Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen
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Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen
Barbara Stambolis Einleitung Eine schillernde Metapher : »der flamme trabant« bleiben … Rainer Maria Rilkes »Cornet« sei heute vergessen, ebenso der frühe Hermann Hesse, – so Walter Laqueur zu Beginn des beginnenden 21. Jahrhunderts im Rückblick auf die um 1900 entstandene historische Jugendbewegung. In den Altersgruppen, in denen die Jugendbewegung lebensgeschichtliche und darüber hinaus auch viele generationelle Spuren hinterlassen hat, gehörten Rilke, Hesse und vor allem auch Stefan George zu den »bevorzugt« gelesenen Dichtern. Insbesondere Georges Versen aus seiner 1914 erschienenen Sammlung »Der Stern des Bundes«: »Wer je die flamme umschritt, bleibe der flamme trabant« kam eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, wenn es galt, die enge Bindung derjenigen zu betonen, die sich zu einer wie auch immer konkret zu verstehenden jugendbewegten ›Prägung‹ bekannten.1 Man denke etwa daran, dass Hans Scholl 1936 trotz NS-Verbots aller bündischen Aktivitäten das Wagnis unternahm, eine Großfahrt mit seiner Gruppe nach Schweden zu unternehmen, der er für den Zusammenhalt der Beteiligten im Sinne eines ›Freundschaftsbundes‹ großes Gewicht beimaß. Das hat er – bezugnehmend auf Georges Zeilen – ausdrücklich betont, indem er während der Ostsee-Überfahrt der Gruppe den neuen Namen »Jungenschaft Trabanten« gab.2 Georges Worte zitierten viele Jugendbewegte aus der Rückschau vor allem deshalb gerne, um deutlich zu machen, was ›die Wirkung‹ ihrer jugendbündischen Sozialisation ausgemacht habe.3 Der Philosoph Schalom Ben-Chorim etwa glaubte mit Hinweis auf diesen ›Kernsatz‹ Georges die seiner Meinung nach nicht selten noch nach Jahrzehnten erkennbare ›jugendbewegte Prägung‹ mit 1 Stefan George: Der Stern des Bundes. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 8, Berlin 1928, S. 83 f. 2 Hans-Günter Hockerts: Hans Scholl, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 643 – 654, hier S. 649. Bezugnehmend auf das Tagebuch der Fahrt, abgedruckt in: puls 22. Dokumentationsschrift der Jugendbewegung, Stuttgart 1999, S. 10 – 20, hier S. 14. 3 Siehe den Beitrag von Micha Brumlik in diesem Band. 12 Barbara Stambolis ihren facettenreichen Folgen verdeutlichen zu können.4 Und um noch ein weiteres Beispiel für die Symbolkraft der George’schen Worte zu geben: Im Juni 2000 haben sich – inzwischen in hohem Alter – Angehörige eines jugendbewegten über Jahrzehnte bestehenden Älterenkreises, des Freideutschen Kreises, mit dem Gedicht, aus dem die soeben zitierte Zeile stammt, gleichsam absichtsvoll aus ihrer Geschichte, die zugleich die Geschichte des 20. Jahrhunderts war, ›verabschiedet‹.5 Jugendbewegte Erlebnisgenerationen dieser Art und ihre Erinnerungsgemeinschaften, in denen mit Georges geflügeltem Wort »das starke Gefühlserlebnis« seinen Ausdruck fand, das an der »Konstituierung ihrer Gemeinschaft« maßgeblichen Anteil hatte,«6 gehören jedoch wohl heute weitgehend der Vergangenheit an. Wenn es Außenstehenden stets schwer gefallen sein mag, auf den Punkt zu bringen, was denn jugendbewegte Prägungen, Bindungen und Vernetzungen eigentlich ausmachte, so bedarf der Hinweis auf die Metapher »der flamme trabant« inzwischen für dieselben zunehmend einer Interpretation. Nur »unsere Großeltern und die Germanisten« erinnerten sich noch – so Laqueur – »an Georges kleine Scharen, auf deren ›Panier‹ ›Hellas‹ zu lesen war ; ›bleibe der flamme trabant‹ – aber was ist ein Trabant?«7 Überlegungen und Fragen zu jugendbewegten Prägungen, Vernetzungen und gesellschaftlichen Folgen Im März 20138 gingen Forscherinnen und Forscher in einem Kolloquium im Literaturarchiv Marbach – einem ›guten‹ Ort für den Blick auf ›Kreise mit und ohne Meister‹9 – der Frage nach, wie sich ›Wirkungen der Jugendbewegung‹ infolge der soeben angesprochenen subjektiven Verbundenheit von Menschen, die sich ihr zugehörig fühlten oder noch fühlen, beschreiben lassen. Aus dieser Tagung und weiteren aktuellen Diskussionen über den Stellenwert jugendbe4 Aus: Schalom Ben-Chorim: Jugend an der Isar, Gerlingen 1980, S. 44 – 49. Vgl. Stefan George: Der Stern des Bundes. