Virtuelle Gemeinschaften - c

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Virtuelle Gemeinschaften - c
Universität Leipzig - Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaf
Medienwissenschaften
Dr. Karin Wehn – Multimedia, Hypertext, Interaktivität, virtuelle Gemeinschaft
Daniela Krien
Christian Baden
Virtuelle Gemeinschaften
Umwelten und Inhalte des Lebens im Netz
Durch Virtual Communities soll es
endlich möglich werden, dass alle
Menschen individuell gesellschaftlich
relevant sein können. Es geht um nicht
weniger als die Einlösung der
fundamentalsten Versprechung der
Mo derne.
- Andreas Brill
0
Einleitung
„In Zukunft werden wir Gemeinschaften ohne Orte haben
und Orte ohne Gemeinschaften.“
Diese Prognose stellte Ulrich Beck vor mittlerweile vier Jahren bei einem Vortrag in der Frankfurter Universität auf. Und mit dieser Ansicht steht er nicht alleine: Viele Wissenschaftler und
Internet-Interessierte haben gleiche oder ähnliche Zukunftsvisionen. Ist das, was 1997 als Zukunft galt, heute schon Realität? Die Gemeinschaften, die sich Ulrich Beck vorstellte, gibt es
sicherlich noch nicht. Allerdings entwickelte er auch keine genaueren Vorstellungen über Gestalt
und Funktionsweisen dieser Gemeinschaften, so dass eine Überprüfung seiner Vorhersage kaum
ohne Weiteres möglich ist. Entscheidend an seiner Aussage hingegen ist die Tatsache, dass er,
ebenso wie die meisten anderen Wissenschaftler und Praktiker, die sich mit Wirkungen der computervermittelten Kommunikation beschäftigen, den neuen Kommunikationsmöglichkeiten ein
enormes Veränderungspotential beimisst. Die technische Weiterentwicklung der CMC (Computer Mediated Communication) führt – so ist die allge meine Annahme – zu entscheidenden Veränderungen der sozialen Beziehungen. Gemeinschaften entstehen, die unabhängig von Raum und
Zeit agieren. Neue Formen von Gemeinschaften bieten neue ungeahnte Möglichkeiten, bergen
aber auch neue Gefahren. Noch gibt es keine langjährigen Erfahrungen oder wirklich repräsentative Langzeitstudien, da es kaum virtuelle Gemeinschaften gibt, die älter als 10 Jahre sind. Aber
auch andere Hindernisse erschweren eine wissenschaftliche Erfassung des Phänomens.
Definition und Konzeption
Schon beim Begriff der Virtuellen Gemeinschaft beginnen die Probleme. Bisher gibt es keinerlei
einheitliche allgemeingültige Definition und Charakterisierung, ebenso keine Operationalisierung
des theoretischen Konstrukts. Beinahe jeder Forscher begreift Virtuelle Gemeinschaft als etwas
anderes, Schnittmengen sind vorhanden, aber unscharf. Interneteuphoriker wie Howard Rheingold liefern schwammige Definitionen1 , auf die sich keine wissenschaftliche Untersuchung stützen kann. Skeptiker wie Stegbauer zweifeln bereits die Existenz virtueller Gemeinschaften an
1
„Virtual communities are social aggregations that emerge from the Net when enough people carry on those public
discussions long enough, with sufficient human feeling, to form webs of personal relationships in cyberspace“. (vgl.
Rheingold 1993 S. 5 )
1
sich an2 (Vgl. Stegbauer 2001 S. 71ff). Eine solche Herangehens weise erscheint uns wenig hilfreich, da sie keine Untersuchung sozialer Phänomene im Internet erlauben würde, wie auch immer diese zu bezeichnen wären. Dagegen behauptet der Begriff Virtuelle Gemeinschaft mitnichten, dass diese denselben Gesetzen folgen müssen wie Gemeinschaften in RL3 ; er anerkennt
lediglich die Existenz eines noch näher zu bestimmenden und zu erforschenden sozialen Phänomens. Die Definition, die uns am geeignetsten erscheint und die wir dieser Arbeit zugrunde legen, stammt von dem Schweizer Soziologen Christoph Müller. Er entwickelte drei entscheidende
Kriterien für eine virtuelle Gemeinschaft. Diese erfordert:
(a) frequent, multilateral and for a certain period durable communication contacts;
(b) commonly shared norms, values and collective practices;
(c) defined boundaries between inside and outside, and development of a common
identity.4
Die Definition gibt eine Reihe leicht operationalisierbarer Kriterien, die plausibel als Voraus setzung für eine Gemeinschaft angenommen werden können. Sicherlich ist sie ausbaufähig, aber die
Kritik einer Definition ist nicht das Anliegen unserer Arbeit und kann hier nicht näher behandelt
werden – zumal dies einen erheblichen Aufwand bedeuten dürfte. Aus dem Mangel an wissenschaftlicher Einheitlichkeit angesichts der neuen Entwicklungen im Internet ergibt sich die dringende Notwendigkeit, den traditionellen Gemeinschaftsbegriff weiter zu fassen und gegebenenfalls neu zu definieren.
In unserer Arbeit gehen wir daher von der Existenz virtueller Gemeinschaften mit oben ge nannten Eigenschaften aus. Leider gibt es bis zum heutigen Zeitpunkt noch keine große Auswahl an
geeigneter Literatur oder empirischen Studien zu diesem Thema. Unsere Untersuchungen stehen
daher unter dem Vorbehalt, keine repräsentativen Aussagen machen zu können. Was wir jedoch
leisten können, ist ein Versuch, ein wenig Struktur in das Wirrwarr verschiedenster (echter oder
potentieller) Virtueller Gemeinschaften (im folgenden VG bzw. VGen) zu bringen. Die zentrale
2
Stegbauer geht insbesondere davon aus, dass die Anonymität der Avatare bei Bildung einer echten Gemeinschaft
unmöglich macht (vgl. Stegbauer S. 83). Dagegen argumentiert Döring allerdings zu Recht, dass Avatare mitnichten
in dem Sinne anonym seien, sondern eigene konsistente Persönlichkeiten entwickeln, die durchaus gemeinschaftsfähig sind (vgl. Döring/Schestag S. 324).
3
RL = Real Life, auch IRL (In RL). RL bezeichnet die Realität außerhalb des Internet, die nicht-virtuelle Welt. (vgl.
Rheingold 1994 S. 99)
4
Vgl. Müller, S. 4
2
Frage, der wir dabei nachgehen wollen, ist, inwiefern die gängigen Ordnungsmodelle einer angemessenen Beschreibung des Phänomens „VG“ zuträglich sind. Da sich die meisten Einteilungen an formalen und technischen Kriterien festmachen, wir hingegen vermuten, dass die Inhalte
und Kommunikationsformen einen relevanteren Einfluss auf den Charakter des Gemeinwesens
haben, lässt sich unsere Forschungsfrage auch wie folgt formulieren:
Ist die technische Basis und die äußere Form einer VG entscheidend für ihren
Charakter, oder sind es die kommunikativen Inhalte, die durch Thema und Konventionen bestimmt werden?
Um dem nachzugehen, ist es notwendig, zunächst die gängige Typologie vorzustellen und diese
einer kommunikationszentrierten Typologie gegenüberzustellen.
Eine Typologie, wie sie im Buche steht
Selbstverständlich existieren bereits Versuche, eine Typologie für alle VGen zu formulieren. In
den bisher veröffentlichten Büchern und Studien wird die Kategorisierung der VGen meist technisch begründet. Im Kern bedeutet das, dass sich eine Community dahingehend abgrenzt und
zuordnen ließe, dass alle Mitglieder ein und dasselbe technische Medium nutzen, zum Beispiel
einen bestimmten Chatroom.
Diese Annahme führt zu einer Typenbildung, die zwar in Details variiert, aber im Allgemeinen
ausgesprochen konstant ist. Sie orientiert sich an den verschiedenen Teilnetzen des Internet, der
Zeitgleichheit der Kommunikation sowie der formalen Umgebung der VGen. Es wird prinzipiell
unterschieden in Newsgroups, Chats und MUDs, wobei als technische Untergruppen zu Chats
noch in Web-Chats, IRC und weitere unterteilt wird. Löst man sich von den exakten technischen
Zuordnungen und berücksichtigt auch die sonst nicht zuzuordnenden Bulletin Board Systems
(Diskussionsforen, auch BBSs genannt), so kann man als Kategorien „message“-basierte, „chat“basierte und „program“-basierte VGen aufführen. Letztere wären dabei identisch mit MUDs und
deren Fortentwicklungen, zweitere mit Chats, IRCs und neue ren Formen zeitgleicher Kommunikation, erstere umfassen das Usenet und BBSs.
Da wir im Folgenden die Zweckdienlichkeit dieser formalen Kategorisierung in Frage stellen
werden, scheint es uns geboten, näher auf die genannten Typen einzugehen.
3
Newsgroups
Newsgroups basieren auf dem Teilnetz Usenet. Man kann eine Newsgroup wie einen News letter
abonnieren, das heißt, man bekommt die Nachrichten der Gruppe zugesandt und kann darauf
durch eigene Postings (Nachrichten) reagieren. Alle Postings liegen auf dem soge nannten
Newsserver und können jederzeit abgerufen werden. Weltweit hat man die Auswahl zwischen
circa 20.000 Newsgroups und unzähligen auf andere Weise organisierten Diskussionsforen5 . Um
an einer Newsgroup teilzunehmen ist es notwendig, einen Newsreader, ein leicht erhältliches und
bedienbares Programm zum Empfangen und Senden der Postings, zu installieren. Dies ist neben
dem Newsserver die einzige Offline-Struktur einer Newsgroup. Sie kann beliebig viele Mitglieder haben, und auch tatsächlich reichen die Mitgliederzahl verschiedener Gruppen von unter einem Dutzend bis in die Tausenden. Meist gibt es unter den Mitgliedern eine kleinere Gruppe von
Leuten, die selbst Beiträge liefern (Poster) und eine große Anzahl von bloßen Rezipienten dieser
Beiträge (Lurker).
