gut nehmen und
euch Böses antun und schaden, wo ich nur kann. Alle Toten und
Verletzten werdet ihr euch von jetzt an selbst zuzuschreiben haben,
und die Schuld daran trifft weder seine Majestät noch die Herren in
meiner Begleitung.«
[53] Obwohl es fast noch hundert Jahre dauerte, bis Jennings seinen
Pockenimpfstoff entwickelte, waren die Europäer dieser Krankheit
schon seit Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden
ausgesetzt gewesen. Das verlieh ihnen eine relative Immunität: Die
Menschen, die für diese Krankheit genetisch besonders anfällig
waren, waren überwiegend schon vor langer Zeit gestorben.
Folglich starben von den infizierten Spaniern nur fünf bis 30 Prozent
an den Pocken. Die Inkas jedoch, die mit dieser Krankheit noch nie
in Berührung gekommen waren, hatten nach Schätzungen einiger
Experten nach dem ersten Kontakt im Jahre 1520 Todesraten von
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
286/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
60 bis 85 Prozent zu beklagen.
[54] Aus diesem Grund bestimmte Pol Pot, daß Brillenträger und ältere
Menschen als erste hingerichtet werden sollten.
[55] Denken Sie an das Jahr 0 in unserem eigenen Kalender.
[56] Die frühen europäischen Siedler hatten große Angst vor den
schamanischen Kräften der amerikanischen Ureinwohner, die von
sich behaupteten, auch Regen machen und auf andere Weise die
Natur kontrollieren zu können. 1587–88 wurde auf Roanoke Island,
NC, die erste englische Kolonie in den Vereinigten Staaten
gegründet, wobei auch der erste Indianerhäuptling von Weißen
ermordet und das erste europäische Kind (Virginia Dare) auf
amerikanischem Boden geboren wurde. Als die Briten 1589 zu
dieser Kolonie zurückkamen, um Nachschub und Proviant zu
bringen, stellten sie fest, daß alle 400 Siedler spurlos verschwunden
waren, was dazu führte, daß man diese Siedlung als »The Lost
Colony« bezeichnete. In Jamestown, VA, versuchten die Engländer
1607 erneut, eine Kolonie zu gründen. Nur 38 der ursprünglich 104
Siedler überlebten das erste Jahr, und weitere 4800 starben in den
folgenden sieben Jahren bei mehreren Versuchen, sich in diesem
Gebiet niederzulassen. Aber warum? Matthew Therrell, ein
Spezialist für Baumringe von der University of Arcansas, hat die
Ringe von kürzlich gefällten, tausend Jahre alten virginischen
Sumpfzypressen untersucht und dabei vier verblüffende Anomalien
entdeckt. Seine Untersuchungsergebnisse wurden am 24. April
1998 in der Zeitschrift Science veröffentlicht. Zwischen den Jahren
1000 und 1997 gab es an der Ostküste zwei – und zwar nur zwei –
schwere Dürreperioden, in denen sogar Bäume verdorrten –
während der Jahre 1587–88 und 1607–14.
[57] Die Kirche hat auch interne Machtkämpfe über diese Gebiete
ausgetragen. 1997 besuchten Louise und ich die Gila Riber Pima
Indian Community. Alte Karten aus dem 18. Jahrhundert zeigen, daß
das Gebiet, nachdem die ersten spanischen Eroberer es mit allem
Gold verlassen hatten, zunächst »Franziskaner-Land« und später
»Jesuiten-Land« gewesen war.
[58] Yale University Press, 1989.
[59] Selbst die Verwendung des Wortes »heilig« ist hier problematisch,
weil damit unterstellt wird, daß es etwas gibt, was »nicht heilig« ist.
In diesen älteren Kulturen existieren solche Unterscheidungen nicht.
Leben ist – und das ist von außerordentlicher Bedeutung – der
wesentliche Kern aller Existenz.
[60] Während die frühesten Kulturen, die andere zu bekehren
versuchten, historisch nicht mehr auszumachen sind, können wir die
internen Auseinandersetzungen darüber in den Schriften der alten
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
287/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Griechen (die nicht versuchten, andere zu bekehren) und der
Römer finden. Die Römer versuchten ursprünglich auch nicht,
andere zu bekehren, wie man aus den Schriften einiger ihrer
Philosophen und Führer einschließlich Julius Caesars entnehmen
kann – die römischen Bürger waren ein »exklusiver Club«. Als das
Römische Reich jedoch im frühen vierten Jahrhundert
auseinanderzufallen begann, versuchte Kaiser Constantin, es
dadurch zu retten, daß er den von den Römern ehemals verehrten
Sonnengott durch den jüdischen Messias Jesus ersetzte und den
jüdischen Sabbat (Samstag) als Tag der Gottesverehrung auf den
Tag verlegte, an dem die Römer traditionell den Sonnengott verehrt
hatten (Sonntag). Indem er so die eine (»katholische«) offizielle
römische Kirche schuf, integrierte er die Verkündigungsidee, die am
deutlichsten in den Schriften des Paulus zutage tritt, in die römische
Kultur. Dies ist zwar keineswegs das einzige Beispiel dafür, daß eine
Kultur den Bekehrungsgedanken übernimmt, aber es ist eins der am
besten dokumentierten.