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 8, Berlin 1928, S. 83 f. 5 Siehe den Beitrag von Jürgen Reulecke in diesem Band. 6 Siehe den Beitrag von Hans-Ulrich Thamer in diesem Band. 7 Siehe den Beitrag von Walter Laqueur in diesem Band. 8 2013 jährte sich der erste Freideutsche Jugendtag auf dem Meißner, der für die Jugendbewegungsgeschichte gleichsam den Beginn einer eigenen Zeitrechnung darstellt, zum 100sten Mal. Das Meißnerjubiläum hat in einer Reihe von Publikationen ihren Niederschlag gefunden; genannt sei an dieser Stelle: G. Ulrich Großmann/Claudia Selheim/Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugend zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26. 09. 2013 – 19. 01. 2014, Nürnberg 2013. 9 Vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009. Einleitung 13 wegter Prägungen, Menschenbilder, Vernetzungen und gesellschaftlicher Einflussnahmen im 20. Jahrhundert ist die vorliegende Publikation hervorgegangen. An ihr sind Mitwirkende der Marbacher Veranstaltung sowie einige weitere hinzugewonnene Kolleginnen und Kollegen beteiligt, und zwar sowohl mit dem Instrumentarium des die Jugendbewegung ›von außen‹ her analysierenden Forscherblicks als auch mit Insiderwissen und eigener Verbundenheit. Es geht in ihren Beiträgen um Wirkungen von Vergemeinschaftungen, um daraus erwachsende Verflechtungen, beispielsweise Kommunikationszirkel, sowie den informellen, oft schwer greifbaren und rekonstruierbaren mündlichen Austausch zwischen Menschen. Vor allem geht es um Verbindungen in freundschaftlichen und kollegialen Zusammenhängen, wobei das Verbindende in erster Linie nicht zweckhaft im Austausch von Informationen, in der Weitergabe von Wissen, in der Festigung bzw. im Erhalt von sachlichen Beziehungen zu sehen ist. Ein Einverständnis über Herkunft und Prägung stellte offenbar weitgehend den Ausgangspunkt für kollegiale Netzwerke und daraus erwachsende Arbeitszusammenhänge ehemaliger Jugendbewegter dar. Unschwer ist dabei erkennbar, dass Jugendbewegte und ihnen Nahestehende sich im Rückblick auf ihre Erfahrungen in der Adoleszenz als ›Erinnerungsgemeinschaften‹ empfunden haben. Sie haben sich ›biographisiert‹ und in Lebenserzählungen individuell und kollektiv generationell ›definiert‹. Eine ganze Reihe von Fragen ergab sich aus der Beschäftigung mit ›Wirkungen‹ der Jugendbewegung, wie etwa folgende: Welche Spuren und Impulse hat die ›historische Jugendbewegung‹ im 20. Jahrhundert hinterlassen, die nicht in erster Linie an der rein zahlenmäßige Bedeutung ihrer Mitgliedschaft zu messen sind,10 – und dies sowohl für die Zwischenkriegszeit als auch die Zeit nach 1945, möglicherweise bis in die 1960er Jahre? Inwiefern haben jugendbewegte Erfahrungen nicht nur ihren Niederschlag z. B. in romantischen Naturund Gruppenerlebnissen gefunden, sondern vielleicht auch ein ›Menschenbild‹ mit beeinflusst, das lebensprägend war und allgemein-gesellschaftliche oder politische Auswirkungen hatte? In welchem Umfang gingen von der Jugendbewegung nachhaltige Orientierungen im Sinne einer Verpflichtung zu gesellschaftlicher Verantwortung und sozialem Engagement aus? In welcher Art und Weise haben sich Jugendbewegte im Bewusstsein einer gewissen Verbundenheit vernetzt? Wie haben sie ihre Einflussnahmen rückblickend beurteilt: als ge- 10 Einige Angaben über die zahlenmäßige Stärke der Bewegung (angefangen von ca. 25 000 in Wandervogel-Bünden 1914 über rund 90.000 in der »Bündischen Jugend« der Jahre zwischen 1918 und 1933 unter Einbeziehung »einiger bündisch-konfessioneller, jüdischer und pfadfinderischer« Gruppierungen) finden sich mit Quellenangaben in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998, S. 181 – 196, hier S. 189. 14 Barbara Stambolis lungen oder gescheitert? Wie haben sie gegen Ende ihrer beruflichen Lebenswege (spätestens bis Mitte der 1960er Jahre) Bilanz gezogen? Vor 1933 hatten z. B. bereits der Preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker und Pädagogen wie Wilhelm Flitner zentrale »Netzbildungs-Funktionen« für ältere Jugendbewegte besessen.11 Für die Zeit nach 1945 gilt die Aufmerksamkeit einer Reihe weiterer maßgeblicher »Vernetzer«, zu denen etwa Hans Bohnenkamp oder Adolf Grimme gehört haben. Nach den Erfahrungen des ›Dritten Reiches‹ in Deutschland und/oder Jahren der Emigration haben sie nach 1945 an ihre – weitergedachten – jugendbewegt geprägten Welt- und Menschenbilder angeknüpft und diese dann jüngeren Altersgruppen zu vermitteln versucht: in zahlreichen Appellen, in Überlegungen und Initiativen für eine im weitesten Sinne ›humanere Zukunft‹. Sie haben in der deutschen Gesellschaft nach 1945 in verantwortungsvollen Stellen und in einigen Fällen sogar in hochrangigen Schlüsselpositionen Einfluss genommen. Durch vielfältige Beteiligungen an konkreten Planungen und nicht zuletzt mit Hilfe intensiver freundschaftlicher und kollegialer