Normalerweise geht es in Newsgroups um den Austausch von Informationen zu einem be stimmten Thema. Dies erlaubt eine Bildung von Untergruppen, sowohl formaler wie auch inhaltlicher
Art. So gibt es als eine Unterteilung moderierte und unmoderierte Newsgroups. In unmoderierten
kann im Prinzip jeder Teilnehmer posten was ihm beliebt, sofern es inhaltlichen Vorgaben grob
entspricht 6 . Moderierte Newsgroups haben den Vorteil, dass die Moderatoren darauf achten, die
Inhalte vor dem Überschütten durch Werbung und dem Selbstbild der Newsgroup widersprechenden und rechtswidrigen Beiträgen zu schützen. Wichtiger als diese Einteilung ist hingegen
die Einordnung nach inhaltlichen Sachgebieten. Auch hier kann man technischen Kriterien folgen, da bereits die Struktur des Usenet in the matische Zweige untergliedert. Hierfür gibt es eine
Hierarchie, die im Wesentlichen acht Schwerpunkte umfasst (Vgl. Döring 1999: 62): Netnews,
Computer, Science, Social Life, Recreation, Talk, Miscellaneous und Humanities, Arts (“Big
Eight”).7 Diese werden in weitere Unterhierarchien eingeteilt. Im Name der Newsgroup erscheinen die Kürzel der Hierarchien und Unterhierarchien wieder und lassen auf die Art der News-
5
neben den bereits erwähnten BBSs, die eine Www-basierte Form derselben Kommunikationsform darstellen, können auch Email-Newsletter und -Verteiler in diese Kategorie fallen, sofern sie von allen Gruppenmitgliedern genutzt
werden können.
6
Wird ein Beitrag geposted, der nicht zum eigentlichen Thema der Newsgroup gehört, heißt das off-topic, passt das
Posting zum Inhalt ist der Poster on-topic. Die richtige Zuordnung ist nicht immer leicht und kann zu Konflikten mit
den anderen Usern führen. Inwiefern off-topic-Posting geduldet wird, variiert stark.
7
Außerdem gibt es noch eine Einteilung nach Sprachen, die jedoch in der Regel bereits im folgenden Glied eine
inhaltliche Bestimmung nach sich zieht.
4
group schließen.8 Diese geordneten Groups werden auch Mainstream-Groups genannt. Eine weitere Hierarchie ist die <alt*>-Hierarchie. Sie gehört zu den als chaotisch geltenden VanityGroups 9 . Eine Neugründung ist hier wesentlich unkomplizierter als bei den Big Eight, in nur
einer Woche ist es hier möglich eine neue Newsgroup ins Leben zu rufen (gegenüber ca. zwei
Monaten bei den Big Eight). Diese Newsgroups sind in der Regel offener, und es wird in ihnen
mit Abstand am meisten geposted (1996: 1.731.583 Beiträge).
Chats
Beim Chat erfolgt Kommunikation in Echtzeit. Während eine Person Worte auf der Tastatur
schreibt sind sie im selben Augenblick beziehungsweise nach dem Betätigen der Enter-Taste auf
dem Bildschirm des oder der anderen Chatter zu sehen. Auf diese Weise ist ein direkter Dialog
möglich, der viele Eigenschaften mündlicher Gespräche besitzt. Bereits in den 80er Jahren war es
für zwei Personen möglich via Talk-Dienst zu chatten. Der IRC-Dienst (IRC = Internet Relay
Chat) war die nächste Stufe der Chatentwicklung, die es erlaubte, zu zweit oder mit mehreren
Personen direkt zu kommunizieren. Mittlerweile gibt es außerdem die populären und Web-Chats
sowie verschiedene IM-Dienste.10 Für die Beteiligung an einem Chat benötigt man in den meisten Fällen nichts weiter als einen Www-Browser und einen halbwegs schnellen Netzzugang.
Dies ist im Gegensatz zu Newsgroups wichtig, da zu lange Ladezeiten die synchrone Kommunikation erheblich behindern, während dies für Postings aller Art eher unerheblich wäre. WebChats sind in der Regel offen für alle, die einzige Bedingung ist, dass ein zunehmender Anteil der
Chats eine Anmeldung verlangt, in der der Name und eine Emailadresse abgefragt werden11 . Es
gibt zwar auch Chat-Kanäle, die nicht jedem zugänglich sind und eine Art Akkreditierung verlangen, dies trifft allerdings nur auf sehr wenige, in der Regel dem wissenschaftlichen Austausch
8
Die Bezeichnung beginnt jeweils mit einer der Big Eight und wird dann weiter präzisiert. Somit gibt der Name der
Newsgroup bereits Aufschluss über deren Thematik, wie etwa der Gruppen help.newuser, talk.politics.drugs oder
sci.soc.feminism
9
Unter der <alt*>-Hierarchie finden sich Newsgroups jeglicher Art und zu beinahe jedem Thema. Auch hier folgt
die Bezeichnung nach dem „alt.“ denselben Regeln wie bei den Big Eight, Die Themenpalette reicht von Autos,
Büchern und Musik über Comics und Cyberpunk bis hin zu Drogen und Bibelforschung. Zu vielen MainstreamGroups existiert eine korrespondierende alt.*-Newsgroup.
10
IM = Instant Messaging; die populärsten derartigen Clients sind der AOL-IM (AIM), Yahoo!-IM oder ICQ. Bei
diesen Diensten besitzt jeder User eine Identifikation, die es erlaubt zu erkennen, wann er/sie sich online befindet,
also ansprechbar ist; dazu erstellt jeder User eine „Contact-List“, auf der diejenigen User verlinkt sind, mit denen er
sich unterhalten möchte, und die er auf diesem Wege direkt ansprechen kann. Diese Dienste funktionieren sowohl bials auch multilateral und integrieren teilweise auch weitere Medien wie Email, Pager, WebPhone, SMS und ftp.
11
Diese Maßnahme soll User identifizierbar machen und ist insbesondere dazu, jeden Chatter für ggf. unerwünschte
Äußerungen oder strafbare Inhalte verantwortlich zu halten.
5
verpflichtete Chats zu. In Chats ist man also nicht in dem Sinne ein Mitglied, sondern eher ein
„Stammgast“; Ob man die Kommunikation eines Chats mitbekommt, hängt vollständig davon ab,
ob man den Chat regelmäßig betritt oder nicht, Nachrichten werden nicht automatisch zugesandt.
Somit erfordert Chatten mehr eigenes Engagement als das Lesen einer Newsgroup, und auch
Lurker in Chats fallen eher auf als in Newsgroups. Gleichzeitig ist aber auch – im Zuge der
leichten Zugänglichkeit und der extrem weiten Verbreitung dieses Mediums im Www der Anteil
der „Störenfriede“ und – bei Themenchats – off-topic-Chatter erheblich größer als bei den anderen Formen. Aus diesem Grund verfügen inzwischen die meisten Chats über eine Moderationsinstanz, wahlweise aus Stammchattern von Seiten des Providers zusammengesetzt. Diese überwachen in erster Linie die Einhaltung der Net- oder Chatiquette12 und achten auf strafbare Inhalte.
Angesichts der teilweise sehr hohen Fluktuation von Chattern und die Möglichkeit, multiple
Nicknames (Identitäten) anzunehmen, wäre dies für die „normalen“ Chatter kaum zu leisten.
Zum heutigen Zeitpunkt ist die Auswahl an Chat-Räumen im Www unüberschaubar groß, als
Orientierungshilfe dienen spezielle Suchmaschinen oder entsprechende Verzeichnisse wie
www.webchat.de, wo sich neben einer Liste aller deutschen und der beliebtesten Chat-Räume
auch ein Chat-Forum und statistische Angaben finden.
MUDs
MUDs (Multi User Dungeons/Domains/Dimensions) sind virtuelle Spielumgebungen, deren Ursprung in dem Fantasy-Rollenspiel „Dungeons and Dragons“ liegt. Technisch betrachtet besteht
ein MUD stets aus einem Programm („Engine“), das auf einem beliebigen Server im Internet
liegt und die virtuelle Umgebung, deren Eigenschaften sowie Informationen über die „Bewohner“ des MUDs beinhaltet. Virtuelle Landschaften oder Umgebungen in MUDs sind in der Regel
äußerst komplex, bestehen aus vielen virtuellen Räumen und zahllosen Objekten. Dabei unterscheiden sich MUDs voneinander erheblich darin, inwiefern die „Engine“ durch die „Player“
12
Während die Chatiquette lediglich eine für Chats ausdifferenzierte Form der Netiquette (Benimmregeln des Internet) darstellt, macht es Sinn, diese von FAQs (Frequently Asked Questions) zu unterscheiden, obwohl auch die FAQ
häufig Elemente von Benimmregeln enthalten. Erstere stellt sich meist als eine Liste von empfohlenen Verhaltensregeln dar, die denen im täglichen Leben ähneln. Auch wenn das Verstoßen gegen diese Regeln keine rechtlichen
Konsequenzen nach sich zieht, so ist es doch ratsam, sich daran zu halten. Im schlimmsten Fall kann es zum Ausschluss eines Users von der Newsgroup, aus dem Chat oder anderswo führen. Bei den FAQs handelt es sich um eine
Auflistung der am häufigsten gestellten Fragen. Diese beziehen sich nicht ausschließlich auf das Netzverhalten,
sondern ebenso auf technische oder inhaltliche Unklarheiten.
6
interaktiv erweitert und gestaltet werden kann13 . Eine besonders ausdifferenzierte Form von
MUDs sind MOOs (MUDs Object Oriented). In diesen objektorientierten virtuellen Kommunikationswelten verfügt jeder Teilnehmer über erweiterte Programmbefehle oder sogar eigene
kleine Hilfsprogramme, mit denen er die Objektwelt des MOO verändern kann. Weitere Varianten sind MUSEs (Multi User Shared Environment), MUSHs (Multi User Shared Hallucination),
MUXs (Multi User X-perience) oder MUCKs (Multi User Character Kingdom). Um in einen
MUD „einzutreten“, loggt man sich über den Telnet-Dienst in das gewünschte Programm ein.
Die Adressen der MUD-Server sind auf Webseiten wie www.mud.de leicht zu finden. Die meisten MUDs besitzen textuelle Benutzeroberflächen, sehen also auf den ersten Blick aus wie alte
Textadventures, nur dass hinter den anderen Bewohnern ebenfalls echte Menschen stecken. Für
das Agieren in einem der seltenen 3D-MUDs mit einer grafischen Benutzeroberfläche (zum Beispiel Alphaworld) ist ein spezieller 3D-Browser notwendig.
MUDs werden in der Literatur übereinstimmend unterteilt in abenteuerorientierte MUDs, die ihre
Themen aus der Fantasy- und Science-Fiction-Literatur beziehen (zum Beispiel MorgenGrauen,
Nightfall), und in soziale MUDs (zum Beispiel BioMOO, LambdaMOO), bei denen wiederum
zwischen Lern-, Forschungs- und Fantasieumgebungen unterschieden wird.
In den abenteuerorientierten MUDs entsprechen die Figuren der beschriebenen Welt. Es gibt Magier, Ritter, Hexen, Prinzessinnen, Engel, Elfen, Drachen, Trolle, Zwerge, Menschen und ähnliche Mitspieler. Die einzelnen Charaktere haben im Stile klassischer Pen&Paper-Rollenspiele
verschiedene Aufgaben zu lösen, so zum Beispiel Punkte sammeln, gegen das Böse kämpfen
oder Rätsel lösen. Soziale MUDs zeichnen sich hingegen durch ihren friedlichen und geselligen
Charakter aus. Es geht weniger um das Sammeln von Spielpunkten als vielmehr um zwischenmenschliche Interaktionen und um den sozialen Aspekt der Rolle, die man spielt.
