Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
H Ö R I S C H POP UND PAPAGENO
JOCHEN HÖRISCH
POP UND PAPAGENO
Über das Spannungsverhältnis
zwischen U- und E-Musik
WILHELM FINK
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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG ,
Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Satz: Martin Mellen, Bielefeld
Einbandgestaltung: Peter Zickermann, Bielefeld
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG , Paderborn
ISBN 978-3-7705-6081-3
In dankbarer Erinnerung an Klaus Arp
Inhalt
1. Wertfragen: Gut und schlecht
oder gut und böse 
2. Totengespräche – Franz Schubert
trifft John Lennon 
3. Wahrscheinlich hört wieder keiner zu –
Adorno und die Paradoxien
der Avantgarde-Musik 
4. Zeitkünste: Der Film und die Musik –
Das Kino als Sphäre für U- und E-Musik
5. Liebe, Eros und Sex – Die Gewalt
der Leidenschaft und der Musik
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‚Pop‘ ist ein kurzes und prägnantes Wort, ein angenehmes
three letter word. Sein Sinn erschließt sich schnell. ‚Pop‘
ist die Kurzfassung für ‚populär‘. Schon in britischen Zeitungen aus den 1860-er Jahren finden sich Berichte über
öffentliche Volkskonzerte in London, bei denen Marsch-,
aber auch Tanzmusik und beliebte Melodien zu hören
waren – popular concerts, abgekürzt ‚pops‘. Zur Verbreitung dieses Wortes mag beigetragen haben, dass das
englische Verb ‚pop‘ knallen bzw. knallen lassen meint
(man denke an popcorn). Im Wort Popmusik schwingt
mit, dass diese Musik keine Scheu vor trivialen Knalleffekten hat. Seit wann der mild obszöne Hintersinn des
Verbs ‚poppen‘ mitschwingt, wenn das Wort ‚pop‘ erklingt, lässt sich schwer ausmachen. Dass aber der Pop
ein entspanntes bis kokettes Verhältnis zum Populären
* Dieser Essay ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines
fünfteiligen Beitrags in der Sendereihe ‚Musikstunde‘, den der
SWR 2 vom 4.– 8. Mai 2015 täglich von 9.05 – 10.00 Uhr ausstrahlte.
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1. Wertfragen: Gut und schlecht
oder gut und böse*
W E RT FR AGE N: GU T U N D SCH L ECH T ODE R GU T U N D BÖSE
bis Vulgären und damit auch zur sexuellen Sphäre hat,
ist unüberhörbar. Why don’t we do it in the road? Wer
so fragt, kann auch anderes als unerhörte Musik meinen.
Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt
der Begriff ‚Pop‘ eine enorme Karriere. Und zwar zuerst
in der musikalischen Sphäre, dann aber zügig in allen
Kunstsparten. Pop-Art und Pop-Literatur bilden zusammen mit der Pop-Musik eine ästhetische Trinität. Andy
Warhol malt Elvis Presley, und Schriftsteller wie Allen
Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac erzählen – letzterer etwa im 1957 erschienenen und mittlerweile legendären Kultroman On the Road –, wie sie
und ihre Protagonisten durch Erfahrungen mit Sex and
Drugs and RocknRoll vom rechten Glauben an die
Hochkultur abgefallen sind. ‚Pop‘ avanciert zum Knalleffekt-Begriff, zur Epochensignatur. Er wird schnell in
so gut wie alle Sprachen übernommen. Kein Wunder –
denn erstens gibt es zunehmend mehr Musik, die mit
populären Knalleffekten arbeitet, zweitens haben nach
dem zweiten Weltkrieg zunehmend mehr Leute Plattenspieler sowie Radio- und Fernsehgeräte, drittens ist
das Wort ‚Pop‘ ungemein eingängig und viertens ist Pop
ein verlässlich-treuer Begleiter der sexuellen Revolution.