Vernetzungen haben sie sich ›eingemischt‹, zumeist ohne dabei ausdrücklich von gemeinsamen jugendbewegten ›Wurzeln‹ zu sprechen. Ein gewisses Einverständnis über Herkunft, Prägung und eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage stellten jedoch den Ausgangspunkt für viele kollegiale Vernetzungen und daraus erwachsende Arbeitszusammenhänge ehemaliger Jugendbewegter dar, wie Beiträge des hier vorgelegten Bandes zeigen. Grundlegend für ein Gefühl der mentalen Verbundenheit ehemals Jugendbewegter und ihnen Nahestehender – oft jenseits politischer Differenzen und auch Schicksale während der NS-Zeit bzw. Verstrickungen in die NS-Geschichte – waren persönliche Freundschaften und Netze, die sich unmittelbar nach 1945 wiederbeleben ließen. Nicht zu unterschätzen ist sicher, dass die Jugendbewegung auch ein in hohem Maße kompliziertes, deutsch-jüdisches Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts abbildet. Moshe Zimmermann hat diesen von der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung während der Jahre der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft überschatteten Aspekt folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Das, was ab 1933 geschah, führte nicht nur zur 11 Vgl. Erhard Schütz/Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009, hier auch ausdrücklich immer wieder die Frage nach »kommunikativen Netzwerken«; vgl. auch Hans Manfred Bock/Michael Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Le milieu intellectuel catholique en Allemagne. Sa presse et ses r¦seaux (1871 – 1963). Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland. Seine Presse und seine Netzwerke (1871 – 1963), Bern, Frankfurt a.M. 2006. Siehe auch drei andere zwischen 2002 und 2008 von denselben Herausgebern vorgelegte Sammelbände zu anderen, d. h. dem linken, dem evangelischen und dem konservativen Intellektuellenmilieu. Einleitung 15 tiefen Zäsur in der Geschichte der jüdischen Jugendbewegung, sondern auch zum Erinnerungsbruch.«12 ›Wirkungen‹ dieser ›Schatten‹ finden sich in individuellen Lebenswegen ebenso wie in Versuchen nach 1945, Schuld und Scham zu thematisieren und Folgerungen aus den katastrophenreichen Entwicklungen zu ziehen. Im Mittelpunkt der generationellen Erfahrungen Jugendbewegter stehen – wie bereits angesprochen – vor allem der Erste und der Zweite Weltkrieg sowie für viele insbesondere die Zeit der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft, wobei lebens- und zeitgeschichtliche Zäsuren bekanntlich nicht identisch sein müssen.13 Die beiden Weltkriege und ihre Folgen sowie die nationalsozialistische Diktatur haben altersgruppen- oder generationenspezifische Spuren hinterlassen, die zwar im Sinne von ›Generationsetiketten‹ keine Allgemeingültigkeit besitzen, jedoch als heuristisches Instrument – auch für die Wirkungsgeschichte der Jugendbewegung – durchaus hilfreich sind, dies nicht zuletzt deshalb, weil sich in der Jugendbewegung intensiv geführte Generationendebatten feststellen lassen, die von einer durchaus gängigen Generationenabfolge ausgingen. Wenn z. B. von der »Kriegsgeneration des Ersten Weltkriegs« gesprochen wird, so umfasst diese zunächst einmal ganz allgemein jene Menschen, die – etwa zwischen 1890 und 1900 geboren – als Heranwachsende noch das Kaiserreich erlebt hatten und dann entscheidend vom Ersten Weltkrieg geprägt wurden. Eine weitere Altersgruppe, die »Weimarer« oder »Nachkriegsgeneration des Ersten Weltkriegs« – umfassend die Geburtsjahrgänge ungefähr zwischen 1900/1902 und 1910/1914 und in diesen vor allem der männliche Teil –, hatte zwar keine »Fronterfahrungen«, war jedoch nicht minder vom Ersten Weltkrieg sowie den folgenden Unsicherheiten und gesellschaftlichen Umbruchereignissen beeinflusst. Von diesen unterschieden werden können ferner die zwischen 1910/1914 und 1918/1920 geborenen »Kriegskinder des Ersten Weltkriegs«: Ihre Erlebnisund Erfahrungswelten sowie die einer vierten Altersgruppe – zwischen 1918/ 1920 und 1930/1933 geboren, und meist »HJ«- oder »BDM-Generation« genannt 12 Moshe Zimmermann: Erinnerungsbrüche – Jüdische Jugendbewegung: Von der Wacht am Rhein zur Wacht am Jordan, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5 (2008) Schwalbach, Ts. 2009, S. 49 – 58. Vgl. auch: Yotam Hotam (Hg.): Deutsch-jüdische Jugendliche im ›Zeitalter der Jugend‹, Göttingen 2009. 13 Vgl. Volker Depkat: Lebenswenden und Zeitenwende. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, bes. S. 14 f. Depkat geht es am Beispiel der Selbstbiographisierung prominenter Persönlichkeiten des politischen Lebens um die in ihren Autobiographien widergespiegelten lebensgeschichtlichen und zeithistorischen Zäsurerfahrungen, an die er u. a. folgende Fragen hat: »Wie blicken sie in Autobiographien auf ihr durch eine ganze Abfolge einschneidender historischer Ereignisse und kollektiver Katastrophen geprägtes Leben zurück? Wie beziehen sie Biographie und Geschichte aufeinander? Welche Selbst- und Geschichtsbilder entstehen auf diese Weise? Welche Lern- und Umorientierungsprozesse werden darin sichtbar?« 16 Barbara Stambolis – und schließlich noch einer fünften, der »Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs« (1930 bis 1945 umfassend), heben sich dann noch einmal in vielerlei Hinsichten von denen der zuvor genannten ab. Manche in dem hier vorliegenden Band im Mittelpunkt stehenden Personen und Beziehungsnetze liefern Einblicke in mentalitäts- und erfahrungsgeschichtliche Dimensionen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die aus der Rückschau betrachtet ohne Berücksichtigung von Stichworten wie ›Niederlage‹ oder ›Scheitern‹ nur schwer zu analysieren sind. Ehemals Jugendbewegte haben sich nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit ihren ›Verstrickungen‹ während der Jahre des Nationalsozialismus auch psychisch zu stabilisieren versucht. Dass manche Jugendbewegte sich in ihren bilanzierenden Lebenserzählungen – u. a. unter Hinweis auf das Argument politischer Naivität – mit Fragen nach ihrer Verantwortung vor der Geschichte schwer taten, liegt auf der Hand. Es sei deshalb ein Problem angedeutet, das differenzierte Antworten erfordert: Zeitweise offene Bekenntnisse zum Nationalsozialismus und klare Schnittmengen mit nationalsozialistischem Gedankengut stehen nicht selten neben keineswegs mit nationalsozialistischen ideologischen Vorstellungen deckungsgleichen Grundüberzeugungen. Es gab strategische Anpassungs- und Anbiederungs- oder auch ›Selbstrettungs‹versuche in den Jahren 1933 bis 1945. Die heute gängige Wahrnehmungsweise der nationalsozialistischen Diktatur folgt zwar nach wie vor in oft ausgeprägter Weise »moralischen Kategorien«, denen zufolge es Täter, Mitläufer und Opfer gab, während es sich doch häufig um vielschichtige und teilweise widersprüchliche Denk- und Verhaltensweisen handelt, die einen zentralen Gegenstand der Beschäftigung mit jugendbewegter Geschichts- und Erinnerungspolitik darstellen.14 Nur in wenigen Fällen sind die Lebenswege Jugendbewegter nach einem festzulegenden Maßstab als Erfolgsgeschichten oder aber – umgekehrt – in eindeutiger Weise als Geschichten des Scheiterns zu bewerten.15 Da es zum Selbstverständnis einer ganzen Reihe von ihnen gehörte, gesellschaftliche Verantwortung nicht zuletzt für nachwachsende Generationen zu übernehmen, und manche glaubten, einem historischen ›Auftrag‹ gerecht werden zu sollen, blieben Enttäuschungen nicht aus, die wiederum in Arbeits- und Freundeskreisen in ›Aussprachen‹ kommuniziert und bilanziert wurden. Hoch gesteckte Ziele ei14 Vgl. Aya Soika, Bernhard Fulda: »Deutscher bis ins tiefste Geheimnis seines Geblüts«. Emil Nolde und die nationalsozialistische Diktatur, in: Felix Krämer (Hg.): Emil Nolde. Retrospektive. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Städel Museum, Frankfurt am Main, 5. März bis 15. Juni 2014, München 2014, S. 45 – 55, bes. S. 45 und 55. 15 Vgl. Jürgen Reulecke: Eine unbegreifliche Last? Vom Umgehen mit Scheitern, Schuld und Versagen am Beispiel der jugendbewegten ›Jahrhundertgeneration‹, in: Stefan Zahlmann, Sylka Scholz (Hg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Gießen 2005, S. 165 – 178. Einleitung 17 nerseits und Niederlagen andererseits waren bereits in der Zwischenkriegszeit Gegenstand der Selbstverständigungen, vor allem jedoch dann unmittelbar nach 1945 und ein weiteres Mal ab den 1960er Jahren. Sich mit ›Wirkungen‹ der Jugendbewegung zu beschäftigen, heißt nicht zuletzt auch, den Blick auf Bereiche zu richten, in denen sich dieselben ›in Grenzen hielten‹ bzw. kaum nachweisbar sind. Ferner gilt es, der Frage nachzugehen, wann wie auch immer im Einzelnen zu verstehende ›Wirkungen‹ an ihr Ende gelangten – mit anderen Worten: ab wann die Jugendbewegung nur noch als eine Art »Restgeschichte«16 – weitgehend nun ohne gesellschaftliche Bedeutung – betrachtet werden kann. Zu den einzelnen Beiträgen und zu Forschungsdesideraten Eingangs betrachtet Walter Laqueur in diesem Band als Historiker und innerlich beteiligter Zeitzeuge in essayistischer Form gleichsam aus der Vogelperspektive die Geschichte ›bewegter‹ Jugend