Eine alternative Typologie
Die Typologie Virtueller Gemeinschaften primär nach ihren technischen Kanälen14 stößt jedoch
recht schnell an ihre Grenzen. Die scheinbare Präzision, mit der sich Communities dem einen
13
Hierzu stehen den Players eine Reihe von Befehlen zur Verfügung, die ihnen das Handeln im MUD ermöglichen.
Die Palette der Möglichkeiten reicht dabei von „go to“ oder „look at“ über verschiedene Möglichkeiten, Objekte aus
der vorhandenen Umgebung zu benutzen (etwa: „drink“ oder „destroy“) bis hin zu Befehlen zum Erschaffen neuer
Objekte, Räume und sogar NPCs (Non-Player-Charaktere, kleine Programme, die ihrerseits einen Avatar „lenken“).
14
Vgl. Döring/Schestag S. 6; ein für unsere These interessanter Aspekt ist hierbei, dass Smith/Kollock MUDs als
eine mit Chats verwandte Gattung betrachten und mehr den Aspekt synchroner Kommunikation betonen; somit
7
oder andere Typus zuordnen lassen, weicht spätestens dann, wenn man die Kanäle miteinbezieht,
die die Mitglieder außer dem „ursprünglichen“ Medium zusätzlich nutzen; so läßt sich leicht beobachten, dass mit zunehmender sozialer Bindung auch kategoriefremde Kommunikationswege
die gruppeninternen Beziehungen ergänzen, häufig beginnend mit der Eröffnung einer Homepage
nebst Forum.15 Somit bliebe lediglich als Merkmal zur Zuordnung der „Gründungszusammenhang“ oder das „primäre“ Medium der Gruppe.
Ein weiterer Grund für die Suche nach alternativen Typologien lässt, ist die Annahme, dass
Gruppenbildung zuvorderst über Kommunikation stattfindet; die Frage, wie und worüber
kommuniziert wird, ist jedoch bei der oben genannten Aufteilung mit keinem Wort erfasst. Aus
diesen Gründen halten wir es für angemessen, eine eigene Typologie zu entwerfen, die die Inhalte und sozialen Formen der Communities in den Mittelpunkt stellt. Diese Unterscheidung ist
in der Literatur nicht unbekannt, dient hier jedoch meist erst zur näheren Differenzierung innerhalb eines technisch bestimmten Typs, erscheint also erst im zweiten Glied als Unterkategorie
(vgl. Döring 1999, S. 114). Die Herangehensweise, zunächst nach dem Inhalt und dann erst nach
der technischen Struktur zu sehen, ist weitgehend neu.
Demnach würden sich zunächst zwei prinzipielle Typen feststellen lassen: RL-bezogene (A) und
nicht-RL-bezogene (B) Communities. Dieser RL-Bezug macht sich hierbei nicht daran fest, ob
die Mitglieder einer Community sich auch (zumindest teilweise) im RL kennen, sondern fokussiert die Thematik der innerhalb der Gruppe dominierenden Kommunikation. Dem ersten Typ
wären demnach alle jene Gruppen zuzuordnen, in denen sich die Mitglieder über Themen aus RL
unterhalten, der zweite Typ würde die VR-bezogenen Communities umfassen. Da viele Gruppen
insbesondere des zweiten Typs allerdings eine Mischung beider Themen aufweisen, empfiehlt
sich eine gewisse Operationalisierung der Begriffe: Wir unterscheiden demnach „aufgrund eines
RL-Themas konstituierte Gruppen“ und „aufgrund eines non-RL-Szenarios konstituierte Gruppen“. Es ergaben sich für uns drei Alternativen, der Vermischung der Themen zu begegnen: Eine
Mischkategorie aufzumachen schien uns wenig sinnvoll, da sich die Kommunikationsinhalte
i.d.R. klar einem der Pole zuordnen lassen, also nicht „dazwischen“ stehen; nur das Vorkommen
deuten sie – wenn auch auf anderer argumentativer Ebene – an, dass es relevante Gemeinsamkeiten unter den
verschiedenen technischen Kategorien zu geben scheint (Kollock/Smith S. 7ff); unsere These geht hingegen weiter
und behauptet die Zweitrangigkeit der technischen Komponente für VGen aller technischer Formen.
15
In den „großen“, etablierten MUDs ist es durchaus üblich, dass es zum MUD jeweils auch eine oder mehrere thematisch darauf bezogene Newsgroups gibt; unsere Befragungen ergaben, dass aber auch aus einer Newsgroup-Community oder einer Chatgroup weitere Kanäle entstehen können, im beobachteten Fall waren dies vor allem InstantMessaging-Services, also praktisch eine technisch den IRCs zuzuordnende Methode, sowie die bereits erwähnten
Foren und BBSs.
8
beider Pole in den Gruppen variierte nach Anteilen. Ebenso verwarfen wir die Idee, jeweils zu
messen, welcher Typ quantitativ dominiert, da dies erstens zeitabhängig schwanken mag und
zweitens einen unverhältnismäßig großen Aufwand bedeutet hätte. Statt dessen haben wir uns
entschieden, jeweils das identitätsbildende Thema oder Szenario – also den Grund und das gemeinsame Interesse, aus dem die Gruppe sich konstituiert hatte – zum ausschlaggebenden Kriterium zu erheben. Auch dies ist nicht völlig trennscharf (vgl. dateka°), hat aber den Vorteil, dass
es zeitstabil, leicht fassbar und für die Zusammensetzung und Identität der Gruppe zweifelsohne
von Bedeutung ist. Ein typisches Merkmal, an dem sich die Gruppenzugehörigkeit mit hoher
Zuverlässigkeit erkennen lässt, ist vor Allem die Existenz von Avataren. Während für RLbezogene Communities das RL-Ego von großer Bedeutung ist,16 tritt das Ego in VRCommunities zugunsten der Avatare zurück bis hin zur völligen Anonymität.17
Unter den RL-bezogenen Gruppen lassen sich weiterhin solche unterscheiden, die primär problemlösungsorientiert kommunizieren (A1), andere, die zwar themenbezogen, jedoch mehr der
allgemeinen Information und des Erfahrungsaustauschs halber diskutieren (A2), sowie wieder
andere, die in erster Linie der Unterhaltung dienen (A3).18
Auch unter den nicht-RL-bezogenen Communities lassen sich Untergruppen feststellen. Da anstelle des RL-Bezugs hier eine andere klare Bezugsgrundlage notwendig ist, auf deren Basis die
Mitglieder kommunizieren, existieren hier jeweils in unterschiedlichem Maße ausformulierte
Szenarien, in denen sich die Mitglieder bewegen. Diese können von einfachen und relativ offenen
Annahmen (etwa: „Wir leben im Jahr 2100“) über die Adaption einer bekannten fiktionalen Umgebung (etwa „Herr der Ringe“) bis hin zu eigenständig ausgestalteten, mitunter hoch-komplexen
virtuellen Welten die verschiedensten Formen annehmen. Es bieten sich zwei alternative Katego-
16
„‘I believe X‘ is less meaningful to a listener than ‚I am a librarian with eight years of experience [...], and I believe X‘“ (Bruckman S. 174), weshalb in vielen Gruppen Avatare strikt verboten (vgl. Interview 1, 29/30) oder nur
unter der Bedingung zugelassen sind, dass die RL-Identität weiterhin erkennbar ist (vgl. Kollock/Smith S. 30, Rheingold 1994 S. 114).
17
Anonymität meint hier, dass die RL-Identität nicht bekannt ist. Entgegen des Einwandes, dass Anonymität nicht
mit der Existenz einer Gemeinschaft vereinbar sei (vgl. Stegbauer S. 83, der hieraus den Schluss zieht, dass es sich
bei VR-Communities nicht um echte soziale Gemeinschaften handeln könne) sind Avatare jedoch nicht in diesem
Sinne anonym: Avatare sind in VR-Kontexten durchaus als reale Identitäten zu begreifen, die konsistent, zeitstabil
und für sich gesellschaftsfähig sind; das RL-Ego ist hierfür nicht zwangsläufig von Bedeutung (vgl. Döring/Schestag
S. 324).
18
Eine ähnliche Aufteilung nimmt auch Döring vor, allerdings nur für die weitere Unterscheidung verschiedener
MUD-Typen (vgl. Döring 1999, S. 115). Illustrierende Beispiele für Typ A1 wären etwa die Newsgroups unter
help.* oder viele BBSs, im Gegensatz zu Fach-Chats und Forschungs-MOOs und vielen Newsgroups insbesondere
der Kategorien sci.*., soc.* sowie der entsprechenden offenen alt.*-Gruppen. (Typ A2) (vgl. Bruckman S. 172). Als
primär der Unterhaltung dienende Gruppen lassen sich die meisten Chat-Communities, einige Social-MUDs und vor
allem die alt.talk.*-Newsgroups einordnen (Typ A3).
9
risierungen an: zum einen nach der Komplexität und Konkretheit der virtuellen „Umgebung“,
zum anderen nach der groben Thematik.
Zweiteres ist relativ einfach; die häufigsten Formen wären demnach Fantasy-Umgebungen (BI),
Science-Fiction-Szenarien (BII) sowie hypothetische „Parallelwelten“ zu RL (BIII); außerhalb
dieser drei Typen existieren zwar weitere Themen (etwa Comic-Welten o.ä.), die jedoch zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen und unter „Sonstige“ (BIV) gefasst werden können (vgl Döring
1999, S. 115).
Die erstere Unterscheidung ist insofern weitaus schwieriger, da hier trennscharfe Grenzen kaum
denkbar sind. Zwischen den beiden Polen sind endlos viele Formen denkbar;19 daher empfiehlt es
sich, lediglich grobe Orientierungspunkte anzugeben, womit sich etwa folgende Gruppen schaffen ließen: (B1) Gruppen, die ein definiertes Szenario als Grundlage haben (z.B. „Star Trek“,
„Mittelerde“), die allerdings nur die Bestimmung der Avatare begrenzt, nicht jedoch deren
Handlungen / Themen. (B2) In definierten Umwelten „lebende“ Gruppen, wobei diese Umwelt
jedoch nicht übermäßig ausformuliert ist und somit weiten Handlungsspielraum lässt. Die
Avatare haben nicht nur feste Charakteristika, sondern auch feste soziale Beziehungen
zueinander. (B3) Communities in konkret ausgestalteten Umgebungen; zusätzlich zu B2 kommt
hier hinzu, dass jenseits der sozialen Beziehungen auch gewissermaßen permanente und
unabhängig von den Mitgliedern bestehende Institutionen in der Umwelt der Gruppe existieren.