Dass ‚pop‘ seiner Popularität zum Trotz aber auch ein
Wort aus der Fremde ist, welches direkt aus lateinischen
Gefilden kommt (von lat. ‚populus‘/das Volk), bemerkt
man kaum mehr. Mit diesem Dreibuchstabenwort hat
es jedoch über seine Herkunft aus der Gelehrten- und
Kirchensprache Latein hinaus eine seltsame Bewandtnis. Denn diese drei Buchstaben bergen einen selten
Kam einst so stolz daher in Purpurfarben!
Ohn’ allen Makel Szepter, Kugel, Krone.
Erhobnen Hauptes saß er auf dem Throne
Nach Herrscherart. Auf seinen Wink erstarben
Im ganzen Lande Handeln, Streben, Hasten.
Gemeinsam ging das Riesenheer Getreuer
Für seinen König samstags durch das Feuer
Und fieberte in Stadien, vor dem Kasten.
Stark schien das Glück. Und musste doch enteilen,
Seit schnöde Schiris, Geier unter Tauben,
Brutal auf Ehrlichkeit und Fairness pfiffen.
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beobachteten Hintersinn, den das von Hochkultur
unbehelligte Volk nicht sogleich bemerkt. Handelt es
sich beim Wort ‚Pop‘ doch um ein Palindrom. Man
kann dieses Wort vorwärts wie rückwärts lesen: p-o-p.
Nun zählt das Palindrom wie das Anagramm, das aus
den Buchstaben eines Wortes oder eines Satzes neue
Buchstaben und Sätze generiert (wie: Geburt/Betrug)
oder das Akrostichon, das aus den Anfangsbuchstaben
aufeinander folgender Worte oder Verse neuen Sinn
generiert, zu den esoterischen, also eben gerade nicht
zu den populären Mitteln der poetischen Kunst. Der
populäre Lyriker Robert Gernhardt hat ein kunstvolles
Akrostichon-Sonett über die populärste Sportart, den
Fußball, geschrieben. Er leistet sich dabei den ernsten
Scherz, dass die vierzehn Anfangsbuchstaben seiner Gedichtzeilen die Worte ‚König Fußball‘ ergeben.
W E RT FR AGE N: GU T U N D SCH L ECH T ODE R GU T U N D BÖSE
Aufklagend hat das Fußballvolk begriffen:
Land unter! Mit ihm Königstreu und Glauben.
Läßt Zeit den Schlag vernarben? Gar verheilen?¹
Zu den hübschen Signalen dieses populären Gedichts
über die populärste Sportart gehört es, darauf aufmerksam zu machen, dass das Populäre und das Hocharistokratische im Fußball ein reizvolles Rendezvous haben,
das sie aber auch vermasseln und verspielen können:
König Fußball. Ähnlich reizvoll, mitunter aber auch gereizt sind die Konstellationen, die sich ergeben, wenn
E-Musik in U-Musik einwandert – und umgekehrt. Gerade weil alles Populäre (und das Vulgäre sowieso) erst
einmal einen zweifelhaften Ruf genießt, hat es reizvolle
Aufstiegs- und Emanzipationschancen. Nicht nur König
Fußball hat sie genutzt – und musste dabei all die Paradoxie-Erfahrungen machen, die mit solchen Aufstiegen fast obligatorisch verbunden sind. Hochkultur ist
hingegen in einer systematischen Verteidigungsposition.
Nehmen wir ein bekanntes und ein weniger bekanntes Beispiel aus dem Bereich der hochklassischen Popmusik, denken wir an, hören wir ein paar Takte der
Beatles. Der Song Lucy in the Sky with Diamonds setzt –
auch wenn der Texter und Komponist John Lennon bei
Gott, bei Mao oder bei wem auch immer geschworen
hat, nicht bewusst ein Akrostichon gebildet zu haben
(was ist ein Eid mit so unterschiedlichen Adressaten
1 Zuerst wurde dieses Gedicht in der Wochenzeitschrift Die Zeit
41/2005 veröffentlicht.