im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Vielleicht lässt sich seine Überblicksskizze – mit zahlreichen kritischen Anmerkungen und nachdenklichen Fragen versehen – im Sinne einer exemplarischen Annäherung an die schwierige Kunst der Zusammenschau von Erleben und Analysieren lesen, wie sie beispielsweise auch Eric Hobsbawm umrissen hat. Im Vorwort seines Buches »Das Zeitalter der Extreme« betonte Hobsbawm den historischen Wert lebensgeschichtlicher Erfahrungen, und zwar als »Reisender mit offenen Augen« und »teilnehmender Beobachter«.17 Walter Laqueur hatte sich bereits im Jahre 1960, achtzehn Jahre vor dem Erscheinen seiner bekannten »historischen Studie« über die deutsche Jugendbewegung, einem seiner künftigen wissenschaftlichen Schwerpunkte angenähert.18 Er beschrieb damals in einem Reisebericht Eindrücke seiner Begegnungen unterwegs zum Hohen Meißner. Seither hat er sich immer wieder mit ›Wirkungen‹ der Jugendbewe16 Arno Klönne, Jürgen Reulecke: »Restgeschichte« und »neue Romantik«. Ein Gespräch über Bündische Jugend in der Nachkriegszeit, in: Jugend vor einer Welt in Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland. Hrsg. von Franz-Werner Kersting. Weinheim, München 1998, S. 87 – 103, hier S. 101 f. 17 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 1995, S. 8 f. 18 Walter Laqueur : Jugendbewegung. Betrachtungen auf einer Reise, in: Der Monat Heft 142, Juli 1960, S. 51 – 58, hier S. 51. Vgl. auch ders.: Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit. Begegnungen mit Schlesien und dem Utopia der Jugendzeit, Berlin 1964; Wanderer wider Willen. Erinnerungen 1921 – 1951, Berlin 1995; Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin 2000; Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin 2001. Vgl. auch Micha Brumlik: Walter Laqueur, in: Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt (Anm. 2), S. 443 – 449. 18 Barbara Stambolis gung, besonders vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Zäsuren im 20. Jahrhundert, befasst und nach wie vor jeweils aktuelle Forschungsfragen formuliert: Was aus der Jugendbewegung eigentlich »herausgekommen« sei, was ihren Kern ausgemacht habe: ein »Erlebnis«, eine »Erziehungsform«, eine »Vielfalt von Bünden« oder ein »Freundschaftsbund«19, ab wann sie ihre gesellschaftliche Relevanz allmählich eingebüßt habe … Arno Klönne, für den der Zusammenhang von ›Leben und Werk‹ seit langem eine gewisse Selbstverständlichkeit besitzt und der sich nicht zuletzt unter dem Stichwort ›gegen den Strom‹ seit Jahrzehnten mit Fragen der Wirkungen der Jugendbewegung in ihren unterschiedlichen sozialen und weltanschaulichen Facetten beschäftigt, wirft in seinem Essay insbesondere ein Licht auf lebensgeschichtliche Aspekte des ›Scheiterns‹ Jugendbewegter und ihrer Lebensentwürfe. Micha Brumlik nimmt in seinem Beitrag aus persönlicher Perspektive die Bedeutung der Jugendbewegung für junge Juden in den Blick. Er betont den Stellenwert jugendbewegter Vergemeinschaftung unter den Bedingungen einer (lebens)bedrohlichen Außenwelt als Erfahrungsraum, in dem die Abwesenheit von Zwang eine besondere Qualität zugekommen sei. Er skizziert deutsch-jüdische, jüdisch-deutsche Geschichte als Generationengeschichte in transgenerationaler Perspektive. Am Beispiel von Jugendbewegungserfahrungen vor allem seines Vaters entwickelt Brumlik Überlegungen, die Eingang in eine noch zu schreibende »historische Psychologie der Jugendbewegung« Eingang finden könnten. Ebenfalls persönlich gehalten – aus dem Blickwinkel des Zeitzeugen und des Historikers – sind Klaus-Dieter Krohns Reflexionen über seine Erfahrungen in einer Jungenschaftsgruppe in den 1950er Jahren. Er geht auf spezifische Bedürfnisse einer um 1940 geborenen Altersgruppe Jugendbewegter ein, die zugleich die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft spiegeln, beispielsweise der Tendenz zu sozialer Durchlässigkeit. Er schildert unter dem Gesichtspunkt »Was bleibt« die Bedeutung der Gruppe als Sozialisationsinstanz für die Gewinnung von Selbstsicherheit ebenso wie für den Erwerb von sozialen Kompetenzen, nicht zuletzt auch für eine über die Zeit in dieser Gemeinschaft hinaus gültige Empathiefähigkeit und Offenheit. Aus der Perspektive des Historikers und des Zeitzeugen schreibt auch Jürgen Reulecke, allerdings nicht mit Blick auf eigene jugendbündische Prägungen, sondern am Beispiel des 1947 sich konstituierenden und bis zum Jahre 2000 bestehenden Älterenkreises der Freideutschen, deren Mitgliedern und ihrer Geschichte ›gerecht zu werden‹ er gleichsam als Verpflichtung übernommen habe. Die ›Generationalität‹ dieser vom Autor als ›Jahrhundertgeneration‹ be19 Ebd., S. 57. Einleitung 19 zeichneten ehemaligen Jugendbewegten zu beschreiben, ist ihm ebenso wichtig wie der Versuch, ihre rückblickende, meist nur ansatzweise kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit angemessen zu deuten. Den Grundlagen und der Tragfähigkeit jugendbewegter Freundschaft widmet Meike G. Werner ihre Aufmerksamkeit an einem besonders prominenten Beispiel, dem Sera-Kreis, in dem vor dem Ersten Weltkrieg ›Freundschaft‹ in besonderer Weise gelebt und reflektiert wurde und Männer und Frauen gleichermaßen eine Möglichkeit fanden, im symbolischen Handeln und intellektuellen Austausch Gemeinschaft zu konstituieren. Sie stellt die enge Verbundenheit zwischen Wilhelm Flitner und Rudolf Carnap in den Mittelpunkt, die ohne diesen Kreis nicht denkbar wäre. Auf das ausgedehnte Netz von Kleinverlagen ›jugendbewegt Geprägter‹ macht Justus Ulbricht aufmerksam und fragt nach den Motiven für dieses verlegerische und publizistische Engagement. Es sei wesentlich mit einem in der bürgerlichen Jugendbewegung ausgeprägten Sendungsbewusstsein und kulturellen ›Auftrag‹ zu erklären. Letzterer habe sich nicht nur darin ausgedrückt, ›Bildung‹ verbreiten zu wollen, sondern auch in dem Anspruch seinen Niederschlag gefunden, Vorreiter und Erneuerer einer ästhetischen und moralischen Erziehung der ›Nation‹ zu sein. Die Publikationen ›jugendbewegter Verlage‹, die ein breites weltanschauliches Spektrum abdeckten, trugen aber vor allem dazu bei, einen bildungsbürgerlichen Wertekanon in der Jugendbewegung selbst zu verbreiten. Nach den ›Kräften‹, die in der Formierungsphase bündischer Jugend deren Anziehungskraft ausmachten, nach ›Bindungen‹, ›Prägungen‹ und dem ›Fortwirken‹ von einmal wirksam gewordenen Haltungen und Orientierungen fragt Rüdiger Ahrens in seinem Beitrag. Ahrens stellt sich zum einen die Frage nach Kernelementen bündischer Selbsterziehung in der Altersgruppe der jungen Weltkriegsteilnehmer und der nach 1900 geborene Kriegsjugend. Ferner unterzieht er jugendbewegte Selbstdeutungen nach 1945 im Rückblick auf die genannten Generationen einer kritischen Analyse. Eine These des Autors lautet, die vielzitierte Zersplitterung der Jugendbewegung in den 1920er Jahren werde von Insidern überbewertet, es gebe vielmehr starke gedankliche Übereinstimmungen, nicht zuletzt im Zusammenhang von Diskursen um »Bund«, »Volk«, »Nation« und »Reich«, die die Grundlage jugendbündischer ideologischer Orientierungen dargestellt hätten. Ein breites Spektrum von Impulsen jugendbewegt mitinspirierter »Experimentierwerkstätten« der Jugend- und Erwachsenenbildung in den Jahren nach 1918 stellt Paul Ciupke vor. Er beschreibt die – nicht selten durch Weltkriegserfahrungen mitbegründeten – Hoffnungen auf klassenübergreifende Formen der Bildung und die in hohem Maße idealistische Motivation der Akteure in den unterschiedlichsten außerschulischen Bildungsprojekten, in deren Mittelpunkt das Ziel gelungener Kommunikation in selbstbestimmten Formen des Mitein- 20 Barbara Stambolis ander-Lernens stand. Ciupke thematisiert aber auch die Enttäuschungen, die sich wiederholt ›in der Praxis‹ einstellten, und verweist auf ein Spannungsverhältnis, das über die Weimarer Republik hinaus für Bildungs-Initiativen und deren Selbstbehauptung unter institutionellen Rahmenbedingungen bezeichnend gewesen sei, in denen Professionalität und Praktikabilität kreativen Ansätzen wie den beschriebenen stets Grenzen setzten. Michael Philipp geht den Prägungen des 1909 geborenen Buchhändlers Werner Hundertmark nach, in dessen dichterischem Werk und persönlichen Äußerungen erkennbar ist, dass die Koordinaten seiner Ideenwelt mit den Stichworten ›Antike‹, ›Stefan George‹ und ›Jugendbewegung‹ zu umreißen sind, wobei Georges Gedicht »Wer je die flamme umschritt« für Hundertmark wohl die für viele Jugendbewegte zutreffende identifikatorische Bedeutung besaß. Der hier vorgestellte weithin unbekannte Jugendbewegte kann als durchaus exemplarisch für Erfahrungshorizont und gedankliche Orientierungen der oben bereits angesprochenen Kriegsjugend gelten, deren männliche Mitglieder zwar nicht mehr am Ersten Weltkrieg als Soldaten teilgenommen hatten, jedoch – so Michael Philipp – einer ›Verlorenen Generation‹ zuzurechnen seien. Alfons Kenkmann vergleicht an drei Biographien Motive nonkonformen Verhaltens während der NS-Zeit, wobei er bei Adolf Reichwein und Carl Klinkhammer auf je unterschiedlichen Milieuhintergründen von einer ›jugendbewegte Sozialisation‹ ausgeht. Diese lasse sich