Die Umwelt ist jedoch durch die Mitglieder veränderbar und erweiterbar. (B4) Virtuelle Welten,
in denen die konkrete Ausgestaltung (auch) durch Grafik vorgenommen wird, wodurch die
Interpretation und Vorstellung textlich beschriebener Gegebenheiten ersetzt wird (vgl.
Kollock/Smith S. 12f). Naturgemäß bedeutet dies eine geringere Möglichkeit zu interaktiver
Veränderung der Umwelt. (B5) Nicht- oder kaum-dynamische Spiel-Umgebungen, in denen eine
Community eine nur begrenzte Anzahl von Handlungsmöglichkeiten besitzt.20
19
Döring/Schestag zitieren etwa eine Gruppe, die mit einem 2970 Wörter umfassenden Regelwerk detaillierte
Handlungsanweisungen für jede Situation gibt; andere Gruppen begnügen sich mit ein paar Sätzen zum Selbstverständnis und verweisen ansonsten auf die Chatiquette (vgl. Interview 1, 17; Interview 2, 15).
20
Beispiele könnten hier für B1 Fantasy-Chats sein – wobei bei derart großer Offenheit die Konstituierung einer
Community gemäß der o. g. Definition schwierig sein dürfte –, typisch für B2 wären vor Allem Chatgroups, aber
auch sehr offen gestaltete MOOs. Die meisten MOOs und MUDs dürften hingegen unter B3 einzuordnen sein, obwohl auch einige Chatgroups diese Ausformulierung erreichen – wobei die Ausformulierung hier durch detaillierte
Beschreibungen, „Landkarten“ und Character-Descriptions (ggf. mit Bild) geleistet werden muss und die Einhaltung
dieses Rahmens durch soziale Interaktion aufrechtzuerhalten wäre. In die Kategorie B4 fallen vor Allem grafische
MUDs, ein Extremfall dieses Typs wäre eine interaktive, zumindest teilweise dynamische Multiplayer-VR. B5
schließlich bleibt nicht dynamischen MUDs und Online-Games vorbehalten.
10
Entscheidend ist hier, dass es für die Gruppeneinteilung nicht relevant ist, ob die
Ausformulierung der Umgebung und der thematischen wie sozialen Eingrenzungen und
Verhaltenskodizes durch ein – mehr oder minder interaktives – Programm (wie in MUDs), durch
in FAQs und expliziten Regeln (wie in Chatgroups) oder durch rein soziale Konventionen (vgl.
Döring/Schestag S. 341f, Bruckman S. 38, Döring 1999, S. 124) definiert wird. Wichtig ist allein,
dass die „Gesetze“ der Community – soweit vorhanden – von den Mitglieder befolgt werden;
über die Einhaltung wacht je nach technischer Gegebenheit das Programm, ein oder mehrere
Moderatoren / Gods oder die Gemeinschaft selbst.
Die oben beschriebene Typologie lässt sich wie folgt in ein Schema bringen:
Online Communities
RL-orientierte
problemlösungsorientierte
help.newuser
1
2
3
4
5
nicht RL-orientierte
informationsaustauschsorientierte
unterhaltungsorientierte
MediaMOO1
soc.feminism1
alt.feminism1
dateka° 2
LambdaMOO3
vgl. Bruckman S. 173f
s. u.
vgl. Döring 1999, S. 115; bei LambdaMOO ist die
Nähe des Parallel-RL zu RL zu groß um klar den
Typen A oder B zugeordnet werden zu können.
s. u
vgl. Götzenbrucker/Löger S. 250
Allgemeines
Szenario
Definierte
Umwelt
Zauberwald4
Fantasy
Ausformul.
Dynam. Welt
Grafische
Welt / VR
Statische
Spielwelt
Silberland 5
MorgenGrauen6
UltimaOnline5
Diablo Online
ScienceFiction
6
7
Lucasfilm8
ParallelRL
LambdaMOO3
Sonstige
FurryMUCK 3,7
vgl. Schildmann/Wirausky/Zielke 2.5
vgl. auch Turkle S. 15
8
9
Parlazzo9
vgl. Döring 1999, S. 116
vgl. Götzenbrucker/Löger S. 251
Überprüfung an der (virtuellen) Realität
Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwiefern sich die beschriebene Zuordnung virtueller
Gemeinschaften nach inhaltlichen Kriterien als praktikabel, sinnvoll und weiterführend erweist.
Zu diesem Zweck macht es Sinn, jeweils solche Gruppen miteinander zu vergleichen, die nach
einer Typologie in derselben, nach der anderen in unterschiedlichen Kategorien zu finden sind.
Unsere Vermutung ist, dass sich unter inhaltlich ähnlich gelagerten Gruppen unterschiedlicher
technischer Form größere Ähnlichkeiten ergeben als umgekehrt zwischen den inhaltlich
verschiedenen Nutzungen derselben Kommunikationskanäle.
11
Als Untersuchungsobjekte wollen wir die Barrieren einerseits zwischen Newsgroups und Chats
sowie andererseits zwischen Chats und MUDs in Frage stellen; die Beispiele, die wir hierfür heranziehen, erheben nicht den Anspruch, typische Vertreter ihrer Technologie zu sein oder gar repräsentativ für die Kategorie als Ganzes zu stehen. Unsere Untersuchung hat nicht das Ziel, die
allgemeine Gültigkeit der inhaltlichen Zuordnung zu belegen – dies können andere tun, die über
mehr Ressourcen verfügen. Um jedoch die Gültigkeit der konventionellen formalen Einteilung in
Frage zu stellen und unseren Alternativvorschlag zu begründen, genügt es, auch durchaus atypische – oder zumindest nicht als typisch belegte – Fälle heranzuziehen und zu untersuchen.
Newsgroups und Chatgroups
Allgemein gibt es in Newsgroups einige technische Voraussetzungen, die die Form der Kommunikation direkt beeinflussen. Die geposteten Beiträge liegen in schriftlicher Form vor und sind zu
jeder Tages- und Nachtzeit abrufbar. Dies spricht einen weitaus größeren Personenkreis an als bei
mündlichen Gesprächen. Auf eine Aussage muss nicht sofort reagiert werden, sondern auch nach
Wochen oder Monaten kann noch Stellung zu einem Beitrag bezogen werden. Newbies bekommen dadurch einen leichteren Einstieg in einen Kommunikationsverlauf, da die Anfänge nachzulesen sind. Die Kommunikation erfolgt zeitversetzt. Dem sind zweifelsohne einige der charakteristischen Eigenschaften von Newsgroup-Gemeinschaften geschuldet: So sind sie prinzipiell
eher weniger auf emotionale Inhalte angelegt als andere Kanäle, da derartige Inhalte einen Dialog
und direkte Kommunikation erfordern würden. Für fachlichen Austausch hingegen sind sie besonders geeignet, da hier durchaus auch längere Beiträge möglich sind, die akademischen Anforderungen gerecht werden. Hinzu kommt, dass auch alte Informationen jederzeit weiter abrufbar
sind.
Aus dieser Quelle rührt wohl auch das Vorurteil, alle Newsgroups seien informationsorientiert
und daher nicht fähig zur Gemeinschaft zu werden. Für die Einrichtung echter sozialer Bindungen genügt schließlich ein rein fachlicher Bezug zu den Gruppenmitgliedern nicht, es sind persönliche Bindungen vonnöten. Dass fachlicher Austausch mitnichten auch emotionale Inhalte und
persönliche soziale Bindungen ausschließt, hat Rheingold mit seiner Beschreibung des WELL
(Whole Earth `Lectronic Link) mehr als hinreichend belegt (vgl. Rheingold 1993, S. 17ff). In
Newsgroups finden zweifelsohne verschiedenste Arten von Kommunikation statt - sowohl sach-
12
liche Diskussionen als auch Streitgespräche mit beleidigendem Charakter, sowohl freundschaftliche Beratung als auch allgemeiner Informationsaustausch.
Im Folgenden interessieren uns nur mehr diejenigen Gruppen, in denen auch oder nur persönliche
Inhalte ausgetauscht werden, da wir der genannten Annahme zustimmen, dass rein fachliche Diskussionen keine genügende Grundlage für eine Gemeinschaft bilden. Allerdings vermuten wir,
dass auch die wenigsten Fach-Foren – sofern sie einen zeitstabilen Mitgliederkern besitzen – umhin kommen, persönliche Bindungen zu entwickeln und zumindest am Rande persönliche Gespräche zu führen.
Ein guter Indikator für nicht-fachliche Inhalte sind vor allen anderen jene Zeichen, die dem geschulten Netzbewohner Missfallen , Ärger und Emotionen anderer Art anzeigen. Dabei gibt es
verschiedene Formen, die aber im Prinzip in allen Kommunikationskanälen – also auch in Chats
oder MUDs – wiederzufinden sind: Sound- und Aktionswörter (*würg*) sind noch am einfachsten in ihrer Bedeutung für Laien verständlich. Emoticons (L, ;o)) sind in den „Standard-Ausführungen“ ebenfalls leicht verständlich, darüber hinaus gibt es allerdings Varianten, die die Möglichkeiten der ASCII-Palette voll ausschöpfen und eher nur Insidern bekannt sind. Entscheidend
ist, dass sich Postings in Newsgroups in vielen Fällen nicht auf den sachlichen Inhalt beschränken, sondern sehr wohl auch kommentierend und persönlich sind. Meinungen werden ebenso
diskutiert wie Fakten, und auch die Persönlichkeit der Mitglieder ist häufig direkt Ziel oder
Thema von Äußerungen. Der Umgang miteinander ist nicht immer freundlich, aber ausdrücklich
auch emotional.
Es gibt zweifellos zahlreiche Newsgroups, die gemäß der technisch orientierten Typologie durchaus treffend zugeordnet werden können, die also die Klischees einer Newsgroup voll erfüllen.
Erfüllt demnach eine Newsgroup die von Müller genannten Kriterien einer VG und diskutiert
primär entlang fester Themen, problem- oder informationsorientiert, so ergeben sich aus der klassischen Einordnung kaum Schwierigkeiten. Lediglich kleine Ungereimtheiten fallen auf, etwa der
Umstand, dass die Mitglieder von Newsgroups sich häufig außerdem in etwaigen dazugehörigen
Foren treffen und per Email über spezielle Newsgroup-Themen unterhalten, was die klare Zuordnung zur Kategorie „Newsgroup“ zumindest unpräzise erscheinen lässt (vgl. Interview 1, 15).