[61] Vgl. Matthäus 6, Vers 26.
[62] Abfällige Bezeichnung für Indianer, die darauf hinweist, wie die
weißen Amerikaner damals mit den Ureinwohnern umgingen: go
shoot [them] – »geh und erschieß sie.« (A.d.Ü.)
[63] Man's Rise to Civilization: The cultural ascent of the Indians of North
America, Bantam Books, 1978.
[64] New York: Harvest Books, später veröffentlicht bei Harcourt Brace
(1980).
[65] Mehr Informationen über die Kogi finden Sie in meinem Buch The
Prophet's Way sowie auf einem exzellenten Videofilm unter dem
Titel »From the Heart of the World«, der über Mystic Fire Video zu
beziehen ist.
[66] Der englische Ausdruck sustainable wird im Deutschen meist als
nachhaltig übersetzt; ich habe mich in diesem Buch für die
Übersetzung umweltverträglich entschieden, weil meines Erachtens
darin präziser erfaßt wird, worum es geht. (A.d.Ü.)
[67] Als die Weißen das herausgefunden hatten, wurde es eine übliche
Praxis
der
amerikanischen
Regierung,
einen
einzigen
Stammesvertreter auszuwählen – oft einen, der mit Geld oder
Alkohol bestochen werden konnte – und diese Person zum einzig
autorisierten Stammesvertreter zu ernennen. Die »Verträge«
erhielten dadurch einen Schein von Legalität, und wenn der Rest
des Stammes sich weigerte, auf sein Land, seine Mineralien oder
was sonst im Vertrag stand, zu verzichten, konnten sie alle wegen
»Vertragsverletzung« brutal unterdrückt werden. Diese Praxis wird
unter
dem
Bureau
of
Indian
Affairs
und
anderen
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
288/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Regierungsbehörden sowie von
großen Konzernen, die
Indianerland haben wollen, bis auf den heutigen Tag fortgesetzt.
[68] Vgl. Cohen und Armelagos, Paleopathology at the Origins of
Agriculture, New York: Academic Press, 1984.
[69] London: Thames & Hudson, 1996.
[70] Ed. Trickster im Peter Hammer Verlag, 1983.
[71] Susan L. Epp, »The diagnosis and treatment
amenorrhea«, in Physician Assistant, März 1997.
of
athletic
[72] C. La Vecchia, »Ovarian function and disease risk«, in Cancer
Researcher Weekly, 25. Okt. 1993.
[73] Living the Spirit: A Gay American Indian Anthology, St. Martin's
Press, 1998.
[74] Spirit and the Flesh: Sexual Diversity in American Indian Culture,
Bacon Press, 1992.
[75] William McNeill, Plagues and Peoples, New York: Doubleday, 1997.
[76] Das Evangelium des Thomas war Teil der alten Manuskripte, die
zunächst 1897 in Ägypten und später 1954 in Nag Hammadi
gefunden wurden, und man nimmt an, daß es zur gleichen Zeit oder
früher als die Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und
Johannes geschrieben wurde.
[77] Menschen lassen sich nach ihrem Tod bei sehr tiefen Temperaturen
einfrieren, weil sie hoffen, daß die Medizin eines Tages in der Lage
sein wird, sie wieder zum Leben zu erwecken und ihre Krankheiten
zu heilen. (A.d.Ü.)
[78] Das holographische Universum. Die Welt in neuer Dimension,
München: Knaur, 1994.
[79] Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der
Formen in der Natur, München: Piper, 4. Aufl. 1998.
[80] Als die Staaten in der verfassunggebenden Versammlung darüber
entschieden, wie viele Repräsentanten ein Staat in den Kongreß
entsenden durfte, legten unsere Gründerväter fest, daß Schwarze
für die Statistik nur als drei Fünftel eines Menschen zählten.
[81] Der Wissenschaftler und Autor hat viele ausgezeichnete, zum
Nachdenken anregende Bücher veröffentlicht. Seine Theorie der
»morphogenetischen Felder« stellte er erstmals in seinem Buch Das
schöpferische Universum (1983) vor.
[82] Integral Press, 1995.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
289/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
[83] Die innere Burg und Weg der Vollkommenheit von Teresa von Avila
sind Klassiker der Literatur des christlichen Mystizismus.
[84] Aus dem Spanischen übertragen von Cornelia Capol, vgl.:
Johannes vom Kreuz: Sämtliche Werke, Band 2, Johannes-Verlag
Einsiedeln, 4. Aufl., Freiburg 1992.
[85] Mamas ist in ihrer Sprache das Wort für Priester und Priesterschaft
und hat nichts mit der Bedeutung des Wortes »Mama« in unserer
Sprache zu tun.
