Die Geisterjägerin

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Die Geisterjägerin
FAZ, 9. November 2002, Nr. 261
Die Geisterjägerin
Angenehm verstörend: Dietlof Reiches Seemädchenroman
Übernatürliche Phänomene haben zahllose
Geschichten genährt. Dennoch muten Gespenstergeschichten, jene Erzählungen von Totengeistern und Wiederkehrern, in einer Zeit, in der
die Jugendliteratur zwischen der Lust an phantastischen Träumen und dem ernsten Erklären
der Welt schwankt, fast schon überholt an: Gespenster kommen derzeit fast nur noch als knuffige kleine Gestalten in Bilderbüchern und Erstlesetexten vor, und dort sind sie völlig harmlos.
Oder sie gehören einer Gruselserie an und verhalten sich vorhersagbar. Die wirklich angsterregenden Geister, überraschend, ernsthaft sind
sie eine ausrangierte Spezies?
Nicht ganz. Dietlof Reiche, der vor mehr als
zwanzig Jahren mit seinen Historienromanen
von seinen Lesern viel Sinn für Vergangenes
forderte, zuletzt aber mit seinen Büchern um
Freddy, den am Computer schreibenden Hamster,
ganz auf moderne Phantasien setzte, hot die
Gespenster aus der Niedlichkeit und macht Lust
auf das Dunkle, Abgründige.
In seinem jüngsten Werk “Geisterschiff” ist
es der Name, der die Geister beschwor. Denn
Windsbraut, der alles zerstörende Dämon des
Sturms, verheißt Unheilvolles für die Patronin
eines Schiffes. Es ist überhaupt so einiges seltsam
an dieser Galionsfigur, die in einer Kleinstadt
an der Nordsee mit eigentümlichem Blick von
oben herab auf die Gäste eines Restaurants
schaut, die es sich bei “Scholle satt” gutgehen
lassen: sie schielt und ist innen hohl. Und sie
teilt Geheimnisse mit dem mehr als zweihundert
Jahre alten Segelschiff, das plötzlich in der Bucht
liest, , vor dem das Meer zurückweicht und nicht
mehr wiederkommt, und auf dem sich das immer
gleiche blutrünstige Ritual vollzieht ein Kampf
zwischen rauhen Seemännern, ein Kampf auf
Leben und Tod.
So wie die Schiffsleute zur See in das ewig
gleiche Gefecht muß sich Lena, die zwölf Jahre
alte, weltneugierige energische Wirtstochter mit
dem Berufswunsch “Kapitänin”, in ihre Aufgabe
stürzen, das Abenteuer ihres Lebens zu bestehen.
Es wird eine Reise, von der Lena nicht ahnt,
wohin sie führt. Keine in fremde Länder, den
Kopf voller Schatzinselträume und Seeräuberromantik wie es Geschichten vom Meer sonst
versprechen, sondern eine Reise in die Geschichte
ihrer Vorfahren, in die innerer Furcht und Zweifel
der Weltwahrnehmung, Lena sieht sich mitten
im Leben dem Unfaßbaren und Unglaublichen
gegenüber.
Das Motiv vom ruhelosen Seefahrer, dessen
zu Lebzeiten unreine Seele ihm im Sterben
Schreckliches beschert und den ein Fluch auf
ewig auf die Meere bannt, ist weder neu noch
originell, aber von Reiche gekonnt variiert worden. Wie sich das Rätselhafte und Geheimnisvolle
drastisch in den Alltag von Lena drängt, ist von
schaurig-schöner Gruseligkeit.
Reiche beschäftigt sich. auf ganz nüchterne
Weise mit dem Zusammenspiel von Glaube und
Vernunft und der Welt des Unerklärlichen ganz
ohne pseudophilosophische Moral, zwanghafte
Allegorie zur Gegenwart oder pädagogische
Attitüde. Sein Spiel mit Verstörung und Geborgenheit, Beunruhigung und Erlösung ist geschickt, die Geschichte klug konstruiert und
komplex erzählt. Nur den Nebenfiguren fehlt
gelegentlich die charakterliche Plausibilität, um
sie aus dem Klischeehaften zu lösen. Der Stimmung und Spannung ist das selten abträglich,
denn der Autor erhält versiert den Lesern das
Interesse an seinen Helden, inszeniert, effektvoll
und verbindet dramaturgisch geschickt Elemente
aus Jetztzeit und Vergangenheit zu einem höchst
spannenden Abenteuer, das sich mit wohligem
Schauer lesen läßt und nach dessen Lektüre man
sich angenehm verstört zurücklehnt. Natürlich
gibt es keine Gespenster, aber warum nicht doch
ein bißchen an sie glauben und von ihnen lesen?
Etwas verstörend wirkt auch, allerdings nicht
ganz so angenehm, daß Dietlof Reiche, als längst
alle Rätsel gelöst und alle Seemannsknoten entwirrt sind, dem Ende einen zweiten Schluß aufpfropft. Warum er der handfesten, gradlinigen
und stimmigen Geschichte, ein leicht überzuckertes Happy-End gibt, wird wohl ein Geheimnis
bleiben.
ELENA GEUS
Dietlof Reiche: “Geisterschiff”. Hanser Verlag, München 2002. 296 S., geb., 14,90 €.
Ab 12 J.