Demgegenüber lassen sich sowohl den „Klischee-Newsgroups“ als auch den häufigsten Abweichungen leicht Felder in unserer inhaltsorientierten Typologie zuweisen. Newsgroups, die sich
klar mit einem Thema befassen und rein sachliche Beiträge liefern, zum Beispiel
talk.politics.drugs, sind relativ eindeutig zuzuordnen: als RL-orientierte Gemeinschaft gehören
13
sie zu den problemlösungsorientierten Communities, die korrespondierende alt.*-Variante dürfte
demselben oder dem informationsorientierten Typ zuzurechnen sein. Andere, insbesondere der
alt.talk.*- oder der alt.fan.*-Hierarchie zuzuordnende Gruppen, aber auch einige der „Big Eight“Gruppen (die jedoch das persönliche Gespräch höher bewerten als die strikte Themenbindung)
finden sich in der Kategorie unterhaltungsorientierter Gruppen wieder. Die „Multimedialität“
interessiert in diesem Fall nicht weiter.
dateka°
dateka
Aber auch in unserer neu aufgestellten Typologie gibt es Newsgroups, die nicht trennscharf eingeteilt werden können. Die Newsgroup de.alt.talk.kasper, kurz dateka°, befasst sich zwar hauptsächlich mit Real-Life-Themen (vgl. Interview 1, 20/21), beschreibt aber eine Fantasieumgebung,
in der sich die User treffen (vgl. Interview 1, 18; Kasperhausen). Diese ähnelt stark den Fantasiewelten aus MUDs. Die Kasperwelt besitzt einen eigenen Magnetkern, der die Pole umkehrt
und zahlreiche weitere unrealistische Besonderheiten. Es gibt eine Landkarte und eine Einwohnerliste mit Wohnangaben (Straßennamen). Außerdem gibt es eine Homepage der Gruppe
(www.kasperhausen.de). Hier finden sich jegliche Informationen zum Kasperland und den Kaspern, wie die User genannt werden. Obwohl die Themen der Postings – entsprechend dem
Selbstbild der Gruppe als „Kaspereien“ bezeichnet – nicht zwangsläufig mehr Realitätsbezug
haben als die bezeichnete Fantasieumwelt, trifft „Roleplaying“ den Charakter der Kommunikation nicht; vielmehr geht es um gesammelten Schwachsinn, Lustiges und Absurdes, egal ob mit
oder ohne RL-Bezug. Außer Kaspereien werden auch die häufigen „Kaspertreffen“ (Chattertreffen) besprochen, dieses eindeutig RL-bezogene Thema tritt jedoch quantitativ wie auch in seiner
Bedeutung hinter die Kaspereien zurück (vgl Interview 1, 21).
Unserer Zuordnung nach wäre im Fall dateka° zu entscheiden, ob die eher als RL-Thematik zu
bezeichnenden Inhalte21 oder die Non-RL-Umgebung den Ausschlag für die Zuordnung geben
soll; die alternativen Felder wären RL/unterhaltungsorientiert (Typ A 3) und NonRL/Sonstige/Allgemeines Szenario (Typ B IV 1). Da wir uns vor allem auf den Sinnzusammen21
Ein gewisser Teil der Inhalte hat tatsächlich einen direkten RL-Bezug; andere Bezüge sind dem Bereich Kommunikation über Medieninhalte (Filme, Internet etc.) zuzuordnen, der Elemente sowohl von RL als auch von Non-RL
trägt. Schlichter Schwachsinn hat in dem Sinne erst einmal gar keinen Bezug, weder zu RL noch zu einer Fantasiewelt, so das hier eine Zuordnung in jedem Fall unbefriedigend bleiben muss. Unserer Ansicht rechtfertigt dateka°
jedoch noch nicht die Eröffnung einer Kategorie „ohne jeden Bezug“ für die Inhalte, da unverbundene Beiträge unserer Ansicht alleine keine VG konstituieren können. Unter den gegebenen Alternativen erscheint uns RL treffender,
da der Roleplaying-Charakter von Non-RL-VGen in keiner Form gegeben ist.
14
hang und die Identifikation der Gruppe stützen, erfolgt der Ausschlag zugunsten Variante A 3;
inhaltlich sinnvoll erscheint uns jedoch gleichzeitig, dateka° als einen Mischtypus zu charakterisieren, der Elemente beider Typen besitzt, wobei die Unterhaltung dominiert. Ein ähnliches Problem wird uns auch später bei einigen Chatgroups beschäftigen.
Verschiedene Chatgroups
Auch in Chats regelt das technische Umfeld bereits einen Teil der ablaufenden Kommunikation.
Beginnend bei der großen Offenheit von Chats für jedermann, auch für nicht-VG-Mitglieder –
das Eingeben eines zugeordneten Passworts und die Wahl eines Nicknames ermöglicht jedem das
Einloggen in das Chat – lassen sich zweifelsfrei einige Strukturen herleiten. Doch bereits bei der
Wahl des Nicknames beginnt bereits das Reich der durch Technik nicht festzulegenden Inhalte:
grundsätzlich sind der Kreativität hier keine Grenzen gesetzt. Jedoch erfolgt die Wahl eines
Nicks nicht zufällig: Viele Nicknames werden so gewählt, dass Rückschlüsse auf (das reale oder
gespielte) Geschlecht und Interessen des Users möglich sind. Bei unseren Recherchen nahm ich
etwa den Namen Gotika an. Erkennbar ist dadurch mein weibliches Geschlecht und meine Vorliebe für Musik aus der Dark-Wave- und Gothic-Szene. Ein anderer Chatter, den ich im YahooChat um die Erklärung seines Nicknames Carlos bat, antwortete mir: „Ich nannte mich Carlos,
weil ich darauf hoffte, dass sich die Frauen im Chat einen gutaussehenden Südländer vorstellten
und meine Flirtchancen steigen würden. Leider erfolglos L Einmal probierte ich es mit Lolita
und hatte innerhalb kürzester Zeit die unglaublichsten Angebote.“ In den meisten Fällen ist die
Namensgebung also mit einer spezifischen Intention verbunden. Darüber hinaus besteht in einigen Chatrooms (z.B. http://www.flirtcom/) die Möglichkeit, zum Nickname auch ein Bild des
Avatars22 zu wählen, was naheliegenderweise ähnlichen Überlegungen unterliegt.
Bei den reinen Kommunikationsformen tritt wiederum der Einfluss technischer Grenzen in den
Vordergrund: So kommt es beim Chatten in Echtzeit auf Schnelligkeit an. Nicht jede Aussage
kann ausformuliert werden, Rechtschreibungs- und Grammatikregeln werden, wenn nicht völlig
22
Avatare sind die dem Real Life entgegengestellten virtuellen Identitäten im sogenannten Virtual Life. Sie sind
unterschiedlich fein ausgestaltet, tauchen aber in allen Kanälen auf, sofern Avatar-Identitäten geduldet werden, sogar
in Newsgroups. Obwohl Avatare als MUD-typisch gelten, gibt es auch in vielen Chats die Möglichkeit, seinem
Nickname eine detaillierte Avatarbeschreibung hinzuzufügen. Je feiner formuliert und je konsistenter entwickelt,
desto höher ist für gewöhnlich die Identifikation des Players mit dem Avatar. Daraus entstehen mitunter geradezu
poetische Beschreibungen: „Mistress Leticia is black, a deep, shiny black all over her skin. Here eyes are black,
TOTALLY black, no whites or irises showing at all, her teeth and tongue startling flashes of color when she opens
her mouth or smiles. She looks human, except for her eyes, her color, and her long, thin fingers […].” (Döring 1999
S. 116).Verschiedenste Varianten von Avataren sind unter http://www.avatara.com/ zu finden.
15
ignoriert, so doch mit großer Toleranz ausgelegt. Dementsprechend hat sich eine quasi eigene
Netz(schrift)sprache entwickelt: Neben Akronymen wie LOL („laughing out loud“) gibt es die
bereits erwähnten Emoticons ( ;-) ) und Aktions- und Soundwörter (*heul*, jauchz, juhuuu etc).
Typisch für Chats ist dabei nicht die Form als solche, sondern eher die extreme Häufung dieser
Stilmittel sowie ein paar gattungsspezifische Ausdrücke 23 . Für Newbies sind die ausdifferenzierten Formen meist kaum zu verstehen.24 Interessant ist ebenfalls die ASCII-Kunst, bei der mit den
zur Verfügung stehenden Schriftzeichen aussagekräftige Bilder erstellt werden. So kann nachstehende Rose @))-->-- in einem Flirtchannel eingesetzt werden, um die romantische Veranlagung
zu betonen.
Eine andere relevante technische Gegebenheit ist die Möglichkeit in manchen Chats, zwischen
verschiedenen Räumen hin- und her zu springen (z.B. The Dark Chat: Neben dem Hauptraum
“Eternity” gibt es eine Reihe teilweise nach speziellen Themen organisierter Räume). Häufig
genutzt werden auch sogenannte Séparées, also private Chaträume, die man selbst öffnen kann
um mit einer oder wenigen speziellen Personen allein zu kommunizieren, während das Gespräch
für die anderen Chatter unsichtbar bleibt. Diese Möglichkeiten sind zwar durchaus für die
Kommunikation und Gruppenbildung relevant, bilden aber keine Begründung für die technische
Einordnung, da auch in MUDs das Wechseln der Räume sowie “private” und “öffentliche”
Kommunikation möglich und üblich sind.
Ähnlich wie bei Newsgroups sind es auch bei den Chatgroups nicht die Standardfälle, die die
Vor- und Nachteile der Kategorien illustrieren. Außer dem bereits oben angesprochenen Problem
der Tendenz etablierter Gruppen, weitere Medien zu nutzen, lassen sich die meisten Chats gut in
die technische Typologie einordnen und erfüllen viele der behaupteten Eigenschaften. Ein Punkt,
der die Unzulänglichkeit dieser Ordnung andeutet, ist allerdings der Umstand, dass die Frage, ob
sich in einem beliebigen Chat eine VG herausbildet, maßgeblich vom Thema bestimmt ist. FlirtChats etwa oder offene Räume sind schon wegen der hohen Fluktuation eher unwahrscheinliche
Kandidaten für eine VG. Aber auch unsere eigene Typologie zeigt bei vielen Chats einige
Defizite, insbesondere bei Chatgroups, in denen quasi über alles gesprochen wird und die sich in
23
Auch in anderen Kanälen sind die Elemente der Netz(schrift)sprache wiederzufinden, und auch hier gibt es jeweils
typische Begriffe, die nur in einer Art von Kommunikationskanälen Sinn machen. Ein ausgesprochen Newsgrouptypisches Aktionswort ist z.B. *plonk*, das bedeutet, die Postings einer Person werden in ein Killfile übertragen und
somit nicht mehr gelesen. *plonk* soll das Geräusch angeben, das entsteht, wenn der User, dessen Beiträge nicht
mehr lesbar sein sollen, nach einem Sturz auf dem Boden des Killfile auftrifft (Vgl. Döring 1999: 73).
24
Nicola Döring zitierte ein besonders schönes Beispiel: ROTFLBTCASTCIIHO bedeutet rolling on the floor laughing, biting the carpet and scaring the cat if I had one (Vgl. Döring 1999, S. 100). Kurze Formen desselben Akronyms wie ROTFL sind hingegen sogar recht häufig.