[86] Das männliche Geschlechtshormon, das in den Hoden produziert
wird und das man mit Gesichtsbehaarung, aggressivem Verhalten
und einer größeren Muskelmasse in Verbindung bringt.
[87] Der jüngste Eingriff in das religiöse Leben der amerikanischen
Ureinwohner wurde vom amerikanischen Kongreß verabschiedet
und von Präsident Jimmy Carter ratifiziert. Der American Indian
Religious Freedom Act von 1978 hob verschiedene frühere Gesetze
auf,
die
Schwitzhüttenzeremonien
und
Sonnentänze
zu
Staatsverbrechen erklärt hatten, billigte dem Staat jedoch weiterhin
die Kontrolle über die religiösen Praktiken der amerikanischen
Ureinwohner zu.
[88] Der Irrtum der Marxisten und Kommunisten bestand darin, daß sie
»Reichtum« im Sinne von Waren, Dienstleistungen und Kapital
interpretierten, und diese folglich zu kontrollieren versuchten. Sie
haben nicht verstanden, daß der »Reichtum« der älteren Kulturen
Sicherheit, Geborgenheit und die tägliche Erfahrung des Heiligen
bedeutete: die Wurzeln der menschlichen Bedürfnisse. Diese
Bedürfnisse (und vor allem das Bedürfnis nach Kontakt mit dem
Heiligen) sind in einer sozialen Gruppe von der Größe einer Nation
oder eines Staates nur sehr schwer zu befriedigen. Das Konzept
»Jeder nach seinen Fähigkeiten; jedem nach seinen Bedürfnissen«
gehört zu den Fundamenten der älteren Kultur, aber weil die
Kommunisten versuchten, es im Rahmen einer jüngeren Kultur
umzusetzen, waren sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Bei
ihrem Versuch, den materiellen Reichtum umzuverteilen, schufen sie
lediglich innerhalb der jüngeren Kultur eine neue Klasse
herrschender Reichtums-Kontrolleure: die Bürokraten.
[89] München, Goldmann, 1996.
[90] Kürzlich hat mich der Moderator in einer landesweit ausgestrahlten
Radio-Talkshow aufgefordert, ihm »auch nur einen einzigen Grund
zu nennen, warum es mich im geringsten kümmern sollte, daß in
Haiti Menschen sterben.«
[91] Es gibt fossile Funde, die darauf hindeuten, daß der Homo erectus
mehrere Millionen Jahre lang in Stammesgemeinschaften gelebt und
Feuer benutzt hat, und seitdem hat man bei Ausgrabungen aus der
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
290/291
07.01.14
Unser ausgebrannter Planet, von Thom Hartmann
Frühzeit des Menschen immer auch Hinweise auf Feuerstellen
gefunden.
[92] Es ist interessant, darüber zu spekulieren, welche Auswirkungen
das Fernsehen auf das Entstehen einer »nationalen« oder
»globalen« Gemeinschaft hat – die in vielfacher Hinsicht ein Produkt
der Interessen der Sender und ihrer Sponsoren ist. Eine
Untersuchung nach der anderen hat gezeigt, daß Menschen, die
vier bis fünf Stunden täglich vor dem Fernseher verbringen, immer
stärker die Verbindung zu ihren lokalen Gemeinschaften verlieren.
In einem Artikel, der vor ein paar Jahren in der Zeitung The Wall
Street Journal erschien, wurde dieses Phänomen als »Tod der
Kegelvereine« bezeichnet, und aufgrund der Konkurrenz durch das
Fernsehen
erleben
auch
viele
traditionelle
Wohltätigkeitsorganisationen
einen
bedrohlichen
Mitgliederschwund.
[93] Einzelheiten über solche Gemeinschaften finden Sie in dem Buch
von Sun Bear Black Dawn, Bright Day, New York: Fireside Books,
1992.
[94] Vgl. Carolyn Shaffer und Kristin Anundsen, Creating Community
Anywhere, New York: Tarcher/Putnam publishers, 1993;
Communities Magazine, Alpha Farm, Deadwood, OR 97430, USA;
Communities Directory: A guide to cooperative living, Fellowship For
International Community, PO Box 814, Langley, WA 98260, USA.
[95] Rochester, VT: Schenkman Books, 1995.
[96] Ein Aufkleber, den man auf vielen Stoßstangen amerikanischer
Autos findet, trägt den Spruch: »Wer mit den meisten Spielsachen
stirbt, ist der Sieger«, was ein beredtes Zeugnis für diese
»Konsumreligion« ablegt. Beachten Sie dabei den Hinweis auf den
Tod, der ganz klar in den Bereich religiöser Überzeugungen gehört.
[97] Worldwatch Institute, 1776 Massachusetts Ave. NW, Washington,
DC 20036, USA.
[98] Cultural Survival, 96 Mount Auburn St., Cambridge, MA 02138, USA.
[99] Earth Save, 706 Frederick St., Santa Cruz, CA 95062, USA.
www.wfelix.org/planet.html#fnanchor_47
291/291

Documentos relacionados