jedoch für dem ›Navajo‹ Heinz Kasten nicht belegen, der sich zwar im ›Stil‹ seiner Unangepasstheit von der Hitlerjugend absetzte, bei dem aber nicht von einer vergleichbaren Prägung gesprochen werden könne. Das Spektrum jugendlichen Eigen-Sinns in den Jahren zwischen 1933 und 1945 war bekanntlich ausgesprochen breit. So gab es nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Jugendlichen einerseits »bündische Umtriebe«, abweichendes Verhalten, Widerständigkeit im engeren Sinne und andererseits unauffällige Anpassung sowie schließlich auch überzeugtes aktives »Mitmachen« im Dienste und im Sinne des Regimes – ein weites Feld, das differenziert zu analysieren Kenkmann anregt. Eva Moser untersucht am Beispiel des bekannten Grafik-Designer Otl Aicher, welche jugendbewegten Spuren sich in seinem Leben und seiner Lebenserzählung nachweisen lassen, und stellt heraus, wie intensiv Aichers Selbstsicht mit Deutungs-Zusammenhängen der Weißen Rose verbunden war. Es lasse sich, so Moser, durchaus für Aicher ein bündisches Freundesideal belegen; auch habe er ›Gemeinschaft‹ in einem ganzheitlichen Sinne privat und beruflich zu verwirklichen versucht. Gleichwohl erscheine er aber zugleich als ,Solitär‹, dessen Autonomieverständnis und ›Führungsanspruch‹ wohl auch seiner Persönlichkeit geschuldet sei und nicht nur jugendbewegten Einflüssen zugeschrieben werden könne. Schließlich solle – so Eva Moser – bedacht werden, dass ihm die Nähe zur Weißen Rose und seine Ehe mit Inge Aicher-Scholl gleichsam auch eine Einleitung 21 Teilhaberschaft an einer anerkannten jugendkulturellen Tradition gesichert habe. Auf die erinnerungskulturelle Bedeutung der Weißen Rose geht Bernhard Schäfers ein und stellt, ausgehend von der Endkriegszeit, Facetten ihrer ›Vorbildhaftigkeit‹ bis in die Gegenwart dar, in der jugendbewegte Prägungen als Motiv für ihre Widerständigkeit mit berücksichtigt werden. Er benennt ›erinnerungspolitische Akteure‹, beschreibt Diskurse in politischen und moralischen Kontexten, fragt nach Gründen für die Sonderrolle der Weißen Rose in der Vielfalt jugendlicher Unangepasstheit und richtet auch das Augenmerk auf internationale Wahrnehmungen. Christopher Beckmann und Jürgen Nielsen-Sikora betonen die ausgesprochen gute Vernetzung der Mitglieder des zahlenmäßig starken, 1919 gegründeten katholischen Bundes Neudeutschland, und zwar über mehrere Generationen, wobei sie politische und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse ebenso berücksichtigen wie Konkurrenzen wie etwa katholische Studentenverbindungen oder Schnittmengen mit Vernetzungen im Jesuitenorden. Die Betätigungsfelder von NDern weisen beispielsweise in die Entwicklungspolitik und in Spitzenpositionen von Medien und Bildung sowie die Politikberatung (Beirat Innere Führung der Bundeswehr). Eine schwindende Einflussnahme des Bundes Neudeutschland belegen die Autoren dann für die 1960er Jahre. Konstantin von Freytag-Loringhoven erweitert das Spektrum mit seinem Beitrag über die Kollegienhäuser als Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg an deutschen Universitäten studentisch-akademische Gemeinschaftsformen aus jugendbewegtem Geist zu etablieren. Er geht auf ähnlich gerichtete Überlegungen in reformpädagogischen Kreisen der Zwischenkriegszeit und die Anknüpfung an humanistische Bildungstraditionen ein, die diesem Beitrag zur Hochschulreform in den Jahren von 1945 bis 1965 zugrunde lagen. Außerdem macht er auf die Skepsis aufmerksam, die gegenüber den Kollegien herrschte, ob sie geeignet seien, junge Akademiker auf ihre Verantwortung als Staatsbürger in einer demokratisch verfassten Zivilgesellschaft vorzubereiten. Von FreytagLoringhoven kann ähnlich wie andere Autoren des Bandes schließlich für die 1960er Jahre – mit dem sich nicht zuletzt an den Universitäten massiv auswirkenden gesellschaftlichen und generationellen Wandel – ein ›Ende‹ dieser jugendbewegt mitmotivierten Initiativen belegen. Hartmut Alphei begibt sich auf die Suche nach jugendbewegten Spuren in der Bildungspolitik in Niedersachsen nach 1945 in Anknüpfung an bereits bestehende Kontakte und Vernetzungen in der Zwischenkriegszeit, wobei er Carl Heinrich Becker für die Jahre vor 1933 und Adolf Grimme in den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg besondere Bedeutung als ›Vernetzer‹ zumisst. Ob es Alphei – und vielleicht auch dem einen oder anderen ebenfalls selbst ›jugendbewegt geprägten‹ Autor – leichter fällt, die Tragfähigkeit solcher 22 Barbara Stambolis Netzwerke vorauszusetzen als Außenstehende, ist wohl nicht leicht zu entscheiden. Hans-Ulrich