16
keine Sparte zwängen lassen. Wir stellten im Zuge unserer Recherchen fest, dass selbst in den
themenorientierten Chatrooms inhaltlich abweichende Gespräche dominierten. Es ging häufig um
so banale Dinge, wie die Auswahl des Mittagsgerichts oder wie die letzte gute Party in RL
verlief. Am Beispiel von The Dark Chat und Wildcat-Chat fiel diese Tatsache besonders auf, da
wir hier Diskussionen und Dialoge vermuteten, die nur Szene-Kenner verstehen können. Diese
Chats sprechen ein sehr spezielles Publikum an. Dies lässt vermuten, dass sich die
Gesprächsinhalte ebenso auf sehr spezifische Interessen beziehen. Im Dark Chat treffen sich
Freunde der Dark-Wave, Metal und Gothik-Szene. Schon an den Namen ist dies erkennbar.
Nicks wie schwarze_elfe, gefallener_engel oder vampyr geben eine eindeutige Tendenz dieses
Chats an. Nach mehrmaligem Chatten stellten wir fest, dass primär über Alltagsdinge gesprochen
wird und weniger über Musik, Bands und Events. Die Unterhaltungen ähnelten stark
gewöhnlichen Real-Life-Gesprächen in einem Café oder zu Hause. Dennoch ist der VGCharakter klar gegeben: Die Anzahl der anwesenden Chatter bewegte sich immer zwischen 10
und 30, darunter hauptsächlich Stammchatter, die regelmäßig den Chat besuchen und sich
untereinander gut kennen. Eine Gruppenidentität wird zwar nicht ausdrücklich formuliert, das
gemeinsame Interesse, die Zugehörigkeit zu einer Subkultur sowie das Auftreten als
eingeschworene Gemeinschaft macht es Neueinsteigern schwer, Anschluss zu finden;
Außengrenzen der VG sind klar erkennbar. Im Wildcat-Chat, einem Chat für Tattoo- und
Piercingliebhaber, ging es zwar häufig um neue Spielarten des Piercen, Tätowieren oder
Branding, aber die Themen der Regulars waren ebenfalls mehr alltäglicher Art.
Nach unserer Typologie lassen sich die beiden Chats trotzdem relativ eindeutig zuordnen. Für
beide Chats ist ganz klar festzustellen, dass es sich um RL-bezogene Chats handelt. Die
Gesprächsthemen beziehen sich klar auf konkrete Ereignisse oder Taten im Real Life. Es finden
regelmäßig Treffen und Partys im Real-Life statt, es bestehen telefonische Kontakte und außer
dem Chat findet Kommunikation per Email statt, wie uns mehrere Chatter bestätigten.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach Informationsaustauschorientierung oder
Unterhaltungsorientierung. Für beide Fälle gibt es in beiden Chats Indizien. Da aber zum Beispiel
Konzerttermine oder die Veröffentlichung der CD einer neuen Musikband im Dark Chat
ausgetauscht werden und sich diese Informationen ausschließlich für einen kleinen Kreis
Szenezugehöriger als relevant erweisen, ordnen wir es der informationsaustauschorientierten
Kategorie zu. Ebenso entscheiden wir beim Wildcat-Chat, da Inhalte wie das Empfehlen eines
speziellen Tattoo-Studios oder Informations- und Erfahrungsaustausch über spezifische Probleme
17
(Sorge um mögliche Gefühllosigkeit durch ein Intim-Piercing, Tips gegen Entzündungen etc.) die
Tendenz des Chats festlegen. Auch wenn die Gesprächsanteile überwiegen, in denen es um
andere Themen geht, so treffen sich in diesen Chatrooms doch ausschließlich Leute, die ein
gesteigertes Interesse am Ursprungsthema zeigen. Die Alltagskommunikation ist unserer
Auffassung nach entscheidend, um in der VG persönliche wie soziale Beziehungen entstehen zu
lassen, für die Konstitution der Gruppe ist jedoch das Thema und der Informationsaustausch
verantwortlich. Wie auch schon bei Newsgroups betrachten wir persönliche Kommunikation als
essentielles Merkmal virtueller Gruppen. Wenn demnach in oder aus problemlösungs- oder rein
informationsorientierten Newsgroups oder Chats eine VG entstehen soll, ist off-topicKommunikation nicht nur zu erwarten, sondern sogar nötig. Das bedeutet, dass unsere Kategorien
A1 und A2 in sich stets auch Elemente aus dem unterhaltungsorientierten Typus A3 in sich
tragen. Allerdings stellt dies kein Problem für die Typologie dar, da als Zuordnungsmerkmal
nicht die quantitative Zusammensetzung der Gespräche nach Themen oder gar thematische
“Sortenreinheit”, sondern der Entstehungszusammenhang festgelegt wurde. An dieser Stelle
erweist sich diese Entscheidung als sinnvoll.
Chatgroups und MUDs
Bei der Gegenüberstellung von Chatgroups und MUDs ergibt sich zunächst erneut das bereits
mehrfach erwähnte Problem mangelnder oder mangelhafter Literatur und Quellen. Während zu
MUDs immerhin noch eine gewisse Menge an Literatur verfügbar ist – die allerdings zu einem
erheblichen Teil aus nicht-wissenschaftlichen isolierten Fallstudien besteht oder sich mehr global
mit der Existenz von Sozialbeziehungen im Internet auseinandersetzt (vgl. Utz 2.3.1) – ist das
Phänomen aus Chats entstandener Communities in der Wissenschaft offenbar noch nicht angekommen. Aus diesem Grund haben wir zu Chatgroups eigene Untersuchungen angestellt, Mitglieder einer solchen Chatgroup interviewt und Chatlogs ausgewertet.25 Dem stellen wir einige
MUDs gegenüber, deren Beschaffenheit in verschiedenen Fallstudien bereits hinreichend beschrieben ist, um einen Vergleich zu erlauben.
25
Die Auswahl von Gruppe, Interviewpartnern und Chatlogs ist nicht repräsentativ; wir haben mit dem Zauberwald
eine gut etablierte Gruppe ausgewählt, unter deren Mitgliedern sich eine Bekannte befand, da ansonsten kaum die
Möglichkeit bestanden hätte, überhaupt an Informationen zu kommen; die Regeln solcher Gruppen, die insbesondere
Logs, aber auch Interviews und sonstige Öffentlichmachung interner Zusammenhänge häufig strikt ablehnen, machen dieses Feld wissenschaftlichen Untersuchungen ausgesprochen schwer zugänglich.
18
Der Zauberwald
Der Zauberwald ist eine virtuelle Gemeinschaft auf Basis eines Chat-Channels des deutschen
kommerziellen Service „Chat City“ (CC, www.chatcity.de). Formal ist sie somit klar der Kategorie Chat zuzuordnen; Darüber hinaus nutzt die Gruppe aber auch ein Forum, ICQ26 , Email, ein
Portal in Form einer Gruppen-Homepage sowie auch nicht-online-Medien (z.B. Telefon) zur
Kommunikation. Damit verbindet die Gruppe Elemente aus allen Kategorien außer MUDs miteinander. Gelegentliche Chattertreffen schließlich ergänzen das Gemeinschaftsleben auch in RL.
Die Homepage der Gruppe beherbergt neben einem Zugang zum Chat auch das stark frequentierte27 Forum („Alte Eiche“) sowie einige Informationen zu Selbstverständnis, den Mitgliedern
und dem „Zauberwald“, der virtuellen Welt, in der die Community lebt (vgl. Zauberwald). Der
„Wald“ ist bevölkert von einer bunten Mischung aus Elfen, Druiden, Magiern und anderen Wesen, die uns aus der Fantasy-Literatur bekannt sind. Das Szenario lehnt sich nicht direkt an ein
bestimmtes Werk an, sondern legt mehr global die Stimmung und das Ambiente fest, ohne unnötige Einschränkungen zu machen. Die Regeln der Chatiquette sind nicht sehr spezifisch und dienen mehr der Vermeidung von unerwünschten Verhaltensweisen als der Definition der virtuellen
Welt (vgl. Interview 2, 14/15; Zauberwald)
Damit lässt sich der Zauberwald im inhaltlichen Schema unter den nicht primär RL-orientierten
Gruppen in die Zeile Fantasy einordnen (Typ B I). Die Zuordnung nach Ausformulierung ist etwas schwieriger, es bietet sich eine Plazierung zwischen 2 und 3 an. Die geringe Ausformulierung des Szenarios spricht dabei eindeutig für die Kategorie 2 (vgl. Interview 2, 16), und auch der
Umstand, dass einige der 53 mit einer Mini-Homepage unter der Portalseite der Gruppe vertretenen Chatter nicht primär ihre(n) Avatar(e), sondern eher ihre RL-Identität vorstellen. Für die
dritte Kategorie spricht hingegen die Tatsache, dass die Chatter äußerst fest definierte soziale
Bindungen zu ihren Mitchattern unterhalten.28 Den Ausweg aus diesem Zuordnungsproblem
weist die Einschätzung der Zauberwäldlerin Lady Akasha, die einen Unterschied zwischen verschiedenen Chatter-Typen macht, die sich gleichzeitig in derselben Community aufhalten (vgl.
Interview 2, 43). Für einen Teil der Zauberwäldler steht demnach das Rollenspiel im Mittelpunkt,
und damit auch verbindliche, im sozialen Kontext begründete Avatar-Identitäten, präzise Vor26
Ein relativ weit verbreitetes Instant-Messaging-System, das es den Mitgliedern erlaubt, bi- oder multilateral auch
außerhalb des Chat-Channels zu chatten, Bilder und Dateien auszutauschen oder per Internet-Telefonie miteinander
zu sprechen
27
über 900 Postings alleine in dem einen Monat zwischen 9.10. und 9.11.2001, also etwa 30 Postings am Tag
19
stellungen über die Beschaffenheit der Umwelt sowie die darin gegebenen thematischen Eingrenzungen und Handlungsmöglichkeiten. Diese Teilgruppe orientiert sich damit stark am non-RLCharakter der Gruppe und schafft über Konventionen das an Ausformuliertheit, was an
schriftlicher Fixierung fehlt.
Andere Chatter, zu denen sich auch Lady Akasha zählt (vgl. Interview 2, 19), betrachten das
Fantasy-Szenario zwar ebenfalls als identitätsbildenden Hintergrund,29 tauchen jedoch nicht so
weit in diese virtuelle Welt ab, dass sie dabei RL leugnen würden. Diese Mitglieder unterhalten
sich mal über die Geschehnisse im Wald – wenn auch nicht mit derselben Hingabe wie die „Roleplayers“ und mit einer gewissen Distanziertheit – und zu anderen Zeiten über Zusammenhänge
aus RL (vgl. Interview 2, 42). Da die Gruppe auch außerhalb des Netzes existiert, kennen viele
Chatter auch die RL-Identitäten ihrer Mitchatter und haben auch in diesem Zusammenhang –
nicht zuletzt durch die in unterschiedlichem Kreis stattfindenden Chattertreffen (CT) – reichlich
Gesprächsstoff außerhalb der virtuellen sozialen Beziehungen (vgl Interview 2, 17/50). Welche
Identität hier wichtiger ist, ist schwer zu sagen und wechselt von Person zu Person und von
Thema zu Thema.30
Aus dieser Differenzierung der Kommunikationsthemen (in ca. 80% Roleplaying und 20% RL,
vgl. Interview 2, 18) ergibt sich, dass Teile der Community in eine andere Subkategorie einzuordnen wären als andere. Es stellt sich die Frage, inwiefern unter diesen Umständen von einer Gemeinschaft gesprochen werden kann; nach den von Christoph Müller aufgestellten Kriterien wäre
dies nur teilweise zu beantworten. Während die Kriterien Zeitstabilität und Multilateralität der
Beziehungen sowie Identitätsbildung und Abgrenzung nach draußen31 relativ einfach zu bejahen
28
Vgl. Interview 2, 25; insbesondere die protokollierte Hochzeit zweier Zauberwäldler unterstreicht den verbindlichen Charakter der Beziehungen zwischen den agierenden Avataren (vgl. Log 1; Interview 2, 27).
29
Auch in Gruppen mit wenig ausgeprägtem VR-Charakter und kaum definiertem Szenario scheint die Identität sich
an diesen gruppeninternen Vorstellungswelten festzumachen, selbst wenn das Gespräch anderen Themen folgt (vgl.
Interview 1, 8/18/20f).
30
Vgl. Interview 2, 51; aus dieser doppelten Identität folgt jedoch nicht, dass Avatare sich in solchen Fällen nicht als
konsistente Charaktere entwickeln könnten. Vielmehr könnte man sagen, dass durch die Persona (per sonare = hindurch sprechen/klingen) des Avatars zwei Charaktere sprechen: der Avatar und das RL-Ego. Beides ist nur scheinbar
vermischt, „Avatare werden kontinuierlich entwickelt“ (Götzenbrucker/Löger S. 259); zudem sind bei solchen
Chattern, die sowohl Roleplaying und RL-bezogene Gespräche betreiben, die Avatare dem Ego häufig sehr ähnlich,
so dass sich nur unbedeutende Brüche der Persönlichkeiten ergeben (vgl. Utz S. 5, Interview 2, 49).
31
Legt man die Kriterien an alle 510 (Stand 7/2000) Bewohner des Zauberwalds an, so macht bereits die Zeitstabilität Probleme: aufgrund der leichten Zugänglichkeit des Channels über den CC-Service (der wie in allen offenen
Gruppen zwangsläufig einen hohen Anteil von Gästen oder nur vorübergehenden Bewohnern mit sich bringt, vgl.
Interview 2, 34f; Log 1; Döring/Schestag S. 321; Rheingold 1994 S. 101) wird stets ein erheblicher Teil Chatter
mitgezählt, der eigentlich nicht zur Community gehört. Wählt man hingegen den „harten Kern“ der Community als
Bezugsgruppe, so ist die Grenze zwar nicht hundertprozentig trennscharf zu ziehen – die Größe der Kerngruppe wird
mit 20-25 angegeben (vgl. Interview 2, 32); die Frage der Zugehörigkeit ist allerdings für weit über 90% der
20
sind, ist ungeklärt, ob sich derart unterschiedliche Ziele mit dem Kriterium gemeinsamer Normen
und geteilter Handlungen vereinbaren lassen.
Verschiedene MUDs
Dieses Problem ist nicht neu, es klingt auch in einer Reihe von Untersuchungen über die Spielertypen in MUDs an. In der Regel wird es jedoch nicht näher behandelt, da sich diese Arbeiten
jeweils entweder mit den Spielertypen oder mit dem Community-Charakter beschäftigen, und
selten mit beiden Themen. Es ist unserer Meinung nach jedoch angemessen, auch bei MUDs
diese Zwiespältigkeit näher zu problematisieren. Die häufig anzutreffende Unterteilung der formal als MUD eingestuften Communities in „Social“ und „Adventure“ (Ad) MUDs (vgl. u. a.
Götzenbrucker/Löger S. 249; Döring 1999, S. 115) weist auch hier die Richtung der unterschiedlichen Motivationen. Während diese Gruppen von der Überblicksliteratur jedoch weitgehend als
monolithische Blöcke betrachtet werden (in Social MUDs werde sich nur unterhalten und in den
Ad MUDs sei nicht im Kontext zu Punktgewinnen und Roleplaying stehende Kommunikation
nicht anzutreffen, vgl. Kollock/Smith S. 17), erwähnt eine Reihe anderer Autoren explizit, dass
auch in Ad MUDs Gespräche stattfinden, die man sonst in Social MUDs vermuten würde (vgl.
Turkle S. 293).32 Diese Frage stellt sich freilich nur für nicht-RL-orientierte MUDs, da in RLorientierten eine Verhaltensweise wie Roleplaying sinnlos und unmöglich wäre. Die Unterteilung
in Ad MUDs und Social MUDs ist somit auch nicht identisch mit derjenigen zwischen RL und
nicht-RL: RL-MUDs sind zwar ausschließlich Social MUDs, dieses Phänomen ist jedoch auch
unter den nicht-RL-MUDs anzutreffen. Im Prinzip tragen fast alle nicht-RL-MUDs beide Elemente in sich – solche, in denen Roleplaying gar nicht vorkommt, sind schwer denkbar, die Konstitution der Community außerhalb von RL-Themen braucht notwendig ein Szenario, das ein
Minimum an Roleplaying bedingt (z.B. in Parlazzo, vgl. Götzenbrucker/Löger 251); und während
es durchaus MUDs gibt, in denen „Socializing“, also einfache Unterhaltungen keine Rolle spielen
und der Adventure-Charakter voll dominiert, ist hier zu bezweifeln, ob in diesem Fall von einer
Community gesprochen werden kann.33 Utz zufolge lassen sich verschiedene Spielertypen aus-
Bewohner klar zu beantworten, lediglich die Differenz zwischen den genannten 20 und den 53 mit ChatterHomepage vertretenen Zauberwäldler (vgl Zauberwald) bewegt sich zwischen den Sphären.
32
Utz stellte bei allen von ihr untersuchten „Typen“ von Mitgliedern von MUDs einen Gesprächsanteil von mindestens 40% fest (vgl. Utz 4.2).
33
In einem Fall zerfiele der MUD in eine Anzahl Kleinstgruppen, die jeweils die „Teams“ der Abenteurer umfassen,
im anderen Fall fehlt schlicht der soziale Bezug unter den Charakteren, der notwendig Kommunikation erfordert
21
machen, die jeweils die verschiedenen Pole (Roleplaying – Socializing) in den Vordergrund stellen.34 Beide Typen kommen durchaus auch in ein und demselben MUD vor, auch wenn verschiedene MUDs von dem einen oder anderen Typ klar dominiert werden (z.B. UltimaOnline: ein
„kampforientiertes Internet Spiel mit starkem Rollenspielcharakter“, Götzenbrucker/Löger S.
250).
Somit wiederholt sich dieselbe Aufteilung wie bereits im Zauberwald, modifiziert lediglich um
den Unterschied, dass das Szenario eines MUD – da zwangsläufig ausformuliert – nicht aufwendig aufrechterhalten werden muss35 und Handlungsmöglichkeiten klarer definiert sind. Aber auch
hier ist Kommunikation über RL-Themen möglich, unabhängig von Szenario und scheinbarer
Themeneingrenzung. Das offensichtliche Argument, dass durch die in Räume unterteilte Struktur
von MUDs in dieser Hinsicht ein qualitativer Unterschieds zu Chats bestehe, da so verschiedene
Handlungen und Gespräche zugleich getrennt voneinander stattfinden können, ist ebenfalls nur
bedingt richtig: denn auch in Chatrooms besteht die Möglichkeit in andere „Räume“ auszuweichen und neue Sub-Channels („Separées“) zu eröffnen, die durch Konventionen oder Technik
auch zeitstabil gehalten werden können (vgl. Interview 2, 40).
Richtig ist allerdings, dass in Chats derartige Strukturen nur konsensual und in Kenntnis aller
Mitglieder durchgeführt werden können, da die Akzeptanz einer Handlung Bedingung für ihre
„Realität“ ist. In dieser Form ist allerdings auch hier eine Neu- und Umdefinition der Eingrenzungen und Gegebenheiten möglich; was im Chat über soziale Konventionen verändert bzw. erhalten werden kann, geschieht in MUDs in Form von Coding (Programmieren) durch die Wizards. Der entscheidende Unterschied zwischen non-RL-Social-MUDs und non-RL-Chatgroups
besteht – betrachtet man die Kommunikation und bestehende Handlungsmöglichkeiten – somit
darin, dass in Chats die Konventionen nur durch allseitige Akzeptanz aufrechterhalten werden
können,36 während in MUDs einzelne des Programmierens Mächtige selbständig Fakten schaffen
können. Man könnte formulieren, dass in Chats die Umwelt das Werk der Gemeinschaft als Gan-
(vgl. Rheingold 1994 S. 104; Schildmann/Wirausky/Zielke 3.2.2). Utz kommt zu dem Schluss, dass für die Konstitution von MUD-Communities Kommunikation „wichtiger [ist] als die Rollenspielkomponente“ (Utz 5)
34
Zwei der unterschiedenen Typen kehren bei mehreren Autoren wieder: die „Chatter“ bei Utz entsprechen dabei
den primär an Kommunikation interessierten „socializers“ bei Götzenbrucker/Löger, die „Spieler“ entsprechen den
vor allem am Rollenspiel interessierten „roleplayers“ / „achievers“. Utz unterscheidet weiterhin noch „Code“, eine
MUD-typische Gruppe, die vor allem programmieren will (vgl. Utz 4.3.3; Götzenbrucker/Löger S. 266ff).
35
Dennoch sind auch in MUDs neben technischen Regelmechanismen soziale Konventionen und Sanktionierungssysteme zu beobachten: Verstöße gegen Sitte und Moral werden auch in MUDs „zumeist von hochrangigen Spielern
geahndet“ (Götzenbrucker/Löger S. 257).
36
Dass auch in Chat-Environments und im IRC Handlungen ausdrücklich möglich sind, ist zwar in der Literatur
bekannt, wird aber nicht näher untersucht (vgl. Döring 1999, S. 119).