Thamer nimmt sich unter verallgemeinernden Überlegungen und erweiternden Perspektiven dem politischen Wirken von ›Netzwerken‹ und ›Netzwerkern‹ im Nauheimer und Grünwalder Kreis an, die der Jugendbewegung nahe standen, betont jedoch deutliche Unterschiede etwa zu dem von Jürgen Reulecke beschriebenen ›Freideutschen Kreis‹. Nicht zuletzt hebt er hervor, jugendbewegte Prägungen ließen sich oft nur schwer eindeutig belegen; außerdem lägen der Bildung von Kreisen in der Regel vielschichtige Motive, Impulse und Interessen zugrunde. Dass in diesem Band – abgesehen von dem Beitrag Meike G. Werners und der Herausgeberin – das Augenmerk fast ausschließlich Männern gilt, ist nicht nur auf den stark männerbündischen Charakter der Jugendbewegung zurückzuführen. Am Beispiel der Emigrations- und Remigrations-Geschichte in jugendbewegten Zusammenhängen, die ohnehin noch nicht hinreichend untersucht worden ist, wäre – vielleicht unter ähnlichen methodischen Zugängen, wie sie in einer jüngeren Studie über die Rote Kapelle fruchtbar gemacht worden sind20 – z. B. die Gilde Soziale Arbeit detaillierter zu untersuchen. Diese ist in erster Linie mit Namen wie Fritz Borinski oder Hermann Schafft verbunden. Es ließe sich jedoch der Anteil von Frauen in der Sozialarbeit unschwer belegen, die in der Zwischenkriegszeit wie auch nach 1945 ähnlich wie die männlichen Mitglieder dieses Kreises ›im Geiste der Jugendbewegung‹ sozialpädagogisch tätig waren. Da mit dem vorliegenden Band zunächst nur erste Schritte zu einer vertiefenden Untersuchung jugendbewegter ›Wirkungen‹ in der Geschichte des 20. Jahrhunderts unternommen wurden, bleibt auch weiterhin eine ganze Reihe von Fragen offen. In wissenschaftlichen Darstellungen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte nach 1945 oder in Untersuchungen, in deren Focus die »intellektuelle Gründung der Bundesrepublik« steht, wurden lebensgeschichtliche jugendbewegte Prägungen oder jugendbewegt mit motivierte Vernetzungen bislang kaum berücksichtigt.21 ›Spuren‹ davon finden sich u. a. in der Geschichte der Studienstiftung des deutschen Volkes, des Deutschen Akademischen Aus20 Anne Nelson: Die Rote Kapelle. Die Geschichte der legendären Widerstandsgruppe, München 2010. 21 Vgl. Clemens Albrecht/Günter C. Behrmann/Michael Bock: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik: Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999; Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik: Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955 – 1975, Stuttgart 2010. Vgl. auch Alexander Gallus/Axel Schildt (Hg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011. Einleitung 23 tauschdienstes oder im Beirat Innere Führung der Bundeswehr oder im MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung,22 um nur einige Beispiele zu nennen, die bereits als gesichert gelten können. Die zugespitzte Formulierung, die Neugründung der Studienstiftung nach dem Zweiten Weltkrieg sei ein »spät geborenes Kind der Jugendbewegung«, wie ihr ehemaliger Geschäftsführer Heinz Haerten pointiert schrieb, wird sich wohl kaum belegen lassen. Seine anschließende Bemerkung, bei der »Suche nach freiwilligen Helfern für das neue Werk« hätten Erinnerungen an die Jugendbewegung und das Wort »Wandervogel« wie »Zauberschlüssel« gewirkt, ließe sich auf tatsächliche Anhaltspunkte hin gleichwohl prüfen.23 Nachzugehen wäre auch folgenden Fragen: In welchen gesellschaftlichen Handlungsfeldern sind keine jugendbewegten Einflüsse nachweisbar? Wann und aus welchen Gründen endeten die Einflussnahmen über jugendbewegte Netzwerke? Und nicht zuletzt: Für wissenschaftliche Untersuchungen eröffnen sich bislang wenig beachtete erfahrungsgeschichtliche Perspektiven: nämlich auf Zusammenhänge zwischen individuellen und kollektiven, vielleicht auch generationellen Selbstverortungen und gefühlten gesellschaftlichen Verpflichtungen auf der Grundlage spezifischer adoleszenter Erfahrungen im Sinne einer – wie Micha Brumlik anregt – noch nicht geschriebenen »historischen Psychologie der Jugendbewegung«. 22 Leider musste auf den ursprünglich geplanten Beitrag von Günther C. Behrmann für den vorliegenden Band verzichtet werden (der Arbeitstitel: »Jugendbewegung und politische Bildung: die Akademie für politische Bildung Tutzing, der Ausschuss für Erziehungs- und Bildungssoziologie und das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung«). 23 Heinz Haerten: Die Studienstiftung des deutschen Volkes 1925 bis 1970, ungedrucktes maschinenschriftliches Manuskript im Archiv der Studienstiftung, Bonn.