22
zes ist, während in MUDs die Umwelt die Gesamtheit der Werke der Gemeinschaftsmitglieder
ist. Das hat direkte Konsequenzen für die Sozialstruktur, auch unabhängig von den festen Hierarchiemodellen der MUDs (die in Chats ebenfalls entstehen können, aber nicht müssen). Will eine
Gruppe derartige definierte Umwelten schaffen – was bei Weitem nicht jede Gruppe anstrebt, vor
allem in Chats, aber auch in MUDs gibt es User, die an der Umgebung nur zweitrangig interessiert sind – so ist in Chats eine sehr enge Kooperation und extrem viel Kommunikation vonnöten;
in MUDs genügen ein paar Textzeilen. Somit sind umwelt-definierende Chatgroups wahrscheinlich sehr eng aneinander gebundene Gruppen; die interne Organisation ist offen, sie kann sowohl
egalitären als auch hierarchischen Strukturen folgen37 . Umwelt-definierende Aktivität beansprucht viel Zeit und reduziert somit zugleich die Zeit, die für anders orientierte Diskurse offensteht. Dem gegenüber ist Coding in MUDs – sofern man die Fertigkeiten dazu besitzt – eine vergleichsweise zeitsparende und wenig diskursive Tätigkeit38 , die Anteile thematisch offener
Gespräche dürfen als höher erwartet werden.
Dafür sind die technischen Voraussetzungen, die ein MUDder besitzen muss, um sich zurechtzufinden, geschweige denn zu Coden, weitaus umfangreicher als die vergleichbaren Kenntnisse in
Chatgroups (vgl Döring 1999, S. 114, 118). Das beeinflusst sowohl die Mitgliederstruktur der
Gruppen als auch die Offenheit für neue Mitglieder, die in Chatgroups – zumindest technisch –
leichter einsteigen können.39 Andererseits ist es in einem MUD auch nicht in demselben Maße
notwendig, sozial eingebunden zu sein, um „etwas erleben zu können“ – man kann schließlich
auch erst einmal alleine durch die Räume wandern, was in Chats schlicht ohne Einweisung der
Bewohner nicht möglich ist.
Zusammenfassung
Insgesamt lässt sich also feststellen, dass die beiden beobachteten Typen in einigen Fragen sehr
hohe Ähnlichkeiten zueinander aufweisen, während sie in anderen Punkten eher Verwandtschaft
zu thematisch anders orientierten Communities derselben technischen Gattung aufweisen. Identi37
Diese Offenheit ist nicht rein Chat-spezifisch; auch in (Social) MUDs sind nicht-hierarchische Strukturen möglich
(vgl. Reid S. 112).
38
Vgl. Döring 1999, S. 124f; Dies gilt hingegen nur, sofern man von Social-MUDdern ausgeht, deren eigentliches
Ziel Kommunikation ist und die Umweltgestaltung gewissermaßen als Rahmen zum eigentlichen MUD-Leben betrachten; die Rede ist nicht von den von Utz so genannten „Codern“ (vgl. Utz 4.3.3), die vor allem des Programmierens wegen im MUD sind und wenig Zeit mit Gruppenkommunikation verbringen.
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Generell kann man allerdings sagen, dass der Einstieg in eine VC eher schwer und aufwendig ist; so werden nichtMitglieder häufig schlicht ignoriert (vgl. Interview 2, 34/35), neue Besucher sind „sozial und technisch isoliert“
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fikationsbildung, Kommunikationsformen und –themen sowie innere Vielfalt in Motivation und
Verhaltensweisen folgen in beiden Gruppenarten denselben Gesetzmäßigkeiten. Gesellschaftliche
Phänomene wie institutionalisierte soziale Bindungen zwischen Avataren (im Extremfall in Form
von virtuellen Eheschließungen), aber auch die Möglichkeit zu durchaus sehr persönlichen Streitsituationen lassen sich in beiden Arten von Communities nachweisen (vgl. Log 1; Log 2; Form;
Semana). Aspekte wie Mitgliederstruktur oder Offenheit für Neue scheinen hingegen eher aus
den technischen Gegebenheiten zu folgen, obwohl auch hier eine Gruppe einen weiten Spielraum
hat, sich abzuschotten oder ausführliche technische Hilfestellung zu geben, was diese technischen
Rahmenbedingungen kompensieren kann.
Nicht übertragbar ist diese Gegenüberstellung freilich auf andere Arten von MUDs; ein Äquivalent eines voll ausgeprägten Ad MUD dürfte unter den technischen Bedingungen eines Chats nur
schwerlich herzustellen sein; und auch ein paralleler Vergleich zwischen einem RL-bezogenen
Chat und einem RL-bezogenen MUD müsste erst durchgeführt werden, bevor sich Aussagen über
deren Ähnlichkeiten treffen lassen. Hingegen sei der Hinweis erlaubt, dass eine Community wie
Amy Bruckman‘s MediaMOO mit Hilfe eines Chats nebst umfangreicher Group-Homepage oder
andersartiger Ressourcen für dauerhafte Informationen und Offline-Strukturen durchaus zu imitieren sein dürfte.
Resumé und Ausblick
Während wir einige Anhaltspunkte feststellen konnten, die tatsächlich einen erheblichen Einfluss
der formalen und technischen Voraussetzungen auf die Kommunikations form vermuten lassen,
haben wir nur wenige schlüssige Belege dafür finden könne, dass die Form auch die
Kommunikationsinhalte erheblich mitbestimmt. Selbst da, wo technische Voraussetzungen eine
bestimmte Auswahl an Themen nahezulegen scheinen, gibt es Beispiele für Gruppen, die nicht
dem Muster folgen. Solange sich die VGen an die gängigen Erwartungen halten, die an den
jeweiligen Kommunikationskanal gerichtet werden, also eindimensional nur diesen Kanal nutzen,
und sich ihre Inhalte den Gattungen gemäß wählen (also im Falle von Newsgroups informationsund problemlösungsorientiert diskutieren, bei Chats unterhaltungs- und informationsorientiert
reden und in MUDs Rollenspiele vollführen), klappt die Beurteilung der VG nach der Form noch
(Stegbauer S. 72) und können nur unter Schwierigkeiten den Anschluss an die Gruppe finden. Dies folgt notwendig
aus dem Kriterium fester Grenzen einer VC, das Müller für jegliche Gemeinschaft im Internet definiert.
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recht gut. Verlässt eine Gruppe jedoch das Schema, zeigt sich die formale Kategoriesierung nicht
hinreichend adaptionsfähig. Den Umstand, dass es Chatgroups gibt, die mehr Ähnlichkeit mit bestimmten MUDs besitzen als mit anderen Chats, bestreitet diese Typologie zwar nicht explizit,
plant ihn aber nicht ein, kann ihn nicht erklären und versperrt sogar tendenziell die Sicht auf derartige Phänomene.
Dem gegenüber weist auch unsere Ordnung einige Schwächen auf, wenn es um die unklare Zuordnung gemischt kommunizierender Gruppen geht. Diejenigen Fälle, in denen die Technik wie
oben benannt einen relevanten Einfluss auf die Kommunikationsformen besitzt, wird von ihr völlig ausgeblendet. Die Frage ist, ob dieses Defizit von Bedeutung ist. Unserer Ansicht nach wiegen die Stärken unseres Ansatzes – allem voran die Differenzierung zwischen den stark unterschiedlichen Gruppentypen, die auch in ein und demselben technischen Umfeld aufzufinden sind,
sowie die Frage nach dem Zustandekommen der Gruppe (aufgrund eines Themas und gemeinsamen Interesses) – die Defizite vollständig auf, zumal gerade diese Punkte von der vorhandenen
Literatur deutlich zu kurz kommen. Des Weiteren ermöglicht unsere Herangehensweise die Beantwortung der Frage, ob es sich in einem Fall tatsächlich um ein neuartiges soziales Phänomen
handelt, da wir in der Aufschlüsselung der Kommunikationsinhalte einen geeigneten Indikator
für das Vorhandensein persönlicher Bindungen erhalten. Im Zuge unserer Untersuchungen sind
wir dabei zu dem Schluss gekommen, dass nicht alle Gruppen, die den Eindruck vermitteln eine
VG zu sein, auch tatsächlich persönliche Beziehungen unter den Mitgliedern entwickeln. Der
Spalte B5 unserer Typologie etwa konnten wir keine Gruppe zuordnen, in der ausreichend persönliche Kommunikation innerhalb eines zeitstabilen Personenkreises stattfand, um glaubhaft das
Bestehen sozialer Bindungen annehmen zu können. Gerade in Adventure-MUDs, in denen es
zuvorderst um Kampf und Quests geht und weniger um Kooperation und Interaktion, findet kaum
persönliche Kommunikation statt, wir bestreiten demnach, dass es sich bei derartigen MUDs um
echte Virtuelle Gemeinschaften handelt. Dagegen weisen andere MUDs, die kommunikationslastiger sind (unabhängig davon ob als Rollenspiel oder mit RL-Bezug) zunehmende Ähnlichkeiten mit ausdifferenzierten Chatgroups auf.
Überhaupt haben wir nach Inhalten eine erheblich größere Ähnlichkeit zwischen Vertretern der
beiden synchronen technischen Typen feststellen können als zwischen den asynchronen Formen
und dem Rest. Dahingehend würden wir argumentieren, dass die Unterscheidung nach synchroner und asynchroner Kommunikation auf technischer Seite eine gute Berechtigung hat, und würden diese Unterscheidung anstelle der Dreiteilung message/chat/program-based bevorzugen.
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Zusammenfassend stellen wir fest, dass offenbar die Kommunikations inhalte eine größere Wirkung auf die Ausgestaltung einer VG zu haben scheint als die technisch bestimmten Gegebenheiten; auf technischer Seite halten wir die Synchronität der Kommunikation für das relevanteste
Merkmal. Angesichts der offensichtlichen Differenzen zwischen den in der Literatur aufgestellten
Typenbildern und der Realität virtuellen Lebens halten wir unsere Strategie für zielführender bei
der Charakterisierung des Phänomens Virtueller Gemeinschaften.
Als Fortführung unserer Arbeit wäre als nächster Schritt eine Verfeinerung unserer Typologie
und der Typenbeschreibungen notwendig, nach Möglichkeit unter Einbezug auch formaler Gesichtspunkte, etwa als weitere Unterscheidung zwischen VGen ähnlichen Themas. Anschließend
kann nur eine repräsentative empirische Untersuchung unsere Ergebnisse weiter erhärten bzw.
korrigieren; hierzu fehlen uns jedoch die Mittel. Schließlich wäre zu hoffen, dass infolge einer
solchen Untersuchung auch der Begriff Virtueller Gemeinschaften soweit präzise und übereinstimmend mit Inhalt gefüllt werden kann, dass es möglich wird, das Feld der Fallstudien und Explorationen zu verlassen und Analysen folgen zu lassen. Hierhin fortzuschreiten ohne vorher die
Inhalte der verschiedenen VGen ausreichend gewürdigt zu haben, verbietet sich von selbst. In
diesem Kontext versteht sich unsere Arbeit als ein Anstoß, um einer wissenschaftlichen Untersuchbarkeit Virtueller Gemeinschaften ein wenig näher zu kommen.
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